Alfred de Vigny
Hauptmann Renauds Leben und Tod
Alfred de Vigny

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5. Ein Seemann

Sobald der Kaiser das Gemach verlassen hatte, erschienen zwei Geistliche beim heiligen Vater und führten ihn, der erregt, bewegt war und zitterte, fort, indem sie ihn unter jedem Arme stützten.

Bis zur Nacht blieb ich im Alkoven, wo ich die Unterhaltung angehört hatte. Meine Gedanken waren verwirrt; aber nicht das Schreckliche dieser Szene beherrschte mich. Ich war niedergeschlagen über das, was ich gesehn, und da ich jetzt wußte, bis zu welch üblen Berechnungen ganz persönlicher Ehrgeiz das Genie erniedrigen kann, haßte ich diese Leidenschaft, die den glänzendsten der Herrscher eben vor meinen Augen gebrandmarkt hatte, ihn, der dem Jahrhundert vielleicht seinen Namen geben wird, weil er es um zehn Jahre in seinem Laufe aufhielt.

Ich fühlte die Torheit sich einem Menschen zu weihen, weil die despotische Gewalt unsere schwachen Herzen unfehlbar schlecht macht; doch ich wußte nicht, welcher Idee ich mich nun fortan widmen sollte. Wie gesagt, ich war damals achtzehn Jahre alt und besaß nur erst einen unklaren Instinkt für das Wahre, Gute und Schöne, der jedoch hartnäckig genug war, um mich fortgesetzt an seine Erforschung zu fesseln. Es ist das einzige an mir, was ich schätze. Ich meinte, es sei meine Pflicht über das Gesehene zu schweigen; doch hatte ich Grund zur Annahme, daß man mein momentanes Verschwinden aus des Kaisers Gefolge bemerkt hätte, denn folgendes geschah mir.

In des Herrn Benehmen gegen mich bemerkte ich keinen Wechsel. Doch brachte ich nur noch wenige Tage bei ihm zu und das aufmerksame Studium seines Charakters, das ich mir vorgenommen, wurde rauh unterbrochen. Eines Morgens erhielt ich Befehl, auf der Stelle ins Boulogner Lager abzugehn, bei meiner Ankunft dort den weiteren Befehl, mich auf einem der flachen Fahrzeuge einzuschiffen, die man auf dem Meere ausprobierte.

Wenn man mir diese Reise vor der Fontainebleauer Szene angekündigt, hätte mich der Aufbruch mehr verdrossen. So atmete ich auf, als ich mich von dem alten Schloss und seinem Wald entfernte; bei diesem unwillkürlichen Troste fühlte ich, daß meine fanatische Anhängerschaft bis ins Herz ausgehöhlt worden war. Anfangs war ich traurig über die Entdeckung und zitterte für die blendende Illusion, die mir meine blinde Ergebenheit zur Pflicht machte. Nackt hatte der große Egoist sich vor mir gezeigt. Je mehr ich mich aber von ihm entfernte, desto größer sah ich ihn in seinen Werken, und dadurch gewann er abermals, zum Teil wenigstens, jenen magischen Einfluß auf mich, durch den er die Welt geblendet ... Indessen war es mehr der riesenhafte Gedanke des Krieges, der mir fortan vorschwebte, als der an den Mann, der ihn in so fürchterlicher Weise personifizierte. Ich fühlte, wie bei diesem großen Anblicke sich in mir ein wahnsinniger Taumel für den Schlachtenruhm verdoppelte und alles daransetzte, mich dem Herrn gegenüber, der ihm gebot, auf andere Gedanken zu bringen und mit Stolz die ständige Arbeit der Männer zu betrachten, die mir alle seine bescheidenen Arbeiter zu sein schienen.

Tatsächlich war es ein homerisches Gemälde und durchaus geeignet, Schüler durch den Taumel vielfältiger Taten zu fesseln. Etwas Falsches mischte sich dennoch darunter und zeigte sich mir verschwommen, aber noch ohne jegliche Klarheit, und ich fühlte, daß es einer besseren Einsicht als der meinen bedurfte, die mich den Grund all dessen entdecken ließ. Eben hatte ich den Feldherrn abzuschätzen gelernt, nun mußte ich den Krieg ergründen ...

Folgendes neues Ereignis gab mir diese zweite Lehre: denn ich habe in meinem Leben drei harte Belehrungen erhalten und ich berichte sie Ihnen, nachdem ich tagtäglich darüber nachgedacht. Ihre Stöße erschüttern mich heftig und die letzte stürzte meiner Seele Götzenbild vollends zu Boden.

Die scheinbare Absicht einer Eroberung Englands zu Schiffe, die wiederbelebten Erinnerungen an Wilhelm den Eroberer, die Auffindung des Cäsarschen Feldlagers in Boulogne, die plötzliche Vereinigung von neunhundert Fahrzeugen unter dem Schutze einer täglich einlaufen sollenden Flotte von fünfhundert Segeln in diesem Hafen, die Einrichtung von Lagern in Dünkirchen und Ostende, Calais, Montreuil und Saint-Omer unter den Befehlen von vier Marschallen, der militärische Thron, von dem die ersten Sterne der Ehrenlegion herabfielen, die Revuen, Feste, Teilangriffe, all der Glanz hatte dem geometrischen Ausdrucke gemäß, auf seine einfachste Formel zurückgeführt, den dreifachen Zweck: England zu beunruhigen, Europa einzulullen und das Heer zu konzentrieren und zu begeistern.

Nachdem er die drei Ziele erreicht, ließ Bonaparte die künstliche Maschine, die er in Boulogne hatte spielen lassen, Stück für Stück auseinanderfallen. Als ich dort anlangte, lief sie leer wie die in Marly. Die Generäle führten dort noch täuschende Bewegungen eines angeblichen Eifers aus und waren sich dessen nicht bewußt. Man warf noch einige unglückselige Fahrzeuge ins Meer hinaus, welche von den Engländern verachtet und von Zeit zu Zeit in den Grund gebohrt wurden. Am Tage nach meiner Ankunft erhielt ich Befehl über eines dieser Fahrzeuge.

An dem Tage befand sich eine einzige englische Fregatte auf dem Meere. Mit majestätischer Gelassenheit lavierte sie, ging, kam, drehte sich, neigte sich, hob sich wieder, spiegelte sich, glitt dahin, machte Halt und spielte wie ein sich badender Schwan in der Sonne. Unser elendes Fahrzeug neuer und schlechter Erfindung hatte sich mit vier anderen ähnlichen Fahrzeugen sehr weit vorgewagt und wir waren ganz stolz auf unsern Mut, seit frühem Morgen schon auf See zu sein, als wir plötzlich der Fregatte friedliche Spiele bemerkten. Vom Festlande aus gesehen würden sie uns zweifelsohne sehr reizend und poetisch vorgekommen sein, oder auch dann, wenn sie es dabei belassen hätte, sich zwischen England und uns zu belustigen, doch tat sie's im Gegenteil zwischen uns und Frankreich. Die Boulogner Küste lag mehr als eine Meile fern. Das stimmte uns nachdenklich. Wir setzten alle unsere schlechten Segel und unsere noch viel schlechteren Ruder bei, und während wir uns abplagten, nahm die friedliche Fregatte weiterhin ihr Meerbad und beschrieb tausend anmutige Kreise um uns herum, indem sie wie ein gut dressiertes Pferd hohe Schule ritt, die Seite wechselte und in der liebenswürdigsten Weise ihre S und Z beschrieb. Wir bemerkten, daß sie die Güte hatte, uns mehrere Male vor sich vorbeifahren zu lassen, ohne einen Kanonenschuß auf uns abzugeben, ja plötzlich zog sie sogar alle ihre Kanonen ein und schloß alle ihre Stückpforten. Anfangs meinte ich, dies sei ein ganz friedliches Manöver, und verstand nichts von dieser Höflichkeit.

Ein alter derber Seemann aber versetzte mir einen Rippenstoß und sagte:

»Das geht übel aus.«

Tatsächlich fuhr die liebenswürdige und schöne Fregatte, nachdem sie uns schön wie Mäuse vor einer Katze vor sich hatte herlaufen lassen, mit vollen Segeln auf uns los und stieß uns, ohne uns eines Schusses zu würdigen, wie ein Pferd mit der Brust mit seinem Vorderteile an, zerbrach, zermalmte, bohrte uns in den Grund und fuhr fröhlich über uns weg. Einige Boote ließ sie die Gefangenen auffischen, von welchen ich der zehnte von den zweihundert Mann war, die wir bei der Abfahrt gezählt hatten. Die schöne Fregatte hieß »die Najade«, die wir, wie sie sich wohl denken können, um der französischen Fertigkeit in Wortspielen nicht verlustig zu gehen, seitdem immer »die Noyade« (die Ertränkerin) nannten.

Ich hatte ein so heftiges Bad genommen, daß man mich gerade als tot ins Meer zurückwerfen wollte, als ein Offizier, welcher meine Brieftasche untersuchte, darinnen meines Vaters Brief, den Sie eben gelesen haben, mit Lord Collingwoods Schrift darauf fand. Er ließ mir lebhaftere Sorgfalt zu teil werden; man fand noch einige Lebenszeichen in mir, und als ich wieder zu Bewußtsein kam, befand ich mich nicht an Bord der anmutigen »Najade«, sondern auf der »Victory«. Ich fragte, wer das Schiff befehlige. Lakonisch antwortete man mir: »Lord Collingwood«. Ich glaubte, er sei der Sohn von meines Vaters Bekannten; als man mich aber zu ihm führte, ward ich aus meinem Irrtum gerissen. Es war noch der nämliche Mann.

Ich konnte mein Erstaunen nicht mäßigen, als er mir mit wahrhaft väterlicher Güte sagte, daß er sich nicht gewärtig gewesen wäre des Sohnes Hüter zu werden, nachdem er der des Vaters gewesen sei; er hoffe aber, nicht übler dabei zu fahren. Er habe dem Greise in seinem letzten Augenblicke beigestanden, und als er meinen Namen gehört, mich bei sich an Bord haben wollen. Er sprach im besten Französisch mit melancholischer Sanftmut zu mir, deren Ausdruck mir niemals aus dem Gedächtnis geschwunden ist. Wenn ich mein Wort gäbe keinen Fluchtversuch zu unternehmen, könnte ich bei ihm an Bord bleiben. Ohne Zaudern gab ich ihm mein Ehrenwort, wie es achtzehnjährige junge Leute tun; und da ich es an Bord der »Victory« schöner als auf einem Ponton fand und zu meinem Erstaunen nichts sah, was die Vorurteile, die man uns gegen die Engländer beibrachte, rechtfertigte, schloß ich ziemlich schnell mit den Offizieren des Schiffes Bekanntschaft. Meine Unkenntnis des Meeres und ihrer Sprache belustigte sie und sie unterhielten sich damit, mir die eine wie die andere mit umso größerer Höflichkeit zu benehmen, als ihr Admiral mich wie einen Sohn behandelte. Dennoch überfiel mich eine große Traurigkeit, wenn ich in der Ferne die weißen Küsten der Normandie entdeckte, und ich mußte mich entfernen, um nicht zu weinen. Ich widerstand der Lust, die ich dazu verspürte, weil ich jung und kraftvoll war; später aber, als mein Wille nicht mehr mein Herz bewachte, als ich zu Bett gegangen und eingeschlummert war, stürzten unwillkürlich Tränen aus meinen Augen und benetzten meine Wangen und meines Lagers Linnen dergestalt, daß ich wieder erwachte.

Eines Abends vor allem: es hatte einen neuen Sieg über eine französische Brigg gegeben. Von weitem sah ich sie zugrunde gehen, ohne daß man einen einzigen Mann der Besatzung zu retten vermochte, und trotz des Ernstes und der Zurückhaltung der Offiziere mußte ich doch die Schreie und Hurras der Matrosen anhören, welche voller Freude das kriegerische Unternehmen sich in nichts auflösen und das Meer tropfenweise jene Flut verschlingen sahen, welche ihr Vaterland zu vernichten drohte. Den ganzen Tag über hatte ich mich in jenen Verschlag, den mir Lord Collingwood bei seiner Kabine, wie wenn er seinen Schutz damit noch besser beweisen wollte, hatte einräumen lassen, zurückgezogen und versteckt; als die Nacht gekommen war, stieg ich allein auf Verdeck. Bittrer denn je hatte ich den Feind um mich herum empfunden und ich hub an über mein so früh gehemmtes Schicksal mit größerer Bitterkeit nachzusinnen. Schon einen Monat war ich Kriegsgefangener und Admiral Collingwood, der mich öffentlich mit solch großem Wohlwollen behandelte, hatte mich nur einen Augenblick, am ersten Tage meiner Ankunft an Bord, insgeheim gesprochen. Er war gut, aber kalt und in seinem, wie im Wesen aller englischen Offiziere, gab es einen Punkt, wo Herzensergüsse Halt machten und abgezirkelte Höflichkeit sich wie ein Schlagbaum über alle Wege legte. Und dadurch eben macht sich das Leben im fremden Lande fühlbar. Mit gewissem Schreck dachte ich daran, wenn ich meine tief erniedrigende Lage, welche bis zum Kriegsende währen konnte, betrachtete, und als unvermeidlich sah ich das Opfer meiner Jugend an, die durch die schmähliche Nutzlosigkeit des Gefangenseins vernichtet ward.

Pfeilschnell fuhr die Fregatte mit allen Segeln dahin und ich fühlte sie nicht vorwärtskommen. Meine beiden Hände hatte ich auf ein Ankertau und meine Stirn auf meine beiden Hände gestützt, so geneigt schaute ich in das Wasser des Meeres. Seine grünen und dunklen Tiefen versetzten mich in eine Art Taumel und das Schweigen der Nacht wurde nur durch englische Rufe unterbrochen. Einen Moment hoffte ich, das Schiff würde mich recht weit weg von Frankreich tragen und anderen Morgens würd' ich jene graue und weiße Küste, welche in die gesegnete, heißgeliebte Erde meines armen Vaterlandes einschnitt, nicht mehr sehen ...

So meinte ich von dem ständigen Verlangen, das dieser Anblick in mir wachrief, befreit zu werden, und wenigstens nicht jene Qual zu erleiden, ohne Ehrlosigkeit nicht einmal an Entkommen denken zu dürfen, eine Tantaluspein, in der sich mein glühender Vaterlandsdurst für lange Zeit verzehren mußte. Niedergebeugt war ich durch meine Einsamkeit und wünschte eine baldige Gelegenheit herbei, mich töten zu lassen. Ich träumte davon, wie ich meinen Tod geschickt und nach der Alten großen und würdigen Weise bewerkstelligen könnte. Ich stellte mir ein heroisches Ende vor, das derer würdig war, die Inhalt so vieler Unterhaltungen der Pagen und Kriegerkinder, Gegenstand so tiefen Neides bei meinen Gefährten gewesen waren.

Mit solchen Träumen, die bei einem Achtzehnjährigen mehr einem fortwährenden Drange nach Tätigkeit und Kampf als einer ernsthaften Betrachtung ähneln, beschäftigte ich mich, als ich mich leise am Arm gefaßt werden fühlte und, als ich mich umdrehte, den guten Admiral Collingwood hinter mir stehen sah. Er hatte sein Nachtfernrohr in der Hand und war in strenger englischer Haltung in große Uniform gekleidet. In väterlicherweise legte er eine Hand auf meine Schulter und ich bemerkte einen Zug tiefer Melancholie in seinen großen schwarzen Augen und auf seiner Stirne. Seine halbgepuderten weißen Haare fielen ziemlich nachlässig über die Ohren und durch die unwandelbare Ruhe seiner Stimme und Manieren schimmerte tiefe Traurigkeit durch, die mich an diesem Abend besonders überraschte und mir sofort tiefere Ehrfurcht und Aufmerksamkeit ihm gegenüber einflößte.

»Sie sind schon traurig, mein Kind,« sagte er zu mir. »ich hab' Ihnen einige Kleinigkeiten zu sagen; wollen Sie ein wenig mit mir plaudern ?«

Ich stotterte einige unklare Worte des Dankes und der Höflichkeit, die wahrscheinlich recht unsinnig waren, denn er hörte sie nicht an und setzte sich, mir eine Hand hinstreckend, auf eine Bank. Aufrecht stand ich vor ihm.

»Sie sind erst seit einem Monat Gefangener,« fuhr er fort, »und ich bin es seit dreißig Jahren. Ja, mein Freund, ich bin Gefangener des Meeres, es bewacht mich auf allen Seiten: immer Fluten und Fluten; ich sehe nur sie, ich höre nur sie. Meine Haare sind weiß geworden unter ihrem Schaum und mein Rücken hat sich unter ihrer Feuchtigkeit schon ein wenig gewölbt. So wenig Zeit habe ich in England zugebracht, daß ich es nur von der Karte her kenne. Das Vaterland ist ein Idealwesen, das ich stets nur flüchtig sah, dem ich aber als Sklave diene und das seine Härte gegen mich in dem Maße steigert, wie ich ihm unentbehrlich werde. Das ist unser gewöhnliches Los und es ist sogar unser heißester Wunsch, solche Ketten zu tragen; manchmal aber lasten sie schwer.«

Er unterbrach sich einen Augenblick und wir schwiegen beide, denn ich würde kein Wort zu äußern gewagt haben, da ich genau sah, daß er fortfahren wollte.

»Viel hab' ich nachgedacht,« fuhr er fort, »und mich über meine Pflicht befragt, als ich Sie an Bord bekam. Ich hätte Sie nach England bringen lassen können, doch hätten Sie dort einem Elend, vor dem ich Sie stets bewahren will, und einer Verzweiflung, vor der ich Sie auch zu retten hoffe, anheimfallen können. Für Ihren Vater habe ich wirklich aufrichtige Freundschaft empfunden und will ihm hiermit einen Beweis davon geben; wenn er mich sehen könnte, würd' er zufrieden mit mir sein, nicht wahr?«

Der Admiral schwieg abermals und drückte mir die Hand. Er beugte sich sogar in der Dunkelheit vor und schaute mich aufmerksam an, um deutlich zu sehen, was ich bei allem, was er mit mir redete, empfand. Doch war ich zu bestürzt, um ihm zu antworten. Er fuhr schneller fort:

»Ich habe bereits an die Admiralität geschrieben, daß Sie beim ersten Gefangenenaustausch nach Frankreich zurückgeschickt werden sollen. Doch das kann lange währen,« fügte er hinzu, »ich verheimliche es Ihnen nicht; denn, abgesehen davon, daß Bonaparte sich nicht gern dazu herbeiläßt, macht man von uns nur wenige Gefangene ... Inzwischen möcht' ich Ihnen sagen, daß ich mit Freuden sehen würde, wenn Sie die Sprache Ihrer Feinde erlernten; wie Sie sehen beherrschen wir die Ihrige. Wenn Sie wollen, arbeiten wir zusammen und ich will Ihnen Shakespeare und Kapitän Cook leihen ... Betrüben Sie sich nicht; eher als ich werden Sie frei sein, denn wenn der Kaiser keinen Frieden schließt, werde ich's für mein ganzes Leben nicht werden!«

Der gütige Ton, durch den er sich mit mir verband und der uns zu Kameraden in seinem schwimmenden Gefängnisse machte, tat mir um seinetwillen weh; ich fühlte, daß er in solch aufopferndem und einsamen Leben das Bedürfnis verspürte, Gutes zu tun, um sich heimlich über die Rauhheiten seiner stets kriegerischen Mission zu trösten.

»Mylord,« sagte ich zu ihm, »lehren Sie mich, bevor Sie mir Worte einer neuen Sprache beibringen, die Gedanken, durch die Sie zu jener vollkommenen Ruhe, jenem seelischen Gleichmute gelangt sind, welcher wie Glück aussieht, hinter dem aber ewiges Leid steht ... Verzeihen Sie mir, was ich Ihnen da sage, doch ich fürchte, daß solche Tugend nur ständige Täuschung ist.« »Sie irren schwer,« sagte er, »schließlich beherrscht das Pflichtgefühl den Geist derartig, daß es in den Charakter übergeht und einer seiner Hauptzüge wird, gerade so, wie eine gesunde, ständig gereichte Nahrung die Blutmenge ändern und eine der Grundbeschaffenheiten unserer Leibesverfassung werden kann. Mehr vielleicht als jeder andere Mann hab ich erfahren, wie leicht man bis zu dem Punkte gelangen kann, wo man sich selber völlig vergißt. Man kann sich aber des Menschen nicht ganz entäußern und es gibt Dinge, die einem mehr am Herzen liegen, als man möchte.«

Da unterbrach er sich und nahm sein langes Fernrohr. Er legte es auf meine Schulter, um ein fernes Licht zu beobachten, das am Horizonte aufblitzte, und da er sofort an der Bewegung sah, was es war, sagte er: »Fischerboote!« und setzte sich wieder neben mich, der ich am Schiffsrande saß. Ich merkte, daß er mir seit langem etwas zu sagen hatte, worauf er noch nicht losziele.

»Sie sprechen nie von Ihrem Vater,« sagte er plötzlich zu mir, »ich bin verwundert, daß Sie mich nicht nach ihm ausfragen, was er gelitten, was er gesagt hat und nach seinem letzten Willen.«

Und da die Nacht sehr hell war, sah ich nochmals, daß ich von seinen großen schwarzen Augen aufmerksam betrachtet wurde.

»Ich fürchtete unbescheiden zu sein,« erwiderte ich verwirrt ...

Er preßte meinen Arm, wie wenn er mich am Weiterreden hindern wollte.

»Es ist nicht das,« sagte er, »my child, es ist nicht das.«

Und zweifelnd und gütig schüttelte er den Kopf.

»Ich habe wenig Gelegenheit gefunden Sie zu sprechen, Mylord.«

»Auch wenn Sie täglich Gelegenheit gehabt hätten, würden Sie nicht mit mir darüber gesprochen haben,« unterbrach er mich.

Ich bemerkte, daß er erregt war; und in seinem Tone lag etwas wie ein Vorwurf. Das also hatte er auf dem Herzen. Ich dachte noch über eine andere törichte Antwort nach, um mich zu rechtfertigen, denn nichts macht einen einfältiger als schlechte Entschuldigungen.

»Mylord«, sagte ich zu ihm, »das demütigende Gefühl des Gefangenseins zehrt mehr an einem Menschen, als Sie denken können ...« Und ich erinnere mich, daß ich bei diesen Worten eine würdige Miene und die Haltung eines Regulus anzunehmen glaubte, die Eindruck auf ihn machen konnten.

»Ach, armer Junge, armes Kind, ... Poor boy,« sagte er, »Sie sind nicht aufrichtig.

Sie erforschen sich nicht. Suchen Sie recht und Sie werden eine Gleichgültigkeit finden, für die man nicht Sie, wohl aber das militärische Los Ihres armen Vaters zur Rechenschaft ziehen kann.«

Er hatte der Wahrheit den Weg gebahnt; ich ließ ihr freien Lauf.

»Fest steht,« sagte ich, »daß ich meinen Vater nicht kannte, kaum ein einziges Mal hab' ich ihn auf Malta gesehen.«

»Das ist die Wahrheit!« rief er. »Das ist die Grausamkeit, mein Freund! Meine beiden Töchter werden einst dasselbe sagen. Werden sagen: ›Wir kannten unsern Vater ja nicht!‹; Sarah und Mary werden das sagen. Und doch liebe ich sie mit heißem und zärtlichem Herzen, erziehe sie aus der Ferne, überwache sie von meinem Schiffe aus, schreibe ihnen tagtäglich, leite ihre Lektüre, ihre Arbeiten, schicke ihnen Gedanken und Gefühle und empfange ihre kindlichen Geständnisse dafür; ich tadle sie, besänftige mich, söhne mich wieder mit ihnen aus; ich weiß alles was sie tun. Weiß, an welchem Tage sie mit allzu schönen Kleidern in der Kirche waren. Ich schicke ihrer Mutter ständig Verhaltungsbefehle für sie, sehe im Voraus, wer sie lieben, um sie anhalten und heiraten wird; ihre Männer werden meine Söhne sein; ich erziehe sie zu frommen und einfachen Frauen: man kann nicht mehr Vater sein, als ich es bin ... Und doch, all das bedeutet nichts, weil sie mich nicht sehen.«

Diese letzten Worte sagte er mit bewegter Stimme, durch die man Tränen hindurch fühlte .., Nach augenblicklichem Schweigen fuhr er fort:

»Ja, Sarah hat nur auf meinen Knien gesessen, als sie zwei Jahre alt war, und Mary hab' ich nur in meinen Armen gehalten, als ihre Augen noch nicht erschlossen waren. Ja, es ist billig, daß Sie Ihrem Vater gegenüber gleichgültig geworden sind, eines Tages werden es meine Töchter auch mir gegenüber sein. Einen Unsichtbaren liebt man nicht ... Was ist denn Ihr Vater für Sie ? Ein täglicher Brief ... Ein etwas mehr oder minder kühler Rat ... Man liebt keinen Rat, man liebt ein Lebewesen ... und ein Lebewesen, das man nicht sieht, ist nicht vorhanden und liebt man nicht ... und wenn es gestorben ist, ist es nicht weiter fort, als es schon immer war... und man beweint es nicht.«

Er erstickte und hielt inne. Da er einem Fremden gegenüber in solchem Schmerzgefühl nicht weiter gehen wollte, entfernte er sich, ging einige Zeit über spazieren und schritt das Deck in der Länge und Breite ab. Ich war sehr gerührt über diesen Anblick, der mir Gewissensbisse bereitete, weil ich nicht genügend empfunden hatte, was ein Vater wert ist, und ich verdanke diesem Abend die erste gute, natürliche und heilige Regung, die mein Herz empfand. An diesen tiefen Klagen, dieser unüberwindlichen Traurigkeit inmitten strahlenden militärischen Glanzes begriff ich, was ich alles verloren, als ich die Liebe zum häuslichen Herde, die in einem so großen Herzen solch brennende Sehnsucht zurückzulassen vermochte, nicht kennen gelernt hatte; begriff alles Erkünstelte in unserer barbarischen und rohen Erziehung, in unserem unersättlichen Bedürfnis nach betäubenden Handlungen; sah, wie durch eine plötzliche Offenbarung des Herzens, daß es ein anbetungswürdiges und beneidenswertes Leben gäbe, dem ich gewaltsam entrissen worden war, ein wahres Leben väterlicher Liebe, an dessen statt man uns ein falsches Leben bereitete, das voll war von Haßgedanken und allen Arten kindischer Eitelkeiten; begriff, daß es nur etwas gäbe, das schöner als die Familie sei und dem man sie als heiliges Opfer bringen könne: die andere Familie nämlich das Vaterland. Und während der tapfere alte Mann fern von mir weinte, weil er gut war, vergrub ich meinen Kopf in meine beiden Hände und weinte darüber, daß ich bislang so schlecht gewesen.

Nach einigen Minuten kehrte der Admiral zu mir zurück:

»Ich muß Ihnen sagen,« fuhr er mit festerem Tone fort, »daß wir uns ungesäumt Frankreich nähern werden. Als ständige Wache muß ich vor Häfen stehn. Ich habe nur ein Wort hinzuzufügen und wollte, daß dies unter vier Augen geschehe: erinnern Sie sich, daß Sie auf Ihr Ehrenwort hin hier sind, und daß ich Sie nicht überwachen werde; doch je mehr Zeit verstreicht, mein Kind, desto schwerer wird die Prüfung werden. Sie sind noch sehr jung; wenn die Versuchung zu groß wird, als daß Ihr Mut ihr widerstehen könnte, wenn Sie zu unterliegen fürchten, suchen Sie mich auf und verbergen Sie sich nicht vor mir, ich will Sie vor einer unehrenhaften Handlung bewahren, die zum Unglück ihres Namens einige Offiziere begingen. Denken Sie daran, daß man eine Galeerenkette zerbrechen darf, wenn man es vermag, niemals aber ein Ehrenwort.«

Und nach diesen letzten Worten verließ er mich mit einem Händedruck.

Ich weiß nicht, mein Herr, ob Sie an Ihrem eignen Fleisch bemerkt haben, daß Umwälzungen, die in unserer Seele vor sich gehen, häufig von einem Tage, einer Stunde oder einer denkwürdigen und unvorhergesehenen Unterhaltung abhängen, die uns erschüttert und gleichsam ganz neue Keime in uns hineinlegt, welche langsam wachsen, und unsere ferneren Handlungen sind nur ihre Folge und natürliche Entwicklung. So wirkten auf mich der Morgen in Fontainebleau und die Nacht auf dem englischen Schiffe.

Admiral Collingwood überließ mich einem neuen Kampfe als Beute. Was in mir nur tiefe Langeweile der Gefangenschaft und ein maßloser und jugendlicher Tätigkeitsdrang war, ward ein zügelloses Vaterlandsbedürfnis; angesichts des Schmerzes, der einen stets von seiner mütterlichen Erde getrennten Mann auf die Dauer aushöhlte, fühlte ich eine große Hast, meines kennen zu lernen und anzubeten. Ich dachte mir das heiß ersehnte Glück aus, das meiner in Wirklichkeit gar nicht harrte, stellte mir eine Familie vor und hub an, von Verwandten zu träumen, die ich kaum gekannt hatte und die allzu wenig verehrt zu haben ich mir zum Vorwurf machte, während sie gewohnt waren, kaum mit mir zu rechnen und in ihrer Kälte und in ihrem Egoismus völlig gleichgültig meiner verlassenen und verfehlten Existenz gegenüber lebten. So wandte sich das Gute selber in mir zum Bösen; der gute Admiral hatte mir seinen weisen Rat, den er mir erteilen zu müssen meinte, in einer Erregung gegeben, die ihm eigen war und die lauter als er selbst sprach; seine bewegte Stimme hatte mich mehr gerührt als seine weisen Worte; und während er meine Kette fester anzuziehen wähnte, hatte er den rasenden Wunsch, sie zu zerreißen, nur noch lebhafter in mir geweckt.

Fast immer geht es so mit geschriebenen oder ausgesprochenen Ratschlägen. Erfahrung allein und das Urteil, das sich aus unsern eigenen Betrachtungen ergibt, können uns belehren. Ist Ihnen, der Sie sich damit befassen, die Zwecklosigkeit der schönen Wissenschaften klar? Wozu widmen Sie sich Ihnen ? Wen bekehren Sie und von wem, bitte, werden Sie jemals verstanden ? Fast immer verhilft Ihr dem Gegenteile dessen, was Ihr verteidigt, zum Siege. Sehn Sie doch nur, da ist einer, der aus der Clarissa das bestmögliche epische Gedicht auf die Frauentugend macht, ... was geschieht ? Man behauptet das Gegenteil und begeistert sich für Lovelace, den sie doch mit ihrem jungfräulichen Glanze, den selbst Notzucht nicht befleckt hat, zermalmt; für Lovelace, der vergebens auf den Knien herumkriecht, um seines heiligen Opfers Gnade zu erflehen, und die Seele, die der Fall ihres Leibes nicht hat beschmutzen können, nicht zu rühren vermag. Bei Belehrung schlägt alles zum Übel aus. Ihr bringt nichts weiter fertig, als die Laster aufzurühren, welche stolz darauf, daß Ihr sie schildert, sich in Eurem Gemälde spiegeln und sich schön finden ... Aber Euch ist das wahrlich ganz gleich; mein harmloser und guter Admiral Collingwood jedoch hatte wirklich Freundschaft zu mir gefaßt und mein Betragen war ihm nicht gleichgültig. Auch fand er anfangs viel Vergnügen daran, als er sah, daß ich mich ernsten und anhaltenden Studien befleißigte. In meiner üblichen Zurückhaltung und Schweigsamkeit fand er auch etwas, das mit dem englischen Ernste in Einklang stand, und er gewöhnte sich daran, sich mir bei manchen Gelegenheiten zu eröffnen und mir Dinge anzuvertrauen, welche nicht ohne Bedeutung waren. Nach einiger Zeit betrachtete man mich als seinen Sekretär und Verwandten und ich sprach gut genug englisch, um nicht mehr allzu fremd zu erscheinen.

Dennoch führte ich ein grausames Leben und fand die melancholischen Tage auf dem Meere recht lang. Ganze Jahre über hörten wir nicht auf, um Frankreich herumzustreichen und immerdar sah ich am Horizonte die Küste des Landes sich abzeichnen, das Grotius »das schönste Königreich nach dem Himmel« nannte; dann kehrten wir wieder in die See zurück und ganze Monde über gab es nichts weiter um mich her als Nebel und Wasserberge. Wenn ein Schiff nah oder fern an uns vorüber kam, war es ein englisches; keinem andern war es erlaubt sich dem Winde preiszugeben und der Ozean hörte kein Wort, das nicht englisch war. Die Engländer selber waren traurig darüber und beklagten sich, daß der Ozean augenblicklich eine Wüste, wo sie sich ewig träfen, und Europa eine Festung geworden, die ihnen verschlossen sei...

Manchmal näherte sich mein hölzernes Gefängnis so sehr dem Festlande, daß ich Männer und Kinder unterscheiden konnte, die am Gestade entlang schritten. Dann schlug mir das Herz wild und eine innere Wut verzehrte mich mit solchem Ungestüm, daß ich mich im tiefsten Schiffsräume verbergen mußte, um nicht dem Verlangen zu unterliegen, davon zu schwimmen. Wenn ich aber zu dem unermüdlichen Collingwood zurückkehrte, schämte ich mich meiner kindlichen Schwäche und mußte immer wieder bewundern, wie er einen so tätigen Mut mit solch tiefer Traurigkeit in sich vereinte. Dieser Mann, der seit vierzig Jahren nur den Krieg und das Meer kannte, hörte niemals auf, sich ihrem Studium wie einer unerschöpflichen Wissenschaft zu widmen. Wenn ein Schiff unbrauchbar war, bestieg er wie ein unbarmherziger Reiter ein anderes; er benutzte sie und tötete sie unter sich. Mit mir fuhr er ihrer sieben zu Schanden. In voller Kleidung verbrachte er die Nächte auf seinen Kanonen sitzend und probierte unermüdlich aus, sein Fahrzeug in Wind und Sturm unbeweglich als Schildwache auf derselben Meeresstelle halten zu lassen, ohne vor Anker zu gehen; unermüdlich ließ er seine Besatzungen üben und wachte über sie und für sie. Dieser Mann hatte sich nie seines Reichtums erfreut und als man ihn zum Pair von England ernannte, liebte er seinen zinnernen Suppennapf wie ein Matrose. Wenn er dann wieder in seine Kabine gegangen war, wurde er wieder Familienvater und schrieb an seine Töchter, sie sollten doch ja keine feinen Damen werden und keine Romane, sondern Geschichte, Reisebeschreibungen, Abhandlungen und Shakespeare, soviel es ihnen beliebe (as often they please), lesen.

Nach der Schlacht bei Trafalgar, die ich ihn zu meinem Schmerz gewinnen sah und deren Plan er mit seinem Freunde Nelson, dessen Nachfolger er wurde, ausgearbeitet hatte, schrieb er:

»Wir haben an dem Geburtstage meiner kleinen Sarah gekämpft« ...

Manchmal fühlte er seine Gesundheit schwächer werden und bat England um Gnade; das unerbittliche antwortete ihm: »Bleib auf dem Meere!« und schickte ihm einen Titel oder für jede schöne Tat eine goldene Medaille, von denen seine Brust übervoll war. Er schrieb abermals:

»Seit ich meine Heimat verlassen, habe ich keine zehn Tage in einem Hafen zugebracht, meine Augen werden schwach; wenn ich meine Kinder sehen darf, hat das Meer mich sicherlich blind gemacht. Ich beklage es, daß man unter so vielen Offizieren so schwer einen Ersatzmann finden kann, der mir an Geschicklichkeit überlegen ist.«

England antwortete: »Ihr werdet auf dem Meere, immer auf dem Meere bleiben!«

Und bis zu seinem Tode blieb er darauf.

Solch ein Römerleben machte Eindruck auf mich und rührte mich, nachdem ich es nur einen einzigen Tag betrachtet hatte. Und ich begann mich sehr zu verachten, mich, der ich als Bürger nichts, als Vater nichts, weder als Sohn, noch als Bruder, noch als Privatmann, noch als Beamter etwas vorstellte und mich beklagte, während er sich nicht beklagte, Wider seinen Willen hatte er sich einmal nur zu erkennen gegeben und ich, ein unnützer Junge, ich, eine Ameise unter Ameisen, die der Sultan von Frankreich mit Füßen trat, machte mir meinen heimlichen Wunsch zum Vorwurf, zurückzukehren, um mich dem Zufalle seiner Launen zu überlassen und wieder ein Körnchen in jenem Staube zu werden, den er in Blut knetete ...

Der Anblick dieses wirklichen Bürgers, der nicht, wie ich es gewesen, einem Manne, sondern dem Vaterlande und der Pflicht ergeben war, ward ein glückliches Begebnis für mich, denn ich lernte in dieser strengen Schule, was wahrhafte Größe ist, die wir fortan im Waffenhandwerk suchen müssen; wie sehr sie, wenn sie so verstanden wird, unseren Beruf über alle anderen erhebt und, wie des Krieges und der Heere Zukunft auch aussehen wird, das Andenken einiger von uns als der Bewunderung würdig hinzustellen vermag.

Niemals besaß ein Mann solch inneren Frieden, welcher sich aus dem Gefühle der geheiligten Pflicht ergibt, und in höherem Grade die bescheidene Sorglosigkeit eines Soldaten, dem es wenig ausmacht, ob sein Name berühmt wird, wenn nur das Gemeinwesen gedeiht. Eines Tages sah ich ihn schreiben:

»Meines Vaterlandes Unabhängigkeit zu bewahren, ist mein vornehmster Lebenswille und lieber sehe ich meinen Leib dem Schutzwalle des Vaterlandes hinzugefügt, als daß er in zwecklosem Pompe durch eine träge Menge geschleppt wird ... Mein Leben und meine Kräfte schulde ich England... Redet mir nicht von meiner letzten Wunde, man möchte glauben, ich prahlte mit meinen Gefahren!«

Seine Traurigkeit war tief aber voller Größe; sie hinderte ihn nicht an ständiger Tätigkeit und bildete für mich den Maßstab dessen, was ein verständiger Kriegsmann sein muß, indem er nicht ehrgeizig, sondern als Künstler die »Kriegskunst« ausübte und sie zudem von hoher Warte beurteilte und manchmal wie jener Montecuculi verachtete, der, als Turenne getötet worden war, sich zurückzog und mit einem gewöhnlichen Spieler sich auf keine Partie mehr einlassen wollte. Doch war ich noch zu jung, um alle Verdienste dieses Charakters zu verstehen, und heiß ward ich von dem Ehrgeize ergriffen, in meinem Vaterlande einen seinem ähnlichen Rang zu erstreben. Als ich die Könige des Südens ihn um seinen Schutz bitten und Napoleon selber in der Hoffnung sich erhitzen sah, Collingwood befinde sich im indischen Meere, ging ich soweit, mit allen meinen Flehenswünschen die Gelegenheit zur Flucht herbeizusehnen, und trieb den Eifer meines stets genährten Ehrgeizes so weit, daß ich beinahe mein Ehrenwort brach. Ja, soweit kam es mit mir. Eines Tages ging das Schiff »der Ozean«, welches uns trug, in Gibraltar vor Anker. Ich fuhr mit dem Admiral an Land, und als ich allein in der Stadt lustwandelte, begegnete ich einem Offiziere des siebenten Husarenregiments, der im spanischen Feldzuge gefangen genommen und mit vier seiner Kameraden nach Gibraltar gebracht worden war. Sie hatten die Stadt als Gefängnis, wurden aber streng bewacht. Den Offizier hatte ich in Frankreich gekannt. Mit Freuden trafen wir uns in beinahe der nämlichen Lage wieder. Es war solange her, daß ein Franzose französisch mit mir geredet hatte, daß ich ihn beredt fand, wiewohl er durchaus einfältig war; nach Verlauf von einer Viertelstunde eröffneten wir uns gegenseitig unsere Lage. Er sagte mir sofort freimütig, daß er sich mit seinen Kameraden retten wolle, sie hätten eine ausgezeichnete Gelegenheit gefunden, und er ließe es sich nicht zweimal sagen, daß er ihnen folgen solle. Er forderte mich dringend auf, ein Gleiches zu tun. Ich antwortete ihm, er sei recht glücklich daran, weil er bewacht würde, ich aber wäre es nicht; ohne mich zu entehren, könnte ich mich nicht retten und er, seine Kameraden und ich, wir wären nicht im gleichen Falle. Das kam ihm allzu spitzfindig vor.

Ich bin meiner Treu kein Kasuistiker,« sagte er, »und wenn Du willst, werd' ich Dir einen Bischof schicken, der Dir seine Meinung darüber äußern soll. An Deiner Stelle aber würd' ich durchgehn. Ich sehe nur zweierlei: frei und unfrei sein. Weißt Du auch, daß Du in Deiner Beförderung um die mehr als fünf Jahre, die Du in jenem englischen Schiff hinschleppst, zurückgeblieben bist? Die zu Deiner Zeit Leutnants waren, sind jetzt schon Oberste geworden.«

Darüber kamen seine Gefährten und führten mich in ein ziemlich übel aussehendes Haus, wo sie Xereswein tranken, und dort zählten sie mir so viele Hauptleute, die Generäle, und so viele Unterleutnants, die Vizekönige geworden waren, auf, daß sich mir der Kopf drehte und ich ihnen versprach, mich am übernächsten Tage um Mitternacht am nämlichen Orte einzufinden. Ein kleines Boot sollte uns dort aufnehmen, das man von ehrsamen Schmugglern gemietet hatte, und dann an Bord eines französischen Schiffes bringen, das auftragsgemäß Verwundete unseres Heeres nach Toulon bringen mußte. Der Plan schien mir wunderbar, und nachdem meine Kameraden mich, um meines Gewissens Murren zu beschwichtigen, viele Becher hatten leeren lassen, schlossen sie ihre Reden mit einem siegreichen Beweisgrunde, indem sie bei ihrem Haupte schworen, streng genommen könne man einem anständigen Manne gegenüber, der einen gut behandelt habe, einige Rücksicht nehmen; alles aber bestätige ihnen die Gewißheit, daß ein Engländer kein Mensch sei.

Recht nachdenklich kehrte ich an Bord des »Ozean« zurück, und als ich geschlafen und nach dem Erwachen meine Lage klar überblickte, fragte ich mich, ob meine Landsleute sich nicht lustig über mich gemacht hätten. Doch trieben mich das Freiheitsverlangen und ein seit meiner Kindheit stets brennender und aufgestachelter Ehrgeiz trotz der Scham, die ich spürte, meinem Schwur untreu zu werden, zur Flucht. Ich verbrachte einen ganzen Tag bei dem Admirale, wagte es nicht, ihm ins Gesicht zu schauen und bemühte mich, ihn klein zu finden. Ganz laut und anmaßend sprach ich bei Tische von Napoleons Größe, begeisterte mich, rühmte sein Universalgenie, welches, Gesetzbücher schreibend, die Gesetze und Taten vollendend, die Zukunft enthülle. Unverfroren hob ich nachdrücklichst die Überlegenheit dieses Genies angesichts dem mäßigen Talente der Männer der Taktik und des Manövers hervor. Ich hoffte auf Widerspruch, stieß aber wider Erwarten bei den englischen Offizieren auf noch mehr Bewunderung für den Kaiser, als ich für ihren unerbittlichen Feind aufbringen konnte. Lord Collingwood unterbrach sein trauriges Schweigen und seine ständigen Erwägungen und lobte ihn vor allem mit so gerechten, so kraftvollen, so bestimmten Worten, indem er seinen Offizieren die Größe der Vorhersehungen des Kaisers, die zauberhafte Raschheit seiner Ausführungen, die Festigkeit seiner Befehle, die Sicherheit seines Urteils, seinen Scharfblick bei Unterhandlungen, die Richtigkeit seiner Gedanken im Rate, seine Schlachtengröße, seine Ruhe bei Gefahren, seine Beharrlichkeit beim Vorbereiten von Unternehmungen, seinen Stolz in der Frankreich gegebenen Haltung, kurz all die Eigenschaften zugleich zur Betrachtung anempfahl, welche den großen Mann ausmachen. Ich fragte mich, was die Geschichte solchem Lobe je hinzuzufügen vermochte, und war zu Boden geschmettert, weil ich mich wider den Admiral in der Hoffnung, ihn ungerechte Anklagen erheben zu hören, aufzubringen gesucht. In meiner Erbärmlichkeit hatt' ich ihn ins Unrecht setzen wollen, damit mir ein unbedachtes oder beleidigendes Wort von seiner Seite als Rechtfertigung für die Treulosigkeit dienen könnte, auf welche ich sann. Er schien aber im Gegenteil seine Güte angelegentlichst zu verdoppeln, und da seine Freundlichkeit die anderen vermuten ließ, daß ich irgendwelchen neuen Kummer hege, über den man mich billigerweise trösten müsse, waren alle mir gegenüber aufmerksamer und nachsichtiger denn je zuvor. Darüber ärgerte ich mich und verließ den Tisch.

Zu meinem Unglück führte der Admiral mich anderen Morgens abermals nach Gibraltar. Wir mußten dort acht Tage zubringen... Der Fluchtabend kam... Mein Kopf rauchte und ich überlegte in einemfort. Ich überließ mich Scheingründen und bot alles auf, um mir ihre Falschheit aus dem Kopfe zu bringen. Ein heftiger Kampf tobte in mir. Doch während meine Seele sich wand und sich um sich selber bewegte, verfolgte mein Leib, wie wenn er zwischen Ehrgeiz und Ehre zu entscheiden gehabt hätte, für sich allein den Weg zur Flucht. Ohne es gewahr zu werden, hatte ich meine Sachen zusammengepackt und wollte mich von dem Hause aus, wo wir in Gibraltar weilten, nach dem Treffpunkt begeben, als ich plötzlich stehen blieb und fühlte, daß es unmöglich war.

In allen schimpflichen Handlungen ist Gift verborgen, das sich von eines herzhaften Mannes Lippen spüren läßt, sobald er des verderblichen Bechers Rand berührt. Ohne zum Sterben bereit zu sein, kann er nicht einmal davon kosten.

Als ich sah, was ich tun wollte, daß ich mein Wort brechen wollte, überkam mich solcher Schrecken, daß ich wahnsinnig zu sein wähnte. Ich lief an den Strand und floh das verhängnisvolle Haus wie ein Pestspital, wagte nicht einmal, mich nach ihm umzusehen... Ich stürzte mich in die See und erreichte schwimmend in der Nacht mein auf den Fluten schaukelndes Gefängnis, den »Ozean«. Mich an seine Ankertaue klammernd, kletterte ich hastig an ihm hoch. Als ich auf dem Deck angelangt war, packte ich den Hauptmast, hielt mich leidenschaftlich an ihm fest, wie an einem Asyl, das mich vor der Entehrung bewahrte, und im nämlichen Augenblicke sank ich, da das Gefühl von meines Opfers Größe mir das Herz zerriß, in die Knie und brach, meine Stirn an die Eisenringe des Hauptmastes lehnend, wie ein Kind in Tränen aus.

Als der Kapitän des »Ozean« mich in solchem Zustande sah, hielt er mich für krank oder gab sich jedenfalls den Anschein es zu glauben, und ließ mich in meine Kabine tragen. Laut jammernd bat ich ihn, eine Wache vor meine Türe zu stellen, um mich am Hinausgehn zu hindern. Man schloß mich ein und ich atmete auf bei dem Gedanken, endlich der Höllenqual, den eigenen Kerkermeister spielen zu müssen, ledig zu sein. Am folgenden Morgen bei Tageslicht sah ich mich auf offener See und erfreute mich etwas größerer Ruhe, als ich das Land, das in meiner Lage Gegenstand jeglicher unglücklicher Versuchung war, aus den Augen verlor. Mit größerer Ergebung dachte ich daran, als sich meine kleine Tür auftat und der gute Admiral allein eintrat.

»Ich komme, um Ihnen Lebewohl zu sagen,« fing er mit minder ernster Miene als gewöhnlich an, »morgen früh reisen Sie nach Frankreich.«

»O, mein Gott! Zeigen Sie mir das an, um mich auf die Probe zu stellen, Mylord?«

»Das wäre ein gar grausames Spiel, mein Kind,« fuhr er fort; »ohnehin hab' ich Ihnen gegenüber ein recht großes Unrecht begangen. Ich hätte Sie gefangen auf dem Festlande in Northumberland zurücklassen und Ihnen Ihr Ehrenwort wiedergeben sollen. Ohne Gewissensbisse hätten Sie sich gegen Ihre Wächter verschwören und skrupellos List anwenden können, um zu entweichen. Da Sie mehr Freiheit hatten, haben Sie mehr gelitten; doch, gestern widerstanden Sie Gottseidank einer Gelegenheit, die Sie entehrt hätte... Das wäre ein Scheitern im Hafen gewesen, denn seit vierzehn Tagen unterhandle ich Ihres Austausches wegen, den Admiral Rosily eben abschloß... Gestern hab' ich für Sie gezittert, denn ich kannte Ihrer Kameraden Plan. In der Sorge, man würde auch Sie ergreifen, wenn man jene gefangen nähme, habe ich sie um Ihretwillen entwischen lassen. Und was hätten wir tun sollen, um das zu verheimlichen? Sie wären verloren gewesen, mein Kind, und glauben Sie mir, Napoleons alte Haudegen hätten Sie übel empfangen... Die haben alles Recht, in Ehrensachen schwierig zu sein.«

So verwirrt war ich, daß ich nicht wußte, wie ich ihm danken sollte; er sah meine Verlegenheit, schnitt eilends die schlechten Redensarten ab, womit ich meine Reue herzustottern suchte, und sagte:

»Nun, nun, nur das nicht, was wir French compliments nennen! Wir sind zufrieden mit einander, das genügt. Bei Ihnen hat man, glaub' ich, ein Sprichwort, das heißt: »Ein schönes Gefängnis gibt es nicht!« ... Lassen Sie mich in meinem sterben, mein Freund; ich hab' mich daran gewöhnt, es hat wohl so sein müssen. Doch wird es nicht mehr sehr lange währen; ich fühle, wie meine Beine unter mir zittern und kraftlos werden. Zum vierten Male hab' ich Lord Mulgrave um Ruhe gebeten und abermals hat er sie mir verweigert; schrieb mir, er wüßte nicht, wie er mich ersetzen solle. Wenn ich tot bin, wird er doch wohl jemanden finden müssen, und er täte so übel nicht, wenn er seine Vorsichtsmaßregeln träfe ...

Ich werde als Schildwache im Mittelmeer bleiben; Sie aber, my child, sollen keine Zeit verlieren. Eine Sloop ist da, die Sie fahren soll. Nur eines möchte ich Ihnen ans Herz legen: widmen Sie sich lieber einem Prinzip als einem Menschen. Die Liebe zu Ihrem Vaterlande ist eins, groß genug, um ein ganzes Herz auszufüllen und einen ganzen Verstand zu beschäftigen.«

»Ach, Mylord,« sagte ich, »es gibt Zeiten, wo man nicht recht weiß, was das Vaterland will. Ich werde meins danach fragen.«

Wir sagten uns noch einmal Lebewohl und gepreßten Herzens verließ ich den würdigen Mann, dessen Tod ich kurze Zeit später erfuhr... Er starb auf hoher See, wie er neunundvierzig Jahre gelebt hatte: ohne zu klagen, ohne sich zu rühmen und ohne seine beiden Töchter wiedergesehn zu haben, einsam und düster als eine jener alten Doggen Ossians, die Englands Küsten in Fluten und Nebeln ewig bewachen.

In seiner Schule hatte ich alles gelernt, was Kriegsexile einem an Leiden auferlegen können, und alles, womit Pflichtgefühl große Seelen zu bändigen vermag; tief durchdrungen von diesem Beispiele und durch meine und den Anblick seiner Leiden ernster gestimmt, stellte ich mich mit der Erfahrung meines Gefängnisses bei dem allmächtigen Herrn ein, den ich verlassen hatte.


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