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Nach einer Verbannung von sieben Monates traf Emma Ende März wieder in London ein. Die Mutter begleitete sie und sollte bei ihr bleiben, das Kind aber bei Emmas Großmutter in Hawarden erzogen werden.
Emma hatte das zierliche, lebhafte Geschöpfchen in dieser Zeit der Einsamkeit lieb gewonnen und Greville gebeten, es bei sich behalten zu dürfen. Er hatte es ihr abgeschlagen. In seinem stillen, den Studien geweihten Heim war für das unruhige Wesen eines Kindes kein Platz. Auch war das milde Seeklima des Deegolfes gesunder, als die trübe Nebelatmosphäre Londons. Wenn Emma ihr Kind lieb hatte, ließ sie es in Hawarden.
Blutenden Herzens hatte sie sich seinem Willen gefügt. Aber eine leise Verstimmung war in ihr zurückgeblieben.
Nun jedoch, da die Postkutsche schwerfällig über das Pflaster Londons rollte, war alles Widrige vergessen. Das Herz klopfte ihr; sie hielt es nicht auf ihrem Sitze aus und riß eines der Wagenfenster auf, um sich hinauszubeugen und nach ihm auszuspähen, dem nun ihr Leben gehören sollte.
Da war er! Vor dem Posthause stand Greville, abseits von der Menge der übrigen Wartenden!
Sie zeigte ihn der Mutter, pries seine Schönheit, seine vornehme Gesinnung, sein gutes Herz. Lachte und weinte in einem Atem, winkte ihm mit dem Taschentuch, war glücklich, daß er sie erkannte und ein wenig den Hut lüftete.
Als der Wagen hielt, stürzte sie in seine Arme.
Sie vermochte nur zu stammeln. Und sie sah es, auch er war ergriffen. Ein heller, warmer Schein war in seinen Augen.
Sanft machte er sich dann von ihr los.
»Laß uns den Leuten kein Schauspiel geben, Liebling! Nachher werden wir einander gehören. Wenn wir allein sind.«
Er nickte ihr zu und ging, der Mutter aus dem Wagen zu helfen. Mit scharfem Prüfen musterten seine Augen ihre ganze Gestalt. Er schien mit ihr zufrieden. Wie sie vor ihm stand, befangen zu ihm aufblickend, war sie mit ihrem glatt gescheitelten Haar, ihren sanften Augen eine hübsche alte Frau, der man die niedere Herkunft nicht anmerkte.
»Wie jung Sie noch sind!« sagte er liebenswürdig. »Und wie Emily Ihnen ähnelt! Man könnte Sie für Schwestern halten.«
Mrs. Lyon erwiderte die Schmeichelei mit einer altfränkischen Verbeugung, die ihr das Aussehen einer Landedeldame verlieh.
»Sir Greville sind sehr freundlich. Und ich hoffe ...«
»Bitte, meinen Namen nicht zu nennen!« unterbrach er sie hastig, sie und Emma zu einem in der Nähe haltenden Wagen führend, auf den ein Postknecht das Gepäck lud. »Die Leute sind neugierig. Und es ist nicht nötig, daß man erfährt, wer wir sind. – Nach Edgware Row, Paddington Green!« befahl er dem Kutscher und zog die Gardinen des Wagens zu. Dabei suchte er zu scherzen. »Du weißt ja, Emily, daß ich eifersüchtig bin. Ich gönne niemand deinen Anblick, Nicht einmal dem letzten Gassenkehrer Londons!«
In ihrem Herzen zog sich etwas schmerzhaft zusammen. Schämte er sich ihrer?
– – – – – – – –
In Edgware Row hatte Greville ein kleines Haus gemietet.
Das Dorf lag im Weichbild der Stadt, am Saum des Hydepark. Weithin dehnten sich ebene Felder, bewirtschaftet von fleißigen Landleuten, die ihre Früchte nach London zu Markte brachten. Inmitten großer Gärten standen die Wohnungen weit auseinander – wunderlich geformte Häuser mit vorspringendem, geschwärztem Gebälk und dicken Strohdächern, auf denen Moos wucherte. Malerisch ragten zwischen ihnen die Schenken und Herbergen hervor, zu denen das Volk Londons im Sommer pilgerte, Erholung in der reinen Luft des Landes zu suchen. Wie Burgen sahen sie aus mit ihren Schornsteinen und massigen Toren, bewehrt durch schweren Eisenbeschlag und altertümliche Türklinken. Weit in die Straße hinein reckten sie lange schwarze Arme mit großen verrosteten Schildern, an denen seltsam verzerrte Tierbilder, Sonne und Sterne hingen. Vom Winde bewegt knarrten sie mißtönig, pendelten schwerfällig hin und her, wie verblichene, vom Regen beschwerte Fahnen.
Emma sah das alles und horchte auf Grevilles Erklärungen, während der Wagen auf holperigen Wegen durch das Dorf fuhr.
Hier also sollten sie wohnen ...
Im Sommer, wenn sich alles mit frischem Grün umrahmte, mochte es das Idyll sein, von dem Greville sprach. Nun aber ...
Kein Hund bellte, kein lebendes Wesen war zu sehen. Wie ausgestorben lag das Dorf inmitten der endlosen Ebene, über die der Abend einen letzten Schimmer breitete. In dem fahlen Lichte streckten sich die entblätterten Äste der Bäume empor, wie zitternde Finger welker Greisenhände. Mit ihren grauen, lichtlosen Massen und geschlossenen Läden glichen die Häuser düsteren Grüften, in denen alles Leben ausgelöscht war. Eine starre Stille herrschte, durch die das knirschende Geräusch der Räder seltsam gespenstig klang.
Und inmitten dieses lastenden Schweigens nahte das Ziel ...
Ein Frösteln durchschauerte Emma. Unwillkürlich hüllte sie sich fester in ihren Mantel. Wie hilfesuchend tastete sie nach Grevilles Hand ...
Mit festem Druck erwiderte er die schüchterne Berührung. Und nun wurde es plötzlich hell in ihr, froh und warm.
Er liebte sie. Er war bei ihr. Was konnte ihr geschehen?
– – – – – – – –
Das Haus lag in einem geräumigen Garten, dessen Hintertür unmittelbar auf das freie Feld führte. In einem Zimmer des Erdgeschosses stand ein kleines Mahl bereit, zu dem Greville einlud. Aber Emma nahm nur wenige Bissen. Ungeduldig begehrte sie, das Haus zu sehen.
Sie stiegen in die Keller hinab, in denen Holz und Kohlen aufgestapelt waren. Auch die Waschküche befand sich hier und eine Stube für die beiden Dienstmädchen. Im Erdgeschoß besichtigten sie die Küche, in der die Mutter wirtschaften und Emma zur Hausfrau ausbilden sollte. Nebenan lag das Zimmer der Mutter. Außer dem Bett, einem Tisch und ein paar Stühlen enthielt es einen Kleiderschrank und ein großes Sofa »für das Mittagsschläfchen nach des Morgens Last und Mühe«.
Auf der anderen Seite des Hauseingangs trat man in das »Wohnzimmer der Damen«, in dem man den Imbiß eingenommen hatte. Von diesem ging es in das Speisezimmer. Es war groß wie ein Saal; Holztäfelung lief in Mannshöhe um die Wände. Die Felder über ihr und die Decke waren mit Malereien bedeckt, in denen die Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft dargestellt waren. Dienend schienen sie sich unter den Fuß einer Schönheitsgöttin zu beugen, die an der Decke thronte, umgeben von beschwingten Genien.
Als Emma das Antlitz der Göttin sah, stieß sie einen Ruf der Überraschung aus.
Ihr eigenes Gesicht schaute auf sie herab.
»Romney?« rief sie, »Hat das nicht Romney gemalt?«
Greville nickte.
»Er hat es sich nicht nehmen lassen, das Heim seiner Circe ein wenig auszustatten. Ein wertvoller Schmuck, mit dem Vorzug der Billigkeit!«
Er lachte. Sie aber stand ergriffen. Sie dachte an die stillen Tage im Atelier des Cavendish Square. Tränen traten ihr in die Augen.
»Romney!« stammelte sie. »Mein lieber Freund Romney! So hat er mich doch nicht vergessen!«
»Vergessen? Während der ganzen Zeit hat er nur von dir gesprochen. Und er ließ mir nicht Ruhe, als bis ich ihm erlaubte, daß er morgen herauskommen darf, um dich zu begrüßen!«
»Morgen? Schon morgen? Wie gut du bist, Charles, wie gut!« Jubelnd ergriff sie seine Hand, drückte sie an ihre Brust, dankte ihm mit einem strahlenden Blicke. Zum erstenmal seit langen Monaten fühlte sie sich wahrhaft glücklich. »Kennst du ihn schon lange? Hast du ihn gern?«
»Sehr gern! Er ist ein großer Künstler, ein achtungswerter Mensch. Ich kenne ihn schon seit Jahren. Es ist Zufall, daß wir uns nicht in seinem Atelier getroffen haben!«
Sie suchte sich zu erinnern.
»Greville? Richtig, ich hörte den Namen von ihm! Aber ich achtete nicht darauf. Ich ahnte ja nicht, wer Greville war!« Ihr Gesicht wurde ernst. »Aber wunderlich ist Romney doch! Warum antwortete er nicht auf meinen Brief?«
Greville schien die Frage nicht zu hören. Er erwiderte nichts. Die Tür zum Hausflur öffnend stieg er den Damen voran, die Treppe zum Obergeschoß empor.
– – – – – – – –
Emmas Zimmer lag über der Küche. Es hatte dieselbe einfache Einrichtung wie das der Mutter. Nur das große Sofa fehlte. Dafür war ein Schreibtisch da, bedeckt mit Büchern und Heften. Darüber an der Wand ein Spruch: Carpe diem!
Sonst keinerlei Schmuck. Alle jene Kleinigkeiten fehlten, mit denen Emma sich wenigstens einen Schein von Luxus vorzutäuschen liebte. Kalt und fremd mutete das Zimmer sie an. Nüchtern und streng sah es aus, wie eine Schulstube.
Es war, als habe Greville ihre Gedanken erraten.
»Hier werden wir zusammen arbeiten!« sagte er zu der Mutter. »Emily weiß ja, daß sie noch viel zu lernen hat!«
Sie begegnete seinem ernsten Blick und errötete.
Niedrig kam sie sich vor, daß sie gleich beim ersten Schritt in das neue Heim, das er ihr schenkte, zu mäkeln anfing. Warum fand sie kein Wort des Dankes für die selbstlose Sorge, mit der er sie zu sich emporzuheben strebte?
Aber die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Ach, noch immer verstand sie sich nicht zu beherrschen. Allen in ihr auftauchenden Stimmungen gab sie Raum. Ohne zu überlegen, ob sie auch gerecht waren.
Grübelnd folgte sie Greville, als er mit der Mutter voranging. Im Nebenzimmer zündete er zahlreiche, über den ganzen Raum verteilte Kerzen an. Eine sanfte Helligkeit breitete sich aus, hinreichend, um die Einzelheiten zu unterscheiden.
Mächtige Regale, angefüllt mit Büchern, bedeckten die Wände. Die vom Alter geschwärzten Einbände waren mit Steinen verziert, die farbiges Licht ausstrahlten. In hohen Glasschränken schimmerten Mineralien und Kristalle, vom einfachen, grauen Feldstein bis zum bläulichen Tessiner Cyanit und dem silberglänzenden Platin vom Ural. Alle waren mit Nummern versehen; geschriebene Hefte hingen an jedem Schrank, in denen die einzelnen Steine nach Herkunft, Art und Eigenschaften ausführlich geschildert waren. Gläser, Töpfe, Retorten, Wagen auf zwei langen Tischen in der Nähe eines kleinen Schmelzofens dienten zu Experimenten, Durch sie erforschte Greville die Zusammensetzung des Gesteins, um es nützlichen Zwecken dienstbar zu machen.
Seine Augen strahlten, während er Emma und der Mutter alles erklärte. Ihre Unwissenheit ertrug er mit nachsichtigem Lächeln, wurde nicht müde im Suchen nach leicht verständlichen Worten.
Das folgende Zimmer glich dem Laden eines Antiquitätenhändlers. Alte Ölgemälde in dunklen Rahmen bedeckten die Wände, Heiligenbilder der katholischen Kirche.
Seltsame, überschlanke Gestalten zeigten sie, in einfarbigen, kuttenähnlichen Gewändern. Durch die matte Haut der hageren Gesichter, der eckig geformten Hände und Füße glaubte man das Knochengerüst schimmern zu sehen. Einige trugen Kronen auf den Häuptern und Lilien in den Händen; andere schleppten die Last von schweren Kreuzen; wieder andere deuteten auf ihre Herzen, die blutrot aus den Leibern hervortraten und in lodernden Flammen brannten. Allen aber war ein Zug ekstatischer Begeisterung gemeinsam, der sie hoch über alles Leiden emporzuheben schien.
Auf Tischen, Postamenten, Konsolen lagen altertümliche Waffen und Gerätschaften; drei Glasschränke zeigten altrömische Vasen mit schwarzer und bunter Bemalung. Sir William Hamilton, Grevilles Oheim, hatte sie bei den Ausgrabungen von Pompeji der Lava des Vesuv entrissen und den kostbaren Schatz dem Neffen zur Aufbewahrung anvertraut. Daneben, auf einem Bücherbrett, prangten die beiden vielbändigen Werke des Gesandten über seine Beobachtungen am Vesuv und über die Phlegräischen Felder im Königreich beider Sizilien.
Zwischen diesen halbvermoderten Zeugen einer versunkenen Kultur und jenen bleichen Predigern der Weltflucht aber dehnte sich strahlend in hüllenloser Nacktheit der lebenstrotzende Körper eines schönen Weibes.
Aus schwerem, goldenem Rahmen grüßte sie von einer Staffelei herab, ein Lächeln um den vollen halbgeöffneten Mund. Über Weltlust und fromme Entrücktheit, über Heidentum und Christentum, über das Fühlen, Denken und Streben der Vergangenheit und Gegenwart schien sie sieghaft ihren Spott auszugießen.
Verleugnet mich, ihr Kurzsichtigen, und wendet euch ab von mir, wie ihr wollt! Immer werdet ihr zu mir zurückkehren. Mutter bin ich und Herrin von allem, was da war und ist und sein wird ...
Greville hatte das verstaubte und fast zerstörte Bild in dem Laden eines Vorstadthändlers entdeckt, für einen billigen Preis an sich gebracht und in mühevoller Arbeit wiederhergestellt. Das Zeichen Correggios fehlte; dennoch zweifelte er nicht, daß es von dem berühmten italienischen Meister herrührte. Gelang ihm der Beweis, so stellte das Bild ein kleines Vermögen dar.
Er floß über von Beredsamkeit. Er wies auf die Merkmale hin, die für die Echtheit des Bildes sprachen, suchte seine Zuhörerinnen zu seiner Überzeugung zu bekehren. Ganz Leidenschaft war er, Kraft, Wille.
Emma verstand kaum, was er sagte. Dennoch hörte sie ihm aufmerksam zu, beobachtete jede seiner Mienen und Bewegungen.
Schwer war es ihr aufs Herz gefallen, wie wenig sie von ihm wußte. Als ein völlig Fremder erschien er ihr, ganz unähnlich dem Bilde, das sie sich einst von ihm gemacht. Und nun suchte sie aus seiner Umgebung, aus seinen Neigungen und Beschäftigungen, aus allem, was er sprach, sein innerste Wesen zu ergründen.
Warum hatte er beim Empfange der Mutter die Nennung seines Namens verwiesen? Warum sich während der Fahrt durch die Stadt hinter zugezogenen Gardinen versteckt? Fürchtete er das Gerede der Leute? War er feige?
Seine Freude, daß die Ausstattung des Speisezimmers durch Romney nichts kostete ... die ärmliche Einrichtung in den Zimmern Emmas und der Mutter ... sein Behagen an der Billigkeit der Venus – war er ein kleinlicher Rechner?
Und endlich die Schärfe, mit der er Emma immer wieder ihre Unbildung vorwarf – war er hochmütig? Ein Schulmeister?
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Nach der Besichtigung des Oberstocks führte er die Frauen ins Wohnzimmer zurück. Zu einer Besprechung des Haushalts, die am besten gleich heute stattfand, damit jeder wußte, woran er war.
Er sagte es in einem kurzen bestimmten Ton, der zeigte, daß er nach einem überlegten Plane handelte.
Dann begann er zu reden. Über seine Stellung und über das Zusammenleben mit den Frauen, wie er es sich dachte.
Seine Familie gehörte zum vornehmsten Adel Englands. Sein Vater, achter Baron Brooks, erster Graf Warwick, entstammte dem berühmten Geschlechte der Königsmacher, das in der Geschichte des Reiches eine hervorragende Rolle gespielt hatte. Grevilles verstorbene Mutter war Elisabeth Hamilton, Gräfin Warwick gewesen, Tochter des Lords Archibald Hamilton, Gouverneurs der Insel Jamaika und des Hospitals von Greenwich. Grevilles Oheim Sir William Hamilton war der Milchbruder und vertraute Freund König Georges III., Gesandter Englands am Königlichen Hofe von Neapel, Gelehrter, Beschützer der Künste und Wissenschaften, sehr reich. Mit einer vornehmen Dame verheiratet, hatte er eine Tochter, sein einziges Kind, durch den Tod verloren und bei der steten Kränklichkeit seiner Gemahlin die Hoffnung auf weitere Nachkommenschaft aufgegeben. Seitdem hatte er seine ganze Liebe Greville zugewandt. Auf alle Weise suchte er ihn zu fördern, hatte ihm die Oberaufsicht über seine Güter in Wales übertragen, behandelte den Neffen wie einen gleichalterigen Freund. Greville suchte sich ihm durch allerlei kleine Dienstleistungen dankbar zu erweisen. Die Bewegungen im Geistesleben der Nation, die Neuerwerbungen und Verkäufe der Londoner Archäologen und Antiquare, die Intrigen am Hofe des Königs und hinter den Kulissen des Parlaments – alles Wichtige teilte er Sir William mit, der durch sein Amt gezwungen war, fern von dem Brennpunkt der Interessen und Staatsaktionen zu leben. Seit vier Jahren war Sir William nicht mehr in England gewesen, nunmehr aber hoffte er auf einen längeren Urlaub. Greville sah diesem Besuche mit gespannten Erwartungen entgegen. Er rechnete auf eine Besserung seiner Lage durch den Oheim.
Denn Grevilles Einkommensverhältnisse waren sehr mißlich. Es war notwendig, das den Frauen deutlich zu zeigen. Als jüngerer Sohn von dem angestammten Reichtum der Familie ausgeschlossen, bezog er nur eine kleine Rente. Die Einkünfte seines Amtes waren kaum der Rede wert. Um sich jedoch die Aussicht auf eine bessere Zukunft nicht zu versperren, durfte er es nicht aufgeben. Das kleine mütterliche Vermögen war verbraucht; ja, für die Mineralien- und Bilder-Sammlungen hatte er sogar bedeutende Schulden gemacht. Zwar würde sich das darin angelegte Kapital später bezahlt machen, vorderhand aber lag es brach, erforderte noch neue Aufwendungen. Alles in allem – Grevilles jährliches Einkommen betrug zweihundertfünfzig Pfund. Damit mußte man auskommen.
Er holte von einer Kommode am Fenster ein Heft herbei, das er vor Emma hinlegte. Ihre Einnahmen und Ausgaben sollte sie darin eintragen, mit genauester Sorgfalt, bis auf den halben Penny.
Einhundert Pfund waren für den Haushalt ausgeworfen. Damit mußte alles bestritten werden, was für Ernährung, Wäsche, Feuer, Licht, Kleidung der Frauen erforderlich war. Auf den ersten Blick erschien die Summe vielleicht unzureichend. Aber der Garten lieferte Obst und Gemüse, und die Mutter war eine ausgezeichnete Wirtschafterin, von der Emma Sparsamkeit lernen würde. Und weder die Frauen noch Greville waren Feinschmecker und Prasser, die übertriebene Anforderungen an die Küche stellten. Den Lohn für die beiden Dienstmädchen zahlte Greville. Das erste Mädchen erhielt neun, das zweite acht Pfund, zusammen also siebzehn Pfund. Als eine kleine Entschädigung für die Mutter hatte er dreizehn, als Taschengeld für Emma dreißig Pfund bestimmt, so daß er für sich neunzig Pfund behielt, von denen er seine Kleider, Studien und Vergnügungen bestreiten würde.
»Auch die Kosten für Besuche trage ich!« schloß er. »So bescheiden unser Leben auch sein wird, Verwandte und einflußreiche Freunde muß ich empfangen, wenn ich meine Zukunft nicht aufgeben will!«
Aufmerksam hatte die Mutter zugehört.
»Nichts dürfen Sie aufgeben, Sir Greville!« rief sie. »Lassen Sie uns nur machen! Ich kenne Leute, die von einem noch geringeren Einkommen leben und trotzdem oder gerade deshalb in allgemeiner Achtung stehen!« Sie erhob sich von dem Sofa, auf dem sie gesessen hatte, und ging zu Greville. Mit einer schüchternen Bewegung ergriff sie seine Hand. »Ich bewundere Sie, Sir Greville! Ein vornehmer Lord, der zu rechnen versteht! ... Als wir hierherkamen – ach, das Herz war mir bange und schwer. Ich hielt Sie für einen von denen, die alles nur zu ihrem Vergnügen geschaffen glauben. Und ich fürchtete, daß meine arme Amy ... ach, verzeihen Sie, aber wenn eine Mutter ihr Kind so sehen muß ... ohne Trauung, ohne Namen ... Aber nun, wo ich Sie kennen gelernt habe ... Sie werden meine Amy nicht noch unglücklicher machen, nicht wahr? Ich weiß es. Ich habe Vertrauen zu Ihnen. Und bin nun ganz beruhigt. Und ich werde alles tun, daß Sie mit uns zufrieden sind!«
Sie brach in leises Schluchzen aus und kehrte auf das Sofa zurück. Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann kam Greville zu Emma und sah ihr forschend in die Augen.
»Und Emily? Was sagt meine Emily zu unserem Budget? Noch ist es Zeit zurückzutreten!«
Sie saß noch so, wie vorhin, während er gerechnet und seine Armut bekannt hatte.
Zu seiner Not hatte er sich noch die Sorge um sie und die Mutter aufgeladen. Und sie hatte an ihm gezweifelt, sein Tun bemäkelt, seinen Charakter beargwöhnt ...
Tiefe Scham ergriff sie. Und gleichzeitig eine große, warme Freude.
Was machte es aus, daß er sie nicht in Reichtum und Wohlleben betten konnte! Er gab ihr das Höchste. Er liebte sie.
Sie sah zu ihm auf, Sehnsucht trieb sie zu ihm. Aber sie wagte nicht, sich in seine Arme zu schmiegen. Er erschien ihr so groß, so hochragend, so unnahbar. Vor ihm war sie klein, niedrig, voller Fehler. Eine Sklavin, die nur schweigen durfte. Und warten. Schweigend warten ...
Törichtes Herz mit seinem Grübeln! Törichte Seele mit ihrem Fragen und Bangen! Liebte sie ihn nicht? Und hätte sie ihn nicht ebenso geliebt, wenn er ein Bettler gewesen wäre?
Leise schüttelte sie den Kopf. Und beugte sich vor ihm. Küßte die Hand, die auf ihrem Arm lag...
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Sie hatten der Mutter Gutenacht gesagt und stiegen miteinander die Treppe empor. Im Gehen lehnte sie sich an seine Schulter. Die Berührung durchströmte sie mit wohliger Wärme. Wob um ihr Herz einen süßen Traum ...
Vergessen lag hinter ihr, was ihr je geschehen. Sir John, Hebe Vestina, das Kind – alles war nie gewesen. Ein junges Mädchen war sie. Eine Jungfrau. Keusch und unberührt schritt sie an der Hand des Geliebten über die Schwelle der hochzeitlichen Nacht ...
Vor ihrer Tür blieb Greville stehen und bot ihr die Hand. Wie um Abschied zu nehmen.
Plötzlich fiel ihr ein, daß in ihrem Zimmer nur ein Bett stand.
»Und du?« fragte sie verwirrt. »Wo schläfst du?«
Er sah sie nicht an. Er schien ebenso befangen wie sie.
»Ich ... hinter dem Bildersaal ist ein kleiner Anbau ... über der Veranda des Erdgeschosses ...«
Dort schlief er? Durch die ganze Tiefe des Hauses von ihr getrennt?
»Warum zeigtest du uns das Zimmer nicht?« fragte sie, ihren ganzen Willen zusammenraffend. »Erlaube, daß ich nachsehe, ob du dort gut aufgehoben bist!«
Ohne seine Zustimmung abzuwarten, nahm sie ihm das brennende Licht aus der Hand und ging durch ihr Zimmer, das Laboratorium und den Bildersaal voran.
Im Vorüberstreifen fiel ein flackernder Schein auf die Venus des Correggio. Spöttisch schien der volle Mund zu lächeln ...
Auch Emma lächelte. Mit demselben Spott. Mochte Greville gelehrt, weise, stark sein – dennoch war sie ihm überlegen. Weib war sie, wissendes Weib ...
Auch über sich selbst lächelte sie. Über den Traum eines unberührten Mädchentums. Wohin wäre sie mit ihm gekommen!
Vor dem Bilde der Venus zerstob er in nichts.
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Ein kleines Zimmer, nach dem Garten hinaus. Durch das offenstehende Fenster sah man die Spitzen von schwarzen Zweigen, die sich im Winde bewegten. Ein fahler Schein im Osten kündete das Nahen des neuen Tages ...
Im Sommer mußte es sich gut hier wohnen über dem großen Garten mit seinen Bäumen, Büschen und Blumen. Nun aber sah es trostlos und öde aus. Kaum das Notwendigste war vorhanden. Ein Bett, ein Stuhl, ein Waschtisch. Und doch war Raum genug für allerlei Bequemlichkeiten. Auch für ein zweites Bett.
Wieder schoß das Mißtrauen in ihr auf. Kalt und scharf suchte sie zu denken.
Seine Mätresse war sie. Wollte es sein. Warum nahm er sie nicht?
Ihr Blick flog zu ihm zurück.
Er hatte die Tür nicht hinter sich geschlossen, sondern war neben ihr stehen geblieben, wie darauf wartend, daß Emma wieder gehen sollte. Als ihre Augen den seinen begegneten, wandte er sich scheu ab. Nichts war mehr in seinem Gesicht von dem starken Selbstbewußtsein des Mannes, von dem Willen zur Herrschaft. Wie ein junges Mädchen stand er da, zitternd, errötend.
Woher hatte er nur damals im Drury-Lane-Theater den Mut genommen, sie zu küssen? War es nur ein jähes Aufflammen der unterdrückten Begierde gewesen, die auch den Keuschesten zuweilen überfiel? Das gewaltsame Hervorkehren eines Herrentums, hinter dem sich eine zaghafte Seele verbarg?
Sein wunderliches Denken, Sprechen, Handeln – nun verstand sie es. Trotz seiner dreiunddreißig Jahre hatte er wohl nie ein Weib berührt ...
Ein seltsames Gefühl ergriff sie. Tränen traten ihr in die Augen.
Ach, warum konnte sie ihm nicht die Knospe eines jungfräulichen Leibes schenken!
Verwirrt, traurig lehnte sie am Fenster, sah zu Greville hinüber. Zwischen ihnen, auf dem Stuhl, brannte das Licht. Dunkel türmte sich an der Wand der hohe Bau des Bettes.
Sollte sie gehen, wie Greville es zu erwarten schien?
Zögernd, ungewiß wandte sie sich um, das Fenster zu schließen. Ihre Befangenheit hinter einem Tun zu verbergen ...
Ein Windstoß fuhr herein ... das Licht flackerte auf ... erlosch …