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Voltaires Briefwechsel ist die Ergänzung seiner Werke und seiner Biographie: die ganze Fülle seines reichen Lebens zieht in ihm an uns vorüber. Die abstrakte Philosophie hat einen verhältnismäßig geringen Anteil an dieser Korrespondenz; die meisten Briefe beziehen sich auf die Ereignisse des täglichen Lebens. Zu ihnen gehörte für Voltaire die Aufklärung, und davon wird auch in stets neuen Formen und Bildern gesprochen. So umfangreich die Korrespondenz, die uns erhalten blieb, ist, so ist sie doch nicht lückenlos. Von Voltaires Jugend gibt sie uns nur geringe Kunde Auch aus den späteren Jahren fehlt vieles: alle Briefe Voltaires an die Marquise du Châtelet und die dazugehörigen Antworten; die Briefe Voltaires und seiner Nichte, zur Zeit, als Madame Denis in Paris weilte, 1768/69 u. a. m. Manch geistreicher Brief blieb hier unberücksichtigt, weil sein Verständnis eine gar zu umständliche Erklärung verlangt hatte. Haben Voltaires vielfache Beziehungen, die sich im Rahmen einer heute versunkenen Welt abspielten, doch schon recht viele Anmerkungen nötig gemacht. In manchen Fällen habe ich auf meine ausführliche Voltairebiographie (Leipzig 1898) hingewiesen. Der Leser, der sich für die Einzelheiten, etwa die des Calasprozesses, interessiert, wird sich die Mühe geben, das Genauere dort oder in andern ihm zugänglichen Orientierungswerken nachzulesen. Eine eingehende Wiedergabe der Kriminalprozesse wäre weit über den Rahmen von Anmerkungen hinausgegangen.
Die wenigen uns erhaltenen Briefe der Marquise an Richelieu und d'Argental, die Korrespondenz Voltaires mit Friedrich II., mit d'Alembert, mit Katharina II. habe ich immer als ein Ganzes für sich gegeben, statt jeden Brief in die allgemeine Korrespondenz chronologisch einzufügen. Dadurch tritt der Charakter dieser Beziehungen deutlicher hervor.
Voltaires Beziehungen zu Rousseau habe ich nur flüchtig angedeutet. Dieses Kapitel verlangt eine Genauigkeit der Chronologie und der Texte, die eine Auswahl von Voltairebriefen nicht geben konnte.
Die Korrespondenz Voltaires zeigt ihn uns als einen treuen Freund, als einen freundlichen Gönner junger Literaten, als den unermüdlichen Beschützer oft sehr undankbarer Schützlinge (Thieriot, die Linants), als einen freigebigen Oheim und Adoptivvater. Die Art, wie er mehrmals selbst bedeutender Geldverluste erwähnt, widerspricht durchaus dem Vorwurf des Geizes, den man ihm gemacht hat. Er hat auch in Ferney so lange eine großartige Gastfreiheit geübt (nennt er sich doch selbst l'hôtelier de l'Europe), wie seine Körperkräfte das gestatteten.
Auf einen Punkt muß, zum Verständnis der Korrespondenz, hier noch eingegangen werden: die Preß- und die Postverhältnisse des ancien régime. Wer in Frankreich ein Buch drucken lassen wollte, mußte eine königliche Druckerlaubnis dafür nachsuchen. Die Überwachung des französischen Buchhandels gehörte zu dem Ressort des Justizministers oder Kanzlers. Alle Manuskripte, die mehr als zwei Druckbogen betrugen, erhielt das Zensurbureau zur Prüfung. Dieses verteilte die Manuskripte an die Zensoren in Paris (etwa 70). Es waren Gelehrte, Geistliche (Theologen, Mitglieder der Sorbonne), die vom Kanzler ernannt wurden, den Titel »Königliche Zensoren« führten und für ihre Tätigkeit bezahlt wurden. Sie erhielten die in ihr Spezialgebiet fallenden Manuskripte zur Begutachtung, prüften, ob die Handschriften etwas Gotteslästerliches, Staatsgefährliches oder Unsittliches enthielten, und gaben, falls dieses nicht der Fall war, ihre schriftliche Approbation. Nun verlieh der Polizeipräfekt dem Verfasser die Druckerlaubnis, die ein Brief des Kanzlers bestätigen mußte. Der Autor mußte seine drei Genehmigungen dann bei der Königlichen Buchdruckskammer als königliches Privileg in die Register eintragen lassen. Die Königliche Buchdruckskammer sollte auch die vom Auslande kommenden Bücher revidieren. Wer nun all die Formalitäten bis zur Erlangung des königlichen Privilegs nicht erledigen wollte, oder wer befürchten mußte, kein Privileg zu erhalten (und in dieser Lage befand sich Voltaire seit der »Henriade«, 1724), der ließ bei einem unternehmungslustigen Drucker ohne königliches Privileg drucken. In solchen Fällen wurden weder Verfasser, noch Drucker, noch Druckort genannt, oder sämtliche Angaben wurden fingiert. Wem das nicht gefiel, der ließ im Auslande drucken, vor allem in Holland, wo Preßfreiheit herrschte. Hatte das Werk Erfolg, so wurde es doch nach Frankreich hereingebracht, und man konnte das königliche Privileg nachträglich einholen. Wenn die Zensoren keine Approbation erteilen wollten oder konnten, blieb noch die »stillschweigende Erlaubnis«, zu drucken, die oft gegeben wurde. Um die Approbation zu erhalten, wurden den Zensoren nicht selten expurgierte Manuskripte vorgelegt und dann vieles gedruckt, was die Zensur nie gebilligt hatte. – Jeder erfolgreiche Autor, und zu denen gehörte Voltaire, wurde in Frankreich wie im Ausland rücksichtslos nachgedruckt; man schrieb ihm auch vieles zu, was nicht von ihm war, um es besser zu verkaufen. Zur Erhöhung des Absatzes fälschten Verleger und Nachdrucker auch die Originale, machten sie anzüglicher, sensationeller, anstößiger.
Werke, die man der großen Öffentlichkeit nicht übergeben, aber im kleinen Kreise zirkulieren lassen wollte, ließ man von Freunden und Bekannten abschreiben. Man konnte aber nie verhindern, daß solche Abschriften nicht auch Feinden und Spekulanten in die Hände fielen, und dann erschien plötzlich (oft stark verballhornt) das im Druck, was man für sich hatte behalten wollen.
Voltaires Korrespondenz bietet Beispiele all dieser Vorkommnisse.
Die Post, welche Briefe und Bücher zu befördern hatte, war unter dem ancien régime durchaus unzuverlässig. Das Briefgeheimnis wurde sehr schlecht gewahrt. Daher Voltaires und seiner Freunde dauernde Klagen über die Unmöglichkeit, sich in Briefen offen aussprechen zu können. Da niemandes Korrespondenz damals vor Spürnasen sicher war, bestand unter der briefschreibenden und freidenkenden Gesellschaft jener Zeit eine stille Freimaurerei: Voltaire ließ seine Briefe und Bücher durch seine erlauchtesten Gäste bestellen, was diese ganz selbstverständlich fanden. War ein Werk verboten oder gar verbrannt worden, so weigerte die Post sich nämlich, es zu befördern; ganze Pakete und Ballen wurden beschlagnahmt. Zwischen diesen rein materiellen Hindernissen, von denen wir heute kaum noch eine Ahnung haben, mußte Voltaire sich hindurchwinden. Für einen Autor, der den rechtgläubigen Zensoren von vornherein verdächtig war, der gegen ihr Urteil nicht Berufung einlegen konnte, der im Laufe eines Jahres an 10–15 Schriften veröffentlichte, Schriften des Augenblicks, die eine verschleppende Behandlung nicht vertrugen, für einen Autor wie Voltaire war unter dem Joch der französischen Preßunfreiheit kein Platz. Der gehörte in ein Land der Preßfreiheit, wie die Schweiz es war.
Man hat nun Voltaire zum Vorwurf gemacht, daß er kaum eine seiner Streitschriften mit Namen veröffentlicht, daß er ihre Autorschaft geleugnet, sie Verstorbenen zugeschrieben, daß er sich hinter allerlei Pseudonymen versteckt hat. Man geht so weit, dem alten Kämpen den Mut abzusprechen. Man kann darauf nur antworten: wir haben gut reden. Wer von denen, die sich da zu Voltaires Richtern aufwerfen, hat denn auch nur ein Zehntel, ja ein Hundertstel von dem gewagt, was Voltaire für seine Überzeugungen ertragen hat? Es war im 18. Jahrhundert wirklich nicht ungefährlich, aufzuklären.
Vergegenwärtigen wir uns Voltaires Schwierigkeiten und Gefahren als Aufklärer. Seine zweimalige Bastillengefangenschaft gehört nicht hierher, die erste hatte einen politischen, die andere einen sozialen Grund. Die Liste beginnt aber mit der Verweigerung der Druckerlaubnis für die »Henriade« und der Verbannung nach England. Das Gedicht auf Adrienne Lecouvreurs Tod, die »Lettres sur les Anglais«, der »Mondain«, die »Epître à Uranie«, die »Pucelle«, die »Eléments de la Philosophie de Newton«, der »Abrégé de l'histoire universelle« ziehen ihm Verfolgungen zu, die ihn zwingen, außer Landes zu fliehen, oder außer Landes zu bleiben, will anders er nicht in die Bastille wandern. »Candide« und das »Dictonnaire Philosophique« werden verbrannt. Der Parlamentsrat Pasquier denunziert Voltaire als »Verderber der Jugend«. Voltaire floh damals nach Rolle, um dem Parlament von Dijon seine Festnahme unmöglich zu machen. Der 72jährige Voltaire war einer Haft nicht mehr gewachsen, und wer hätte den Gefangenen verteidigt? Die Calas, Sirven, La Barre und Montbailli haben nur einen Verteidiger gefunden: eben Voltaire. Von den anderen Philosophen war keiner solchen Aufgaben gewachsen.
Daß mit Zensur, Parlament und Kirche aber nicht zu spaßen war, bewiesen die Schicksale derer, die für Werke der Aufklärung verantwortlich gemacht werden konnten; Voltaire gibt eine ganze Liste dieser Aufklärer, die der Intoleranz zum Opfer fielen: Fréret, Crébillon und Diderot eingekerkert, der Abbé de Prades landflüchtig, die Veröffentlichung der Enzyklopädie seit 1758 untersagt, Helvetius seines Amts als Maître d'hôtel de la Reine beraubt, Percier und Bret, die freisinnigen Zensoren, ihrer Stellungen entsetzt, Marmontel um sein kleines Vermögen gebracht, der Abbé Audra seiner Professur für verlustig erklärt.
Das war nicht ermutigend, und vor allem, dieser ungleiche Zweikampf zwischen dem einzelnen und dem System nützte der Sache nicht, er schwächte die Kraft und lichtete die Reihen der Philosophen. Voltaire hielt sich daher für vollkommen berechtigt, dem übermächtigen Gegner mit List zu begegnen; er brach der Verfolgung die Spitze ab, täuschte im Grunde aber ja niemand.
Condorcet sagt in seiner Voltairebiographie darüber: »Die Notwendigkeit, ein Werk zu verleugnen, ist ein äußerstes Mittel, das dem Gewissen ebenso wie dem Adel des Charakters widerstrebt. Die Schmach aber fällt auf die zurück, deren Ungerechtigkeit uns im Interesse unsrer Sicherheit zu einem solchen Mittel zwingt. Wenn man zum Verbrechen stempelt, was kein Verbrechen ist, ... so verliert man das Recht darauf, die strikte Wahrheit aus dem Mund der andern zu hören.«
Zum Schluß noch eine Bemerkung: Voltaire ist einer jener Menschen gewesen, die das, was sie für richtig halten, auch in die Tat umsetzen. Er hat allen Ernstes, mit Mühen, mit Zeit- und Geldaufwand versucht, seinen kleinen Staat in Ferney nach seinen politischen, religiösen und wirtschaftlichen Anschauungen einzurichten. Er hat in Ferney dauernd für das Gemeinwohl gearbeitet und die Probe auf seine Theorien gemacht. Es wird auch hier oft beliebt, seine gemeinnützige Tätigkeit, sowie seine Leistungen auf dem Gebiet des Strafrechts, allein auf Rechnung seiner Eitelkeit zu setzen. Wenn Voltaires Tadler dann doch mehr von dieser Eitelkeit besitzen wollten! Voltaires ganze Philosophie aber liegt in diesem gemeinnützigen Schaffen des Patriarchen von Ferney. Er gleicht seinem Candide; er hat erkannt, daß uns die Rätsel der Welt stets unlöslich bleiben werden, und kümmert sich mit Faust wenig um das Jenseits. Um so kräftiger aber schlägt er seine Wurzeln im Diesseits, damit der Baum Voltaire Frucht trage und Schatten spende. Von dieser Frucht zehrt, an diesem Schatten labt sich heute noch die gebildete Welt, laben sich die, denen die Grenzen unsres Erkennens, der Gegensatz von Metaphysik und Physik, von Religion und Kirche die unveräußerliche, aber freilich oft ganz unbewußte Grundlage ihres Denkens geworden ist. Gerade diese Welt aber vergißt sehr häufig, was sie dem Streiter für Geistesfreiheit schuldet. Daß gläubige Christen Voltaire ablehnen, ja bekämpfen – wer möchte es ihnen verargen? Tastet er doch an ihr Heiligtum: die Kirche. Daß aber auch Vertreter der Intelligenz, solche, die ohne Voltaire keinen freien Atemzug tun könnten, von Voltaire nur mit schlecht verhehlter Verachtung sprechen, das ist eine unerfreuliche Erscheinung. Etwas Bescheidenheit wäre der mächtigen Gestalt gegenüber wohl angebracht, die mehr als jeder andere Aufklärer die Macht der Finsternis gebrochen und der neuen Zeit die Bahn geebnet hat, jener mächtigen Gestalt, vor der ein anderer universeller Geist, der größten einer, Goethe, sich geneigt hat, ohne den moralischen Splitterrichter zu spielen
Aber Voltaire selbst hat gesagt: Tel qui critique l'Eglise de Saint Pierre, n'est pas en état de dessiner une église de village.