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Achtes Kapitel

Da sich die Versammlung gerade in leidenschaftlichster Debatte befand – darin befand sie sich stets – und niemand den Eintritt der beiden beachtete, konnte Wera sich die »Ihren« ruhig betrachten. Aber das Mädchen aus Eskowo war eine schlechte Menschenkennerin. So erkannte sie denn nichts, sondern sah nur. Sie sah blühende Männer, darunter halbe Knaben, von denen sie wußte, daß sie für das russische Volk leben und sterben wollten; sie sah Frauen, darunter blutjunge, hübsche Geschöpfe, die bereit schienen, jeden Augenblick eine Heldentat zu begehen. Ihr Herz pochte, daß es ihr den Atem versetzte; sie warf einen strahlenden Blick auf ihren Freund, der sich wieder einmal beharrlich von ihr abwandte.

In dem Geschwirr gellender und heiserer Stimmen vernahm Wera einzelne emphatisch ausgerufene Worte, wie: »Die Sache! Das Volk! Die Sache des Volkes! Slavophilen! Selbsthilfe! Unser Prinzip! Unsere Theorie! Unsere Tendenz! Unsere Arbeit!« Sie vernahm einzelne gewaltig tönende Sätze, wie: »Das Volk muß das Volk erheben! Das Volk muß die Sache des Volkes führen! Wer aufbauen will, muß vorher zerstören! Wir müssen vorgehen! Nur keine halben Maßregeln! Es ist an der Zeit! Europa sieht auf uns – zeigen wir uns Europa! Der Terrorismus ist eine logische Folgerung.«

Da mehrere Reden zu gleicher Zeit gehalten wurden, konnte Wera nicht mehr verstehen. Die Gesichter glühten von Enthusiasmus und Spirituosen, die Augen funkelten, ein allgemeiner Ausbruch von Begeisterung erfolgte. Wera sah nicht die unweiblichen Weiber, nicht die Männer, deren Inneres ebenso verwildert zu sein schien, wie ihr Äußeres es war; sie sah nur eine Versammlung von Helden und Heldinnen, die sich für das russische Volk nach Sibirien verschicken und in Kerkern begraben ließen, die für das Volk auf das Schafott zu steigen begehrten.

Wera hielt nicht länger an sich. Mit bebender Stimme flüsterte sie Sascha zu: »Sage ihnen doch, daß ich da bin und daß sie mir etwas zu tun geben sollen.«

Sascha trat mit ihr vor.

Jemand rief: »Da sind sie!«

Alle wendeten sich um, alle blickten auf sie. Einen Augenblick entstand tiefe Stille.

»Das ist Wera Iwanowna aus Eskowo,« rief Wladimir Wassilitsch, ging auf sie zu und gab ihr die Hand.

Er war einer der Jüngsten, eine zarte, anmutige Gestalt, mit einem blassen, mädchenhaften Gesicht, das eine Fülle langer, rötlicher Locken umrahmte. Er war bestrickend schön. Aber in keines anderen Blick glühte es so unheimlich, wie in diesen großen, prachtvollen Augen, keinem anderen Mund stand eine solche hinreißende Beredsamkeit zu Gebot, wie diesen anmutigen, weichen Lippen, in keines anderen Seele war die Begeisterung für die Sache zu solchem wahnsinnigen Fanatismus geworden, wie in diesem edlen, aber gänzlich verwilderten Gemüt. Die stärksten und brutalsten Männer scheuten oder haßten ihn, die Frauen beteten ihn an. Manche hätte sich für ihn steinigen und kreuzigen lassen. Doch ihm war der Haß der Männer so gleichgültig wie die Liebe der Frauen.

»Das ist Vera Iwanowna aus Eskowo!«

Wladimir wiederholte: »Das ist das Mädchen, von dem ich euch gesprochen habe.« Und er führte sie mitten unter die Versammlung. Man drängte sich um sie, man schüttelte ihr die Hände, umarmte sie, jauchzte ihr zu. Wera wußte nicht, wie ihr geschah. Sie wagte nicht aufzusehen. Das Bewußtsein ihres Unwerts mußte ihr ja auf der Stirne brennen! Zugleich fühlte sie sich unter den »Ihren« wie bis in die Wolken erhoben. Sie war plötzlich in eine Genossenschaft eingetreten; ihre Vereinsamung hatte für alle Zeit aufgehört, aufgehört für alle Zeit hatten ihre eigenen Leiden, hatte ihr eigenes Wesen, ihr so wertlos dünkendes Selbst. Die Empfindung dieses Aufgehens in eine Allgemeinheit, dieses Sichselbstverlierens, das Gefühl einer sicheren Zugehörigkeit überkam sie wie ein Taumel. Es war der glücklichste Augenblick ihres Lebens.

Sascha stand im Hintergrund und sah mit angstvollen Blicken dem Tumult zu. Vielleicht wäre sie, wenn er ihr dringender abgeraten hätte, doch nicht mitgekommen. Nun war es geschehen, nun hatte er die Verantwortung zu tragen. Erst vor kurzem waren zwei Nihilisten vor das Kriegsgericht gestellt und zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt worden; und Wera hatte eine solche unbändige Sehnsucht, ihr Leben für die Sache des Volkes zu lassen. Er betrachtete ihre hohe, starke Gestalt, und eine unerträgliche Angst überfiel ihn. Da kam Wladimir Wassilitsch auf ihn zu.

»Und Tanila?«

»Ist auch da.«

»Natürlich ist sie auch da. Warum ist sie nicht mit hergekommen?«

»Sie war so erschöpft, wirklich todmüde. Und so traurig.«

»Traurig?«

»Weil sie dich nicht sah.«

»Unsinn.«

»Sie liebt dich zärtlich,«

»Nun ja – natürlich. Aber was tut sie?«

»Sie schläft, Colja bewacht sie.«

»Ist der Bursch auch mitgekommen?«

»Colja? Natürlich ist der auch mitgekommen.«

»Man wird ihn anstellen müssen.«

»Er ist folgsam.«

»Wie ein Hund!«

Wladimir lachte auf, ein helles, melodisches Lachen, wie das eines Knaben. Bei Tanias Namen war es einen Augenblick gewesen, als ob eine weichere Empfindung in seinem Blick aufleuchtete, ein mattes Rot sein blasses Gesicht färbte. Aber gleich darauf wandte er sich von Sascha ab, trat unter die Versammlung, brachte sie zur Ruhe und hielt eine Anrede an Wera, darin er sie im Namen der Sache unter den Ihren begrüßte und in flammenden Worten den Nihilismus als Religion der Zukunft proklamierte: »Für alle Völker, in aller Zeit.«

Jetzt folgte Rede auf Rede.


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