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Alles, was Wera von Grischas Landwirtschaft sah, machte auf sie den betrübendsten Eindruck. Auch die Felder zeigten die gröbste Vernachlässigung und trotz des gesegneten Frühjahrs war der Stand der Saaten schlecht. Unkraut überwucherte die Frucht und die meisten Schläge lagen völlig brach. Die Ackerstrecken, welche Grischa an seine Bauern abgetreten, waren viel besser imstande als die seinen; denn die Leute arbeiteten natürlich lieber für sich selbst als für den Herrn.
»Wenn ich meinen Bauern noch das zweite Drittel gäbe,« meinte Grischa, »so wären die beiden Drittel gewiß vorzüglich in Ordnung, und ich könnte für das, was ich behielte, prächtig selbst sorgen.«
»Versprechen Sie mir lieber, für Ihre beiden Drittel besser zu sorgen. Sehen Sie doch, wie kräftig der Roggen steht, der Ihnen nicht gehört, wie kümmerlich daneben der Ihrige. Jeder schwache Halm auf Ihren Feldern muß Ihnen vorkommen wie ein Mensch, der durch Ihre Schuld verkümmert.
Grischa seufzte und sah wieder einmal sehr schuldbewußt aus.
»Was soll ich machen? Ich tue, was ich kann. Am liebsten spannte ich mich selber vor den Pflug; denn warum sollen diese armen Menschen für einen anderen arbeiten? Ich kann das wirklich nicht einsehen. Sie, die Sie das Volk lieben, müssen das doch begreifen. Seien Sie doch nicht so hart!«
»Nein, ich begreife das nicht,« erwiderte Wera. »Ich kann nur begreifen, daß der Mensch seine Pflicht tun muß, und Ihrer Bauern Pflicht ist es, Ihren Acker gut zu bestellen. Die Pflicht des Herrn ist Gerechtigkeit und Fürsorge, die des Volkes Fleiß und Gehorsam. Beide haben keine anderen Pflichten gegen einander.«
Hart am Wege pflügte ein Bauer mit elenden, abgetriebenen Pferden, auf die er unbarmherzig losschlug.
Wera stieg die Zornesröte ins Gesicht.
»Was fällt dir ein, Bauer?« rief sie dem Wütenden zu. »Bist du ein Christ? Die Tiere können nicht besser ziehen, denn du gibst ihnen zu wenig Nahrung. So sei doch nicht so grausam.«
Aber der Bauer, ohne sich nur nach der Sprecherin umzuwenden, fuhr fort, auf die Gäule loszuschlagen.
»So befehlen Sie doch dem Manne, den Stock fortzuwerfen. Wozu sind Sie denn hier der Herr?«
»He, Trischka,« schrie Grischa gehorsam den Bauer an. »Hörst du, Trischka!«
Aber Trischka hörte nicht. Er war ein freier Bauer, pflügte auf seinem eigenen Felde, mit seinen eigenen Pferden, davon er das eine aus seines Herrn Stall erhalten. Auf dieses schlug er am wütendsten los.
Grischa kannte das Tier und wurde ganz fahl im Gesicht. Er lief zu dem Manne hin, um ihm den Stock zu entreißen.
»Das ist mein Pferd, Väterchen,« sagte der Mensch mit einem boshaften Grinsen. »'s ist ein verfluchter Racker, den ich totprügeln werde. Was sagst du, Väterchen? Du hast ganz recht. Ein jeder seh' nach dem Seinen.«
Und von neuem schwang er seine Stange, während Grischas Arm wie gelähmt herabsank.
»Es ist ein schlechtes Volk,« sagte er, als er wieder neben Wera einherging, mit tiefster Bekümmernis. »Aber wer ist schuld daran? Nun müssen wir es tragen, es ist unsere Strafe. Wir können ja auch nicht verlangen, daß sie uns dankbar sind; dankbar wofür? Daß wir sie endlich haben werden lassen, was sie sind: freie Menschen und ihnen von unserem Überflusse abgeben? Wir sollten im Gegenteil alle Tage Gott bitten, daß er Barmherzigkeit mit uns habe und daß das Volk uns verzeihen möge. Meinen Sie nicht auch?«
Statt aller Antwort frug Wera: »Bringt Natalia Arkadiewna Ihnen alle Schriften, die bei uns gedruckt werden?«
»Alle. Es ist nicht zu sagen, wie schön sie sind.«
»Aber verstehen Sie alles?«
»Ich denke darüber nach. Sie gehen mir Tag und Nacht im Kopfe herum. Vieles ist wundervoll wahr.«
»Wundervoll! Also Ihnen ist alles klar?«
»Wenn mir etwas nicht klar ist, so suche ich mich darüber zu belehren.«
»Bei wem? Bei Ihrem Mütterchen?«
»Ach nein, mein Mütterchen schüttelt zu allem nur den Kopf und bricht in Tränen aus; und Anuschka wird zornig. Nein, ich frage Natalia Arkadiewna, die deutet mir alles. Sie ist eine großartige Seele.«
»Das ist sie.«
»Wenn man bedenkt, daß sie, wie der Heiland in der Legende, alles mit dem Volke teilt, muß man staunen. Sie ist ein erhabenes Beispiel. Täten alle wie sie, so würde es bald auf der Welt gar kein Elend mehr geben.«
Freilich würden dann wohl alle schmutzige Kragen und Manschetten haben, mußte er denken, und kam sich bei diesem Gedanken so schlecht vor, daß er sich vor sich selbst schämte.
Grischa wäre an der Seite Weras am liebsten in die weite Welt hineingewandert; aber seine Begleiterin mahnte zur Rückkehr. Der Himmel war so strahlend, die Erde so frühlingsgrün und blütenbedeckt, hoch in den Lüften jubilierten Lerchen, so triumphierend, daß die beiden jungen Menschen den Jammer des Lebens, womit sie ihre Seelen ganz erfüllen wollten, wohl oder übel vergessen mußten. Sie plauderten wie alte Bekannte, und Grischa zeigte Wera aus der Ferne den Sumpf, wo sich im Umkreis von fünfzig Werst die beste Schnepfenjagd befand. Eines Morgens hatte er mit Hilfe seines Karo – im Umkreis von fünfzig Werst gab es keinen besseren Hund – von diesen Vögeln sechzehn Stück erlegt. Und wie schön in der Morgendämmerung am Rande des Waldes zu stehen, wenn es in der Natur so lautlos und feierlich war wie in der Kirche. Der Himmel mit ausgelöschten Sternen blaß und klar, im Osten mit einem orangefarbenen Streif, welcher wuchs und wuchs. Das hohe Gras so schwer mit Tau getränkt, daß es tief herabhing und der Tritt des Jägers eine dunkle Fährte zurückließ; die jungen Blätter zitternd in der kühlen Morgenluft.
Die Flinte in der Hand, wartet der Jäger; jede Bewegung des Hundes beobachtend und so gespannt lauschend, daß er hört, wie hinter ihm ein verwelktes Blatt, das am Stamm überwintert hat, von dem jungen Triebe verdrängt, zur Erde fällt. Jetzt wird es immer lichter, die Flammen des Morgenrotes lodern hoch auf, der ganze östliche Himmel steht in Glut. Auf der schwarzen Fläche des Sumpfes liegt es glühend wie der Widerschein eines Brandes. Da, ein scharfer, knarrender Laut – die Schnepfe! Ein Krach, der Hund stürzt sich ins Röhricht. Karo, apport! So geht es, bis die Jagdtasche gefüllt ist, bis die betaute Wiese im Sonnenglanz funkelt wie ein Diamantenfeld.
Und in seinem Entzücken über die Freuden der Jagd vergaß Grischa gänzlich sein Vorhaben, nie mehr gebratene Schnepfen zu essen.
Sie hatten sich so verspätet, daß Grischas Mütterchen sich bereits ängstigte, und Anuschka in vollem Zorn den Kuchen hatte anbrennen lassen, den sie, eigentlich ganz gegen ihren Willen, für die Gäste gebacken. Der Teetisch stand unter den Fliederbäumen gedeckt und war über und über mit Weras Blumen geschmückt. Das Mütterchen trippelte den beiden aufgeregt entgegen, in großem Jammer über den verbrannten Kuchen und in heller Freude über Weras Blumen.
»Wo habt ihr denn nur gesteckt? Denkt euch, Natalia Arkadiewna ist im Stalle und predigt den Mägden. Alle sind hingelaufen, Anuschka sitzt ganz allein in der Küche. Wenn das unser Pope erfährt. Was aber auch den Menschen alles einfällt? Wer hätte das in meiner Jugend gedacht? Ihr werdet bald verhungert sein, aber wir können doch nicht frühstücken ohne Natalia Arkadiewna. Vielleicht holt sie einer von euch?«
Grischa wollte sogleich gehen, doch Wera bat ihn, bei seinem Mütterchen zu bleiben, und so blieb er. Sie begab sich in den Stall, wo sich ihr der wunderbarste Anblick bot: Mägde, Knechte, Bauernweiber mit ihren Kindern, um ein umgestülptes Branntweinfaß geschart, darauf die Nihilistin wie auf einer Kanzel stand und mit leidenschaftlichen Gebärden Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit predigte. Dabei bediente sie sich der dem Volke verständlichsten Sprache der Gleichnisse und Bilder. Wera erkannte die Wirkung der Predigt an den wilden, erregten Gesichtern der Männer; die Weiber dagegen waren sehr gerührt und schluchzten. Einer der Lautesten war der Kutscher Mischka.
Beim Eintreten Weras deutete Natalia Arkadiewna auf sie und rief: »Seht, meine Brüder und Schwestern: Diese ist auch eine von jenen, welche um eurer Leiden willen sich verschworen hat, eure Unterdrücker von der russischen Erde fortzutilgen. Sie wird euretwillen ihre Hände in das Blut eurer Feinde tauchen; sie wird euretwillen über die Leichname eurer Tyrannen hinwegschreiten. Küsset diese Hände, diese Füße! Siehe dort, russisches Volk, deine Märtyrerin, deine Heilige.«
Und zum Entsetzen Weras stürzten die Weiber auf sie zu und küßten trotz ihrer heftigen Abwehr, ihre Hände und ihr Gewand. Sie wollte reden, aber die Stimme versagte ihr. Denn ihr fiel ein, wie sie vom höchsten Glücke sich beseeligt gefühlt hatte, als damals, in der Nacht ihrer Ankunft in Moskau, die Ihren sie so tumultuarisch begrüßten. Bei der fanatischen Huldigung dieser Menschen aber, denen sie soeben als Mörderin und Totschlägerin bezeichnet worden, ergriff sie Abscheu. Sollten diese Verbrechen wirklich von ihr gefordert werden, so hätte sie dieselben vielleicht begehen müssen; aber nicht preisen sollte man sie um solcher Taten willen. Möglich, daß der politische Mord eine Notwendigkeit war – das wußte sie nicht anders, das glaubte sie den Ihren – für sie blieb es immerhin ein Mord. Freilich hatte sie noch vor kurzem selbst den politischen Mord als eine verdienstvolle Sache bezeichnet. Was war seitdem mit ihr vorgegangen?
Und Wera kam sich so schuldbeladen vor, als hätte sie an der Sache des Volks einen Verrat begangen.
In der gedrücktesten Stimmung kehrte sie mit der Volksrednerin nach dem Hause zurück, sich fürchtend, nach dem Erlebten dem Mütterchen unter die milden Augen zu treten und einem der leuchtenden Blicke Grischas zu begegnen. Natalia Arkadiewna dagegen hatte der im Stalle gehabte Erfolg in eine Begeisterung versetzt, daß sie wie neubelebt neben Wera herging, indem sie fortfuhr, den Nihilismus als die alleinseligmachende Religion der Völker zu verkünden. Sie mäßigte ihre Ergüsse auch nicht, als sie sich der Fliederlaube näherten, und rief dem Hausherrn schon von weitem zu: »Dieses Mal habe ich Ihre Leute in einer Weise mit der Sache bekannt gemacht, daß dem Volk die Augen aufgegangen sind. Das Volk muß das Sehen lernen, wie ein Kind das Gehen. Das Volk wird sich wundern, was es nach und nach zu erblicken bekommt. Es soll die Augen aufreißen. Schade, daß Sie vorhin nicht dabei waren! Ihr Kutscher Mischka ist ein Prachtkerl. Und wie er mich verstanden hat. An dem werden Sie noch Wunder erleben.«
»Er war der Beste von meinen Leuten,« meinte Grischa und sah zu Boden. »Wir sind von Kind an zusammen gewesen und haben miteinander gespielt. Ich habe ihn lieb. Es sollte mir leid tun – verzeihen Sie, daß ich es Ihnen sage – aber wirklich, Natalia Arkadiewna, es würde mich schmerzen, wenn Sie den Mischka gegen mich aufreizen sollten. Ich hoffe, daß er auch für mich etwas Zuneigung fühlt, denn ich bin stets gütig gegen ihn gewesen.«
Es war die längste Rede, die Grischa jemals in einem Atem gehalten. Sie war ihm auch schwer genug geworden; aber er dachte: Wera Iwanowna soll erfahren, daß ich noch immer in meinem Hause Herr bin. Also redete er in Gottes Namen und bereitete dadurch seinem Mütterchen die Freude, gleich am frühen Morgen gerührt sein zu können und von ihrem schneeweißen, mit selbstgeklöppelten Spitzen besetzten Taschentuch reichlichen Gebrauch machen zu dürfen. Aber dann fiel ihr der Kuchen ein und daß derselbe heute außergewöhnlich gut geraten, worüber sie sich so von Herzen freuen mußte, daß sie beim besten Willen nicht vermochte, von Herzen gerührt zu sein.
Natalia Arkadiewna war von Grischas Rede weniger erbaut, sie meinte dazu: »Sie stehen noch nicht auf der Höhe der Situation, sonst würden Sie gerade von denjenigen, die Sie in Ihr Herz geschlossen haben, wünschen müssen, daß dieselben Ihnen in vollständiger Freiheit und Gleichheit gegenüberständen, aller Vorurteile des Standes los und ledig. Ich hoffe übrigens, Ihren Kutscher gegen Ihren Willen so weit zu entwickeln, wie es mir für seine zukünftige soziale Stellung das Rechte zu sein scheint.«
Man setzte sich; Natalia Arkadiewna aber erst, nachdem sie rings um ihren Platz alle Blumen entfernt hatte. Weras Blumen! dachte Grischa mit stillem Ingrimm. Das Mütterchen wollte den Tee bereiten, doch Wera tat es für sie, und das Mütterchen ließ es für sich tun, in Grischas Leben ein unerhörtes Ereignis, das Wera als durchaus selbstverständlich mit großer Ruhe hinnahm und das den guten Grischa vollständig fassungslos machte. Daß sein Mütterchen sich sozusagen das Zepter aus den Händen nehmen ließ und einer anderen übertrug, das mußte im Staate Dawidkowo etwas Großes zu bedeuten haben. Über seinem Staunen merkte er nicht einmal, daß er der einzige war, der Tee trank, denn auch das Mütterchen nahm, den nihilistischen Grundsätzen Natalia Arkadiewnas und dem Frieden zuliebe, an diesem sonnigen Morgen das Essen des Volkes: die gesegnete Grütze.
Sie saßen und verzehrten unter der blühenden Frühlingspracht schweigend das Frühmahl, als Anuschka gestürzt kam, heulend und scheltend; die Mägde wollten den Rahm nicht von der Milch schöpfen. Wera schenkte dem Prachtmenschen gerade zum viertenmal Tee ein. Anuschka sah es, verstummte, blieb stehen, wo sie stand, starrte bald das Mütterchen, bald Wera an, stieß einen dumpfen Laut aus, warf sich plötzlich die Schürze über den Kopf und lief ins Haus.
»Was hat nur Anuschka heute wieder?« meinte Grischa, so hastig den heißen Tee herunterschluckend, daß dieser ihm in die unrechte Kehle kam und er fürchterlich husten mußte. Aber niemand wußte, was Anuschka heute wieder hatte.
Nachdem Grischa den Erstickungsanfall glücklich überstanden, forderte Wera ihn auf, nach den widerspenstigen Mägden zu sehen, eine Kühnheit, die das Mütterchen mit Schrecken erfüllte. In welchen Unwillen würde Natalia Arkadiewna geraten, und was würden die rebellischen Mägde dazu sagen?! Aber wie wurde ihr, als Grischa auch sogleich ganz gehorsam aufstand, bereit, mit Wera in das Milchhaus zu gehen, ohne im mindesten auf die schreckliche Natalia Arkadiewna zu achten.
Dort konnten die beiden allerdings nicht viel ausrichten, denn von den Mägden war nichts zu sehen und zu hören. Grischa war der Ansicht, sie wären zum Popen gelaufen, und fühlte sich Mannes genug, für einen freundlichen Blick von Wera die Widerspenstigen im Notfall mit Gewalt zu ihrer Pflicht zurückzubringen. Doch begnügte sich seine Herrin für diesmal damit, daß sie selbst die Sahne von der Milch abnahm. Grischa half ihr dabei. Mit wahrhaft heiligem Eifer hielt er in beiden Armen den mächtigen Sahnenapf, andachtsvoll zuschauend, wie Weras Hand sicher den breiten Löffel über die Milch führte. »Und,« so schilderte er später diesen Vorgang begeistert seinem Mütterchen, »und nicht einen Streifen Sahne ließ sie zurück. Es ist erstaunlich! Die versteht's, das gäbe eine Hausfrau! Denke doch, nicht einen Streifen!«
Wera wurde über der häuslichen Beschäftigung ganz heiter. Ja, wenn sie in Dawidkowo hatte bleiben können! Es gab dort so vieles zu tun, Arbeit an allen Ecken und Enden. Aber sie würde damit fertig werden und das ohne Anuschkas Hilfe. Ach, arbeiten, arbeiten! Früher hatte sie gar nicht gedacht, welcher Segen in der häuslichen Arbeit lag, früher hatte sie das Schaffen der Frau im Hause heimlich verachtet.
Und es wurde noch schöner. Natalia Arkadiewna mußte für die »Sache« tätig sein und brach gleich nach dem Frühstück auf, ohne Wera aufzufordern, mit ihr zu gehen. Sie begab sich zu einigen Bauerngehöften, darin sie ihre Mission auszuüben und das Heil des Volkes zu verkündigen hatte. Grischa wollte sie von Mischka fahren lassen, aber Natalia lehnte dieses Anerbieten ab. Sie wollte sich für das Volk müde laufen.
Das war ein herrlicher Tag! Wera ging dem Mütterchen nicht von der Seite und nicht von ihrer Seite wich Grischa. Mit jedem Augenblick kamen ihr Haus, Garten und Feld schöner vor. Und das war auch kein Wunder, schien sich doch die Sonne im ganzen großen Rußland eigens das kleine Dawidkowo ausgesucht zu haben, um allen ihren Glanz darüber zu schütten.
Das Mütterchen zeigte Wera das Haus von oben bis unten, vom Dach bis zum Keller. Das Haus war, wie der Gemüse- und der Blumengarten des Mütterchens Stolz. Grischa hatte sich bis dahin nicht viel darum gekümmert und »dergleichen Dinge« etwas geringschätzig behandelt. Das wurde plötzlich anders, das wurde auf einen Schlag ganz anders; denn Wera Iwanowna flößten »dergleichen Dinge« sichtlich die größte Teilnahme, ja ein unverhohlenes Entzücken ein. Da war die Leinwandkammer und die Kräuterkammer, die Kammer für das Eingesottene und alle die anderen Leckerbissen, darein sich, wenn es noch Gerechtigkeit auf der Welt gab, das russische Volk in Bälde teilen sollte. Und was für Leinwand war da! Alles unter den Augen des Mütterchens in ihrem Hause gesponnen und gewebt mit den prächtigsten, bunten Säumen. Was für herrliches Gemüse, das Mütterchen in ihrem Garten zog, das hatte Wera bereits kennen gelernt und als Naturwunder bestaunt. Aber nun die Konserven! Solche Senfgurken, solche Zuckererbsen, solche getrocknete Äpfel, Pflaumen und Birnen sollten in Rußland noch an einem anderen Orte zu finden sein. Das Eingemachte allein war für eine Hausfrau eine Reise nach Dawidkow wert. Melonen und Pfirsiche hatte das Mütterchen, zehn Jahrgänge alt. Und schmeckten wie frisch! Erdbeeren so rot, als wären sie eben gepflückt worden! Von Marmeladen gab es eine vollständige Mustersammlung und was den Ingwer anbetraf – – Wera mußte durchaus den Ingwer kosten. Und die Himbeeren! Ach, die Himbeeren – –
Wera kostete, Wera bewunderte, und das Gesicht des Mütterchens wurde immer strahlender; denn auch ihr Grischa kostete von allem, wenn Wera kostete, und befand sich in einem Zustand von Ekstase, als ob das Eingemachte des Mütterchens Kwas wäre.
Dann wollte die Dreieinigkeit auch die Küche besichtigen, jenen geheiligten Raum, in dem Anuschka die Oberpriesterin war und der selbst von dem Mütterchen nur mit Scheu betreten ward. Aber sie gelangten nicht hinein. Anuschka ließ sie nicht über die Schwelle, Anuschka, mit einem Gesicht so rot wie ihre Himbeerlimonade, wies sie an der Tür zurück.
So gingen sie denn und waren nicht einmal über Anuschkas Zorn sonderlich betrübt. Grischa, dieser herzlose Mensch, lachte sogar über das feuerfarbene Antlitz seiner würdigen Amme, und das Mütterchen ließ gänzlich die gute Gelegenheit unbenutzt, aus tiefster Seele zu seufzen. Sie begaben sich hinaus unter die Linden, deren Blätter im Winde leise rauschten. Und die Vögel sangen in den Zweigen, die Bienen summten um die Blüten, und die Welt war so schön, als wäre es der Tag Schöpfung, an welchem der Herr das erste Menschenpaar geschaffen.
Plötzlich begann das Mütterchen sich mit weinerlicher Stimme zu beklagen, daß sie so ganz allein auf der Welt sei und daß ihr Grischa ihr nichts als Kummer und Sorgen bereite. Dann küßte sie Wera und fragte diese nach ihren Eltern.
Grischa erschrak. Was machte sie für ein Gesicht! Sie wurde ganz bleich, sie zitterte, und er wartete angstvoll, was sie dem Mütterchen antworten würde.
Wera sagte und ihre Stimme klang scharf und hart: »Es ist so vieles Lüge auf der Welt! Eine Lüge ist auch mein Name; denn der Mann, nach dem ich heiße, war nicht mein Vater. Es ist gut, daß davon gesprochen wird. Ich will nicht in diesem gesegneten Hause mit einer Lüge sein. Nun wissen Sie, was meine Mutter gewesen, und nun fragen Sie mich nicht mehr.«
Ein Schleier breitete sich über die goldene Herrlichkeit des Frühlingstages. Das Mütterchen war ganz fassungslos. Ein solches prächtiges Mädchen. Aber das konnte sie ihrem Grischa nicht antun. Dafür war sie ein zu gutes Mütterchen, um ihrem einzigen Sohne ein Mädchen zur Frau zu geben, welches eine Lüge sagen mußte, wenn man es nach dem Namen ihres Vaters frug. Natalia Arkadiewna hatte recht, es war eine böse, böse Welt.
Bleich und stumm ging Grischa neben Wera. Wie sie ihn dauerte. Sie dauerte ihn so, daß er sie, die Starke und Stolze, hätte an seine Brust nehmen mögen, sich ihren Kopf an sein Herz legen, um über ihrem geneigten Kopf zu weinen und zu beten, wie über dem Haupte eines kranken Kindes.
Bald darauf kam Natalia Arkadiewna zurück, halb tot vor Erschöpfung. Wera ging mit ihr auf die Stube und blieb bei ihr, bis Anuschka mit der Meldung kam, daß Mischka bereits seit einer Stunde mit dem Wagen warte. Ob er etwa wieder ausspannen sollte?
Aber Natalia wollte nicht bleiben und ruhen. Sie hatte in Moskau für die Sache zu tun. Von Wera unterstützt, machte sie sich auf und schwankte die Treppe hinunter. Unten waren Grischa und das Mütterchen, welches Wera um den Hals fiel, sie unter strömenden Tränen küssend und segnend. Grischa stammelte nur einige wirre Worte.
Eine schwere, totenfarbene Dämmerung lag über den Linden und dem von schimmernden Blüten umwobenen Häuschen, als die beiden Nihilistinnen nach vollbrachter Arbeit Dawidkowo wieder verließen.