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Vierzehntes Kapitel.

Langsam durch die Reihe von Gemächern schreitend, dachte Anna Pawlowna: Eigentlich haben jene beiden ganz recht, wenn sie eine schlechte Komödienszene daraus machen. Auch die russische Gesellschaft spielt in diesem Augenblick das Drama »Nihilismus«. Es kommt Blut und Mord darin vor, aber sie betrachtet das Stück trotzdem nur als Spiel. Die Epoche der französischen Sittenkomödie auf der Bühne wie im Leben naht ihrem Ende; selbst gegen das Ehebruchsdrama ist die Gesellschaft gleichgültig geworden. Deshalb werfen wir unsere Leidenschaften beizeiten auf ein anderes Gebiet, auf den Sozialismus. Da jedoch unsere ermatteten Nerven der Reizung bedürfen, so verschärfen wir den Sozialismus zum Nihilismus. Ich bin begierig, wie wir dieses neue Gebiet für uns ausbeuten, was für Resultate die Experimente, die wir mit dem Volke und mit uns selbst anstellen, ergeben werden. Wir wollen das Volk mit der Gesellschaft mischen, das heißt zwei der denkbar verschiedensten Stoffe vereinigen, die kein Atom miteinander gemein haben, die sich gegenseitig heftig abstoßen. Es muß eine Explosion geben. Eh bien, erwarten wir sie.

Aber wird dieses Leben mehr für uns sein, als eine bloße Zerstreuung? Schlägt unser Herz dabei in Wahrheit lebhafter? Und wofür? Für das Volk? Das Volk! Wir stellen uns freilich an seine Seite, wir proklamieren uns allerdings als seinesgleichen und das Volk – nun und das Volk glaubt uns. Aber glauben wir uns selbst? Wir mit unserer Selbsterkenntnis, unserer Selbstanalyse? Oder sollte Boris recht haben, wenn er behauptet, daß es lediglich das Neue ist, das diese Gewalt über uns ausübt? Der Nihilismus als Mode, als Sport. Abscheulich! Ich will die Frage umkehren: Könnte die russische Gesellschaft aus innerster Überzeugung nihilistisch sein? Warum nicht? Sind wir doch zu der Überzeugung gekommen, daß wir nichts taugen. Dennoch wird nie und nimmer die Gesellschaft den Heroismus haben, sich gegen sich selbst zu empören. Infolgedessen können wir dem Volke gegenüber keine ehrlichen Mitspieler sein. Wir betrügen es und können uns nicht einmal damit entschuldigen, daß wir uns selbst betrügen. Und ich – Was ist es mit mir?

Sie blieb stehen und preßte ihre Hand gegen die Stirne.

»Und ich – was ist es mit mir?« wiederholte sie halblaut.

Sie sah auf und erblickte in einem Spiegel ihre Gestalt in voller strahlender Schönheit. Ernsthaft spähte sie in ihr Gesicht, in ihre Augen, als könnten diese es ihr sagen. Aber ihre Augen blieben so unergründlich wie das Element, dessen Farbe sie trugen.

»Ob das, was ich empfinde, wohl Sehnsucht ist?« sprach sie vor sich hin. »Aber Sehnsucht wonach? Nach einem vollen, reichen Leben, das ich nirgends finden kann? Überall habe ich danach gesucht, im Himmel und auf Erden; warum sollte ich da nicht einmal beim Volke suchen?«

Sie versank in Gedanken. Dabei sah sie unverwandt ihr schönes Spiegelbild an. Endlich bemerkte sie, daß eine Locke sich gelöst hatte. Das brachte sie wieder zu sich selbst. Sie steckte das rebellische Haar auf und trat sodann in das »gelbe« Zimmer.

Saschas Gesicht nahm bei dem nicht unfreundlichen, aber gemessenen Gruße seiner Herrin die Farbe seiner Hände an. Zugleich strahlte es in seinen Augen auf. Wera die Stirn küssend, meinte Anna Pawlowna: »Ich hätte dich nicht wiedererkannt. Sieh doch, was aus dir geworden ist. Nun, Gott sei dir gnädig. Du wirst in Moskau bleiben?«

»Man hat mich gerufen. Alexander Dimitritsch holte mich.«

»Du möchtest dich gern nützlich machen?«

»Ich habe noch gar nichts getan.«

Anna Pawlowna betrachtete sie forschend; dann sagte sie herablassend: »Setzt euch doch.«

Sascha nahm augenblicklich Platz, Wera blieb stehen.

»Warum brachten Sie Wera Iwanowna nicht gleich zu mir?« redete Anna Pawlowna Sascha an, »Sie wohnt natürlich bei mir.«

»Ich danke Ihnen sehr, aber ich muß bei Tania Nikolajewna und den anderen bleiben,« erwiderte Wera an Saschas Stelle mit großer Entschiedenheit.

Sascha rückte unruhig auf seinem Stuhle und warf seiner Freundin einen vorwurfsvollen Blick zu, der zu sagen schien: Wie kannst du es nur übers Herz bringen, nicht gleich mit tausend Freuden ihre Wünsche zu erfüllen? Sieh sie doch an, wie wunderschön sie ist! Und gar nicht beleidigt über deine Widerspenstigkeit. O Wera! Wera!

Auch Saschas Augen konnten beredt sein.

»Ich muß tun, was man mir aufträgt,« erwiderte Wera auf eine Frage Anna Pawlownas nach ihrer mutmaßlichen Tätigkeit mit einer Feierlichkeit, als handelte es sich um ihr Seelenheil.

Wieder streifte die Prinzessin das Mädchen aus dem Volke mit einem Blick, der in ihr Inneres zu dringen schien. Plötzlich sagte Sascha sehr langsam und sehr laut: »Ja, das muß sie. Sie muß alles tun, was man ihr aufträgt. Das müssen wir alle.«

»Traf Tania Nilolajewna auch bereits ein?« fragte Anna Pawlowna ablenkend, ihren Blick von Wera langsam zu Sascha hinüberwendend. »Was will sie in Moskau? Gleichfalls alles tun, was man ihr aufträgt?«

»Sie kam mit uns nach Moskau, weil auch sie gerufen wurde, von – von Wladimir Wassilitsch, welcher – –« Wera stockte. Sie konnte Anna Pawlowna unmöglich sagen, was sie Natalia Arkadiewna gesagt hatte. Also schwieg sie mitten im Satze.

Eine Erklärung fordernd, sah Anna Pawlowna Sascha an, welcher, durch ihren Blick verwirrt, stammelte: »Nun ja, so ist es! Was hilft's? Wladimir Wassilitsch will es nun einmal nicht anders. Er spuckt auf die Kirche und den Popen. Es ist schlimm für Tania; aber wer kann's ändern? Sie liebt ihn nun einmal und wir werden sie auch so achten und ehren. Wera Iwanowna verläßt sie nicht.«

»Fangt ihr so an?« meinte Anna Pawlowna mit einem eigentümlichen Blick.

Sascha, in tödlicher Verlegenheit, sprach aufgeregt weiter: »Wladimir Wassilitsch will sie für die Sache beschäftigen – Wera Iwanowna nämlich. Er hofft, daß sie der Sache sehr nützlich sein werde. Das wird sie auch. Sie meint es sehr ernst damit, ganz heilig ernst. Sehen Sie sie doch an, Anna Pawlowna, und sagen Sie ihr, daß sie nicht mutlos werden soll. Ihnen glaubt sie.«

»Mir glaubt sie?«

»Ja, ja, ja!«

»Glauben auch Sie mir?«

»Ach, Anna Pawlowna –«

»Glaubt mir auch Wladimir Wassilitsch?«

»Ich bitte Sie, wollten Sie doch begreifen – Sie sollten wirklich – denn sonst –« stotterte der arme Sascha.

»Wladimir Wassilitsch mißtraut mir, er und alle anderen.«

»Es ist sehr unrecht von ihnen, sehr, sehr unrecht,« rief Sascha und sprang auf. »Ich will sie zur Rechenschaft ziehen, sie sollen Ihnen Abbitte tun. Es ist ein Verbrechen. Das ist es!«

»Alexander Dimitritsch, sagen Sie mir, womit kann ich euch beweisen, daß ich es mit euch aufrichtig meine?«

»Es ist ein Verbrechen,« wiederholte Sascha leidenschaftlich. »Was könnten Sie wohl noch mehr tun? Es ist unmöglich! Jeder Mensch muß das begreifen.«

»Schicken Sie Wladimir Wassilitsch zu mir; noch heute. Ich will selbst mit ihm reden.«

»Das wird das Beste sein, dann ist alles gut; er wird Ihnen Abbitte tun.«

Wera plötzlich mit Sie anredend, verabschiedete die Prinzessin die beiden.

»Ich hoffe, Sie zuweilen bei mir zu sehen. Sie sind zwar vollständig frei und Ihre eigene Herrin, aber ich hoffe es dennoch. Vielleicht kann ich Ihnen bei Ihren Unternehmungen behilflich sein. Nur muß ich zuerst klar wissen, um was es sich handelt. Bis jetzt ist alles Wirrwarr. Wladimir Wassilitsch räsoniert, aber er handelt nicht. Solange man mich im Dunkeln läßt –«

»Das ist es ja eben,« schnitt Sascha heftig atmend ihr das Wort ab. »Man läßt Sie im Dunkeln, man verständigt sich mit Ihnen über gar nichts, man fordert nur von Ihnen, fordert und fordert und mißtraut Ihnen, wenn Sie nicht gleich geben und geben. Was ist das für eine Sache, die so im Dunkel bleibt, die sich nicht hervorwagt, die immer spioniert und räsoniert und ihre Wohltäterin anklagt? Es ist sehr schmerzlich.«

Er seufzte und sah tief unglücklich aus.

»Sie sind ein guter Mensch,« sagte Anna Pawlowna ernst und entließ ihn.

In einem wahren Rausch von Glück entfernte sich Sascha mit Wera.

»Was habe ich dir gesagt? Sie ist ein gewaltiges Weib, ein herrliches Weib! Und wie sie das Volk liebt, wie sie sich der Sache hingibt. Es ist gar nicht zu glauben.«

Wera schwieg.

Sascha blickte sich scheu um und flüsterte: »Du weißt doch, daß sie mit ihrem Manne sehr unglücklich lebt? Alle Welt weiß es. Sage, kannst du das begreifen? Eine solche Frau! Überhaupt ist es sehr, sehr traurig, daß so etwas vorkommt. Es muß ein schönes Brüderchen sein, dieser Prinz Peter Petrowitsch, ein ganz abscheuliches Väterchen! Jetzt ist er wieder in Petersburg. Was er da wohl zu tun hat? Nun, alle Welt weiß es; aber es ist nicht zu glauben. Eine solche Frau wie Anna Pawlowna zu hintergehen! Wer kann das begreifen? Es heißt, daß die Ehe etwas Frommes und Heiliges sei, und dann leben sie so – die Männer natürlich. Welche Verworfenheit! Davon macht man sich gar keine Vorstellung.«

Er ist wirklich ein guter Mensch, dachte Wera, und verehrt Anna Pawlowna aus reinem Herzen. Aber was für eine Welt ist das! Gott sei mir gnädig!


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