Edgar Wallace
Die Gräfin von Ascot
Edgar Wallace

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8

Mrs. Carawood war ein Rätsel, selbst für die Leute, die geschäftlich mit ihr zu tun hatten. Der Laden in der Penton Street war durchaus nicht ihr bestes Geschäft, obwohl sie von dort aus ihre vielen Niederlassungen leitete. Sie hatte eine Filiale in der Nähe des Hanover Square, eine andere in der Upper Regent Street und einige in den großen Vorstädten Londons.

Zuerst hatte sie einen Handel mit gebrauchten Kleidern eröffnet, aber jetzt bestand nur noch in einem Geschäft eine Abteilung mit getragenen Mänteln. Sie hatte hauptsächlich berufstätige junge Mädchen zu Kundinnen, denen sie für billiges Geld die modernsten Modelle verschaffte. Bei ihr kostete die Ware natürlich nur ein Viertel des Preises, den die vornehmen Läden im Westen Londons forderten. Es kam keine Mode auf, die sie nicht auch sofort führte. Sie hatte sich auf diese Kundschaft spezialisiert, und ihr Geschäft warf verhältnismäßig viel ab. Nachdem sie dieses Gebiet einmal entdeckt hatte, blieb sie auch dabei und hütete sich, Experimente zu machen. Die Grossisten kannten sie als eine fleißige, tüchtige Frau; die Geschäftsführer in ihren verschiedenen Filialen wußten, daß sie in kürzester Zeit die Bücher revidieren und daß man ihr nichts vormachen konnte. Aber niemand kannte sie eigentlich genauer. Selbst die Leute, die sich noch darauf besinnen konnten, wie sie ihren ersten Laden aufmachte, und die ihre spätere erfolgreiche Laufbahn verfolgten, wußten nichts von ihrem Privatleben.

Sie wohnte über dem Geschäft in der Penton Street, aber bei ihren Einkünften hätte sie leicht eine größere und luxuriösere Wohnung haben können. Sie stellte nur verhältnismäßig einfache Ansprüche; gern las sie Abenteuerromane, wie überhaupt ein romantischer Zug durch ihr Leben ging. Stundenlang konnte sie an ihrem Schreibtisch sitzen und vor sich hinträumen. Und Herman, der sie sehr gut kannte, störte sie niemals dabei.

Für diesen hochaufgeschossenen jungen Mann war sie das größte kaufmännische Genie, das jemals gelebt hatte.

Jetzt, da Marie zurückgekommen war, hatte sie keine Zeit mehr zum Träumen. Alle ihre geschäftlichen Sorgen, selbst die neuen Herbstmoden, wurden unwichtig.

Sie mußte vor allem erklären, warum sie John Morlay engagiert hatte, aber das ging verhältnismäßig leicht.

»Eine gute Idee«, sagte Marie ernsthaft. »Ich glaube kaum, daß sich andere Leute soviel Mühe und Sorge um ihre Schutzbefohlenen machen.«

»Er ist ein Gentleman, und ich schenke ihm volles Vertrauen«, entgegnete Mrs. Carawood. »Es gibt mir ein gewisses Sicherheitsgefühl, daß ich ihn um Rat fragen kann, wenn . . .« Sie zögerte.

»Woran denkst du, Nanny? Glaubst du, daß Leute, die sich unsterblich in mich verlieben, mich entführen? Oder daß mich Banditen gefangennehmen, um nachher Lösegeld für mich zu fordern?«

Sie sah plötzlich den Ausdruck des Schreckens im Gesicht der Frau und änderte sofort ihren scherzhaften Ton.

»Niemand wird mir etwas tun, Nanny!«

»Nein«, entgegnete Mrs. Carawood kurz.

»Ich habe keinen bösen Feind oder einen längst verschollenen Onkel?«

Mrs. Carawood wurde dunkelrot.

»Nein, das nicht«, sagte sie laut. »Wer hat dir denn solche Gedanken in den Kopf gesetzt?«

»Niemand – ich mache nur einen Scherz. Ich habe auch gar nichts gegen Mr. Morlay. Er ist sehr nett, viel netter als Julian. Der ist zwar auch sehr liebenswürdig und freundlich, aber ich weiß nicht – irgend etwas fehlt ihm. In der Schule sagten wir, er hat nicht den richtigen Dreh. Es ist sehr beruhigend, wenn man einen Mann wie John Morlay in der Nähe hat. Er ist ein Mittelding zwischen Vater, Bruder und gutem Onkel.«

Eine längere Pause trat ein.

»Nanny, wie war denn eigentlich mein Vater?«

Mrs. Carawood fuhr zusammen. »Dein Vater, mein Liebling?« fragte sie heiser. »Warum fragst du denn danach?«

Marie lachte leise.

»Nun, das ist doch nicht unnatürlich. Hast du eigentlich ein Foto von ihm?«

Die ältere Frau schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich habe ihn niemals gesehen. Er starb vor deiner Geburt, und bevor ich ins Haus deiner Mutter kam.«

Marie stützte sich auf die Stuhllehne und sah auf die sonnenbeschienene Straße hinaus.

»Wenn ich nur wüßte, wie er aussah«, sagte sie nachdenklich. »Merkwürdig, sich vorzustellen, daß er gar nicht Englisch sprechen konnte! Wohnte er eigentlich in Rom? Ich hoffe es. Ich habe schon versucht, mir einmal vorzustellen, wie er gelebt hat. Bestimmt besaß er eine sehr große, stattliche Villa, die im Innern kühl und dunkel war. Im Winter waren die Zimmer etwas feucht, und überall hingen alte Familienwappen.«

»Ja, sein Haus war wahrscheinlich größer als dein kleines Haus in Ascot.«

Mrs. Carawood war traurig, und Marie fühlte, daß sie ihre Sorgen unter einem Lächeln verbergen wollte. Nur selten hatte Marie Fioli bisher an ihre alte Familie gedacht. Im großen und ganzen war sie ein Kind ihrer Zeit und hatte nur moderne Interessen.

Mrs. Carawood holte die Grundrisse und Pläne der kleinen Villa hervor, ebenso eine Mappe, in der sich die Abbildungen der Möbel von Ascot befanden.

Marie wußte sehr wenig über Mrs. Carawood, die in ihrer Gegenwart niemals von geschäftlichen Dingen sprach. Ihr Schreibtisch in dem kleinen Büro war immer sehr gut aufgeräumt, und als Marie einmal nach Briefpapier suchte, entdeckte sie, daß alle Schubladen sorgfältig abgeschlossen waren. Nie hatte sie mit Marie über deren Vermögen gesprochen.

Marie bekam alles Geld, das sie brauchte. Mrs. Carawood zahlte jeden Monat eine beträchtliche Summe auf ein besonderes Bankkonto ein.

Sie hatte Marie sicher sehr gern. Nur ein einziges Mal wurde sie ärgerlich, und Marie dachte noch mit Schrecken an dieses Erlebnis.

Es war am Abend des gleichen Tages. Den ganzen Nachmittag hatte sie mit John Morlay Einkäufe gemacht und war dann zur Penton Street zurückgekehrt, um den Abend mit Mrs. Carawood zusammen zu verbringen. Herman, der auch im Haus schlief, war von seiner Herrin ins Kino geschickt worden, und so waren die beiden allein.

Mrs. Carawood war in Maries Zimmer gegangen, um die Koffer auszupacken und Maries Garderobe durchzusehen. Marie schrieb indessen unten im Erdgeschoß Briefe an ihre Freundinnen im College in Cheltenham. Plötzlich hörte sie, daß die Glocke an der Seitentür klingelte. Sie öffnete die Tür, obwohl Mrs. Carawood ihr besonders ans Herz gelegt hatte, dies nicht zu tun, sondern sie zu rufen.

In dem kleinen Flur brannte das Licht nicht, und nachdem Marie vergeblich am Schalter gedreht hatte, öffnete sie die Tür.

Draußen stand ein Mann.

»Sind Sie es, Mrs. Carawood?« fragte er leise. »Heute abend hat er dies hinterlassen und gesagt, daß er morgen eine Antwort wünsche. Ich komme morgen früh um acht wieder.«

»Ich bin nicht Mrs. Carawood«, entgegnete Marie, »aber ich werde ihr die Bestellung ausrichten.«

Einen Augenblick stutzte er, aber dann beruhigte er sich.

»Schon gut. Geben Sie ihr das. Aber bestimmt, Miss, und erzählen Sie ihr auch genau, was ich Ihnen gesagt habe.«

Sie schloß die Tür und nahm den Brief ins Wohnzimmer mit. Die Schrift war sehr schlecht und zeigte, daß der Schreiber wenig Bildung besaß. Das Kuvert war an Mrs. Hoad adressiert, und in einer Ecke stand ›Dringend‹.

Mrs. Hoad? Der Mann mußte sich geirrt haben. Marie ging wieder zur Tür und sah die Straße entlang, aber er war spurlos verschwunden. Vielleicht konnte sie eine Adresse in dem Brief selbst finden? Unentschlossen betrachtete sie das Kuvert von außen. Als sie es aber gerade öffnen wollte, hörte sie Mrs. Carawood hinter sich und drehte sich um. Ihre Blicke begegneten sich.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Mrs. Carawood scharf.

Sie riß Marie den Brief aus der Hand, warf einen Blick auf die Adresse und steckte dann den Umschlag in ihre Tasche.

»Laß es dir niemals einfallen, Briefe aufzumachen, Marie – nie wieder!«

Ihre Stimme klang hart, fast drohend.

Ohne ein weiteres Wort wandte sich Mrs. Carawood um und verließ das Zimmer.


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