Edgar Wallace
Die Gräfin von Ascot
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

19

Marie winkte den beiden.

»Kommen Sie doch her. Nanny will uns allen zeigen, wie ich aussah, als ich klein war. Das erste Bild ist aufgenommen worden, als ich erst so groß war.« Sie zeigte die Höhe mit der Hand.

Mrs. Carawood sagte etwas, aber es klang so undeutlich, daß niemand es verstehen konnte.

Als sich die beiden über den offenen Kasten beugten, fühlte John Morlay, daß sein Herz schneller schlug.

Er nahm das Foto, das Mrs. Carawood ihm reichte, und sah ein hübsches Baby darauf. Allem Anschein nach war es Marie.

»Sehen Sie, so sah sie mit vier Jahren und so mit dreizehn aus.« Sie reichte ihm die drei Bilder zu gleicher Zeit.

Julian beobachtete die Frau scharf und ließ sie keine Sekunde aus den Augen.

»Einen Moment, Mrs. Carawood«, unterbrach er sie.

John wandte sich um, als er die Stimme des anderen hörte, die merkwürdig hart klang.

»Wollen Sie jetzt mir und John, der wahrscheinlich ein ganz besonderes Interesse daran hat, erklären, was sonst noch in diesem Kasten ist?«

Der Deckel wurde laut zugeschlagen. John Morlay sah Julian an, und ihre Blicke trafen sich.

»Es ist im Augenblick nicht die rechte Zeit zu einer solchen Auseinandersetzung.«

»Verzeihen Sie, meiner Meinung nach ist es gerade der richtige Augenblick«, entgegnete Julian fest. »Vor ein paar Tagen hat einer meiner Agenten, den ich, wie ich gestehen will, besonders zu diesem Zweck engagiert habe, die alten Jahrgänge des ›Bournemouth Herald‹ durchsucht und dabei diese Notiz gefunden, die vor achtzehn Jahren in dem Blatt stand.«

Er zog seine Brieftasche, nahm einen Zeitungsausschnitt heraus und las ihn laut vor:

»›Die kürzlich in ihrem Haus in Westgate Gardens verstorbene Gräfin Fioli soll ungewöhnlich reich gewesen sein. Seltsamerweise hatte sie kein Bankkonto. Man nimmt an, daß sie große Summen in ihrem Haus aufbewahrte. Obwohl man eifrig danach suchte, hat man aber bis jetzt nichts davon entdecken können.‹«

»Nun?« fragte John eisig. »Was soll das beweisen?«

»Das erklärt, daß Mrs. Carawood plötzlich wohlhabend wurde und eine Anzahl von Geschäften eröffnete, deren Einrichtung doch sehr viel Geld gekostet haben muß.«

Mrs. Carawood wurde blaß und hörte zitternd zu.

»Das ist eine infame Lüge«, sagte sie heiser. »Ich habe jeden einzelnen Shilling redlich verdient.«

Zuerst verstand Marie den Zusammenhang nicht, aber als sie den Sinn dieser Anklage erkannte, eilte sie an die Seite von Mrs. Carawood.

»Wie dürfen Sie so etwas behaupten!« rief sie entrüstet.

»Ich verstehe wohl, daß Sie aufgebracht sind«, entgegnete Julian gelassen. »Es spricht für Ihren guten Charakter, Marie, aber es bleibt doch immer noch die Frage zu beantworten – wo ist das Geld geblieben? Und wo ist das Testament? Das heißt, wenn Ihre verstorbene Mutter ein Testament gemacht hat! Dort ist es!« sagte er dann und zeigte auf den Kasten. »Sie haben sicher eine ganze Anzahl von Dokumenten und Papieren versteckt. Zeigen Sie mir die Schriftstücke.«

Mrs. Carawood schüttelte den Kopf.

»Nein, Sie sollen die Papiere nicht sehen«, erklärte sie. »Auf keinen Fall werde ich das dulden!«

Die Aufregung war zu groß gewesen; Mrs. Carawood wurde ohnmächtig und sank über den schwarzen Kasten.

Mr. Julian Lester hatte schon manche kritische und schwierige Situation durchlebt, aber jetzt mußte er doch alle Energie zusammennehmen, um Herr der Lage zu bleiben. John und Marie sprachen beide auf ihn ein; Herman war außer sich vor Wut, und Morlay mußte dazwischentreten, um einen bösen Auftritt zu verhüten.

Die Anwesenden trennten sich darauf, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt.

 

Julian glaubte, daß man ihm bitter unrecht getan hätte und daß alle anderen sich irrten. In seiner egoistischen Weise betrachtete er sich als den Retter Maries vor den Intrigen und Gemeinheiten dieser Mrs. Carawood.

Er hielt sich für vollkommen berechtigt, diese Schlußfolgerungen aus den Tatsachen zu ziehen, und erkundigte sich bei einem Rechtsanwalt. Julian hatte viele Freunde, die ihm nützlich sein konnten. Er kannte Ärzte, die er gelegentlich um Rat fragte, ohne daß er dafür ein Honorar zu zahlen brauchte, und Juristen, von deren Wissen er kostenlos profitierte. Aber die Auskunft, die er jetzt erhielt, war nicht nach seinem Geschmack.

»Mein Lieber, Sie haben nicht das geringste Recht, derartige Forderungen zu stellen. Sie sind nicht einmal mit der jungen Dame verwandt, und wenn Sie die Sache vor Gericht bringen, werden Sie glatt mit Ihrer Klage abgewiesen, ja, der Richter wird Ihnen wahrscheinlich sagen, daß es eine Unverschämtheit ist, derartige Forderungen überhaupt zu stellen.«

»Aber wenn ich nun mit ihr verlobt wäre?«

»Auch das würde Ihnen nicht das mindeste Recht zu solchen Handlungen geben. Nur wenn Sie die Dame geheiratet hätten, wäre es anders. Dann könnten Sie als Gatte Aufklärung verlangen.«

Sein Freund setzte ihm noch auseinander, daß es ein sehr langwieriger und kostspieliger Prozeß werden würde, wenn er unter diesen Voraussetzungen nachprüfen ließ, inwieweit Mrs. Carawood zur Führung der Vormundschaft berechtigt sei. Als er schließlich noch ungefähr die Summen nannte, die ein Anwalt als Vorauszahlung verlangen würde, bekam Julian doch einen heilsamen Schrecken.

»Ich würde an Ihrer Stelle die Finger von der Sache lassen. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann nehmen Sie einen Fernkurs für Einbrecher, kaufen sich ein Stemmeisen und versuchen, inoffiziell hinter das Geheimnis zu kommen!«


 << zurück weiter >>