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Inspektor Peas liebte es, Leute unerwartet zu besuchen. Gesellschaftlich war er nicht sehr auf der Höhe; er hielt nie Verabredungen ein, nicht einmal mit seinen Vorgesetzten, und wenn er zufällig in die Nähe eines Freundes kam, den er versprochen hatte zu besuchen, klingelte er einfach, auch wenn der Zeitpunkt denkbar ungeeignet war.
Eines Abends kam er auch zu John Morlay und fand seinen Bekannten damit beschäftigt, den Gothaer Adelskalender durchzusehen. Peas schaute verächtlich auf das kleine Buch, das ein vollkommenes Verzeichnis des ganzen Adels Europas enthält, legte den Hut auf den Boden und nahm Platz.
»Es hat doch keinen Zweck, das Ding zu lesen«, sagte er. »Wenn Sie wissen wollen, welcher Gaul das Rennen in Ascot macht, kann ich Ihnen einen Tip geben, der todsicher ist.«
Peas hatte eine Schwäche: Er schloß gern Rennwetten ab. Allerdings wußte er mit Pferden ziemlich gut Bescheid und verdiente sogar Geld damit, obgleich ihm das als Polizeibeamten eigentlich streng verboten war.
John schlug das Buch zu. Unaufgefordert nahm sich Peas eine Zigarette.
»Den Kerl hätten wir gestern abend beinahe gefaßt.«
»Wen meinen Sie denn?« fragte John und stopfte seine Pfeife.
»Ich meine den Einbrecher, dem die Zeitungen den Spitznamen ›Die einsame Hand‹ gegeben haben.«
»Ach, den! Es gibt aber sicherlich ein ganzes Dutzend solcher Leute, die keine Komplicen haben.«
Der Inspektor schüttelte den Kopf.
»Es gibt nur drei, die den Einbruch verübt haben könnten. Einer von ihnen sitzt im Gefängnis, ein anderer liegt im Krankenhaus – also bleibt nur noch der eine übrig. Wir haben alle anderen Möglichkeiten eliminiert.«
»Großartig ausgedrückt!« erwiderte John ironisch.
Peas blies vier Ringe hintereinander in die Luft.
»Es kann auch eine Frau sein. Da hätten die Zeitungen ja wieder etwas zu schreiben.«
»Warum glauben Sie denn, daß es eine Frau ist?« fragte John neugierig.
»Der Einbrecher wäre beinahe durch den Wachmann in der Bond Street gefangen worden. Der Wächter hatte sich versteckt und beobachtete ihn, und als er unerwartet zusprang und ihn fassen wollte, schrie der Kerl!«
»Es kommt auch vor, daß Männer schreien.«
Peas nickte.
»Das habe ich auch gesagt. Aber der Wachmann schwört, daß der Einbrecher nach Parfüm roch.«
»Auch Männer benützen Parfüm«, entgegnete John, und Peas mußte das wieder zugeben.
»Na, auf jeden Fall ist der Kerl entkommen – an einer Regenröhre ist er hinuntergeklettert. Zuerst glaubten sie, er wäre so rechtzeitig überrascht worden, daß er nichts hätte stehlen können, aber heute morgen entdeckte man, daß er eine Vitrine geöffnet und einen großen, viereckigen Saphir mitgenommen hat.«
»Damit wäre die Sache also erledigt«, sagte John.
Peas seufzte schwer.
»Die Leute wollen es nicht verstehen«, erklärte er. »Sie wissen, daß ich den Fall bearbeite, und da müßte ihnen doch ganz klar sein, daß ich den Dieb fasse, wenn überhaupt ein Mensch dazu imstande ist. Aber was tun sie? Große Artikel erscheinen in den Zeitungen: ›Was macht die Polizei?‹ Sie behaupten, wir schlafen in Scotland Yard, bringen lange Listen von Einbrüchen, die nicht aufgeklärt worden sind, und sagen, ein großer Prozentsatz von Verbrechen würde überhaupt nicht gesühnt . . . Aber man muß andererseits doch auch folgendes bedenken: Wenn ein Mann heute in der Bond Street in einen Juwelierladen einbricht und man nichts mehr von ihm hört, wird er doch seine verbrecherischen Neigungen nicht mit einemmal los. Er begeht also weitere Diebstähle und wird vielleicht drei Monate später in Liverpool gefaßt. Dort packt ihn die Polizei, er wird verurteilt, und niemand weiß etwas davon.«
»Warum vermuten Sie eigentlich, daß es eine Frau war?« fragte John noch einmal.
Peas sah ihn nachdenklich an und spitzte die Lippen, als ob er pfeifen wolle.
»Kennen Sie Mrs. Carawood?« fragte er dann unerwartet.
John Morlay sah ihn groß an.
»Mrs. Carawood? Ja. Ich habe sogar schon beruflich mit ihr zu tun gehabt.«
Der Inspektor nickte.
»Sie ist eine ziemlich wohlhabende Frau. Man könnte sie sogar reich nennen.
John lachte.
»Sie meinen doch nicht etwa, daß sie den Einbruch verübt hat?«
Zu seinem Erstaunen stellte Peas das nicht in Abrede.
»Sie hat eine Menge Geld – mehr als sie aus ihrem alten Kleiderhandel beziehen kann. Sie muß also sonst noch ein Nebengeschäft haben, und ich möchte herausbringen, was das ist.«
»Was könnte das denn sein, wenn Sie sie von dem Einbruch freisprechen?« fragte John ironisch.
»Sie fährt zweimal im Jahr nach Antwerpen. Das ist etwas merkwürdig für eine Frau, die ein Kleidergeschäft betreibt. Auf der anderen Seite ist es nicht merkwürdig für jemanden, der Schmuckstücke verkaufen will.«
»Ach, das ist doch Unsinn«, unterbrach ihn John ärgerlich. »Ich weiß nicht, ob sie nach Antwerpen fährt oder nicht; aber wenn sie das tut, bin ich ganz sicher, daß sie guten Grund dazu hat.«
»Es ist nicht einmal ein Gedanke«, entgegnete Peas diplomatisch. »Es ist nur die vorsichtige Erwägung einer entfernten Möglichkeit. Haben Sie schon einmal überlegt, was ein Fragezeichen ist? Ein Angelhaken, den Sie auswerfen, um etwas zu fangen. Sehen Sie, das ist einer meiner eigenen Geistesblitze. Ich habe schon daran gedacht, einmal in den Zeitungen darüber zu schreiben.«
»Nun, die werden sich ja freuen«, erwiderte John spöttisch. Aber das focht Inspektor Peas nicht an.
»Ich bin ein Mann von großer Erfahrung. Ich bezweifle, ob es sonst noch jemanden in Scotland Yard gibt, der soviel über die inneren Zusammenhänge der Verbrechen weiß wie ich. Bei dem schlimmsten Fall, den ich einmal bearbeitete, handelte es sich um ein verschüchtertes Mädchen. Wenn man sie verhörte, war sie entsetzlich bescheiden und wurde fast bei jeder Antwort rot. Sie vergiftete ihren Bruder, und niemand konnte ihr etwas nachweisen. Später vergiftete sie ihren Mann und kam damit durch. Wenn ich damals gleich die Sache bearbeitet hätte, wäre es anders ausgegangen, aber unglücklicherweise wurde der Fall meinem Vorgesetzten übertragen, und so ist sie jetzt mit einem reichen Argentinier verheiratet und sitzt im Vorstand aller möglichen Wohltätigkeitsvereine – sehen Sie, so ist das Leben.«
»Wozu erzählen Sie mir solche Märchen?« fragte John ärgerlich.
Peas war inzwischen aufgestanden und betrachtete ein Bild.
»Das ist ein richtiges Ölgemälde, und wahrscheinlich handgemalt«, erklärte er. Denselben dummen Witz hatte er mindestens schon vierzigmal gemacht. Plötzlich wandte er sich um.
»Diese Mrs. Carawood hat eine ganze Anzahl von Geschäften in London. Soweit ich herausgebracht habe, lebt sie verhältnismäßig bescheiden. Bei ihr wohnt ein sehr ungebildeter junger Mann, den sie auf ihre Art und Weise adoptiert hat. Ich möchte nur wissen, was sie mit der Gräfin Fioli zu tun hat.«
»Was soll das heißen?« entgegnete John gereizt. »Sie ist die Pflegerin der jungen Dame; die alte Gräfin hat bei ihrem Tod das Kind der Obhut von Mrs. Carawood anvertraut.«
Wieder verzog Peas ungläubig die Lippen.
»Mich geht die Sache ja nichts an, aber es ist alles so merkwürdig und ungewöhnlich. Das junge Mädchen gefällt mir sehr gut, ich habe sie schon mehrmals gesehen. Ich war auch auf dem Bahnsteig in Paddington, als Sie sie abholten – sie hat eine Villa in Ascot, die ziemlich viel Geld kostet. Der Lebensunterhalt dort ist nicht billig.«
Er sprach nicht weiter über dieses Thema, sondern kam wieder auf den Einbrecher zurück.
»Im allgemeinen kümmern wir uns in Scotland Yard nicht um so einfache Einbrüche, aber natürlich achten wir auf das Auftauchen ungewöhnlicher Verbrecher in London, wenn wir sie nicht mit den bisher bekannten in Verbindung bringen können.
Die Polizei hat herausgefunden, daß sich die Verbrechen dieses neuen Mannes ziemlich gleichen. Seine Methoden sind ungewöhnlich. Er hat weder jemanden, der Schmiere steht, noch sonst einen Verbündeten, der ihm hilft. Und jedesmal benützt er einen Schlüssel, um die Geldschränke zu öffnen, wenn andere Leute ein Stemmeisen nehmen würden.«
»Haben Sie einen Anhaltspunkt?« fragte John, der sich für diese Sache weniger interessierte.
Peas nickte.
»Ja. Ich versuche auch damit weiterzukommen, aber ich habe mich wohl gehütet, meinen Vorgesetzten Bericht zu erstatten. Es besteht nämlich immer Gefahr, daß sich andere Leute das zunutze machen und nachher den Erfolg für sich in Anspruch nehmen.«
Peas warf sich in die Brust und lächelte. Es kam selten vor, daß er in so heiterer Stimmung war, und John sah ihn erstaunt an.
»Werden Sie übrigens auch an der Gesellschaft teilnehmen?«
»An welcher Gesellschaft?«
»An der Hauseinweihung in Ascot. Na, Sie werden auf jeden Fall eingeladen.«
»Woher wollen Sie denn das wissen?«
»Ich weiß alles«, erklärte Peas.
John war am nächsten Morgen eifrig tätig. Er hatte eine telefonische Unterredung mit Mrs. Carawood, die ihn bat, sie und Marie nach Ascot zu begleiten. Zu seiner Verwunderung erfuhr er, daß die Hauseinweihung tatsächlich beabsichtigt war und nicht nur in der Phantasie des Polizeiinspektors existierte. Am Sonnabend vor dem Rennen sollte sie stattfinden, und von da ab sollte Marie ihren eigenen Haushalt führen. Er verabredete sich mit ihr und begleitete sie am nächsten Morgen bei ihren Einkäufen. Die beiden kauften Porzellan, Gläser, Silberbestecke und alle möglichen anderen Haushaltsgegenstände.
Mrs. Carawood kam es nicht so sehr auf den Preis an. Sie handelte nicht, und er war erstaunt über die großen Summen, die sie bei dieser Gelegenheit ausgab.
Zu seinem größten Ärger tauchte auch Julian auf. Er erzählte, daß er bei seinem Verleger gewesen sei. John erinnerte sich nun auch dunkel, daß Julian ein Buch über irgendeine geheimnisvolle Angelegenheit schreiben wollte. Diese Absicht hatte der junge Mann schon, solange er ihn kannte.
Für John Morlay waren diese Einkäufe ziemlich langweilig, aber Julian fühlte sich hier in seinem Element. Er wußte mit allen Haushaltsdingen Bescheid, und der Einkauf schöner Gegenstände machte ihm große Freude. John Morlay trat immer mehr in den Hintergrund, und schließlich ärgerte er sich so sehr, daß er sich verabschiedete. Und er fühlte sich zurückgesetzt, als Marie nicht den geringsten Versuch machte, ihn zurückzuhalten.
Er aß in einem kleinen Klub in der Nähe der St. James's Street, und zufällig saß er bei Tisch gerade dem Verleger gegenüber, den Julian am Morgen aufgesucht hatte.
»Sagen Sie mir, hat denn dieser Lester heute morgen die Leute getroffen, von denen er soviel erzählte? Er hat mein Telefon eine ganze halbe Stunde lang benutzt. Schließlich hat er sich mit Ihrem Büro in Verbindung gesetzt. Der Mensch ist wirklich ziemlich aufdringlich.«
»Bin ganz Ihrer Ansicht«, erwiderte John. Dann fiel ihm das Buch ein, das Julian schreiben wollte.
»Sie werden ja sicher ein dickes Manuskript von ihm bekommen?«
Der Verleger lächelte. »Das ist noch nicht so ganz sicher. Bis jetzt hat er es noch gar nicht geschrieben. Er hat immer so viele Bedenken, daß er gar nicht vorwärtskommt. Schon seit Jahren sammelt er alle möglichen Daten und Einzelheiten. Er wird nicht ein Zehntel des Geldes zurückbekommen, das er dafür ausgelegt hat.«
»Was ist denn der Inhalt? Schreibt er vielleicht darüber, wie man sich kleiden und benehmen soll?«
»Ich möchte auch gern wissen, wovon es handelt. Zuerst wollte er eine Geschichte der englischen Flotte verfassen. Das letzte Mal, als ich mit ihm darüber sprach, beschränkte er sich nur auf unterirdische Gewölbe und Gefängnisse in den Adelssitzen. Dann äußerte er auch schon die Absicht, über unsere modernen Strafgefängnisse zu schreiben. Er hat mir das Buch schon vor vier Jahren versprochen – ich habe aber noch keine einzige Seite seines Manuskripts erhalten. Er tut immer so geheimnisvoll damit. Glücklicherweise verlangt er keinen Vorschuß. Schließlich braucht er das ja auch nicht.«
»Ich dachte, er wäre nicht sehr vermögend?« fragte John.
Zu seinem Erstaunen schüttelte der Verleger den Kopf.
»Er ist ziemlich reich, aber geizig. Ich bin fest davon überzeugt, daß er mich heute morgen nur deshalb besucht hat, weil er nichts für das Telefon ausgeben wollte. Übrigens war er vor zwei Monaten auch bei mir, gerade an dem Tag, als die amerikanischen Börsen zusammenbrachen. Daher weiß ich auch, daß er ziemlich wohlhabend sein muß. An dem Tag hat er gegen dreißigtausend Pfund verloren, und doch tut er so, als ob nichts geschehen wäre. Es scheint ihm nichts auszumachen, und das kann doch nur der Fall sein, wenn er ein großes Vermögen hat. Er ist nicht nur reich, er will auch immer noch reicher werden. Er will eine sehr wohlhabende junge Dame heiraten – heute morgen hat er eine Bemerkung darüber gemacht. Wissen Sie vielleicht, um wen es sich handelt?«
»Ich kenne eine solche junge Dame, aber ganz bestimmt wird er die nicht heiraten«, erklärte John grimmig.
Auch John Morlay bekam einen Beweis für Julians übertriebene Sparsamkeit, die man schon Geiz nennen konnte. Am nächsten Sonnabend kam Julian elegant gekleidet zu Morlay und bat, ihn im Wagen nach Ascot mitzunehmen. Julian machte aus seinem Herzen keine Mördergrube und erklärte unterwegs, warum er ihn um den Gefallen gebeten habe. Seinem Chauffeur zahlte er nur einen verhältnismäßig geringen Lohn, weil er ihm Sonnabends und sonntags immer freigab. »Wenn er mich am Wochenende nach Ascot fahren sollte, würde mich das fast zwei Pfund kosten, ganz abgesehen vom Benzin.«
»Sie sind ein ganz gemeingefährlicher Geizhals!«
»Regen Sie sich doch nicht auf, mein lieber Junge. Wenn Sie durchaus etwas zum Fenster hinauswerfen wollen, dann lesen Sie lieber Kieselsteine auf. Aber Sie sollten kein Geld wegwerfen, ein Pfund ist eben ein Pfund. Es kann Ihnen doch gleich sein, ob Sie mich im Auto mitnehmen oder nicht – kostet Sie ja keinen Cent mehr. Sie tun einem anderen damit einen Gefallen, das muß Ihnen doch eine innere Befriedigung geben. Wenn ich in kleinen Dingen nicht sparte, wäre ich auch nicht imstande, Ihnen ein großes Honorar anzubieten, falls ich Ihre Dienste in Anspruch nehme. Und ich könnte auch nicht den Stoff für mein Werk sammeln.«
»Ach, das Buch über die unterirdischen Gefängnisse?«
Julian lächelte.
»Sie haben mit meinem Verleger gesprochen. Auch ein Mann, der niemals den Mund halten kann. Nein, ich schreibe nicht über unterirdische Gefängnisse, aber es wird trotzdem sehr interessant werden. Der Verleger hat mir zwar gesagt, daß ich kein Geld damit verdiene, aber mein Name wird bekannt.«
»Nun, das können Sie leichter erreichen, wenn Sie irgendeinen aufsehenerregenden Mord begehen«, entgegnete John ironisch.
Julian schüttelte den Kopf. Er nahm die Bemerkung sogar ernst.
»Ich kenne niemanden so gut, daß ich ihn umbringen könnte.«
Sie mußten einige Zeit warten, bis die Schranken beim Eisenbahnübergang in Sunningdale geöffnet wurden.
»Es tut mir furchtbar leid, daß Sie meinen Auftrag nicht angenommen haben. Ich traue Ihnen nämlich vollkommen. Wahrscheinlich gibt es aber auch gar nichts Geheimnisvolles über Mrs. Carawood herauszubringen. Ich hoffe jedenfalls, daß es so ist.«
»Aber Sie vermuten doch, daß noch eine große Summe von dem Vermögen der jungen Gräfin Fioli übriggeblieben ist?«
Julian nickte, ohne sich im mindesten zu schämen.
»Sie dürfen deshalb aber nicht glauben, daß ich Marie nur des Geldes wegen heiraten will.«
»Sie werden sie überhaupt nicht heiraten, mein Freund«, erwiderte John kurz. »Erstens mag sie Sie nicht, und zweitens dulde ich es nicht. Es wäre besser, wenn Sie sich darum kümmerten, daß endlich das Manuskript zu Ihrem Buch fertig wird.«
Julian lächelte selbstzufrieden.
Das Haus in Ascot war wirklich nicht sehr groß. Die schöne Diele, mit weißer Holztäfelung verkleidet, war allerdings geräumig, aber Wohn- und Speisezimmer waren ziemlich klein.
Marie kam ihnen bis zur Haustür entgegen und führte John dann durch das ganze Gebäude. Sie war wie ein Kind, das sich über ein neues Spielzeug freut, fühlte sich als Hausherrin und zeigte ihm sogar Küche und Keller, Speisekammer, den elektrischen Kochherd, den neuen Kühlschrank und all die vielen modernen Einrichtungen, die die Hausarbeit erleichtern. Mrs. Carawood hatte kein Geld gespart. Schließlich führte sie ihn auch noch die Treppe hinauf und zeigte ihm ihr wunderbares Schlafzimmer mit angrenzendem Ankleideraum und Bad. Es war traumhaft schön.
»Ach, es ist herrlich!« rief sie. »Ich werde das ganze Jahr hierbleiben. Der Garten wird mit Blumen bepflanzt – es ist wundervoll!«
»Und was machen Sie sonst noch?« fragte John ruhig.
Sie sah ihn plötzlich ernst an, und er machte sich schon Vorwürfe, daß er ihre fröhliche Stimmung gestört hatte.
»Ich weiß es noch nicht – ich habe es mir auch schon überlegt, daß ich etwas tun muß. Heute morgen habe ich mit Nanny darüber gesprochen. Sie will nicht zulassen, daß ich das ganze Jahr hierbleibe, ich soll nur ein paar Monate in Ascot verbringen. Während der anderen Zeit soll ich Reisen ins Ausland machen. Aber ich muß doch etwas arbeiten, John! Ich werde mir eine Schreibmaschine kaufen und stenografieren lernen. Julian hat schon gesagt, daß er mir dann sein Manuskript diktiert. Er zahlt mir ein sehr anständiges Monatsgehalt.«
»Nun, das wird nicht so viel sein. Julian zahlt schlecht«, entgegnete John unfreundlich. »Hat Mrs. Carawood nicht einen anderen Plan?«
»Nein, sie mag nichts davon hören, daß ich etwas arbeite. Sie sagt immer, das sei ganz unnötig.«
Große Glastüren führten vom Schlafzimmer auf den Balkon. Die beiden traten hinaus und sahen den kleinen, gepflegten Garten unter sich und durch eine Öffnung zwischen den Bäumen eine weite Fläche fruchtbarer Felder. Dahinter erhob sich eine Kette von Hügeln, und darüber wölbte sich der strahlende Abendhimmel. Es war ruhig, still und friedlich. Der Wind trug einen Duft von Tannen und frischgeschnittenem Gras herüber.
»Sie dürfen sich nicht mit einem ruhigen Leben hier zufriedengeben«, sagte er nach einer langen Pause. »Schön, Sie stehen morgens in dieser schönen Umgebung auf, lesen die Zeitungen, spielen etwas Golf und Tennis, fahren dann zur Stadt, um Einkäufe zu machen, kommen zurück und legen sich schlafen. Wollen Sie sich damit zufriedengeben? Nein, Sie sind zu Besserem als einem so eintönigen Leben bestimmt.«
Sie seufzte und nickte dann.
»Ich habe mir verschiedenes überlegt –«
»Aber fangen Sie ja nicht an, sich in wohltätigen Vereinen oder dergleichen zu betätigen!«
»Aber was kann ich denn sonst tun?« fragte sie ungeduldig und vorwurfsvoll.
»Sie müssen arbeiten! Sagen Sie doch Mrs. Carawood, daß Sie ihr im Geschäft helfen wollen. Lernen Sie etwas über Kleider!«
»Das habe ich ihr ja auch schon gesagt, aber sie war ganz entsetzt, als sie das hörte. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als zu heiraten . . .« Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Was sagen Sie dazu?«
In diesem Augenblick trat Mrs. Carawood mit Julian auf den Balkon, und dadurch wurde John der Antwort enthoben.
Julian paßte vorzüglich in diese Umgebung. Er war ein angenehmer Gesellschafter, konnte unterhaltend sein, wenn man es von ihm verlangte, aber er konnte auch schweigen, wenn es am Platz war. Er verstand es, Mrs. Carawood viel Angenehmes über den schönen Landsitz zu sagen, und ließ sich durch die Abendlandschaft in eine geradezu lyrische Stimmung bringen.
Früher hatte sich John Morlay niemals viel um Julian gekümmert. Er wußte eigentlich nur, daß sich der junge Mann sehr elegant kleidete und immer tadellos gebundene Krawatten trug. In Julians Gegenwart fühlte sich John immer etwas unbeholfen und schlecht angezogen. Für gewöhnlich lächelte er nur über diese übertriebene Betonung des Äußeren, aber heute fühlte er sich zum erstenmal in den Schatten gestellt.
Julian war wirklich ein ausgezeichneter Unterhalter; alles, was er sagte, klang interessant und paßte gut zu den Brillantknöpfen. Er kannte alle möglichen Leute, auch berühmte Schriftsteller und Maler, und wußte höchst intime Skandalgeschichten aus ihrem Privatleben.
John schwieg während des größten Teils der Mahlzeit, aber dann kam doch ein Gespräch mit Mrs. Carawood zustande. Sie selbst trug nicht viel zu der Unterhaltung bei; in dieser Umgebung schien sie mehr denn je durch ihren Mangel an Bildung und Umgangsformen bedrückt zu sein. John übernahm gern die Führung, und in kurzer Zeit hatte er sich in seine Rolle gefunden. Es gelang ihm sogar, Julian in den Schatten zu stellen, so daß selbst Marie ihm zuhörte.
Vor allem wollte er feststellen, ob Mrs. Carawood tatsächlich ab und zu nach Antwerpen reiste. Es war ja möglich, daß sich die Sache sehr einfach und harmlos aufklärte. Geschickt brachte er die Unterhaltung auf den Weltkrieg, auf Belgien, Brüssel und die Städte an der Küste.
»Kennen Sie auch Antwerpen, Mrs. Carawood?«
Sie sah ihn schnell an und zögerte ein wenig.
»Ja, ich bin schon dort gewesen.«
»Was, du warst in Antwerpen, Nanny?«
Marie schien das bisher nicht gewußt zu haben.
»Ja, mein Liebling, ich war dort – ich hatte geschäftlich in der Stadt zu tun. Es gibt dort eine Konfektionsfabrik, bei der ich viel einkaufe. Die Leute sind sehr geschickt im Kopieren französischer Modelle und die Preise günstig.«
»Merkwürdig, daß gerade in Antwerpen eine solche Firma existiert«, meinte Julian. »Ich habe noch nie gehört, daß gute Modemodelle aus Antwerpen kommen.«
»Wieso?« fragte Mrs. Carawood kühl. »Eines der besten Modelle der letzten Saison wurde von einem Fischer in Aberdeen entworfen.«
Die Unterhaltung wandte sich wieder anderen Dingen zu, und Julian gelang es aufs neue, Marie in ein angeregtes Gespräch zu verwickeln. Er neigte sich näher zu ihr, und sie schien recht vertraut mit ihm zu sein. Die Unterhaltung mit Mrs. Carawood wurde für John Morlay immer weniger interessant.
Plötzlich lehnte sich Marie über den Tisch.
»Nanny, kann Julian mir wohl ein Geschenk machen?«
»Ein Geburtstagsgeschenk«, sagte Julian bescheiden.
Mrs. Carawood schien nicht sehr erfreut zu sein, denn sie runzelte die Stirn.
»Es ist ja eigentlich nichts dagegen einzuwenden«, erwiderte sie jedoch, da ihr kaum etwas anderes übrigblieb.
Ihre Stimme klang ablehnend. John fühlte, daß die Frau Julian nicht leiden konnte; infolgedessen wuchs seine Zuneigung zu ihr.
»Es ist nur ein Ring – ein kleines Schmuckstück«, entschuldigte sich Julian. »Ich sah ihn neulich bei Crather in der Bond Street. Das Geschäft wurde übrigens bestohlen, es ist dort eingebrochen worden.«
»Maries Geburtstag liegt aber doch schon drei Monate zurück«, bemerkte Mrs. Carawood.
»In der Schule hätte sie den Ring doch nicht tragen können«, protestierte Julian.
Sie sah John an, als ob sie erwartete, daß er sich dazu äußern solle.
»Das mag stimmen«, gab sie dann zu. »Ich habe es nicht gern, wenn du Schmuck trägst . . ., aber das ist ja schließlich ein Geschenk, das dir jemand anders auch machen könnte.«
Sie zögerte und machte eine kleine Pause. »Ich meine, es bedeutet nichts –«
»Nein, es bedeutet durchaus nichts«, entgegnete Marie lachend und wandte sich wieder an Julian. »Also, ich gebe Ihnen die Erlaubnis. Sie können den Umfang meines Fingers messen. Ich habe eine gewisse Schwäche für Smaragde.« Sie streckte den Finger aus.
Julian seufzte.
»Der Ring, den ich Ihnen schenken wollte, hat gerade keinen so kostbaren Stein. Es ist ein italienischer Siegelring.«
»Aus poliertem Aberdeen-Granit«, sagte John hitzig. »Sie können ihn ruhig annehmen, Marie, es ist kein wertvolles Geschenk.«
Julian sah ihn verärgert an.