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Die zwei ungleichen Brüder

Mr. Rater mischte sich niemals in die Amtshandlungen eines Untergebenen ein, wenn es nicht dringend notwendig war. Der Untergebene war in diesem Fall ein einfacher Polizist, und er hatte die Aufgabe, Mrs. Stalmeester von dem bewußtlos am Boden liegenden Hausverwalter wegzureißen, der die Mieten einkassieren wollte. Der Mann hatte gedroht, sie auf die Straße zu setzen, wenn sie nicht ihre Miete zahlen würde. Daraufhin warf ihm die alte Frau einen Steinkrug an den Kopf, so daß er die Besinnung verlor. Wahrscheinlich kannte er ihren Charakter nicht genügend, sonst hätte er sofort den Rückzug angetreten, als sie nach dem Krug griff.

Sie war nahezu sechzig, groß und kräftig gebaut und hatte muskulöse Arme wie ein Hafenarbeiter. In ihrem Streit fand sie natürlich die Unterstützung aller Bewohner des Hauses Keller Row, Nr. 79, denn bei diesen Leuten waren Mieteinnehmer, Schulinspektoren und Polizisten gleich verfemt und verhaßt.

Als ein Parteigänger von Mrs. Stalmeester einen Spitzhammer packte, um den Polizisten anzugreifen, hielt es Chefinspektor Rater für nötig, einzugreifen.

Er riß die Frau von dem Bewußtlosen weg und zwang mit einem wohlgezielten Faustschlag den Mann mit dem Spitzhammer, sich von dem Schauplatz zurückzuziehen. Schließlich packte er Mrs. Stalmeester und trug sie in den Polizeiwagen, und als sie weiter tobte und wütete, half er, sie festzuschnallen. Eine halbe Stunde später mußte sie sich auf der Polizeistation verantworten. Sie erklärte in gebrochenem Englisch und vielen flämischen Worten, daß sie das Opfer eines gemeinen Angriffs sei, bis der Redner sie scharf zurechtwies und sie an ihre früheren Sünden erinnerte, die sie schon mehrfach mit der Polizei in Berührung gebracht hatten.

Sie war eine böse, gewalttätige Frau und der Schrecken ihrer Nachbarschaft. Fünfzehn Jahre lang hatte sie die Schweden, die Holländer und Schotten tyrannisiert, die in Keller Row in Greenwich wohnten. Die meisten von ihnen waren Seeleute und nahmen in unregelmäßigen Zwischenräumen auf den Schiffen Dienst, die von den Victoria-Docks abfuhren.

Mrs. Stalmeesters schimpfte noch eine Weile über die Gesetze und die Polizei, aber schließlich beruhigte sie sich.

»Fünfzehn Jahre wohne ich nun schon in der Gegend, und noch nie habe ich einen Streit mit jemand gehabt. Im Gegenteil, ich habe immer ruhig und zurückgezogen gelebt. Mein Sohn gibt mir sechs Pfund wöchentlich. Ich habe mich noch mit keinem Menschen verkracht, nur einmal mit meinem Bruder, aber das ist schon furchtbar lange her ...«

Dann erzählte sie naiv eine Geschichte aus ihrem früheren Leben, ohne sich bewußt zu werden, daß sie damit ein Vergehen gegen Gesetz und Ordnung bekannte. Sie war sogar stolz auf ihre Handlungsweise. Mr. Rater hörte zu, ohne etwas zu erwidern.

Die Sache war vor vielen Jahren passiert, und schließlich handelte es sich dabei nur um Formalitäten. Deshalb wollte er gegen die Frau nichts unternehmen. Aber er war doch neugierig genug, die Angaben auf ihre Wahrheit hin nachzuprüfen.

Am nächsten Morgen wurde Mrs. Stalmeester von dem Polizeigericht mit einer empfindlichen Geldstrafe belegt, und außerdem erhielt sie eine ernste Verwarnung. Sie zahlte die Summe und die fällige Miete. Geld hatte sie genug, aber sie war von Natur aus geizig. Dann kehrte sie wieder in ihre Wohnung zurück, wo sie im darauffolgenden Winter starb.

Der Redner erfuhr nichts von ihrem Tod. Er war zu jener Zeit durch den Diamantendiebstahl in Chislehurst vollauf in Anspruch genommen. Der Fall lag ziemlich kompliziert, und obwohl man die Diebe fassen konnte, verzögerte sich ihre Verhaftung durch ungünstige Umstände so lange, bis die vierzehn großen Diamanten aus Lady Teighmounts altmodischem Diadem beiseite geschafft worden waren. Die alte, wertlose Goldfassung fand man allerdings. Der Redner war von diesem Resultat nicht gerade sehr befriedigt.

»Ich sage Ihnen die reine Wahrheit, Mr. Rater«, erklärte Harry Selt, der Hauptschuldige. »Ich habe die Steine einem Juden verkauft, seinen Namen kenne ich nicht. Er arbeitet mit einem großen Mann auf dem Festland zusammen. Nur zweihundert Pfund hat er mir dafür gegeben – damit kann man keine Sprünge machen. Ich habe gar keinen Grund, Ihnen was vorzulügen. Sie wissen ja selbst, wie viele Leute Sie deswegen schon ins Gefängnis gebracht haben.«

Mehr bekam der Redner aus Harry nicht heraus, und das war sehr unangenehm. Lady Teighmount war nämlich entfernt verwandt mit einem der Minister, und dieser bat eines Tages Mr. Rater zu sich, um einmal unter vier Augen mit ihm zu sprechen.

»Ich bitte Sie um eine persönliche Liebenswürdigkeit«, sagte er. »Meine Tante will die Diamanten unter allen Umständen wiederhaben. Sie sind ein Geschenk ihres verstorbenen Mannes – allerdings noch aus den neunziger Jahren. Und der Wert, den sie ihnen beimißt, ist eigentlich nur persönlich sentimentaler Art. Ist es Ihnen nicht möglich, durch Ihre Beziehungen zu der Verbrecherwelt die Steine zurückzukaufen? Zweitausend Pfund will ich für die Wiederbeschaffung zahlen, und es sollen keine weiteren Nachforschungen angestellt werden –«

»Das verträgt sich nicht mit meinem Diensteid«, entgegnete der Chefinspektor nüchtern.

»Ich weiß, ich weiß. Ich frage Sie auch nur, ob Sie mir den persönlichen Gefallen tun wollen, die Steine auf inoffiziellem Wege zu beschaffen?« Der Redner nickte nur, denn er hatte seiner Meinung nach schon genug gesprochen.

Man kann einen Hehler niemals direkt angehen, besonders ein Polizeibeamter ist dazu nicht imstande. Mr. Rater begann daher seine schwierigen Nachforschungen damit, daß er zunächst den Hundehändler Alf Barkin aufsuchte. Mit diesem Mann hatte er lange Auseinandersetzungen, die ihn nicht viel weiterbrachten. Dauernd schüttelte Barkin den Kopf und sagte: »Ich weiß wirklich nichts davon, Mr. Rater. Wenn ich etwas wüßte, würde ich es Ihnen sagen.« Aber schließlich willigte er ein, den Redner am Abend in eine kleine Kneipe in Deptford zu begleiten. Dort trafen sie einen gewissen Joseph Kreith, einen Möbelhändler. Der kannte oberflächlich einen Mann, dessen Freund sich durch einen Bekannten eventuell mit dem Hehler in Verbindung setzen konnte.

Zwölf Tage lang mühte sich der Chefinspektor ab. Wie gewöhnlich sagte er wenig, hörte aber gut zu und nahm aus den vielen Worten, die gemacht wurden, das Wesentliche für sich heraus.

Schließlich reiste er nach Brüssel und hatte dort im Hotel eine Zusammenkunft mit Henry Dissel, einem ziemlich kräftigen Mann von jugendlichem Aussehen, der eine große Hornbrille und einen kleinen Schnurrbart trug und lockiges blondes Haar hatte.

»Ich habe Ihren Brief erhalten, Monsieur«, sagte Henry Dissel, »und freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Er legte die große, schwarze Aktentasche neben sich auf den Teppich und zog die scharfgebügelten Beinkleider hoch, als er sich setzte.

»Es stimmt, daß ich Kaufmann bin und verschiedene Vertretungen habe. Aber in Brasilien tätige ich selten Geschäfte. In Antwerpen kenne ich allerdings einige Leute, die mit Brillanten handeln. Sie haben die Steine manchmal auf rechte, manchmal auf unrechte Weise erworben. Danach kann ich im allgemeinen nicht fragen. Von meinem Bruder in London haben Sie gehört? Nun, eine große Freundschaft besteht gerade nicht zwischen uns. Er hat mir früher einmal viel Geld geliehen, und ich habe bei Roulette und Poker alles verspielt. Nachher gab es einen entsetzlichen Krach. Wenn ich nach London komme und ihn anrufe, heißt es immer, daß er nicht zu Hause ist.«

Er sah Mr. Rater strahlend an, als ob er ihm einen guten Witz erzählt hätte.

»Das ist ja alles ganz gut und schön, Monsieur Dissel, aber ich interessiere mich nicht besonders für Ihre Familienangelegenheiten. Liebenswürdigerweise haben Sie meinen Brief wegen der Brillanten beantwortet. Sind Sie tatsächlich in der Lage, die Steine zurückzukaufen?«

Dissel schaute ihn triumphierend an, faßte in die innere Brusttasche seines Rocks und brachte eine Ledertasche zum Vorschein. Er warf sie auf den Tisch und fischte zwischen vielen Papieren ein flaches Päckchen heraus. Langsam und vorsichtig schlug er das weiße Seidenpapier auseinander. Es kamen Diamanten zum Vorschein, die zu dreien und dreien noch besonders in Watte eingepackt waren.

»Hier sind sie. Zweihundertdreißigtausend Francs habe ich dafür gezahlt. Dreißigtausend verdiene ich dabei, das sage ich ganz offen. Jeder versteht, daß man nicht umsonst arbeiten kann.«

Der Redner ging zur Tür seines Schlafzimmers und rief den Fachmann, den er von London mitgebracht hatte. Die Steine wurden einzeln geprüft, während Henry Dissel interessiert zuschaute. Als alles in Ordnung befunden war, legte Mr. Rater zwanzig Hundertpfundnoten auf den Tisch. Der Belgier zählte sie sorgfältig nach und steckte sie dann in seine Brieftasche.

»Monsieur Dissel, können Sie mir nicht den Namen des Mannes angeben, von dem Sie die Steine gekauft haben?« Der Belgier zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf.

»Er mag ehrlich oder unehrlich sein. Wenn ich seinen Namen nenne, gibt es Nachforschungen und Reklamationen, und schließlich sagt der Mann: ›Monsieur Dissel, durch Sie habe ich all die Unannehmlichkeiten gehabt. In Zukunft will ich nichts mehr mit Ihnen zu tun haben!«

»Wie ist denn die Geschäftsadresse Ihres Bruder in London?«

»Theodor hat sein Büro in der Victoria Street, Nr. 960. Aber ich sagte Ihnen ja schon, daß wir nicht gut miteinander stehen. Es ist eigentlich schade.«

Der Redner runzelte die Stirn.

»Theodor? Welche Vornamen hat er denn sonst noch?«

»Theodor Louis Hazeborn – ich heiße Henry Frederick Dinehem.«

Mr. Rater sah ihn sonderbar an.

»Aha!« erwiderte er dann.

Ein anderer hätte wahrscheinlich viel mehr gesagt, aber Chefinspektor Rater ging ja bekanntlich sparsam mit seinen Worten um.

Dissel war belgischer Untertan und besaß seit zehn Jahren ein Geschäft am Boulevard Militaire. Der Redner hatte allerdings keinen besonders guten Eindruck von den Büroräumen, als er dort einen Besuch machte. Sie sahen unsauber und vernachlässigt aus, aber über dem Schreibtisch hing ein prachtvolles Diplom in goldenem Rahmen. Es war Mr. Dissel für eine hervorragende sportliche Leistung überreicht worden.

Da er mehrere Vertretungen hatte, reiste er viel. Von seiten der Polizei lag gegen ihn nichts vor, wie Mr. Rater festgestellt hatte. Er war deshalb eine geeignete Persönlichkeit, mit der internationale Hochstapler und Verbrecher in geschäftliche Verbindung treten konnten.

Theodor Louis Hazeborn – die Namen wollten dem Redner nicht aus dem Sinn, als er nach London zurückreiste.

Am Tage seiner Rückkehr hatte er das zweifelhafte Vergnügen, Lady Teighmount die vermißten Diamanten wieder zu übergeben. Sie war sehr schlechter Laune. Von Hause aus sparsam, ja beinahe geizig, ärgerte sie sich über jeden Schilling, den sie für die Beschaffung der Steine zahlen mußte. Außerdem glaubte sie, daß die Polizei die Brillanten ebensogut ohne Geld hätte wiedererlangen können, wenn sie es durch Zahlung einer Summe erreichte. Sie war sogar unhöflich genug, anzudeuten, daß die Polizei und der Chefinspektor von dem Betrag profitiert hätten.

Der Redner hörte kaum zu, denn seine Gedanken beschäftigten sich unausgesetzt mit den Brüdern Dissel.

Mit großer Geduld begann er, neue Nachforschungen anzustellen, und suchte alle Akten über Diamantendiebstähle zusammen. Wochenlang befragte und verhörte er Juwelendiebe, die im Gefängnis saßen. Über ein Dutzend Anstalten besuchte er, und zum Schluß hatte er auch einen gewissen Erfolg. Er entdeckte einen feststehenden Schmuggelweg, der von London nach Belgien führte. Dauernd wurden gestohlene Steine auf diese Weise von Agenten ins Ausland geschafft. Seine Nachforschungen führten nicht immer nach Brüssel, manchmal auch nach Lüttich oder nach Ostende. Aber jedesmal wurde der Betreffende in ein Cafe, ein Bierlokal oder eine kleine Kneipe bestellt, und immer wurde die Zusammenkunft in London vereinbart.

»Die Sache war so«, sagte ein Hehler, der eine lange Gefängnisstrafe in Maidstone absaß. »Wenn die Jungens irgendwo ein großes Ding gedreht hatten, wurde einer der bekannten Händler angerufen, und dann erhielt man bestimmte Nachricht, wo die Steine übergeben werden sollten. Ich weiß nicht, woher der Mann am Telefon Bescheid wußte, aber auf jeden Fall klappte es jedesmal. Dann hat einer die Sachen über den Kanal gebracht. Die Bezahlung war immer einwandfrei. Ich selbst habe solche Reisen gemacht.«

»Haben Sie denn niemals den Betreffenden gesehen?«

»Nein. Man wurde in ein Cafe bestellt, dann kam jemand herein und sagte: ›Er ist draußen.‹ Gewöhnlich wartete er in einem Auto an der Straßenecke, und zwar immer nach Einbruch der Dunkelheit. Mit unheimlicher Geschwindigkeit prüfte er die Diamanten im Schein einer Taschenlampe, nannte den Preis und zahlte sofort.«

Mehr konnte der Redner nicht erfahren.

Bald darauf stand ihm ein freier Tag zur Verfügung, und er besuchte den Bruder seines Brüsseler Bekannten.

Im Gegensatz zu Henry Dissels Geschäftsräumen besaß sein Bruder Theodor in London ein prachtvoll eingerichtetes Büro mit Mahagonitüren, Mahagonimöbeln und kostbaren Ledersesseln. An der Tür war das Firmenschild in Messingbuchstaben angebracht: Theodor Dissel, Dipl.-Ing.

Er war ein gutgewachsener, großer Mann in elegantem Anzug. Das Gesicht war glattrasiert, und die Haare sorgsam zurückgebürstet. Er hatte ein Monokel im Auge und trug tadellose Wäsche. Der Belgier sprach nur ein schlechtes Englisch und machte manche Fehler, aber Theodor konnte sich fließend und gut ausdrücken. Auch sein Benehmen war vornehm und zurückhaltend.

Eine Stenotypistin führte Mr. Rater in das Privatbüro, wo Theodor an einem eleganten Schreibtisch saß. Mr. Dissel verneigte sich ein wenig zeremoniell und steif. Das war vielleicht das einzige, was ihn als früheren Ausländer kennzeichnete.

»Ich habe das unangenehme Gefühl, daß Sie mich wegen meines Bruders sprechen wollen«, sagte er mit einem etwas verlegenen Lächeln. »Ich weiß, daß Sie vor ein paar Tagen eine geschäftliche Unterredung mit ihm hatten. Er hat mir geschrieben, daß Sie mich besuchen würden.«

»Und warum sind Sie darüber beunruhigt?« fragte der Redner geradezu.

Mr. Theodor Dissel ging in dem Zimmer auf und ab. Er hatte die Hände tief in den Taschen vergraben.

»Mein Bruder Henry ist ein etwas wilder Geselle, aber im Grunde ein guter Kerl. Mit Geld weiß er nicht umzugehen, und es besteht immer die Gefahr, daß er Schulden macht. Handelt es sich um irgendein geschäftliches Abkommen, das Sie mit ihm getroffen haben, oder hat er bei Ihnen Geld geliehen, das er nicht zurückzahlt? Direkt betrügerische Sachen hat er sich allerdings nie zuschulden kommen lassen.«

Das Verhalten Mr. Dissels verriet eine gewisse Ähnlichkeit, wie es der Redner erwartet hatte.

»Wenn es sich um Geld handelt ...« Theodor zuckte hilflos die Schultern, »dann kann ich wenig tun. Ich habe ihm schon früher dauernd Geld vorgestreckt, bis jetzt sind es fünfzehntausend Pfund. Das Geld werde ich wohl nie im Leben wiedersehen.«

»Nein, es handelt sich nicht um Betrug«, erwiderte der Redner langsam. »Wenigstens nicht so, wie Sie es im Augenblick meinen. Besitzt Ihr Bruder die belgische Nationalität?«

Theodor nickte.

»Und Sie sind in England naturalisiert?«

»Ja.«

Mr. Rater sagte nichts darauf; er strich sich nur das Kinn mit der Hand. In seinen großen, blauen Augen schien sich etwas von den Sorgen Mr. Dissels zu spiegeln.

»Was Sie mir von Ihrem Bruder Henry erzählten, glaube ich Ihnen gerne. Er verkehrt mit Leuten, die nicht ganz einwandfrei sind. Wissen Sie, daß er Diamanten kauft und verkauft?«

Theodor zog die Augenbrauen hoch.

»Diamanten?« fragte er bedächtig. »Nein, das wußte ich nicht. Als er das letztemal in London war, machte er allerdings eine Andeutung, daß er mit dem hiesigen Juwelier Devreux in Geschäftsverbindung steht. Ich habe den Mann einmal getroffen, er sieht sehr wenig vertrauenerweckend aus.«

Der Redner schwieg einige Zeit.

»Da haben Sie ganz recht«, meinte er dann. »Devreux ist ein schlechter Charakter, ich kenne ihn.«

Der Chefinspektor ging zu seiner Wohnung zurück und dachte weiter über den Fall nach.

»Wirklich zu merkwürdig«, sagte er schließlich und entschied sich dafür, vorläufig nicht mehr daran zu denken. Die Sache würde sich schon von selbst weiter entwickeln.

Vierzehn Tage später kam Henry Dissel mit dem Zug in Ostende an. Es war ein warmer Septembertag, und auf dem Kanal herrschte Nebel. Er belegte eine Kabine erster Klasse und stellte dort seinen Lederkoffer ein. Dann aß er zu Mittag. Er hinkte auffällig, und als er an Deck erschien, gebrauchte er einen Stock.

An der englischen Küste wurde der Nebel dichter. Dissel war nach dem hinteren Teil des Schiffes gegangen und hatte sich dort auf das Geländer gesetzt. Ein Schiffsoffizier kam vorbei und machte ihn auf die Gefährlichkeit seines Sitzplatzes aufmerksam.

Nur mit Hilfe der Signalschüsse und der Sirenen konnte der Dampfer den Eingang zum Hafen von Dover finden. Mit einer Stunde Verspätung näherte er sich der Einfahrt.

Als das Schiff drehte – Fährschiffe fahren immer rückwärts ein –, vernahm ein Passagier zweiter Klasse einen Hilferuf. Dann hörte man etwas ins Wasser fallen. Mehrere Leute eilten an die Reling. Ein Steward sah den Stock Mr. Dissels im Wasser treiben, aber von dem Mann selbst war nichts zu sehen.

Es wurde sofort ein Boot hinuntergelassen. Die Matrosen fischten den Hut des Verunglückten auf, konnten ihn selbst jedoch nirgends entdecken.

Am Abend las Mr. Rater eine Notiz in der Zeitung:

Passagier fällt im Kanal über Bord. Ein Passagier des Dampfers »Prinzessin Georgine«, vermutlich Monsieur Henry Dissel aus Brüssel, fiel von der Reling, als der Dampfer in den Hafen von Dover einfuhr. Die Leiche ist bis jetzt noch nicht geborgen worden.

»Aha!« sagte der Redner vor sich hin. Die Tragödie schien keinen großen Eindruck auf ihn zu machen.

Die Leiche Henry Dissels war auch noch nicht gefunden, als der Redner dem Bruder in London einen Besuch machte, um ihm sein Beileid auszusprechen.

Theodor öffnete gerade den Lederkoffer, den ihm die Polizei von Dover geschickt hatte.

»Ich bin ganz außer Fassung«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Eben habe ich mit Brüssel telefoniert. Es ist nicht der geringste Grund vorhanden, warum Henry hätte Selbstmord verüben sollen. Sein Geschäft ging gut, seine Bücher und sein Betrieb waren in Ordnung, soweit das bei seinem Charakter überhaupt möglich war. Auf der Bank hatte er einen Kredit von über tausend Pfund. Vor ein paar Tagen hatte er allerdings einen kleinen Unfall beim Tennisspiel und war nicht ganz sicher auf den Füßen. Vielleicht ist der Umstand mit daran schuld, daß er ins Wasser fiel.«

»War er in einer Lebensversicherung?« fragte Rater.

Theodor nickte.

»Ach ja – das hatte ich ganz vergessen. Als ich damals seine Schulden bezahlte, bestand ich darauf. Es war vielleicht etwas herzlos von mir, aber ich mußte doch schließlich irgendeine Sicherheit in der Hand haben.«

»Lautete die Police auf fünfzehntausend Pfund?«

»Ja, soviel war er mir schuldig. Aber das Geld bedeutet im Augenblick gar nichts. Ich bin noch ganz benommen von diesem schrecklichen Unglück! Der arme Henry!«

»War die Versicherung auf den Namen Dissel ausgestellt?« unterbrach ihn der Redner.

Theodor zögerte.

»Nein, unser Familienname ist –«

»Stalmeester. Das weiß ich.«

Theodor war etwas aus der Fassung gebracht.

»Wir haben unseren Namen durch gerichtliche Eintragung ändern lassen –« begann er.

»Das ist mir auch bekannt. Ihre Mutter hatte zwei Brüder. Einer hieß Theodor Louis Hazeborn, der andere Henry Frederick Dinehem. Eine Woche nach Ihrer Geburt meldete Ihre Mutter Sie als Henry Frederick Dinehem auf dem Standesamt an. Aber eine Woche später zog sie in eine andere Gegend Londons und hatte zu jener Zeit eine heftige Auseinandersetzung mit Ihrem Onkel Henry. Um ihn zu ärgern, ging sie zum zweitenmal auf das Standesamt und meldete Sie als Theodor Louis Hazeborn an. Die Namen Ihres zweiten Onkels.«

Theodor wurde bleich und schwieg.

»Sie haben ein Doppelleben geführt, und Ihre beiden Namen sind Ihnen sehr zustatten gekommen. Mit einem kleinen Schnurrbart waren Sie Henry Dissel in Brüssel, und hier in London traten Sie als Theodor auf. Und in beiden Städten haben Sie gestohlene Steine gekauft. Sie sind einer der größten Hehler. Das inkorrekte Verhalten Ihrer Mutter hat der Polizei viele Schwierigkeiten bereitet.«

»Sie sind wahnsinnig!« rief Theodor. »Mein Bruder –«

»Sie sind doch selbst Ihr Bruder – und als Sie über Bord fielen, war das für Sie nicht weiter gefährlich. Ich sah doch in Ihrem Büro in Brüssel ein Diplom für Schwimmen über lange Strecken. Ihnen ist es nicht schwergefallen, an Land zu kommen. Und ich wette, daß in der Nähe von Dover ein Auto für Sie bereitstand. Lange genug habe ich darauf gewartet, Sie abzufassen. Nehmen Sie Ihren Hut und kommen Sie mit zur Polizeistation!«


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