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Es gab in London eine Gesellschaft von Herren und Damen, die ihre Zeit und ihr überflüssiges Geld der Bekehrung von Gewohnheitsverbrechern widmeten. Jeden Donnerstagabend versammelten sich alle Leute der Unterwelt, die gerade nicht von der Polizei gesucht wurden oder durch ihre Tätigkeit in Anspruch genommen waren, in der Duvern Hall. Dort wurden von bedeutenden Persönlichkeiten Reden gehalten. Auch Schriftsteller von Ruf befanden sich unter ihnen.
Bei den Vorstandssitzungen beglückwünschten sich die Mitglieder zu dem außerordentlichen Fortschritt ihrer Bestrebungen und nahmen Kenntnis von Eintragungen in den Büchern, die etwa so lauteten:
»H. X., ein Mann von siebzehn Vorstrafen, hat jetzt eine Beschäftigung bei der Firma B. & C. gefunden und ist mit einem Wochenlohn von fünfunddreißig Schilling zufrieden.«
Wenn sich dann später zufällig herausstellte, daß dieser X. zu seinen fünfunddreißig Schilling wöchentlich noch einen kleinen Nebenverdienst durch Diebstähle bei seiner Firma verschaffte, wurde sein Name. aus dem Buch der Gnade gestrichen, und man vergaß die Angelegenheit so schnell wie möglich.
Die Mitglieder dieser Gesellschaft hatten immer noch nicht eingesehen, daß jedes Pfund, das man zur Besserung eines Gewohnheitsverbrechers ausgab, hinausgeworfenes Geld war.
Manchmal hielten auch pensionierte Polizeibeamte Ansprachen in dem Verein. Ihre Reden troffen von honigsüßen Worten und von brüderlicher Nächstenliebe. Die Zuhörer kritisierten später die Redner auf ihre eigene Art und Weise.
»Hast du auch die Diamantnadel in seiner Krawatte gesehen? Ich möchte nur wissen, wo er die geklaut hat. Früher im Dienst hat er nicht gewagt, sie zu tragen!«
Nur wenige aktive Beamte hatte man aufgefordert, sich an den Bestrebungen des Vereins zu beteiligen, und Chefinspektor Oliver Rater hatte auch nur mit größtem Widerwillen eingewilligt, »ein paar Worte« in der Versammlung zu sprechen.
An dem Abend, an dem er erschien, war der große Saal überfüllt. Das war auch natürlich, denn er hatte viele persönliche Bekannte in der Verbrecherwelt, denen er das Handwerk gelegt hatte.
Seine Ansprache selbst war kurz, rauh und grob.
»Es macht mich direkt krank, euch alle hier sitzen zu sehen«, begann er. »Wenn ihr behauptet, ein anständiges Leben führen zu wollen, so muß man das erst einmal in eure Sprache übersetzen. Ihr meint, daß es schon eine Besserung und eine anständige Beschäftigung bedeutet, wenn ihr zwischen zwei Einbrüchen zur Abwechslung einmal die dummen Spießer brandschatzt, indem ihr bei ihnen eine Stellung annehmt.
Zwei von euch haben vorige Woche versucht, mich zu überfallen. Sie hatten herausgebracht, daß ich hier sprechen wollte – ich danke euch jedenfalls für dieses Kompliment! Die Mehrzahl von euch fühlt sich immer noch am wohlsten, wenn sie im Kittchen sitzt. Dort seid ihr zu Hause. Einer von euch ich will keinen Namen nennen – kam letzten Donnerstag aus dem Gefängnis, sozusagen auf Urlaub. Und er hatte natürlich nichts Besseres zu tun, als sofort ein paar Wechsel zu fälschen. Ihr faßt die ganze Sache hier als einen großen Jux auf. Aber ich warne euch. Ich halte hier keine schönen Reden und predige euch nicht wer weiß was vor. Es wäre schade, wenn man auch nur eine Träne um euch vergösse! Ich habe nur ein einziges Mal einem von euch zu einer Anstellung verholfen. Und was war der Dank? Er hat seinem Arbeitgeber einen neuen Anzug gestohlen und nachher einen Einbruch ins Finsbury verübt. Der Mann paßte eben auch nur nach Dartmoor. Es ist nicht einer unter euch, der nicht behauptet, daß die Verfolgungen der Polizei ihn ins Elend gebracht hätten.
So, nun ist es für heute genug. Das ist die längste Rede, die ich je in meinem Leben gehalten habe. Die meisten von euch werde ich ja bei den Gerichtssitzungen wiedersehen, und wenn das nicht der Fall ist, dann nur aus dem Grund, weil ich nicht jedem Strafprozeß persönlich beiwohnen kann.«
Das war nun allerdings gerade keine Ansprache im Sinne des Vorstandes. Die Mitglieder des Vereins waren über alle Maßen entsetzt über die Deutlichkeit, mit der Mr. Rater den Leuten die Meinung gesagt hatte.
Ihre Empörung zeigte sich später darin, daß sie wegen dieses Vorfalls eine Beschwerde an den Polizeipräsidenten schickten. Der antwortete ihnen, daß er ihren Brief vom 21. d. M. erhalten hätte und die Sache untersuchen würde.
»Ich wäre doch gar zu gern dabeigewesen, als der Redner sprach«, sagte er und warf den Beschwerdebrief in den Papierkorb. »Jetzt hat er wahrscheinlich seinen ganzen Vorrat an Beredsamkeit für die nächsten zwei Jahre verbraucht, und wir bringen kein Wort mehr aus ihm heraus.«
Aber unter all den vielen Leuten hatte der Chefinspektor doch einen aufmerksamen Zuhörer. Die Gesellschaft hatte die blonde Stenotypistin Lydia Grayne angestellt, die sehr schön und auch sehr fleißig war. Sie hatte bereits sieben verschiedene Einladungen zum Abendessen abgeschlagen, die sie von sieben Mitgliedern des Vorstands erhalten hatte. Und dieser Vorstand setzte sich aus sieben älteren, wohlwollenden Herren zusammen.
Lydia Grayne trat schüchtern an den Redner heran, als er gerade das Gebäude verlassen wollte.
»Ach, verzeihen Sie, dürfte ich Sie vielleicht um Ihr Autogramm bitten, Mr. Rater?«
Er lächelte sie freundlich an, nahm das Buch, das sie ihm hinhielt, und schrieb seinen Namen hinein, ohne ein Wort zu sagen.
Sie erzählte ihm dann, daß sie aus Kanada stammte und erst seit drei Monaten in England war. Später erfuhr er, daß sie ihre Stellung aufgegeben hatte, aber erst einige Zeit nachher hörte er. welche neue Beschäftigung sie gefunden hatte.
Scotland Yard hatte damals gerade einen Gast: Captain Martin J. Snell aus Philadelphia in den Vereinigten Staaten. Im allgemeinen konnte der Chefinspektor gesprächige Leute nicht leiden, aber aus einem ganz bestimmten Grund ertrug er nicht nur die Gesellschaft dieses Amerikaners, sondern ermunterte ihn auch noch direkt zum Reden. Zur Erklärung muß gesagt werden, daß der Redner zu jener Zeit an Schlaflosigkeit litt.
Captain Snell war nach Europa gekommen, um hier kriminalistische Studien zu treiben, und einen Monat hatte er für, Scotland Yard angesetzt. Man hatte ihm bereits alles gezeigt, was es zu sehen gab, vom Kriminalmuseum bis zum Fundbüro. Den Abend verbrachte er gewöhnlich in Mr. Raters Wohnung und erzählte ihm merkwürdige Abenteuer.
»In Memphis hatten wir einen ganz verflixten Spitzbuben. Der Kerl hieß Lew Oberack und war der gerissenste Betrüger, dem ich jemals begegnet bin ...«
Kaum hatte der Amerikaner zu sprechen begonnen, so nickte der Redner auch schon sanft ein, denn Captain Snells Stimme klang monoton, beruhigend und einschläfernd. Hätte aber Mr. Rater dem klugen Mann zugehört, so hätte er manche wertvolle Mitteilung erfahren und hätte vor allem auch die Vorgänge im Hause eines gewissen Dimitri Horopolos von Anfang an richtig verstanden.
Mr. Horopolos war ein sehr reicher Grieche, der nicht nur eine große Handelsfirma besaß, sondern auch Bank- und Finanzgeschäfte betrieb. Fast an allen internationalen Transaktionen war er beteiligt.
Er sah sehr gut aus, hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, dunkle Augen und einen schwarzen Schnurrbart. Außerdem bildete er sich sehr viel auf seine Körperkräfte ein, denn er war ein trainierter Sportsmann und Athlet, auf seine Reitkunst und auf sein schönes Haus am Elman Square. Besonders eitel war er auf die Wirkung, die seine Persönlichkeit auf Frauen ausübte.
Einmal erhielt Chefinspektor Rater eine direkte Beschwerde über ihn und suchte ihn infolgedessen auf. Der Grieche empfing ihn mit einem verbindlichen Lächeln.
»Aber mein lieber Freund, das ist doch ganz absurd! Das Mädchen hat sich mir an den Hals geworfen. Ich habe alles getan, um sie zur Vernunft zu bringen, und als sie durchaus nicht hören wollte, habe ich ihr eben gekündigt. Ein Mann in meiner Stellung ist solchen Anklagen immer ausgesetzt.«
»Um eine Anklage handelt es sich ja gar nicht.«
Später ging der Redner zu der jungen Dame, aber er hatte keinen Erfolg, da sie die Öffentlichkeit fürchtete. Nach einer Weile erfuhr er, daß die Nachfolgerin ihre Stelle ebenfalls schleunigst verlassen hatte. Auch dieses Mädchen konnte er nicht veranlassen, ihm den wahren Grund zu erzählen.
Kurz darauf traf Mr. Horopolos den Redner zufällig in der Bond Street.
»Ich habe meine Sekretärin schon wieder verloren. Ich weiß wirklich nicht, was ich anstellen soll, damit die Damen mit mir zufrieden sind.«
Mr. Rater kaute an seiner Zigarre und sah den Griechen böse an.
»Haben Sie einmal versucht, alles zu unterlassen, was ihnen mißfallen könnte, und sich anständig zu benehmen?«
Dimitri faßte das als einen Witz auf und lachte. Er war an diesem Morgen sehr zufrieden mit sich und der Welt, denn endlich hatte er eine Perle von einer Sekretärin gefunden. Es war eine blonde junge Dame mit großen, blauen Augen, die sein Angebot angenommen hatte. Soweit er feststellen konnte, war sie fremd in London und hatte weder Verwandte noch Freunde in der Stadt. Sie hatte allerdings seinen Vorschlag abgelehnt, in seinem Haus zu wohnen. Aber das war seiner Meinung nach eine Schwierigkeit, die man später noch aus dem Weg schaffen konnte. Schließlich konnte man ja nicht alles auf einmal erwarten.
Der Redner erfuhr auch sehr bald, daß eine neue Sekretärin bei Mr. Horopolos eingetreten war, denn der Grieche sandte mit einer Kühnheit, die seiner klassischen Vorfahren würdig gewesen wäre, die junge Dame mit einem Schreiben nach Scotland Yard.
»Mein lieber Mir. Rater, ich habe mit meinen Sekretärinnen bisher soviel Unannehmlichkeiten gehabt, daß ich Ihnen die Dame, die ich jetzt engagiert habe, hiermit vorstellen möchte. Bitte teilen Sie mir mit, ob Sie mit ihr zufrieden sind. Ich habe Ihnen Ihre Aufgabe erleichtert, denn Sie können sie nun gleich warnen, was Sie ja bei allen hübschen Mädchen zu tun pflegen, die ich anstelle.«
Der Redner sah zu der bescheidenen jungen Dame hinüber, die ihm am Schreibtisch gegenübersaß.
»Nun, Miss Grayne, Sie scheinen ja auch keinen großen Gefallen daran gefunden zu haben, Gewohnheitsverbrecher zu bekehren?«
Sie freute sich, daß er sich noch auf ihren Namen besann.
»Aber jetzt habe ich eine sehr nette Stellung, Mr. Rater. Mr. Horopolos ist äußerst liebenswürdig, und er sieht auch sehr gut aus. Ich habe noch nie einen so hübschen Chef gehabt.«
Der Redner zögerte, denn er wußte nicht, ob unter diesen Umständen noch eine Warnung am Platze war. Wahrscheinlich hatte Dimitri Miss Grayne schon erklärt, daß man in Scotland Yard nicht gut auf ihn zu sprechen sei und daß verschiedene seiner früheren Sekretärinnen den Posten sehr schnell verlassen hätten. Vielleicht war er aber auch schon zu einer Verständigung mit ihr gekommen. Diesen Gedanken lehnte er jedoch sofort wieder ab, als er ihr ins Gesicht sah.
»Sie werden finden, daß der Grieche sehr gut zahlt, aber er ist vielleicht etwas zu freundlich. Daran können weder Sie noch ich etwas ändern. An Ihrer Stelle würde ich genaue Bürostunden mit ihm vereinbaren und mich daran halten.«
Sie war ihm sehr dankbar für diesen Rat.
»Ich weiß nicht, wie die Arbeitszeit für Stenotypistinnen in England liegt. Wann kann man abends nach Hause gehen?«
»Sobald es dunkel wird.«
Am selben Abend saß der Redner wieder in seinem Wohnzimmer am Kamin und hörte Mr. Snell zu.
»... um wieder auf diesen Oberack zurückzukommen. Ich erzählte Ihnen doch schon von ihm – er stammt aus Memphis, USA –«
»Memphis« war das letzte Wort, das zu Mr. Raters Bewußtsein durchdrang, dann schlief er ein.
*
Die neue Sekretärin rechtfertigte den guten Eindruck, den Mr. Horopolos zuerst von ihr gehabt hatte, täglich mehr. Sie war nicht kleinlich, nahm nichts übel und lachte über Scherze, bei denen ihre Vorgängerinnen keine Miene verzogen oder höchstens ein empörtes Gesicht gemacht hätten. Außerdem war sie sehr tüchtig und erledigte seine Korrespondenz in ungewöhnlich kurzer Zeit.
»Mein liebes Kind, Sie sind wirklich sehr brauchbar und charmant«, sagte er und klopfte ihr auf die Schulter.
So begannen gewöhnlich seine Annäherungsversuche.
Sie schaute mit ihren blauen Augen zu ihm auf und lächelte.
»Ich glaube, daß es mir hier sehr gut gefallen wird. In meiner letzten Stellung –«
Sie erzählte ihm von den unangenehmen Erfahrungen, die sie bei dem Inhaber einer Teefirma gemacht hatte, und sprach auch über andere unerfreuliche Erlebnisse in früheren Stellungen.
»So, Verbrecher haben Sie also auch schon einmal bekehren wollen?« meinte er belustigt. Er war noch nie im Gefängnis gewesen, und man konnte ihn infolgedessen auch nicht offiziell bekehren. »Dabei müssen Sie sich aber doch entsetzlich gelangweilt haben.«
Gewöhnlich bekam er viele Briefe mit der Morgenpost und erledigte sie, bevor er zur Stadt ging. Gegen vier Uhr nachmittag kehrte er dann zurück und beschäftigte sich mit den Eingängen, die im Lauf des Tages noch angekommen waren. Er hatte sich ein schönes, großes Haus gebaut, in dem er eine zahlreiche Dienerschaft unterhielt.
»In den nächsten Tagen zeige ich Ihnen einmal meine Diamantensammlung«, sagte er mit Nachdruck, denn er war sehr stolz auf diese Schätze.
Die Mitteilung machte auch den größten Eindruck auf Miss Grayne.
»Haben Sie denn die kostbare Sammlung hier in Ihrem Haus?«
Er lächelte.
»Nicht im, sondern unter dem Haus«, erklärte er und freute sich über ihren Eifer. »Es wird Sie sicher auch interessieren, daß schon sechsmal versucht worden ist, bei mir einzubrechen. Zweimal sind die Leute, die zu den gerissensten Banden von Paris gehörten, auch tatsächlich ins Haus gekommen. Aber wenn das selbst zweihundert verschiedenen Banden gelungen wäre, so könnten sie doch niemals in meine Stahlkammer eindringen.«
Und seine Behauptung war nicht übertrieben. Das kleine Gewölbe aus Stahl und Beton war im Keller eingebaut und besaß eine sechzig Zentimeter starke Tür und einen Entlüftungsschacht.
»Sie müssen sich die Anlage einmal ansehen«, sagte er.
In Wirklichkeit hatte er allerdings nicht die Absicht, sie ihr zu zeigen, denn er hütete diese Stahlkammer eifersüchtig und ließ Tag und Nacht den Zugang bewachen.
Er war der aufmerksamste Chef, den man sich denken konnte. Lydia Grayne war noch keine Woche bei ihm tätig, als er darauf bestand, sie persönlich zum Ausgang zu begleiten, wenn sie das Haus verließ.
Eines Abends stand er wieder unter der Haustür und sah ihr nach, als sie die Straße nach links hinunterging. Plötzlich bemerkte er, daß ein Mann aus dem Schatten trat und mit ihr sprach. Einen Augenblick blieb sie stehen, während der Fremde ernst auf sie einredete, dann drehte sie sich rasch um und kam zu Mr. Horopolos zurück.
»Was ist denn passiert?« fragte er.
»Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Vermutlich ist es ein Polizeibeamter«, erwiderte sie mit zitternder Stimme. »Er sagte mir, daß ich mich vor Ihnen sehr in acht nehmen und abends nicht zu lange in Ihrem Haus bleiben sollte.«
Dimitri schob sie leicht beiseite und eilte wütend auf den Mann zu. Im Licht einer Laterne konnte er sein Gesicht deutlich sehen. Es war länglich und schmal. Außerdem hatte der Unbekannte einen dunklen Schnurrbart und buschige, schwarze Augenbrauen.
»Zum Teufel, wie kommen Sie denn dazu, die Dame anzusprechen?« fragte er. »Sind Sie etwa ein Polizist? Dann gehen Sie gefälligst zu Ihrem Mr. Rater zurück und bestellen Sie ihm von mir, daß ich mich bei Scotland Yard beschwere, wenn man mich weiter derartig niederträchtig behandelt!«
Der Fremde lächelte.
»Wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich ein, Polizeibeamter bin?« fragte er ruhig. »Und wenn ich es bin – was haben Sie dagegen einzuwenden, daß ich ein Mädchen vor den Gefahren der Straße warne?«
Mr. Dimitri wollte gerade grob antworten, aber er besann sich eines Besseren und kämpfte seine Erregung nieder.
»Kommen Sie mit und trinken Sie ein Glas bei mir«, erwiderte er so liebenswürdig, als es ihm im Augenblick möglich war.
Der Mann zögerte einen Moment, als ob ihm die Aufforderung ungelegen käme, dann änderte sich sein Benehmen aber plötzlich.
»Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie in Unannehmlichkeiten gebracht habe, aber Sie wissen ja, ich habe meine Pflicht zu erfüllen ...«
»Kommen Sie mit«, wiederholte Dimitri.
Gehorsam folgte ihm der andere. Miss Grayne stand noch an der Haustür, und der Grieche entließ sie mit einem kurzen Gruß. Dann führte er den Mann in sein kostbar ausgestattetes Arbeitszimmer und bot ihm einen Stuhl an. Der Fremde setzte sich etwas befangen auf eine Kante und hielt den Hut auf den Knien.
»Ich verlange nicht von Ihnen, daß Sie mir Ihre Dienstgeheimnisse preisgeben sollen«, begann Mr. Horopolos mit einem verbindlichen Lächeln, während er seinem Besucher einen Whisky-Soda einschenkte. »Aber wenn Sie tatsächlich den Auftrag haben, mich zu beobachten, kann ich Ihnen viel Mühe ersparen. Ich habe absolut nicht den Wunsch, mich mit der Polizei schlecht zu stellen, im Gegenteil, ich möchte recht gut mit ihr stehen.«
Der Mann räusperte sich, nahm das Glas und leerte es.
»Es ist aber meine Pflicht –« begann er.
»Ach, darauf kommt es gar nicht an«, unterbrach ihn Dimitri freundlich. »Sie müssen doch vor allem auch für sich selbst sorgen, das ist Ihre erste Pflicht. Werden Sie alle Tage hierherkommen?«
Der Fremde, der sich schließlich als Mr. Olcott vorstellte, nickte.
»Nur am Sonntag nicht.«
Dimitri lachte.
»Gut, ich verspreche Ihnen, mich über Sonntag anständig zu benehmen.«
Bei diesen Worten zog er seine Brieftasche und nahm eine Zehnpfundnote heraus.
»Das kann ich aber wirklich nicht annehmen. Ich könnte in die größten Schwierigkeiten kommen.«
»Ach, Unsinn! Wenn man Sie hört, gibt es überhaupt nur Schwierigkeiten auf der Welt. Das ist geradezu ein Komplex der Polizeibeamten.«
Er redete Mr. Olcott zu, und nach einiger Zeit steckte der Mann den Geldschein widerstrebend ein.
Am nächsten Abend kam Mr. Dimitri an ihm vorbei, und Olcott grüßte respektvoll. Am dritten Abend lud ihn der Grieche wieder zu sich ins Haus.
»Ich möchte wirklich gern wissen, welchen speziellen Auftrag Sie haben«, sagte er, als Olcott vor einem großen Glas Whisky-Soda saß.
»Wenn ich ganz offen sein soll, komme ich in große Schwie –«
»Schwierigkeiten wollten Sie wohl sagen«, ergänzte Mr. Horopolos ärgerlich, »Also, welche Instruktionen haben Sie?«
Nach einer Weile brachte er den Mann zum Reden.
Olcott hatte den Befehl, das Haus zu überwachen, bis Miss Grayne herauskam, und dann noch eine Stunde länger zu bleiben, um zu sehen, ob sie nicht etwa wieder zurückkehrte.
»Wenn Sie nun aber Überstunden machen muß – was passiert dann?«
»Ich muß Mr. – ich will keinen Namen nennen – berichten, ob sie bis halb zehn das Haus verlassen hat.«
Der Grieche lächelte verächtlich.
»Eine so alberne Geschichte ist mir bisher doch noch nicht vorgekommen. Nun gut, Olcott, ich werde Ihnen sagen, wenn Sie früher nach Hause gehen können!«
Seine Freundschaft mit der Sekretärin entwickelte sich nach Wunsch. Sie hatte sogar seine Einladung zu einem Abendessen in einem vornehmen Restaurant angenommen. Aber Dimitri dachte gar nicht daran, mit ihr dorthin zu gehen. Im gegebenen Augenblick wollte er den Schauplatz einfach verlegen.
Als er sie aber am Morgen des festgesetzten Tages bat, abends um zehn zu ihm ins Haus zu kommen, machte sie doch ein ängstliches Gesicht.
»So ein kleines Essen zu zweien würde aber doch sehr nett sein«, meinte er. »Und es ist doch nichts dabei, wenn wir hier in meinem Speisezimmer dinieren.«
Sie schüttelte den Kopf. Plötzlich erinnerte sich die blonde junge Dame an Gesetze des guten Tons und sagte, daß sie dann wenigstens einen Freund mitbringen möchte.
»Aber das ist doch eine ganz ausgefallene Idee«, erwiderte er lächelnd. »Überlegen Sie es sich noch einmal.«
Sie überlegte es den ganzen Tag und änderte ihre Pläne. Zuerst sollte das Essen um sieben stattfinden, dann um neun, und schließlich einigte sie sich mit ihm auf halb. neun. Und er mußte ihr auch versprechen, sie nach Hause zu begleiten. Er stimmte jedem ihrer Vorschläge bei, denn sie war das schönste Mädchen, das er kennengelernt hatte.
*
Chefinspektor Rater saß in seinem Büro in Scotland Yard. Sein Freund aus Amerika hatte ihm gegenüber Platz genommen, den Raum mit dem Rauch seiner Zigarre erfüllt und den Redner in gewohnter Weise zum Einschlafen gebracht.
»... wir sprachen doch über diesen Kerl aus Memphis, den gerissensten Betrüger, der jemals ...«
Als der Redner aufwachte, war sein Besucher verschwunden. Ein Bote hatte Mr. Rater aufgeweckt. Ärgerlich schaute der Redner auf den halbvollendeten Bericht, der vor ihm lag, und den er bei Snells Ankunft unterbrochen hatte. Das Dokument sollte am nächsten Morgen vor elf dem Polizeipräsidenten vorgelegt werden.
Er war noch halb im Schlaf und hörte dem Boten kaum zu.
»Was ist denn los?« fragte er und gähnte.
»Vor fünf Minuten kam ein Herr und sagte, daß ich Ihnen das persönlich übergeben sollte.«
Mr. Rater nahm das zerknitterte Papier, und glättete es. Der kleine Zettel war offensichtlich aus einem Notizbuch ausgerissen. Die Bleistiftschrift war zittrig und undeutlich:
»Um Himmels willen, helfen Sie mir! Der Grieche hat mich in seine Stahlkammer eingeschlossen. Ich ging zu ihm zum Abendessen.« Dann waren verschiedene Worte unleserlich. »Bitte, helfen Sie mir.
Lydia Grayne.«
Der Redner war plötzlich vollkommen wach. Er sah auf die Uhr – sie zeigte zehn. Lydia war zu dem Griechen gegangen! Eine weitere Erklärung war überflüssig. Er dachte im Augenblick nicht darüber nach, auf welche Weise diese Botschaft zu ihm gelangt sein mochte. Das war belanglos. Er klingelte, sah aber dann, daß der Bote noch neben ihm stand, und gab ihm den Auftrag, sofort das Überfallkommando zu alarmieren.
Fünf Minuten später raste das Polizeiauto mit höchster Geschwindigkeit nach Westen. Mit einem unsanften Ruck hielt der Wagen vor dem Haus des Griechen, und der Redner war der erste, der auf die Straße sprang.
Zweimal läutete er, bevor er Antwort erhielt, und zu seinem Erstaunen öffnete ihm dann Dimitri selbst. Er trug einen Schlafrock und sah den Beamten düster an.
»Was wollen Sie denn hier?« fragte er böse.
»Ich will wissen, wo Lydia Grayne ist!«
»Hier ist sie jedenfalls nicht«, erwiderte Mr. Horopolos wütend. »Ihr verdammter Polizeispitzel hätte Ihnen das wahrhaftig mitteilen können!«
»Wollen Sie mich freiwillig ins Haus lassen, oder soll ich erst einen amtlichen Befehl dazu ausstellen lassen?«
Dimitri machte die Tür weiter auf und ging vor dem Redner die Treppe hinauf. Oben drehte er sich ärgerlich um.
»Einer von Ihren Leuten könnte tatsächlich die Tür wieder zumachen!«
Von der Dienerschaft war niemand zu sehen, was Mr. Rater als ein sehr verdächtiger Umstand erschien. Erst später erfuhr er, daß sich die Hausangestellten in einem Teil des Gebäudes aufhielten, der vollkommen abgeschlossen werden konnte.
Dimitri führte die Beamten nicht in sein Arbeitszimmer, sondern zu einem kleinen Salon. Der Redner sah einen für zwei Personen gedeckten Tisch.
»Vielleicht erklären Sie mir jetzt, was Ihr Besuch zu bedeuten hat?« fragte der Grieche ungehalten.
Der Chefinspektor reichte ihm den Zettel, den er bekommen hatte.
Dimitri las die Botschaft und runzelte die Stirn.
»Das ist eine verdammte Lüge«, sagte er dann wild. »Sie wollte kommen, aber bis jetzt ist sie noch nicht erschienen.«
»Sie haben doch eine Stahlkammer im Keller?«
Mr. Horopolos zögerte.
»Allerdings. Ich verwahre dort meine Wertsachen. Sie glauben doch nicht etwa, daß ich die junge Dame dort eingeschlossen hätte? Das wäre doch wirklich zu lächerlich. Ich sagte bereits, daß sie heute abend kommen wollte, aber –«
»Ich möchte mir einmal diese Stahlkammer ansehen«, entgegnete der Redner bestimmt.
»Aber Miss Grayne ist doch gar nicht da – ich erwarte sie ja erst. Sie sehen dach an dem gedeckten Tisch und an den unberührten Platten, daß noch niemand gekommen ist.«
»Das ist für mich noch lange kein Beweis. Ich möchte mir einmal diesen unterirdischen Raum ansehen.«
Dimitri Horopolos wurde erst dunkelrot, dann bleich und sah aus, als ob er vor Wut explodieren würde. Aber schließlich ging er ins Nebenzimmer und kam nach kurzer Zeit mit zwei kleinen Schlüsseln zurück.
»Da Sie so verdammt neugierig sind, will ich Ihnen den Platz zeigen.«
Sie stiegen zusammen eine enge Treppe hinunter, und am Ende eines langen Ganges schloß der Grieche eine Stahltür auf. Er schaltete das Licht ein, und Mr. Rater schaute sich in dem kleinen, engen Raum um. Auf Glaskonsolen lagen viele hundert Lederbeutel.
Aber dafür interessierte er sich nicht. Er bemerkte einen Stuhl, einen Tisch und ein Feldbett, aber Lydia konnte er nicht entdecken.
»Haben Sie noch ein anderes ähnliches Gewölbe hier?«
»Nein. Und ich habe Ihnen jetzt schon x-mal erklärt, daß Miss Grayne noch nicht gekommen ist.«
Der Redner sah sich noch einmal betreten um. Er konnte die Sache nicht verstehen. Hatte ihm jemand einen Streich gespielt? In diesem Raum konnte sich keine Maus verstecken!
Als sie wieder zum Erdgeschoß hinaufstiegen, fluchte und schimpfte Dimitri in den verschiedensten Sprachen, weil man ihn in seiner Ruhe gestört hatte. Seine Stimme wurde immer schriller und überschlug sich schließlich. Wild fuchtelte er mit den Händen in der Luft herum, so daß die Brillantringe an seinen Fingern glänzten und glitzerten.
»Es ist ja sehr interessant, daß Sie sich so aufregen, aber ich bin tatsächlich berechtigt, Ihr Haus zu durchsuchen. Und ich bin auch jetzt noch nicht sicher, daß sich die junge Dame nicht hier aufhält.«
»Dann durchsuchen Sie doch gefälligst das Gebäude!« brüllte Dimitri.
Das war eine Aufforderung, die sich der Redner nicht entgehen ließ.
Aber so gründlich seine Beamten auch vorgingen, sie fanden nichts, und der Chefinspektor mußte schließlich unverrichteter Dinge und höchst verblüfft zu seinem Wagen zurückkehren.
Dimitri schlug donnernd hinter ihm die Tür zu und ging wütend in sein Wohnzimmer, wo er nervös auf und ab wanderte. Gerade wollte er einem Diener den Auftrag geben, den Tisch im Salon wieder abzuräumen, als es unten klopfte. Vielleicht war das Lydia! Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken. Er eilte den Gang entlang und riß die Tür auf ...
Mr. Olcott stand vor ihm.
»Zum Teufel, was wollen Sie denn noch?«
»Lassen Sie mich schnell herein«, bat der Mann leise. »Ich komme gerade von Mr. Rater. Er hat mich furchtbar abgekanzelt. Hat er Ihre Stahlkammer durchsucht?«
»Natürlich hat er das getan«, entgegnete Dimitri wild.
Er schloß die Tür, und sie gingen zu dem kleinen Salon, in dem der gedeckte Tisch stand.
»Nun, was wollen Sie? Sie sind mir ja ein netter Helfer! Haben Sie etwa Miss Grayne gesehen und zurückgeschickt?«
Olcott schüttelte ungeduldig den Kopf.
»Ich möchte nur noch wissen, Mr. Horopolos, ob der Chefinspektor die Schlüssel zu der Stahlkammer mitgenommen hat?«
»Selbstverständlich hat er das nicht getan!«
»Sind Sie Ihrer Sache auch ganz gewiß?« fragte der Mann ernst.
Der Grieche steckte die Hand in die Tasche seines Schlafrocks und holte einen Ring heraus, an dem sich die beiden Schlüssel befanden.
»Sehen Sie, hier sind sie.«
»Dann geben Sie sie mir sofort, und rühren Sie sich nicht, sonst jage ich Ihnen eine Kugel durch den Schädel«, erwiderte Mr. Olcott, in dessen Hand sich plötzlich eine Browningpistole zeigte.
Dimitri wäre vor Schrecken beinahe in Ohnmacht gefallen. Widerstandslos ließ er sich binden und knebeln. Dann ging Mr. Olcott mit den Schlüsseln in den Keller, um die Schätze der Stahlkammer zu untersuchen.
*
Als der Redner nach Scotland Yard zurückkehrte, saß Mr. Snell wieder an seinem gewohnten Platz. Aber Mr. Rater war jetzt nicht in der Stimmung, seine Geschichten anzuhören. Da der Captain aber die Methoden der Verbrecher sehr gut kannte, erzählte er ihm, was er eben erlebt hatte.
»Donnerwetter!« rief der Amerikaner. »Das sieht ganz nach diesem gerissenen Kerl aus Memphis aus. Das ist der größte Spitzbube und Betrüger, der jemals gelebt hat. Er arbeitet nämlich immer mit seiner Frau zusammen. Sie hat strohblonde Haare und dunkelblaue Augen. Und immer richtet sie es so ein, daß sich jemand in sie verliebt. Aber sie wählt stets einen schlechten Charakter als Opfer. Dann taucht ihr Mann, der Kerl aus Memphis, auf, gibt sich als Detektiv aus und stiehlt dem Mann alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Ich möchte wetten, daß ...«
Bevor Mr. Snell den letzten Satz beenden konnte,« eilte der Redner schon zu dem Polizeiauto zurück, das der Chauffeur gerade zur Garage bringen wollte. Er sprang auf das Trittbrett und winkte zwei Detektiven, die ihm schleunigst folgten. Als er in das Haus des Griechen kam, brach er die Tür zu dem kleinen Salon auf und befreite Dimitri. Währenddessen war der »gerissene Kerl aus Memphis, USA« mit seiner blonden Frau längst in einem schnellen Wagen nach Osten davongefahren.