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Mord in Sunningdale

Der Redner hatte einen Abteilungs-Chef, der ihm wenig Sympathie entgegenbrachte. Für gewöhnlich sind Vorgesetzte mit ihren Untergebenen nicht zufrieden, weil sie zuviel sprechen, aber in diesem Fall war es umgekehrt. Mr. Rater schwieg sich meistens aus und reizte gerade dadurch seinen Vorgesetzten zu größter Wut.

Major Dawlton bewohnte eine Villa in Sunningdale und hatte deshalb von vornherein ein besonderes Interesse für den Fall Aliford Gray. Er hatte Frau und Kinder, die in ihm einen bedeutenden Mann sahen, und bei seinen Nachbarn stand er in hohem Ansehen. Sie freuten sich, wenn sie einmal zum Essen eingeladen wurden und ihre Kenntnisse über Polizei und Verbrecherwelt erweitern konnten.

In Wirklichkeit hatte der Major kaum eine Ahnung von den Methoden, Verbrecher aufzuspüren und sie zu überführen. In der Hauptsache war er Verwaltungsbeamter, der sich mit finanziellen und statistischen Angelegenheiten zu beschäftigen hatte. Dies soll jedoch nur nebenbei bemerkt sein, und man muß zugeben, daß der Redner nicht leicht zu behandeln war und man sich wohl über ihn ärgern konnte.

Mrs. Aliford Gray war eine hübsche, schlanke Witwe von etwa dreißig Jahren. Ihre ausdrucksvollen Augen und ihr dunkles Haar standen in reizvollem Gegensatz zu ihrer etwas blassen Gesichtsfarbe. Ihr Blick war fast immer traurig und melancholisch. Sie wohnte in Fernley Cottage, einer kleinen Villa, die ein wenig abseits von der Hauptstraße lag und Mr. Leicester Vanne gehörte. Das Haus war wunderbar eingerichtet und besaß einen zwei Morgen großen, gepflegten Garten. Mrs. Gray hielt zwei Dienstboten, eine Frau von mittleren Jahren und deren Tochter, die zehn Minuten von der Villa entfernt wohnten. Sie selbst schlief ohne die geringste Furcht nachts allein in dem Haus.

Ihr bester Freund war Mr. Leicester Vanne, ein reicher junger Mann, der in der Park Lane wohnte. Es war nicht das geringste gegen ihn einzuwenden, aber er hatte eine Eigenschaft, die ihn auch mit Chefinspektor Rater in Verbindung brachte.

Eines Abends suchte ihn der Redner auf. Mr. Vanne ging nachdenklich in seinem Arbeitszimmer auf und ab und hatte die Hände in den Taschen vergraben. Mrs. Gray stand am Fenster und konnte ein Lächeln nicht ganz unterdrücken.

»Mir tut die Sache wirklich leid, Mr. Rater«, erklärte Vanne mit tiefem Bedauern. »Aber Sie müssen sich auch vorstellen, daß dieser Mann Mrs. Gray in der übelsten Weise beschimpfte. Es ist doch verständlich, daß ich mich vergessen habe.«

»Sie haben den Mann beinahe umgebracht!« bemerkte der Redner trocken und sachlich.

Der Sachverhalt war kurz folgender: Mr. Vanne und Mrs. Gray gingen spät am Nachmittag im Kensington-Park spazieren. Ein Bettler bat sie um ein Almosen, und als er es nicht erhielt, schimpfte er wütend. Wahrscheinlich hatte er vor Mr. Vanne nicht genügend Respekt und ließ sich durch dessen verhältnismäßig kleine und schlanke Gestalt täuschen. In Wirklichkeit war Vanne aber ein gut trainierter Sportsmann, und als der Bettler immer häßlichere Ausdrücke gebrauchte, wandte er sich plötzlich um, packte ihn buchstäblich am Kragen und warf ihn über das Brückengeländer in die Serpentine. Inzwischen war es dunkel geworden, und es kostete große Anstrengungen, den Mann wieder aus dem See zu retten. Er hatte viel Wasser geschluckt, und nur durch Anwendung künstlicher Beatmung gelang es, ihn allmählich wieder zu sich zu bringen. Jetzt lag er im Hospital. Dieser Vorfall war der Anlaß zu dem Besuch des Chefinspektors.

»Aber Dickie, du bist auch wirklich zu jähzornig.«

Mrs. Gray lachte leise und sah ihn mit einem zärtlichen Blick an.

»Welche Folgen hat die Geschichte denn für mich?« fragte Mr. Vanne nervös. »Ich hätte diese Vogelscheuche natürlich nicht ins Wasser werfen sollen. Merkwürdigerweise kannte mich der Kerl, er nannte mich sogar beim Namen. Erst als er drohte, mich zu ermorden, vergaß ich mich so weit, daß ich ihm einen Denkzettel gab. Will man mich deshalb anklagen?«

Der Redner konnte ihm darüber noch keine offizielle Auskunft geben. Er wollte vor allem einen eingehenden Bericht von Mr. Vanne haben, wie sich die Sache abgespielt hatte. Aber seiner Meinung nach hatte er keine Schwierigkeiten mehr zu gewärtigen. Der Bettler war sowohl der Londoner als auch der Provinzialpolizei als ein gefährlicher Kunde bekannt. Seine Personalakten sprachen gegen ihn, und er hatte schon oft im Gefängnis gesessen.

»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Mr. Vanne, dann schicken Sie jemand ins Hospital und besänftigen den Mann durch ein paar Pfund. Das sage ich Ihnen aber nicht als Polizeibeamter, sondern als Privatmann.«

Mrs. Gray hatte sich inzwischen gesetzt und schaute zum Fenster hinaus. Mr. Rater hatte den Eindruck, daß sie heimlich über ihren Freund lachte und es ihm nicht zeigen wollte.

Ein paar Tage später erwähnte Major Dawlton zufällig die beiden. Er kannte sie gut, da er nahe der Villa wohnte.

»Sie verkehren schon viele Jahre miteinander und sind sehr befreundet«, meinte er. »Die Leute in Sunningdale begreifen nicht, warum sie nicht heiraten.«

»Ach, die Leute in Sunningdale begreifen wahrscheinlich manches nicht«, erwiderte der Redner anzüglich und ging zu seinem Büro zurück.

Am nächsten Sonntagmorgen stand der Chefinspektor schon um halb fünf auf und bereitete sich gerade eine Tasse Tee, als das Telefon plötzlich klingelte. Wütend sah er auf den Apparat, denn er hatte mehrere Berichte zu schreiben, die er am besten in den frühen Morgenstunden erledigen konnte. Wieder läutete es. Er nahm den Hörer ab und erkannte die Stimme Major Dawltons, der sehr erregt sprach:

»Kommen Sie bitte hierher. Ich habe Scotland Yard bereits verständigt, daß Sie den Fall übernehmen. Die Fotografen und die Leute von der Fingerabdruckabteilung sind schon unterwegs.«

»Was ist denn passiert?« fragte der Redner schnell.

Es dauerte einige Sekunden, bevor die Antwort kam.

»... Mrs. Gray – wirklich eine nette Frau, die hier in der Nähe wohnt, ist ermordet worden!«

»Was, ermordet? Haben Sie schon irgendeine Spur?«

»Nein. Sie ist sicher ermordet worden. Ach, es ist zu schrecklich – eine so schöne Frau ... Haben Sie mich verstanden, Mr. Rater?«

»Ja, vollkommen«, entgegnete der Chefinspektor ruhig. »Der Fall scheint ja sehr interessant zu sein.«

Er legte den Hörer auf, trank seinen Tee und wartete dann auf der Straße, bis das Polizeiauto ihn abholte.

»Halten Sie nicht an«, rief er dem Chauffeur zu, sprang auf das Trittbrett, riß die Tür auf und setzte sich neben den Fahrer. »Wissen Sie schon Genaueres?«

Keiner der Beamten im Wagen konnte ihm Einzelheiten berichten. Die Frau war ihnen vollständig unbekannt.

Der Redner klappte den Mantelkragen hoch und lehnte sich zurück, um zu schlafen.

Als der Wagen vor dem kleinen Haus hielt, wachte Mr. Rater wieder auf. Die Haustür stand weit offen, und in der Eingangsdiele brannte Licht. Dort traf er Major Dawlton, der mit dem Polizeiinspektor von Sunningdale sprach.

»Gut, daß Sie kommen, Mr. Rater. Die Berkshire-Polizei hat die Hilfe von Scotland Yard erbeten und uns zu dem Fall zugezogen.«

»Bin ich zugezogen oder Sie?« fragte Mr. Rater unfreundlich, denn der Major hatte nichts mit dem Außendienst zu tun.

»Natürlich Sie«, entgegnete Dawlton ärgerlich. »Ich bin gewissermaßen nur als – Zeuge hier. Nicht, daß ich etwas gesehen hätte«, fügte er schnell hinzu. »Aber die Leute kamen sofort zu meinem Haus und holten mich aus dem Bett.«

»Wo ist denn die Tote?«

Zum größten Erstaunen des Chefinspektors schüttelte der Major den Kopf.

»Das ist es ja gerade – sie ist nicht in der Wohnung, sie ist fortgeschafft worden! Hoffentlich waren Sie vorsichtig, als Sie von der Straße zum Haus gingen. Es sind nämlich Blutspuren draußen zu sehen. Aber das Verbrechen ist hier begangen worden.«

Er stieß die Tür zu dem kleinen Wohnzimmer auf, das hell erleuchtet war. Der Redner trat ein und sah sich um. In dem Raum herrschte große Unordnung. Tisch und Stühle waren umgeworfen, und eine Vase lag in Scherben auf dem Boden. Auf dem hellen Teppich zeigte sich ein großer, dunkler Blutfleck.

»Vielleicht wäre es besser, wenn ich Ihnen alles sagte, was sich zugetragen hat«, meinte der Major.

»Nein, das ist unnötig.« Der Redner konnte manchmal sehr kurz und abweisend sein. »Zunächst möchte ich feststellen: Bearbeite ich den Fall, oder bearbeite ich ihn nicht? Wenn ich ihn aber bearbeite, dann muß ich die Untersuchung auch allein führen, und Sie sind für mich dann weiter nichts als ein ganz gewöhnlicher Mitbürger.«

Der Major ärgerte sich, aber er zeigte es äußerlich nicht.

»Schön, dann werde ich draußen im Garten warten.«

»Warten Sie, wo Sie wollen«, erwiderte Mr. Rater und wandte sich an den Inspektor der Berkshire-Polizei.

Die Geschichte, die er von diesem Beamten erfuhr, war sehr einfach. Ein Polizist hatte auf seinem Rundgang um halb vier morgens gesehen, daß Licht in der Eingangsdiele der Villa brannte. Er öffnete das Gartentor, und als er zur Haustür kam, fand er sie nur angelehnt. Gleichzeitig bemerkte er eine große Blutlache auf der Schwelle. Er rief ins Haus, erhielt aber keine Antwort. Da er wußte, daß Mrs. Gray allein wohnte, wartete er nicht länger, ging hinein und entdeckte an den Wänden des Ganges überall Blutspuren.

Im Wohnzimmer brannte Licht, und er sah, daß hier ein Kampf stattgefunden haben mußte. Mehr konnte er jedoch nicht feststellen.

Mr. Rater rief die beiden Beamten von Scotland Yard, die mit ihm gekommen waren, und zeigte auf die polierten Messingstangen des Kamingitters.

»Hier sind Fingerabdrücke. Machen Sie eine Aufnahme davon. Wenn es Tag geworden ist, werde ich das ganze Zimmer genau untersuchen.«

Im Kamin lag noch Holzasche und ein angebranntes Stück Papier. Behutsam nahm er es heraus und betrachtete es genauer. Deutlich konnte er die Schriftzüge einer Frau erkennen.

»Versuchte, mich zu töten ... Verteidigte mich selbst ...«

Die Worte waren unregelmäßig und hastig geschrieben.

Nachdem er das verkohlte Blatt sorgfältig auf den Tisch gelegt hatte, ging er hinaus und machte einen Rundgang um das Haus. Die Morgendämmerung begann, und er konnte auch auf dem gepflasterten Weg vor dem Haus Blutspuren sehen. Es mußte jemand in blutendem Zustand auf die Straße geschafft worden sein. Dort verlor sich die Spur.

Mrs. Gray hatte einen kleinen Zweisitzer. Die Tür zur Garage war geschlossen, und man fand den Wagen vollkommen in Ordnung.

»Was schließen Sie aus dem Befund?« fragte der Major, der nicht länger schweigen konnte. »Es ist doch alles klar. Sie hatte Streit mit jemand, wurde ermordet und fortgebracht.«

»Ach, sind das die Hausangestellten?« unterbrach ihn der Redner, als er zwei Frauen quer über die Straße kommen sah. Er hatte nach ihnen geschickt, setzte aber keine großen Hoffnungen auf ihre Aussagen.

Zuerst führte er die Mutter, die die Stellung einer Köchin einnahm, ins Speisezimmer und stellte die gewöhnlichen Fragen an sie. Der Major erschien unaufgefordert zu der Vernehmung. Die Frau hatte schon erfahren, was geschehen war, und zitterte vor Aufregung.

»War gestern abend jemand hier?«

»Nur Mr. Vanne.«

Der Redner sah sie düster an. Das tat er gewöhnlich, wenn er überrascht war.

»Mr. Leicester Vanne.«

Sie nickte.

»Um welche Zeit war er hier?«

»Er war noch da, als ich fortging. Eine Bekannte von mir sah, daß sein Wagen etwa um Mitternacht nach London zurückfuhr. Ich möchte nichts sagen, was ich eigentlich nicht sagen sollte«, fügte sie mit nervöser Hast hinzu, »aber die beiden hatten einen schrecklichen Streit miteinander.«

»Wer?«

»Mrs. Gray und Mr. Vanne. Er brüllte und verlangte eine Erklärung für irgend etwas. Sie bat ihn, sich doch zu beruhigen und nicht so laut zu schreien.«

»Haben Sie an der Tür gelauscht?«

Die Frau wurde bleich.

»Ja – das muß ich zugeben. Ich hörte, wie Mrs. Gray sagte: ›Es ist mir unmöglich, dich zu heiraten. Den Grund dafür kann ich dir nicht sagen. Wenn du mich wirklich liebtest, würdest du nicht so unvernünftig sein.‹«

»Und was geschah dann?« fragte der Redner, der den Inhalt der Angaben schnell notierte.

»›Ich würde dich eher umbringen, als dich verlieren oder einem anderen überlassen‹, sagte er. Darauf kann ich einen Eid leisten, obwohl er sonst sehr nett zu uns war und ich ihn nicht in Schwierigkeiten bringen möchte.«

»Haben die beiden noch miteinander gestritten, als Sie fortgingen?«

Sie schüttelte den Kopf.

Sie hatten sich in ruhigem Ton unterhalten, als die Köchin durch die geschlossene Tür Gute Nacht wünschte.

Ihre Tochter konnte nichts aussagen, weil sie schon eine Stunde vor Beginn der Auseinandersetzung gegangen war.

»Nun, was sagen Sie jetzt?« fragte der Major eifrig. »Die Sache wird doch immer klarer. Mr. Vanne blieb in der Wohnung und fing einen neuen Streit mit der Frau an ...«

»Sie hat sich aber zur Ruhe gelegt«, erwiderte Mr. Rater kühl. »Und der Mann, der den Mord begangen hat, kam nicht durch die vordere Haustür herein, sondern von der Hinterseite. Wenn Sie um das Haus herumgehen, finden Sie die Spuren eines Stemmeisens an der Küchentür. Und das Schloß ist erbrochen!«

Der Major schwieg einen Augenblick.

»Ich kenne natürlich Mr. Leicester Vanne«, meinte er dann. »Er ist sehr jähzornig. Selbstverständlich müssen Sie in dieser Richtung Nachforschungen anstellen.«

»Der schlaue Gedanke ist mir auch bereits gekommen«, entgegnete der Redner ironisch.

Es war schon halb acht, als der Chefinspektor die Wohnung Mr. Vannes erreichte. Nach mehrfachen Erkundungen stellte er fest, daß der junge Mann sein Auto in einer nahen Mietgarage einstellte. Um acht Uhr kehrte Rater zurück und unterhielt sich mit dem Portier, der ihm aber keinen Aufschluß geben konnte, da er erst seit sieben auf seinem Posten war.

Die Wohnung lag in der ersten Etage und Mr. Vanne öffnete persönlich, als der Redner klingelte. Er erkannte den Beamten sofort wieder. Mit etwas abweisender Stimme wünschte er Guten Morgen, aber der Redner sah, daß es Vanne große Mühe kostete, eine ruhige Miene zu zeigen.

»Kommen Sie bitte herein.«

Mr. Vanne öffnete die Tür weiter. Der Redner stellte jedoch fest, daß er ein wenig zögerte und es ungern tat. Auch entdeckte er, daß er einen seidenen Schlafrock über einem Straßenanzug trug. Mr. Vanne sah müde aus und war unrasiert. Aus all diesen Anzeichen ging hervor, daß er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte.

Er führte seinen Besucher in ein kleines Arbeitszimmer.

»Nun, was kann ich für Sie tun?«

Mr. Rater sah ihn durchdringend an, bevor er antwortete.

»Ich komme wegen der verstorbenen Mrs. Gray.«

Mr. Vanne schaute ihn verblüfft an.

»Verstorben? Sie wollen doch nicht sagen, daß sie tot ist? Was meinen Sie denn damit?« fragte er ungläubig.

Der Redner erzählte in kurzen Worten, was sich seiner Meinung nach diese Nacht zugetragen hatte. Während er sprach, schwand die Angst allmählich aus Vannes Zügen, und schließlich lachte er laut auf.

»Wie absurd! Sie glauben tatsächlich, daß Mrs. Gray tot ist?«

Der Redner schwieg.

»Großer Gott, Sie bilden sich doch nicht etwa ein, daß ich sie umgebracht habe?«

»Ich bilde mir gar nichts ein«, erwiderte Mr. Rater. »Ich halte mich nur an Tatsachen. In der Villa in Sunningdale habe ich Blutspuren gefunden, ebenso auf dem Weg vor der Haustür. Außerdem kann man deutlich sehen, daß ein menschlicher Körper auf die Straße gezerrt wurde.«

Er machte eine eindrucksvolle Pause.

»Und dann habe ich auch in Ihrem Auto Blutflecken gefunden!«

Mr. Vanne hatte seine Fassung wiedergefunden. Etwas bleicher war er allerdings geworden, als er erkannte, in welch kritischer Lage er sich befand.

»Natürlich haben Sie den Wagen gesehen. Wie dumm von mir!«

»Welche Erklärung können Sie mir geben?«

Mr. Vanne zuckte die Schultern.

»Ich weiß nicht, wo Mrs. Gray ist, und ich kann Ihnen auch sonst nichts über den Fall sagen.«

Mr. Rater legte die Stirn in Falten und schaute hinaus.

»In Ihrem Wagen sind Blutspuren«, wiederholte er mit eigentümlicher Betonung. »Trugen Sie gestern Abendkleidung?«

Vanne nickte.

»Bitte zeigen Sie mir den Anzug und das Oberhemd.«

Vanne zuckte nicht mit der Wimper, als der Chefinspektor ihn scharf musterte.

»Ich habe etwas Kaffee verschüttet und den Einsatz beschmutzt, deshalb habe ich es verbrannt. Der Smoking und die Beinkleider waren alt, ich habe sie mit dem Frackhemd zusammen auch unten in die Zentralheizung geworfen, bevor der Portier aufstand. Ich teile Ihnen das deshalb mit, weil der Nachtportier es Ihnen wahrscheinlich später doch sagen wird. Er hat mich mit dem Paket in den Keller gehen sehen.«

»Natürlich waren Blutflecken daran«, meinte der Redner nachdenklich. »Am vergangenen Abend waren Sie mit Mrs. Gray zusammen in ihrer Villa, und Sie hatten einen heftigen Streit miteinander –«

Vanne machte eine verzweifelte Handbewegung.

»Es ist mein Fehler, daß ich so streitsüchtig bin«, erwiderte er niedergeschlagen. »Dieser entsetzliche Jähzorn! Aber ich verspreche Ihnen, daß ich von jetzt ab ...«

»Wo ist Mrs. Gray?«

»Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich es nicht weiß. Seit gestern abend habe ich sie nicht wiedergesehen. Wenn Sie glauben, daß ich sie ermordet habe, dann verhaften Sie mich doch.«

Er zitterte vor Erregung.

»Da Sie zugeben, daß Sie zum Jähzorn neigen ...«, begann der Redner.

»Ich weiß, daß es mein Fehler ist. Es tut mir außerordentlich leid, aber ich kann Ihnen weiter nichts über Mrs. Gray sagen. Wie unvorsichtig und dumm habe ich mich doch benommen!«

»Ja, das stimmt«, sagte der Chefinspektor, als er sich zur Tür wandte. »Ich komme später wieder, Mr. Vanne.«

Der Redner zog am Vormittag noch mehrere Erkundigungen ein und war mit dem Resultat zufrieden.

Gegen zwölf Uhr hielt man in Scotland Yard eine Konferenz ab, zu der Major Dawlton jedoch nicht zugezogen wurde. Um ein Uhr traf ein Telegramm von einem Arzt in Devonshire ein, das den Redner auf eine neue Spur brachte. Zu gleicher Zeit lief auch der Bericht eines kleinen Krankenhauses in der Nähe von Horsham ein, der die letzte Lücke ausfüllte.

Am Nachmittag ging Mr. Rater wieder zu Mr. Vanne, der ihn offenbar erwartete.

»Ich will Ihnen keine Schwierigkeiten machen«, erklärte er. »Ich hole bloß noch meinen Hut, dann komme ich mit Ihnen.«

»Ich habe nicht die Absicht, Sie zu verhaften, wenn Sie das meinen sollten. Nur muß ich Sie um Auskunft bitten, wo Sie den Mann gelassen haben.«

Mr. Vanne wurde bleich.

»Fünf Meilen hinter Horsham – ich habe ihn aber nicht auf der Straße liegenlassen –«

»Nein, er ist von selbst verschwunden«, erwiderte Mr. Rater. »Jetzt liegt er im Langwell Cottage-Hospital mit einer großen Wunde im rechten Oberarm ... Unglaublich, wie solche Wunden bluten können.«

Vanne starrte ihn verwundert an.

»Lebt er denn noch?« flüsterte er.

Der Redner nickte.

»Der Mann leidet an Krämpfen – ich habe das in seinen Personalakten in Scotland Yard inzwischen feststellen können. Übrigens hat der Gefängnisarzt das auch bestätigt. Ich vermutete schon etwas Ähnliches. Diese Kerle sterben nicht so leicht, aber wenn sie einen Anfall bekommen, sieht es aus, als ob sie tot wären.«

Er nahm ein Telegramm aus der Tasche und faltete es auseinander.

»Henry Walter Wassing heißt er – als John Smith wurde er verurteilt. Ich fahre jetzt nach Horsham, um mir den Mann einmal anzusehen. Ich glaube, er wird nun wieder nüchtern und bei Besinnung sein. Hätte sich Mrs. Gray mir anvertraut, so hätte ich ihr genügend Material gegeben, und sie hätte sich in aller Stille von ihm scheiden lassen können. – Erzählen Sie mir jetzt einmal Ihre Geschichte im Zusammenhang.«

Mr. Vanne hatte sich inzwischen beruhigt und kam der Aufforderung des Chefinspektors nach.

»Ich traf Mrs. Gray vor etwa fünf Jahren zum erstenmal bei einer bekannten Familie und verliebte mich sofort in sie. Trotz meines jähzornigen Charakters erwiderte sie meine Neigung, nur weigerte sie sich, mich zu heiraten. Ich glaubte, sie wäre Witwe, und konnte infolgedessen den Grund für ihre Weigerung nicht verstehen. Ich wußte nicht, daß ihr Mann für ein schreckliches Verbrechen eine zehnjährige Zuchthausstrafe absaß. Sie wollte sich nicht scheiden lassen, da sie die Öffentlichkeit fürchtete. Dazu kam noch, daß sie sich heimlich hatte trauen lassen. Niemand wußte von dem entsetzlichen Leben, das sie an seiner Seite geführt hatte. Sie war gerade nahe daran, mir alles zu erzählen, weil sie gehört hatte, daß Wassing entlassen werden sollte, als er plötzlich unerwartet am Sonnabend nachts in ihrem Haus auftauchte. Er war betrunken und versuchte sie zu erwürgen. Zu ihrer Selbstverteidigung stach sie mit einem Dolch nach ihm, den ich ihr früher einmal als Brieföffner geschenkt hatte. Er stürzte zu Boden und blutete stark. Jetzt weiß ich glücklicherweise, daß er in eine Art Starrkrampf verfiel. Sie glaubte aber, daß sie ihn getötet hätte, und schrieb mir einen Brief. Sie hatte die Fassung vollständig verloren und wollte Selbstmord begehen. Während sie schrieb, wurde sie aber ein wenig ruhiger, verbrannte die Nachricht und erzählte mir am Telefon kurz, was sich zugetragen hatte. Ich fuhr mit meinem Wagen sofort nach Sunningdale, brachte sie zuerst in meine Wohnung und kehrte dann zur Villa zurück.

Zunächst hatte ich die Absicht, den vermeintlichen Toten an die Küste zu bringen und ihn dort am Ufer liegenzulassen. Aber ich machte Fehler über Fehler. Ich ließ das elektrische Licht im Flur brennen und die Haustür offenstehen. Dadurch ist natürlich alles vorzeitig herausgekommen. Es gelang mir, den Mann in den Wagen zu schleppen. Kurz hinter Horsham hatte ich durch eine Motorpanne eine Viertelstunde Aufenthalt. Während dieser Zeit muß er das Bewußtsein wiedererlangt haben und aus dem Wagen gekrochen sein. Ich stieg wieder ein und fuhr weiter. Erst nach zehn Minuten entdeckte ich, daß er nicht mehr bei mir war. Ich fuhr zurück, sah mich überall nach ihm um, konnte ihn aber nicht finden. Mrs. Gray hielt sich solange in meiner Wohnung auf. Sie ist jetzt in Bournemouth. Als Sie heute morgen zu mir kamen, erschrak ich sehr, denn ich fürchtete, daß Sie meine Zimmer durchsuchen würden. Um Zeit zu gewinnen, erzählte ich Ihnen, daß ich meine Kleider verbrannt hätte, was aber nicht stimmte. Wie haben Sie denn alles in so kurzer Zeit herausgebracht?«

Der Chefinspektor machte eine abwehrende Handbewegung.

»Die Fingerabdrücke auf dem Kamingitter wurden in Scotland Yard identifiziert, und dann ergab sich eins aus dem anderen. Übrigens hatte der Kerl einen Brief in der Tasche, den er selbst geschrieben hat. Daraus geht klar hervor, daß er die Absicht hatte, seine Frau umzubringen.«


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