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Schon in den ersten Tagen seiner Bekanntschaft mit Johann Irlen zeigte sich im Wesen Kerkhovens eine augenfällige Veränderung. Bis dahin ein Mann von nüchterner oder doch nüchtern scheinender Gesammeltheit, machte er nun den Eindruck zerfahrener Unruhe. Zuweilen sah er wie jemand aus, der insgeheim eine unerwartete Nachricht erhalten hat, deren Tragweite nicht abzuschätzen ist. Er war vor kurzem vierunddreißig geworden und stand seit acht Jahren in der Praxis, zum Besinnen war ihm wenig Zeit geblieben, nämlich zu dieser Art von Besinnen, die wie erschrockenes Innehalten auf einer bequemen Straße war. Es ließ sich etwa so ausdrücken: ein tadellos funktionierender Mechanismus war in Unordnung geraten, und die Ursache war nicht zu finden, ein Rädchen zerbrochen, eine Feder gesprungen, Gott weiß was. Wer seine täglich wiederkehrende Aufgabe hat, streng eingeteilten Dienst, der tut nicht gut, wenn er sich mit störenden Vorgängen in seinem eigenen Innern befaßt, namentlich wenn ihm das Innere der andern Menschen dauernd zu schaffen macht, er gleicht dann einem Mann, der angelegentlich in den Spiegel starrt, während ringsherum das Haus brennt.
Aber was war denn geschehen? Im Grunde nichts weiter als die Begegnung mit einer Persönlichkeit, die ähnlich wie ein Scheinwerfer wirkte. Bereits beim zweiten Besuch kam es außerhalb des ärztlichen Bereichs zu einem Gespräch, das Kerkhoven aus dem Gleichgewicht brachte, wobei ihm klar wurde, daß es ein eingerostetes Gleichgewicht war. Es lag nicht am berührten Gegenstand, auch nicht an der Art der Betrachtung, sondern an der Atmosphäre. Man hatte das Gefühl: Luft! du kannst atmen! Am Ende der Woche ließ ihn Irlen gegen zehn Uhr abends rufen, weil er vor Kopfschmerzen fast verrückt wurde. Er blieb bis elf Uhr still bei ihm sitzen, dann, als die Schmerzen vorüber waren, unterhielten sie sich bis halb eins. Auf dem Nachhauseweg, im Regen, unter einer Gaslaterne, versteinerte er aus dumpfwühlenden Zweifeln heraus unter der schlaglichtartigen Erkenntnis: alles was du bis jetzt getrieben gedacht vorgestellt hast und gewesen bist, war Irrtum und Zeitverlust.
Nun, damit konnte man sich ebensogut hinlegen und krepieren. Dazu die schülerhaft erstaunte Feststellung, daß man hier herum ungefähr sieben- bis achthundert Menschen kannte und zwei bis drei Dutzend hinlänglich gründlich und genau, daß aber dieser von allen übrigen so verschieden war wie ein Säugetier von Insekten.
Er war der Sprache nur in geringem Grad mächtig, nicht mehr als etwa ein gebildeter Handwerker, wenigstens was den Mut zur Äußerung betraf. Vieles lag ihm auf der Zunge, was er nicht formulieren konnte, Irlen war der erste Mensch, den er je getroffen, der es jedesmal erriet und zu seiner maßlosen Verwunderung in Worte brachte. Und auf einmal erwies es sich, daß er die Worte selber fand. Er hatte nie ein deutliches Bewußtsein von seiner Einsamkeit gehabt, in Irlens Nähe wurde sie ihm als Zustand sichtbar, wie eine Photographie beinahe, und er versuchte stotternd, ihm eine Vorstellung davon zu geben. Irlen nickte ihm zu als hätte er etwas ganz besonders Tiefes gesagt und bezeichnete es als ein Merkmal der Zeit. »Alle unsere Berufsleute sind einsam,« sagte er, »einige leiden darunter, die meisten spüren es nicht. Sie haben ihre Interessengemeinschaften und das armselige Ersatzmittel für höhere Beziehung, den gesellschaftlichen Verkehr, der durch alle sozialen Stufen in seiner eigentümlichen Verkümmerung besteht, indem er Kaste gegen Kaste ausspielt, in der Arbeiterwelt wie in der Adels- und Bürgerwelt. Das ist ja unser Unglück, deswegen sind wir so verarmt. Heute gibt es kaum einen Mann über dreißig, der noch einen Freund besitzt, vor zwanzig Jahren war man erst mit vierzig so weit, um neunzehnhundertdreißig werden bereits die Fünfundzwanzigjährigen vereinsamt sein. Sie werden mit zwanzig ihre erotischen Erlebnisse hinter sich haben und für die Liebe ebenso verloren sein wie für die Freundschaft. Die Ehe ist dann auch nur ein jämmerlicher Ersatz.« Kerkhoven machte ein naiv-schuldbewußtes Gesicht. (Vielleicht, weil er annahm, Irlen wisse nicht, daß er verheiratet war, er erzählte es ihm erst einige Tage später.) Er schaute Irlen in einem Moment, wo er sich nicht von ihm beobachtet glaubte, mit einem Blick an, der ihn durch und durch zu erforschen schien. Es war ihm zumut als kenne er ihn schon viele Jahre, sei schon seit vielen Jahren vertraut mit diesem indianisch-schmalen Kopf, den blauen tiefliegenden Augen, dem hastigen harten trockenen Händedruck, auf den er beim Kommen und Gehen immer wartete wie auf eine unentbehrliche Verständigung, und als sei es auf keine Weise zu erklären, daß sie einander erst vor kurzer Frist kennengelernt hatten.
Kerkhovens Ehe war ein Fall für sich, ein Kerkhovenscher Fall. Es dauerte Monate, bis Irlen in das Verhältnis Einblick erlangte, denn Kerkhoven konnte sich nicht entschließen, darüber anders als in spärlichsten Andeutungen zu sprechen. Die Vorgeschichte war nichts weniger als interessant. Schon als Student war er ein Abseitsgeher gewesen und hatte sich von den Kommilitonen ferngehalten. Nicht aus Hochmut, sondern aus Schwerblütigkeit und hauptsächlich weil er sich mit ihnen langweilte. Seine Schüchternheit lähmte ihn auch dort, wo er sich gern angeschlossen hätte. Im allgemeinen war ihm die Methodik der studentischen Vergnügungen unleidlich, nichts verdroß ihn mehr als das programmäßige Über-die-Schnur-hauen und das Heldentum, das sich nach der Quantität des konsumierten Alkohols bemaß. Sie sprachen mit schöner Ungeniertheit von sich, er liebte es in keiner Weise, von sich zu sprechen, wenn sich bei irgendeinem Anlaß die Aufmerksamkeit auf seine Person richtete, wurde er ängstlich und rollte sich igelhaft zusammen. Langweile unter Menschen war beinahe eine Krankheit bei ihm, war er einmal gezwungen, in Gesellschaft zu gehen, so bekam er richtiges Lampenfieber und verbarg seine Mißgefühle unter einer peinlich wirkenden steifen Höflichkeit, redete jeden beflissen mit seinem vollen Titel an und entschuldigte sich beim geringsten Verstoß so umständlich wie der unglückliche Beamte in der Geschichte von Tschechow, der seinem Vorgesetzten im Theater beim Niesen auf die Glatze spuckt. Infolgedessen beging er natürlich lauter Verstöße, mitunter ziemlich lächerliche. Jedoch nach seiner bürgerlichen Niederlassung gewann er hierin mehr Sicherheit und Haltung.
Während seiner Praktikantenzeit hatte er eine junge Italienerin kennengelernt, sie hieß Nina Belotti und stammte aus dem Trentino, eine äußerst lebhafte anmutige hübsche Person. Sie hatte sich als achtzehnjähriges Mädchen an irredentistischen Umtrieben beteiligt, und ohne daß sie es recht merkte in eine hochverräterische Verschwörung verstrickt, war sie der drohenden Verhaftung nur durch schleunige Flucht über die nahe Schweizer Grenze entgangen. Da die Familie sich von ihr lossagte und ihr die Unterstützung verweigerte, hatte sie den Plan gefaßt, sich in Deutschland zur Krankenschwester auszubilden. Wie sie in den politischen Kampf geraten war, darüber vermochte sie nie eine vernünftige Auskunft zu geben, vielleicht durch ein Liebesabenteuer, vielleicht bloß, um ihrem Temperament die Zügel schießen zu lassen. Über die Ziele, die ihr vorgeschwebt, wußte sie wenig auszusagen, wenn man neugierig wurde und sie bedrängte, brachte sie mit einem gewissen verlegenen Trotz die billigsten Schlagworte aus der Rebellenfibel vor, wie daß die Freiheit mit Blut erkauft werden müsse und die Unterdrücker den Tod verdienten. Kerkhoven hörte sich das jedesmal mit grabesernster Miene an. Sie zu belehren oder zu erziehen fiel ihm nicht im Traum ein.
Sie war entzückend ungebildet, ganz Naturkind, vollkommen anspruchslos. Und so gefiel sie ihm, so wollte er sie haben, so sollte sie bleiben. Was braucht eine Frau mehr als eine genügende Portion Hausverstand? Nämlich wenn sie in ihrem Äußern mit allen Eigenschaften ausgestattet ist, die den Mann zufriedenstellen. Ein paar Jahre lang hatte er in freiem Verhältnis mit ihr gelebt, nachdem er sich als praktischer Arzt ansässig gemacht, hatte er sie geheiratet. Er hatte geschwankt, hatte alle Möglichkeiten erwogen, sich durch alle Zweifel gekämpft, aber er hatte niemals Ursache gehabt, seinen Entschluß zu bereuen. Sie diente ihm mit Hingebung. Sie war seine Magd, seine Geliebte, seine Wirtschafterin und seine Assistentin. Sie war tapfer hochherzig und selbstlos. Kinder hatten sie nicht.
Etwas trübte seine Beziehung zu ihr: die schrankenlose Bewunderung, die sie für ihn hegte. In dem Punkt war sie taub gegen jeden Einspruch und blind für die wirklichen Maße. Sie bewunderte alles was er tat und sagte, sie bewunderte ihn beim Rasieren und beim Zeitunglesen, wenn er mißgelaunt und wenn er freundlich war, bei der Ordination und beim Schachspiel (er spielte gern Schach, als er es Irlen gestand, spielten sie bisweilen eine Partie), bei Tag und bei Nacht. Sie benahm sich dabei mit putziger Objektivität wie jemand, der sich für einen besonders imposanten Menagerielöwen begeistert. Was konnte er dawider tun, daß sie ihn für einen großen Mann hielt? Es waren gar keine Unterlagen dafür vorhanden, sie hatte, in der Außenwelt, nicht die geringsten Anhaltspunkte dafür, aber in ihren Augen war er ein großer Mann. Sie hütete sich natürlich, schon aus Furcht vor seinem Zorn, ihre Meinung vor die Leute zu tragen, aber wenn in ihrer Gegenwart von bedeutenden Leistungen die Rede war, gleichviel ob wissenschaftlichen oder profanen, eines Dichters Fliegers oder Boxers, mußte sie sich Gewalt antun, um nicht etwas Ungereimtes und Enthusiastisches zum Lob ihres Giuseppe zu sagen.
Ihre Begriffe waren die eines Kindes, Kerkhoven war gleichsam der einzige Erwachsene für sie, so wie für das Kind der Vater, der es führt, die einzige Person von Geltung ist. Daneben steckte etwas von dem abergläubischen Respekt der italienischen Bäuerin vor dem Doktor in ihr, er wußte es wohl und hielt es ihr zugute, denn er liebte ihre Volksart wie er ihre Sprache und ihre durch keine Kultureinflüsse verderbte Einfalt liebte. (Viele Jahre später, als sie schon eine vom Leben zerschlagene Kreatur war, deren geistige Nacht sich nur blitzartig erhellte, wenn die Kunde von Kerkhovens Aufstieg zu ihr drang, sagte sie, so oft ihr davon erzählt wurde, mit einem ergreifenden Leuchten im Gesicht und dem unverändert radebrechenden Deutsch: »Seht ihr, ich 'aben es immer gewußt; ich allein 'aben es immer prophezeit.«)
Wenn man einem Menschen als etwas erscheint, was man auch bei mildester Selbstbeurteilung in das Gebiet unsinniger Übertreibung verweisen muß, verliert sich die Stimme dieses Menschen nach und nach ins Unartikulierte wie die eines Vogels. Es steht gefährlich um die Verbundenheit, wenn das Wesen, das man sich zugesellt hat, einen beständig in aller Unschuld über die Grenzen heben möchte, die man sich von Anfang an und in der Meinung, es sei für immer, gezogen hat. Es verletzt den Stolz, und in diesem Fall geschah ärgeres: als Irlen es erkannte, belehrt durch die zögernden vorsichtigen, ganz langsam die Vergangenheit aufdeckenden Mitteilungen Kerkhovens (die ihn dann selbst über die Gespenstigkeit des Geschehens belehrten), erschrak er über die seltsame Typengleichheit der Erlebnisse innerhalb ein und desselben Menschenschicksals, trotzdem es nichts Neues für ihn war, er hatte die Erfahrung schon öfter gemacht. Da war etwas Begrabenes, was begraben bleiben sollte, und jene unschuldig-törichten Hände scharrten und scharrten danach. Kerkhoven war in seiner eigenen Meinung, was er eben war, ein unbedeutender Arzt in einer Provinzstadt, im Adreßbuch unter soundsoviel andern verzeichnet als Doktor der gesamten Heilkunde. Mehr wollte er nicht sein, weil er überzeugt war, nicht mehr sein zu können. Es war dies ein Ergebnis seiner inneren Verfassung, eines Zustands von Selbstauslöschung, von fortwährendem Herunterschrauben des Ichgefühls. Seine Bescheidenheit, oder wie man diese Eigenschaft nennen mochte, war eine chronische Erkrankung des Selbstbewußtseins. Der Ursache nachzugehen nahm er sich sorglich in acht, und so war es ein Chok wie er ihn lange nicht verspürt hatte, als Irlen durch ein bestürzend unvermutetes Wort daran rührte und er, wie wenn in seiner Brust Blöcke von einem Höhleneingang wären weggewälzt worden, gezwungen war, einen Blick auf das »Begrabene« zu werfen. Es ließ ihn nicht mehr ruhen. Das und vieles noch. Manche Leute schleppen eine Last durch Jahrzehnte und gewöhnen sich dermaßen an ihr Gewicht, daß sie vergessen, wie schwer sie ist.
Da ist ein Momentbild der Sprechstunde: Er öffnet die Tür zum Wartezimmer, sein Blick überfliegt die geduldig harrenden Menschen. Jeder ist sorgenvoll mit seinem Leiden beschäftigt und überlegt, wie er es dem Arzt möglichst eindringlich schildern soll. Fünf Personen: eine schwarzverschleierte Frau, die er zum erstenmal sieht; ein Arbeiter mit verbundenem Kopf (eine Eisenstange ist ihm auf den Schädel gefallen); ein unaufhörlich hustender und spuckender Alter mit unsauberem Bart und Klumpfuß; ein barfüßiger kleiner Junge, dessen ganzes Gesicht von einem Ekzem bedeckt ist, und ein gewisser Schnaase, Varietékünstler, geschlechtskrank, der seit Wochen täglich kommt und sich beharrlich weigert, einen Spezialisten aufzusuchen, weil er angeblich zu Kerkhoven mehr Vertrauen hat. Während er die Schwarzverschleierte mit einer Handbewegung ins Ordinationszimmer bittet, erscheinen noch zwei Frauen, eine junge, die sich gleich auf einen Stuhl wirft und das Taschentuch an die Augen drückt, und eine bejahrte, offenbar die Mutter, die die Anwesenden geringschätzig mustert, wie es nur reichgewordene Kleinbürgerinnen tun, und sich pomphaft an Kerkhoven mit der Frage wendet, ob sie nicht als erste drankommen könnten. Als er stumm auf die bereits Wartenden deutet, kehrt sie sich beleidigt ab wie eine Primadonna, die eine Statistin abgeben soll . . .
Heute die, morgen andere. Im Grunde sieht es aus als seien es immer die nämlichen. Zu Irlen sagt er einmal: »Es gibt eine Eintönigkeit im Wechsel, die das einzelne zur Masse zusammenschweißt und die Fülle des Leidens zum Sammelsurium macht.« Irlen antwortet nicht, er scheint darüber nachzudenken. Kerkhoven möchte es näher erklären, findet jedoch nicht die richtigen Wendungen. Er würde dann ungefähr folgendes sagen: Ja, wenn es noch ein ausgeprägtes Leiden ist, in grundlegenden Worten benannt, auf Kongressen erörtert, in Fachzeitschriften umstritten, wenn es noch das ist. Oder einer der seltenen Fälle, wo die Wissenschaft im Dunkeln tappt und man in die Grenzgebiete gerät, vor deren Weglosigkeit auch der berühmte Professor das ehrwürdige Haupt schüttelt und aufmerksam zuhört, was der kleine Kollege an Symptomen aufzuzählen hat; da lohnt es vielleicht der Mühe, es geht gegen einen Feind, an dem man unter Umständen seine Kräfte messen kann. Unter Umständen; denn du lieber Gott, mit den Kräften ist kein großer Staat zu machen, in der Zwangsfron ist man lahm geworden, von der gewaltigen Arbeit zahlloser Forscher in zahllosen Laboratorien und Kliniken sind die Ergebnisse nur zu einem verschwindenden Teil zu einem gedrungen, hat man denn Zeit, zu lesen und weiterzulernen? und was man zu lesen und zu lernen versäumt hat, das muß, alle sagen es, die Erfahrung ersetzen. Was aber ist meistens Erfahrung? die Reihenfolge des Mißlungenen. Trotzdem verleiht sie eine Art von Sicherheit, wenigstens den verzweifelten Mut, den Wissensmangel aus der Rechnung auszuschalten, und den edleren, das Eingeständnis der Unzulänglichkeit als Schutzwehr aufzurichten gegen den Dünkel und die Verbrechen der Ignoranz.
So ungefähr würde er es ausdrücken, wenn er etwas beredter wäre. Jedoch Irlen scheint ihn trotzdem zu verstehen, in seiner Miene liegt auch die Antwort, ungefähr so: ich glaube, Sie sind auf einer falschen Fährte, Mann.
Er hatte sich früh damit abgefunden, daß er nur einen besseren Handlanger vorzustellen hatte. Die Schuld lag selbstverständlich an ihm, er hatte sich mit voller Überlegung in die beschränkte Bürgerexistenz begeben. (Jetzt, eben jetzt begann er zu ahnen, warum, er war auf dem Weg der Erkenntnis, und wie tief der auch hinunter- und zurückführte, er fürchtete sich nicht mehr vor dem, was ihm bisher das Allergefürchtetste gewesen war, der Durchforschung seines Innern, Durchforschung bis auf den Grund, wobei er sich darüber klar war, daß es ohne die Bekanntschaft mit Irlen nie so weit gekommen wäre.)
Natürlich hätte er ein Spezialfach wählen können, um der Verflachung im allgemeinen Betrieb zu entgehen. Aber dies hätte noch jahrelanges Studium erfordert, und dazu hatten die Mittel gefehlt. Er wollte fertig und unabhängig sein. Als Spitalassistent hatte er ein unangenehmes Erlebnis mit dem Chef seiner Abteilung gehabt; dieser hatte durch eine grobe Fahrlässigkeit den Tod eines Patienten verschuldet; er dachte aber gar nicht daran, die Schuld auf sich zu nehmen, sondern schob ihm, der sich nicht wehren durfte oder von dem er mit Recht annahm, daß er zu timid oder zu autoritätsgläubig war, um sich zu wehren, kaltblütig die ganze Verantwortung zu. Der Fall lag so, daß ein Versäumnis Kerkhovens im Bereich der Möglichkeit lag, die Berechnung aber stimmte: er wehrte sich mit keiner Silbe. Nicht unwahrscheinlich bei seinem schweigsamen Stolz, daß diese Erfahrung ihn von einer Laufbahn abschreckte, die ihm solche häßlichen Überraschungen vor der schwer erringbaren Selbstständigkeit noch öfter bescheren konnte. Zudem lebte in ihm eine hohe, wenn auch ganz undeutliche Idee von ärztlicher Kunst und Zusammenfassung des Vielfältigen, die ihn von der Spezialisierung abhielt (sogar auf seinem Schild fehlte die Bezeichnung Facharzt), eine verborgene Bewegung seines Geistes zum Humanen hin unterstützte eine Illusion, von der allerdings nach ein paar Jahren nicht mehr viel übrig war.
Die trostlose Verflachung hatte er nicht vorausgesehen. Er hatte sichs anders gedacht. Was wars denn geworden? Als er davon mit Irlen sprach, löste ihm der bittere Unmut die Zunge. Sie kamen mit eitrigen Geschwüren am Finger, mit erfrorenen Zehen, entzündeten Augen und Sausen in den Ohren. Sie hatten Bauchschmerzen Brustschmerzen Gliederreißen Übelkeiten. Kinder hatten Schafblattern Masern Keuchhusten Mumps, alte Leute waren gichtbrüchig und asthmatisch. Dienstmädchen und Gouvernanten fürchteten schwanger zu werden und waren es zuweilen, Ehefrauen, die nicht mehr gebären wollten, simulierten Herzkrankheiten. Da ein Schorf auf der Haut, dort eine pfeifende Lunge, einmal eine Halsentzündung, einmal ein schwacher Darm, einmal ein Basedow. Den schickt man in die Poliklinik, den zum Zahntechniker, dem schneidet man einen Abszeß, dem vierten schient man ein gebrochenes Bein. Die einen finden, man verschreibe nicht genug, die andern, die Rezepte seien zu teuer. Sie wollen Pflaster haben, Purgative, rasch heilende Tränkchen, sie glauben, es ist Zauberei. Sie verweisen auf gewisse Zeitungsinserate und erkundigen sich, ob das angepriesene Mittel verläßlich sei. Manche verstehen alles besser, sie haben medizinische Traktätchen oder Flugschriften von Wunderdoktoren gelesen und benörgeln jede Verordnung. Manche schlottern vor Angst, wenn sie ein Brausepulver nehmen sollen, manche verlangen gleich den Chirurgen, wenn sie der Magen drückt. Manchen sitzt der Tod im Nacken, und sie lassen nicht von ihren aufreibenden Geschäften und mörderischen Leidenschaften, manche rufen einen mitten in der Nacht, wenn sie Nasenbluten bekommen. Mit denen, die sich in der Sprechstunde einfinden, ist es leichter als mit denen, die man in ihren Häusern aufsuchen muß, mit den Armen hat man weniger Beschwer als mit den Begüterten. Die Großbürger geben einem zu verstehn: wir bezahlen dich, folglich hast du uns zu helfen. Sie tun als hätten sie ein besonderes Anrecht auf Gesundheit und langes Leben, als bewohnten sie einen sakralen Bezirk, in dem der Arzt etwas wie einen Schutzmann gegen Tod und Schmerz abzugeben hat, und als vervollkommne sich die Wissenschaft nur für sie, denn schließlich ist es ihr Geld, von dem man hygienische Institute baut, kostbare Mikroskope kauft und teure Professoren besoldet. Viele sind ungeheuer aufgeklärt, sie reden von Bakterien Streptokokken Röntgenbildern Sepsis und Harnanalysen, daß man sich ganz dumm dabei vorkommt, und denken, das alles sei schon so sicher wie ein Staatspapier und einfach wie die Regeln beim Sport.
Nein; er hatte sichs anders gedacht. Bei aller Selbstunterdrückung, bei aller Überzeugung von der eigenen Mittelmäßigkeit hatte er sichs beglückender gedacht. Nicht so folgenlos und auf demselben Fleck bleibend, nicht so subaltern. Für einen kleinen Medizinbeamten war er vielleicht doch zu schade, obwohl nicht einzusehen war (wie er, sich selbst zurücknehmend, durchblicken ließ), worauf er hätte hinweisen sollen, um sich dagegen aufzulehnen. Er war in dem labyrinthischen Bau seiner Wissenschaft um ein paar Stockwerke zu tief hinuntergeraten, jetzt gab es keinen Ausgang mehr nach oben, das Türschloß war eingeschnappt, die Treppe nicht mehr zu finden, und um nur in die nächsthöhere Etage zu gelangen, hätte ihm der Ausweis gefehlt, nach dem er gefragt worden wäre. Er durfte sich nicht beklagen, er hatte es so gewollt, nun hieß es sich zufrieden geben und demütig die spärlichen Botschaften entgegennehmen, die aus den erlauchteren Regionen in seine niedrige Enge drangen. Daran vermochte auch, so dünkte ihn, das aufwühlende Wort Irlens nichts zu ändern, das in ihm nachhallte wie ein auf eine Grammophonplatte übertragenes Echo.
In späterer Zeit hat Joseph Kerkhoven noch oft über den Eindruck nachgedacht, den der kurze Dialog auf der Schwelle von Irlens Zimmer zum Vorplatz, im Schein der emporgehaltenen Lampe, auf ihn übte. Ein schweres Gewitter war vorübergezogen, in der elektrischen Leitung war Kurzschluß, deswegen hatte Irlen die Lampe anzünden lassen. Die einzelnen Umstände blieben Kerkhovens Gedächtnis für immer eingeprägt.
Sie hatten von der Möglichkeit plötzlicher Wesensveränderung in einem Menschen gesprochen, und ob ein solcher Vorgang pathologisch bestimmbar sei oder auf rein seelischen Bewegungen beruhe. Irlen lag flach ausgestreckt, wie Kerkhoven ihm geraten, den Kopf ein wenig nach abwärts, dadurch milderten sich die rasenden Schmerzen im Hinterkopf. Irlen sagte, ein derartiger Fall habe in seinem Leben eine große Rolle gespielt, sei auch der mittelbare Anlaß zu seiner afrikanischen Reise gewesen. »Es handelte sich plötzlich nicht mehr um den einen Menschen,« fuhr er mit leiser Stimme fort und als ob es ihn wider seinen Willen zu der Mitteilung zwinge, »sondern um das Verhältnis zu allen, die mir nahe standen. Alles kam ins Gleiten, die Welt um mich hatte ihren Schwerpunkt verschoben, es war eine Krise der gesamten Existenz. Davon muß ich Ihnen ausführlich erzählen, ich hatte eigentlich noch nie solches Bedürfnis danach.« – »Es scheint Sie aufzuregen,« sagte Kerkhoven, »es ist spät, Sie müssen sich schonen. Ich bin natürlich gespannt, ich möchte vor allem wissen, was Sie mit dieser verhängnisvollen Reise im Sinn hatten, ich meine, welches Ziel Ihnen dabei vorschwebte. Aber heute nicht mehr, Sie müssen ruhen.« – »Gut. Erinnern Sie mich. Sie brauchen mich nur an Otto Kapeller zu erinnern. Man soll ein so wichtiges Ereignis nicht im Bewußtsein untergehen lassen. Man soll es von Zeit zu Zeit in die Gegenwart stellen, sine ira, wie ein Ding, damit man sieht, daß man sich von seinem Einfluß befreit hat und daß es kein Gift mehr in sich trägt.« Kerkhoven blickte betroffen empor, es klang wie eine Mahnung. Nach einem ziemlich drückenden Schweigen stand er auf, um sich zu verabschieden. Irlen schob die Decke beiseite, die er über seine Kniee gebreitet hatte, und griff nach der Lampe, Kerkhoven sagte: »Lassen Sie doch, ich weiß ja meinen Weg,« aber Irlen bestand darauf, ihm in den Flur zu leuchten. Als Irlen die Tür aufmachte, hörte man gedämpftes Klavierspiel aus der Bergmannschen Wohnung. »Ist das Doktor Bergmann, der so spät noch spielt?« fragte Kerkhoven. – »Ich glaube nicht,« erwiderte Irlen, »ich glaube, Ernst spielt gar nicht. Es wird Marie sein. Sie spielt gut. Sonderbar, davon hat sie nie etwas erwähnt. Sie stellt gern ihr Licht unter den Scheffel.« – Kerkhoven sagte: »Frau Bergmann hängt sehr an Ihnen.« Irlen schien über etwas anderes nachzudenken. Er hob die Lampe, die einen Milchglassturz hatte, bis in die Höhe der Schulter und schaute Kerkhoven fest und intensiv an, sicherlich fünf oder sechs Sekunden lang. Durch die Belichtung von oben gewannen seine Züge eine übertriebene Schärfe, alles Charakteristische war ins Verzerrte gesteigert, die Geierschnabelnase, die dicken Wülste der Brauen, die eingehöhlten, membranhaft zitternden Schläfen, zwischen denen eine knabenhaft klare Stirn wie eine Miniaturkuppel schwebte, der schmallippige Mund, das eckig und gebieterisch vorgestreckte Kinn; grandiose Plastik eines zufälligen Moments.
Da sagte Irlen: »Es steckt eine Kraft in Ihnen, Doktor Kerkhoven, ich glaube, eine große Kraft. Sie müssen sie aus sich herausholen, sonst geht sie verloren.« – »Meinen Sie?« erwiderte Kerkhoven mit rauher Stimme, durch die eine gewisse Erregung brach, »worauf gründen Sie die Meinung?« – »Vorläufig nur auf die Beobachtung, daß Sie alles tun, um sie niederzuhalten. Sollte das eine bestimmte Ursache haben?« – »Ich . . . nicht daß ich wüßte,« gab Kerkhoven zaudernd und abwehrend zurück. – »Denken Sie doch einmal darüber nach. Ich wünschte sehr, daß Sie . . . ich sehe natürlich die Schwierigkeit . . . ich wünschte, daß Sie ihr nicht ausweichen, es wird die unerwartetsten Folgen für Sie haben.« – Kerkhoven, in seiner gewohnten Art, schaute blicklos durch die Wand durch. »Ich wills versuchen,« sagte er ohne Liebenswürdigkeit, »ich danke Ihnen, Herr Major. Gute Nacht. Morgen beginnen wir wieder mit den Injektionen.«
Er grübelte und grübelte. Auf dem Heimweg über das Glacis, in den engen leeren Gassen der Stadt, im Bett vor dem Einschlafen, während des Schlafs im Traum, am Morgen beim Erwachen, beim Frühstück und in der Sprechstunde, grübelte und konnte nicht erdenken, was Irlen mit der Kraft meinte, die er aus sich »herausholen« sollte.
Sie war offenbar zu tief begraben.
Es konnte auch daran liegen, daß ihm der entschlossene Wille fehlte. Er hatte Angst und gestand sich die Angst nicht ein. Er war kein Freund von Entdeckungen in der eigenen Seele, er liebte das bequem Gewordene und klammerte sich krampfhaft an die gewohnten Lebensformen. Nur aus diesem Grund weigerte er sich beharrlich, einmal eine Ferienreise zu machen (zu Ninas Kummer) oder ins Theater zu gehen. Nur um Gottes willen nichts Neues, nur nicht aus dem Trott heraus. (Als sich allmählich ein freundschaftlicher Verkehr zwischen ihm und Marie Bergmann entwickelte, war diese bauernhafte Abneigung gegen jede Unterbrechung des automatischen Tagesverlaufs der Gegenstand von Maries liebenswürdigem Spott, sie ahnte damals nichts von dem Unterstrom von Angst, der ihn hemmte, als ob eine unbekannte namenlose Macht in seinem Innern laure, bereit, über ihn herzufallen und ihn zu zerfleischen.)
Es gibt Geistesstimmungen, die fast gesetzmäßig die ihnen entsprechenden Ereignisse zur Folge haben. Die Natur bedeutet uns damit, daß wir, um sie zu verarbeiten, erst den notwendigen Grad der Reife oder der Bereitschaft erreicht haben müssen. Drei Vorfälle, die sich innerhalb weniger Tage zutrugen, waren für Kerkhoven wie das Verschwinden einer Wand in einem zu engen Raum, hatten aber zunächst keine andere Wirkung als daß sie die von dem Gespräch mit Irlen her ihm verbliebene Bestürzung vermehrten. Der erste hing mit der schwarzverschleierten Frau aus der Sprechstunde zusammen. Es war eine fortgeschrittene Phthisis, die er an ihr feststellte. Sie war die Witwe eines Postoffizials, hatte verhältnismäßig jung drei Kinder zur Welt gebracht, der Mann war an Auszehrung gestorben, sie wohnte bei ihrer Mutter und lebte von deren Gnade, die Kinder gerieten nicht recht, klagte sie, hatten einen neidischen bösen Charakter, eigentlich habe sie keineswegs den Wunsch, das elende Leben fortzusetzen, aber ihr Beichtvater habe ihr ins Gewissen geredet, und so habe sie sich entschlossen, zum Doktor zu gehen. Beim ersten und zweiten Mal hatte sich Kerkhoven mit den üblichen Anweisungen begnügt und davon gesprochen, sich für ihre Unterbringung in einer Heilstätte zu verwenden, wovon sie aber durchaus nichts wissen wollte. Als sie das dritte Mal kam und er in seinen Notizen nachsah, hatte er das Gefühl als habe er sie zu oberflächlich untersucht und sagte, sehr rücksichtsvoll, er müsse ihren Zustand noch einmal überprüfen. Sie entblößte den Körper bis zur Hüfte und stand da, schmal blaß, mit glanzloser Haut, flachem Thorax, schräg abwärts fallenden Schultern und flackrigem Blick. Während er nun die Frau betrachtete, geschah etwas Seltsames. Er drückte den Rücken der linken Hand gegen die Stirn, kniff die Augen zusammen und sagte: »Ja, ich sehe schon, ich sehe, es ist gut, ziehn Sie sich nur wieder an.« Verwundert, daß er sie nicht abklopfte, gehorchte die Frau zögernd und fragte mit trübem Lächeln: »Stehts denn so, daß Sie sich das Hineinhorchen ersparen können, Herr Doktor?« Es schien als erschreckten ihn ihre Worte, aber nur der Schall, nicht der Sinn, er winkte lebhaft ab und sagte: »Nein nein, wo denken Sie hin.« Da traf ihn ein unendlich vertrauensvoller Blick aus den Augen der Frau, so als habe sie die Hoffnungslosigkeit ihres Falles zwar begriffen, sei aber seit dieser Stunde auch gewiß, daß sie einen besseren Berater nicht habe finden können. Es war ein auffallender Stimmungsumschwung bei ihr zu bemerken, nach dessen Ursache sich Kerkhoven vergeblich fragte, denn wie er glaubte, hatte er nicht das mindeste dazu getan. Und dieser selbe Stimmungsumschwung bewirkte in den nächsten Tagen eine ebenso auffallende Besserung ihres ganzen Befindens; mit Erstaunen konstatierte Kerkhoven, daß sie nach wochenlangen Temperaturen plötzlich fieberfrei war.
Irlen sah, daß ihn etwas beschäftigte, und suchte ihn zum Reden zu bringen. Der Mann interessierte ihn mit jedem Tag mehr, er konnte kaum sagen weshalb. Er interessierte ihn ungefähr wie den Bildhauer ein unverarbeiteter Marmorblock interessiert oder, weil dieser Vergleich das Lebendige, das fast Blutmäßige seiner Anteilnahme herabsetzen könnte, wie den Erzieher ein begabter, aber total verwilderter und geistig vernachlässigter Knabe. Wenn er nicht geradezu betäubt von Fieber und Krämpfen war und die Schwächeanfälle ihn nicht stumm machten (was übrigens immer seltener der Fall war, das Leiden schien sich gewissermaßen zu verbreitern, der anfänglich katastrophenhafte Charakter ging in einen chronischen, aber milderen über), gewährten ihm die Unterhaltungen mit Kerkhoven ein wachsendes Vergnügen, mehr als das, eine Art Lenker- und Entdeckerfreude, und zur Verwunderung Maries und der Senatorin dauerten die täglichen Besuche Kerkhovens, längst nicht mehr ausschließlich Krankenbesuche, oft bis weit über Mitternacht.
Es bedurfte nur eines geringen Anstoßes von Seiten Irlens, und Kerkhoven erzählte, ziemlich abgerissen und ungenau freilich, was ihm mit jener Frau passiert war. Er ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, und indem er sprach, schien ihm die Sache plötzlich nicht mehr so rätselhaft wie bisher. »Wenn man längere Zeit im Seziersaal arbeitet, verliert die Leiche nach und nach das Menschenhafte,« sagte er leise und überstürzt als rede er mit sich selber, »sie ist eben ein Präparat, weiter nichts. Man denkt nicht daran, daß das Herz einmal geschlagen, das Hirn einmal gedacht, der Mund einmal gelächelt und das Auge geschaut hat, daß das überhaupt jemand mit einem Namen und einem Leben war. Klar, nicht? Wissenschaftliches Material, Studienmaterial. Doch klar. Nun stellen Sie sich vor, daß man Ihnen eine Leiche auf den Tisch legt, mit der Sie gestern noch in der Eisenbahn zusammenwaren, oder in einer Gesellschaft, könnte doch vorkommen, nicht? Sie haben irgendwas Nettes mit der betreffenden Person gesprochen, sich sogar ein wenig angefreundet, jedenfalls waren Sie nicht darauf gefaßt, sie auf einmal nackt und tot vor sich zu sehen. Ich glaube, Sie würden das Messer nicht ansetzen. Oder würden Sie? Ich glaube nicht. Sie hätten Widerstände. Nun, etwas Ähnliches geschah mir mit der Frau.« – »Und in welcher Weise?« erkundigte sich Irlen äußerst gespannt. Er hatte sich aufgerichtet und den Kopf auf den Arm gestützt. – »Sie war kein Patient mehr, sondern . . . Ja was . . . ich weiß es nicht. Eine Person eben.« – »Flößte sie Ihnen besondere Sympathie ein, besonderes Mitleid?« – »Durchaus nicht. Eine Frau wie tausend andere, ganz reizlos. Nein, das war es nicht.« – »Können Sie es auf keine Weise erklären? Es läge mir außerordentlich viel daran . . .«
Kerkhoven setzte sich, beugte sich nach vorn, bohrte die Arme so tief zwischen die Kniee, daß die Fingerspitzen fast den Boden berührten, und starrte angestrengt auf das Zifferblatt der Uhr, die auf dem Kaminbord stand. Er bemühte sich, deutlich zu machen, daß er in dem kritischen Augenblick ein vollständig genaues Bild von der inneren Organisation der Frau gehabt habe, nicht allein der körperlichen, auch der seelischen, derart, daß er wie bei einem kunstvollen Räderwerk die Abhängigkeit des einen vom andern habe bloßlegen können und die bestehende Unordnung erkannt habe, den Fehler im Getriebe, von dem er die quälende Empfindung gehabt, daß er zu verbessern sei, ja vielleicht behoben werden könne, wenn man nur einzugreifen verstünde. Überhaupt sei der ganze Vorgang merkwürdig quälend gewesen, auch physisch schmerzhaft als ob die Augen dadurch wären überanstrengt worden. Keineswegs habe er ihn als Hervortreten einer ihm vielleicht innewohnenden Fähigkeit verspürt, eher als ein an Verzweiflung grenzendes Bewußtwerden einer Unfähigkeit, verbunden mit dem Entschluß, daß es damit anders werden müsse, kost es was es wolle. Er schwieg eine Weile, und Irlen schaute ihn an wie einen, den man für stumm gehalten und der nun fließend spricht. Dann fing er wieder an. »Das kann natürlich jeder sagen: wenn ich die Mittel wüßte, könnt ich helfen. So mein ichs nicht. Ich meine, die Hilfe müßte von der Erleuchtung ausgehen, nur so könnte man den allertiefsten Sitz des Übels finden, im Kern des Lebens, denn so weit bringt mans mit der Wissenschaft nicht. Die Wissenschaft leuchtet nur, die Erleuchtung kommt von woanders her. Bei mir fehlts am Wissen, die Erleuchtung allein, die führt zum Humbug. Schwindeln, nein; niemals; auch nicht an der schummerigen Grenze, wo man nichts davon weiß.«
Irlen erhob sich, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Ich denke, da wird es einen Ausweg geben. Sie sind dicht daran. Haben Sie Geduld.«