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Ich könnte dieses Kapitel überschreiben: der Sturz der Engel, und damit hätte ich zugleich eine Warnungstafel für jene Leser aufgestellt, die von solchen luziferischen Katastrophen nichts hören wollen. Sie mögen das Buch getrost zuklappen und etwas Vergnüglicheres unternehmen, denn hier werden sie durch ein finsteres Reich der Seele geführt, wo die Verzweiflung und die Zerstörung herrschen. Es ist ein anderer Etzel, der uns entgegentritt, nicht mehr der Freundesfreund, nicht mehr der erglühte Jünger, nicht mehr der Gerechtigkeitssucher, nicht mehr der schnurrige Vagabund mit der entwaffnenden Dreistigkeit und dem opfermutigen Sinn, ein anderes Bild ist es, ein anderer Mensch, und der Weg, den er geht, ist so finster wie ein Menschenweg nur sein kann.
Zunächst die äußere Situation.
Die Fahrten von der Großen Querallee nach Lindow und zurück wurden zu einer regulären Einrichtung wie ein Kurierdienst, einer Lebenseinrichtung. An Sonntagen in jedem Fall, in der Woche zwei- bis dreimal. Da kam er am späten Nachmittag und fuhr am andern Morgen wieder fort. Manchmal blieb er über den Mittag draußen. Er konnte sich auch ganz plötzlich entschließen; wenn er ein paar unbesetzte Stunden vor sich hatte, erschienen sie ihm unerträglich leer, alsbald saß er auf der Maschine (nur bei sehr schlechtem Wetter benutzte er Maries kleinen Wagen) und raste die sechsthalb Dutzend Kilometer mit tollwütiger Geschwindigkeit hintereinander weg. Bald kannte er jeden Stein am Weg, jeden Strauch, jede Laterne, jedes Loch in der Straße. Er hätte die Strecke im Schlaf fahren können. Wenn er zu einer bestimmten Stunde zurück sein mußte, beschleunigte er das Tempo noch. Daß er sich bei diesen Parforcetouren nicht eines Tages das Genick brach, war ein wahres Wunder. Marie schwebte beständig in Todesängsten. Eine feste Verabredung konnte selten getroffen werden, so war sie fast jeden andern Tag zu aufregendem Warten verurteilt. Wenn er zu der Zeit nicht da war, wo er zu kommen halb und halb versprochen hatte, sah sie ihn in seinem Blut auf der Landstraße liegen. Eine Nervenfolter ohnegleichen. Sie sagte einmal, jetzt verstehe sie erst die Gemütsverfassung der Hero, wenn sie dem schwimmenden Leander das Signal mit der Fackel gibt; der Hellespont zwischen Berlin und Lindow sei ihr aber weit unheimlicher als der wirkliche. Da lachte er bloß. Seine lachende Unbekümmertheit war noch das einzige, was sie beruhigte. Körperliche Anstrengung achtete er nicht, physische Furcht kannte er nicht. Sie unterschied das Rattern seines Motors schon von weitem, wenigstens bildete sie sich ein, daß es anders klang als das aller andern Maschinen der Welt. Sie hörte es schon in ihrem Zimmer, bereit zu hören, wie sie war, zehn Stunden des Tages bereit. Sie ging zum Gartentor und schaute mit klopfendem Herzen die Chaussee entlang. Und dann stand er vor ihr wie aus der Erde heraufgeschossen; das schmal und hohlwangig gewordene, wettergegerbte Gesicht, dazu der offene lachende Blick: es war schön. Sie liebte ihn. Sie liebte ihn nicht nur, sie war auch unsinnig verliebt. Nie in ihrem Leben war sie so verliebt gewesen. Sie hätte in einemfort lachen und weinen können.
Zur »äußeren« Situation gehört die Stellung, die er sich auf dem Gut zu machen wußte. Bald hatte er sich alle Herzen erobert. Er verkehrte mit allen Leuten auf kameradschaftlichem Fuß, mit dem Verwalter, dem Gärtner, dem Stallknecht, der Köchin, der Milchmagd, der Aja und Frau Jänisch. Er kannte ihre Privatangelegenheiten, ihre politischen Ansichten, ihre Lebensweise, ihre Tugenden und ihre Fehler. Er schlichtete ihre Streitigkeiten, munterte sie auf, wenn sie verdrossen waren, hatte für jeden das richtige Wort und die richtige Art. »Du bist schrecklich populär,« sagte Marie in scherzhafter Eifersucht, »es ist unlauterer Wettbewerb.« – Er erwiderte: »Selbstverständlich, anders komm ich gegen dich nicht auf.« Wenn er ein paar Tage fortgewesen war und sich wieder zeigte, hieß es: der junge Herr ist wieder da (denn er galt als Familienmitglied), worauf ein eifriges Händeschütteln, Fragen und Schwatzen anhub. Er kümmerte sich um die Holz- und Kohlenvorräte, die Wintersaat, die Viehwirtschaft, die Löhne, die Wetterschäden an den verschiedenen Baulichkeiten, wollte alles wissen, überall Hand anlegen, bloßes Zuschauen und unnützes Dabeistehen ging ihm gegen die Natur. Den Kindern erzählte er Geschichten oder jagte mit ihnen im Garten herum, wobei er selber der Unbändigste war. Wenn er zu ihnen in die Stube kam, entstand ein Höllenspektakel, und es ging zu wie auf dem Jahrmarkt. Es ist klar, daß er alsbald ihr Held und Vorbild wurde. Der Etzel sagten sie wie man sagt: Seine Majestät.
Da Marie sich standhaft weigerte, auch nur für kurze Zeit in der Stadtwohnung Aufenthalt zu nehmen, und Kerkhoven unter ihrer dauernden Abwesenheit sichtlich litt, brachte ihn Etzel dazu, einmal in der Woche hinauszufahren und draußen zu übernachten. Er war stolz darauf, daß es ihm gelungen war, den Meister hiezu zu überreden. Er fühlte sich so vollkommen zuhause in Lindow, daß er sich Kerkhoven gegenüber als Gastgeber gebärdete. »Ich wußte nicht, daß du so wenig Städter bist,« sagte Marie; »du gehörst nicht in die Stadt. Du gehörst in die Landschaft.« – »Weiß ich nicht,« antwortete er, »im allgemeinen stimmt es nicht. Es stimmt, weil du hier bist. Ich denke, daß ich eben zu dir gehöre.« – Marie wünschte nicht, für den Augenblick daran zu zweifeln, aber jede Andeutung einer Zukunft ohne sie wies er schroff zurück. »Aus mir kann die Gelegenheit und die Not alles machen,« erklärte er, »einen Mechaniker, einen Chauffeur, einen Warenagenten, einen Buchbinder, einen horribile dictu Abgeordneten, natürlich auch einen Landwirt, was du willst. Aber nur mit dir. Ohne dich nichts.« Das sagte er mit der gebieterischen Unbedingtheit, die jeden Widerspruch zu einer Zeit- und Kraftverschwendung machte. Falls Marie Lust gehabt hätte, zu widersprechen.
Die Liebe zu ihm bezog sich auf ihr ganzes Verhältnis zur Existenz, ihr brennendes Interesse an allem, wovon sie ausgeschlossen war oder sich ausgeschlossen erschien, teils aus sozialen Gründen, teils durch einen angeborenen Aristokratismus der Führung und Gesinnung, mit dem sie sich von Jahr zu Jahr empfindlicher isoliert gesehen hatte. Da half kein Wissen und inneres Schauen, kein Mitschwingen und Mitzittern, da halfen auch die Bücher nicht, man war nicht dabei, man zählte nicht mit in der gewandelten Welt, die ihr vielleicht deshalb ein so feindseliges Gesicht zeigte, weil sie sich freiwillig von ihr abgekehrt hatte. Gar oft wunderte sie sich, daß die Gemeinschaft mit einem Mann wie Kerkhoven sie nicht in die Mitte des Lebens, sondern ganz im Gegenteil an seinen äußersten Rand gestellt hatte. Es ließ sich erklären, alles läßt sich erklären; der kämpfende Partner suchte den Ruhepunkt, nur zu ihr konnte er zeitweilig flüchten, bei ihr war er geborgen, von ihr verlangte er, daß sie ihn vor der nachdrängenden und an allen Türen rüttelnden Welt für eine kleine Weile schütze. So hatte sie sich begnügen müssen, die Türen zu bewachen, wenn er da war, um niemand einzulassen, und der verworrene Lärm draußen, die vielen Stimmen, deren Klage und Begehr er doch nicht überhören konnte, hatten ihre Phantasie je mehr beunruhigt, je mehr sie sich zur Untätigkeit verdammt sah. Endlich, da es auf die Dauer zum fruchtlosen Opfer wurde, hatte sie auf das ständige Zusammenleben verzichtet und sich auf dem Land lebendig begraben. Da besaß man wenigstens sich selbst. Der Sturm vor den Türen war nicht mehr zu ertragen gewesen. Und da, als sie schon völlig resigniert hatte, kam durch eine der verschlossenen Türen, unbegreiflich wie, dieser Etzel Andergast. Kam mit der gewandelten Welt, der junggewordenen, stürmisch bewegten. Seine Jugend hatte in ihren Augen einen repräsentativen Charakter. Er war der Mittler des Neuen, der gegenwärtige Mensch, durch den sie teilhatte an der gegenwärtigen Stunde, der Freitag, der Robinsons tödliche Einsamkeit aufhebt und darum noch mehr ist als der brüderliche Gefährte, so wunderbar Gefährtenschaft auch ist. Es gab keine erotische Bindung für sie, die nicht zugleich eine geistige war. Was er ihr aus der Welt zutrug, war langentbehrte Nahrung. Er hatte viel erlebt, jeder Tag bereicherte ihn, und während er erzählte, hing sie an seinen Lippen. Wie Menschen sich führen und geben, Gesicht Gebärde Rede und Antwort, alles war dramatischer Vorgang. Dazu sein Presto, die Überfülle kleiner Beobachtung, die Mischung von Drolerie und Trockenheit, der leuchtende Eifer, der aus dem Bewußtsein brach, daß er ihr diente, daß ihr Blick auf ihm ruhte, daß es was für sie bedeutete, wenn er ihr sein kleines Erleben zum Geschenk machte und sie es annahm als wäre es ein großes und kostbares Geschenk. Er findet kein Ende, er ist voll bis an den Rand, er hat ihr noch so viel zu sagen, bis morgen früh sind hundert Jahre, wozu ruhen, wozu schlafen, laß mich noch bei dir sein, liebe liebe liebe Marie. Da wurde es drei Uhr, vier Uhr, fünf Uhr morgens bis sie auseinanderfanden. Eines Abends kam er in bedrückter Stimmung und erzählte, Emma Sperling sei tot. Er hatte ihren Namen schon öfter genannt, immer mit einem Ton sarkastischer Verachtung und so als wolle er nicht verhehlen, daß er etwas mit ihr gehabt habe, als sei aber diese Beziehung der Tiefpunkt, auf den er in seiner Prä-Existenz, als es noch keine Marie gegeben, heruntergesunken war. Er berichtete also, Emma sei verbrannt. Während sie sich die Haare mit einer ätherhaltigen Essenz gewaschen, habe sie sich eine Zigarette angezündet, Haare und Frisiermantel hätten Feuer gefangen, schreiend, eine lebende Fackel, sei sie aus dem Zimmer gerannt und im Stiegenhaus zusammengebrochen. Heute vormittag um zehn sei es passiert, zwei Stunden später sei sie unter gräßlichen Qualen gestorben. »Nell hat mich anrufen lassen, um es mir mitzuteilen,« fuhr er fort und schnitt eine Grimasse; »ich vermute, sie wollte feurige Kohlen auf meinem Haupt sammeln, damit ich auch was abbekäme von den Flammen, die den armen Spatz verzehrt haben. Du weißt ja, warum. Habs dir ja erzählt. Aber wie ich das Unglück erfuhr, gabs mir doch einen Stich. Ich ging hin in die Klinik, da lag sie, eingewickelt von oben bis unten, ein Stück Gesicht war frei, lauter verkohltes Fleisch. Grauenhaft.« Er blickte Marie unsicher an als sei das Bild zu kraß für sie. Sie sah es aber mit seinen Augen und wollte nicht geschont werden wie eine, die für die Wirklichkeit zu schwache Nerven hat. »War eine tolle Person,« begann er wieder, »ein schlechtes verlogenes Frauenzimmer, aber eins muß man ihr lassen, lachen konnte die . . . das kannst du dir nicht vorstellen, wie die lachen konnte. Mal waren wir zusammen im Kino bei einem Chaplinfilm, und bei einer Szene, es war gar nicht sonderlich komisch, eher wehmütig-komisch, du kennst ja die Art, begann sie auf einmal dermaßen zu lachen, daß der ganze Saal angesteckt wurde, alles kreischte und brüllte, sogar die Musiker und das Personal. Das ist doch immerhin, wie soll man sagen, ein Stück Natur, nicht?« – »Sicher. Da hast du sicher recht.« – »Und wenn so ein Geschöpf, das bloß zum Spielen geschaffen ist, zum Überhaupt-nicht-Ernstnehmen, nichts hat sie ernst genommen, die Menschen nicht, die Welt nicht, sich selber nicht, wenn einem solchen Irrwisch auf eine so verdammt ernste Manier der Garaus gemacht wird, mitten im schönsten Spiel, das gibt zu denken, da könnte man beinah an eine Vergeltung glauben, und eine mit sehr finsterer Logik.« – »Du brauchst dich nicht zu genieren, wenn du es glaubst,« sagte Marie; »allerdings bezweifle ich, daß die Vergeltungen von dorther so prompt funktionieren. Die Mächte lassen sich gewöhnlich Zeit.« – »Die Mächte,« gab er skeptisch zurück, »was ist das, die Mächte? wer ist es? wo sind sie?« – »Da drin,« sagte Marie und heftete den Zeigefinger auf seine Brust. – Er packte sie an beiden Armen. Mit unbeschreiblicher Wildheit im Blick beugte er sich über sie und murmelte, halb lachend, halb böse: »Da drin? Da drin bist du. Nur du. Nur du.« – »Du tust mir weh,« stammelte Marie bang. – Er umklammerte sie, daß ihr der Atem verging, drückte sie zu Boden, näherte sein Gesicht dem ihren, so daß Stirn an Stirn lag und wiederholte außer sich: »Nur du . . . nur du . . . glaubst du mir? glaubst du mir?« – »Ja,« hauchte Marie.« – »Und bei dir drinnen,« er riß ihr das Kleid auf, daß der Stoff förmlich klirrte, »da drin soll nur ich sein, nur ich . . .« – »Ja,« hauchte Marie. – »Noch einmal, sags noch einmal: nur ich!« – »Nur du,« flüsterte Marie, von der wütenden Gewalt entseelt. Inbrünstig preßte er den Mund auf ihre entblößte Brust. Und stieß einen Jubelschrei aus, der wie helles Knabenlachen klang. Marie hing bebend an seinem Hals.
Ihre Zärtlichkeit war oftmals die der Mutter gegen den Sohn, das ertrug er nicht und warf es ihr als Liebesmangel vor. Dem ließ sich schwer abhelfen, da Zärtlichkeit das ursprüngliche Bedürfnis ihrer Natur war und ihre Sinne sich jeder Entflammung weigerten, wenn sie nicht durch Zärtlichkeit, empfangene und gegebene, geweckt wurden. Als sei es ein verschwiegenes Entgelt für ihn und die innere Rechtfertigung für sie, weil sie seine Jugend an sich fesselte, übernahm sie mit der Rolle der Geliebten wissend und in einem mystischen Trieb die der Mutter und trat damit in eine telepathische Beziehung zu der fernen fremden Frau, die seine wirkliche Mutter war und als solche fremd und fern auch ihm. Nur mit äußerster Vorsicht durfte sie wagen, mit ihm darüber zu sprechen, jede Hindeutung auf den mütterlichen Teil ihrer Liebe erfüllte ihn geradezu mit Entsetzen. »Wie kannst du nur!« rief er aus, die Fäuste an den Ohren, »das ist ja unmenschlich. Es scheint, Frauen sind imstande, ein Gefühl so zu sublimieren, daß es unmenschlich wird.« Da verstummte Marie. Mit schaurigem Entzücken erkannte sie den Grund seiner leidenschaftlichen Abwehr; er wollte die Ausschließlichkeit dessen, was ihn mit ihr verband, nicht einmal durch ein Gleichnis angetastet wissen, schon dieses erschien ihm als Blasphemie. Aber tiefer lag vielleicht der Schrecken vor dem blutschänderischen Bild, das eine derartige Grenzverschiebung in ihm beschwor, mochte es auch in der allertiefsten Schicht der Seele als eine (freilich nur ahnbare) Wahrheit ruhen.
Es war eben alles zu wenig, was ihm Marie war und gab. Der schrankenlos erfüllte Traum, den er lebte, war eine Armseligkeit gegen den, den er noch erfüllt haben wollte. Unnachgiebig fordernd stand er vor ihr, vor seinem Schicksal, vor seinem Leben und streckte die offenen Hände hin nach mehr, nach dem Übermaß, nach dem Unmöglichen.
Es war zwischen ihnen eine stillschweigende Übereinkunft von vornherein gewesen, daß Marie sich ihrem Gatten nicht entziehen werde. Warum auch, was hatte das mit ihrer Liebe zu schaffen? Nicht als hätte sie nur ihre Pflicht erfüllen wollen. Sie hätte sich geschämt, von Pflicht zu reden, wo allein das Herz ihr ein Verhalten vorschrieb, das von der innigsten Freundschaft eingegeben war. Jetzt verspürte sie am eigenen Leib und in den eigenen Sinnen die Abgestorbenheit jener moralischen Begriffe, die dem lebendigen Menschen seine Entscheidungen vorwegnehmen und mißverstandene Treue zu einem Schild der Feigheit machen. Oder belog sie sich damit? Wollte sie sich in die »gewandelte Welt« einschmeicheln und deren Beifall durch das Opfer von Grundsätzen erkaufen, die ein Erbe waren wie das Blut in ihren Adern? Man gerät in Verwirrung. Befreist du dich von der Fessel des Herkommens, so taumelst du in den Sumpf der Selbstgerechtigkeit. Doch war es ihre Art nicht, hingehen und mit dem Wahrheitsmut als Vorwand das heilig Gefesselte brutal zerschlagen. Sie glaubte zu wissen, daß ihr Mut der höhere war und mehr Takt, mehr Verschwiegenheit, mehr Rücksicht, mehr Geistesgegenwart und mehr Selbstverleugnung von ihr verlangte als der triebhaft bekennende, der Mut der Schwäche. Dies schien Etzel vollkommen zu begreifen und zu würdigen. Und darin, daß sie an der Beziehung zu ihrem Mann nicht rütteln wollte, versuchte er sie niemals zu beeinflussen. Eher hätte er sich die Zunge abgebissen. Es war ja kein beliebiger Mann, um den es sich da handelte. Es war ja der Meister. Und doch . . . Sonderbares ging in ihm vor.
Als Kerkhoven am Samstag vor Weihnachten in Etzels Begleitung (er bestand jedesmal darauf, daß er ihn begleite) nach Lindow fuhr, kamen sie in der Gegend von Karwe an einer frischen Brandruine vorbei, einer kleinen Fabrik. Kerkhoven deutete auf die noch rauchenden Trümmer und sagte: »Das kann noch keinen Tag her sein.« – »Vorgestern wars,« berichtigte Etzel, »wie ich vorgestern vorbeikam, hats grade angefangen zu brennen.« – Kerkhoven wunderte sich. »Vorgestern? Waren Sie denn vorgestern in Lindow? Sie sagten mir doch, Sie seien abends in der Universität gewesen?« Etzels Gesicht bedeckte sich mit flammender Röte. »Vielleicht wars Mittwoch,« stotterte er und tat als denke er angestrengt nach; »ja . . . Mittwoch, es muß Mittwoch gewesen sein.« – »Ich nehme es an,« erwiderte Kerkhoven arglos, doch noch immer ein wenig verwundert, und da sich Etzel dann in Schweigen hüllte, warf er ihm bisweilen einen forschenden Blick zu. Bei der Ankunft wurde Etzel plötzlich überbeweglich, überlebhaft; er half Kerkhoven aus dem Mantel, ging mit ihm in sein Schlafzimmer, das neben dem Maries lag, äußerte sich ungehalten über die dort herrschende Kälte, rief Frau Jänisch, damit sie im Ofen nachlege, fragte, ob er die Kinder holen solle, auch bei Tisch zeigte er denselben Übereifer, der leicht unangenehm hätte wirken können, wenn nicht seine Liebenswürdigkeit das Krampfhafte ausgeglichen hätte. Gegen Ende der Mahlzeit fiel Kerkhoven ein Glastellerchen aus der Hand und zerbrach auf dem Teppich. Etzel sprang hinzu, kauerte neben Kerkhovens Stuhl nieder und scharrte die Scherben mit bloßen Händen zusammen. »Macht nichts, Meister,« rief er von unten herauf, »die alten Weiber behaupten, es ist ein gutes Omen. Ein reiner Trost, wenn der Meister mal was zerbricht.« Kerkhoven lachte gutmütig. Marie sagte: »Er ist heute verdreht.« – Nach dem Essen waren sie ein paar Minuten allein, Marie und Etzel. Sie fragte hastig, mehr mit den Augen als mit den Lippen: »Was ist mit dir?« – Er nahm ihre Hand, preßte sie wie im Schraubstock in seinen beiden und entgegnete, scheu zur Tür spähend: »Ich hab ihn angelogen, Marie.« – Marie strich mit der Hand über seine heiße Stirn. Ungeduldig wandte er sich weg, ging um den Tisch herum, die Finger im Nacken verschränkt und stöhnte vor sich hin: »Ich hab ihn angelogen, ich hab ihn angelogen . . .« – »Nicht, Etzel,« beschwor ihn Marie, »bitte nicht, Lieber . . .« – Er machte eine häßliche Bewegung mit den Schultern, und mit einem zwischen den Zähnen gemurmelten »gute Nacht« verließ er das Zimmer. Marie liegt in der Nacht wach und überlegt. Ihr Herz ist voll Unruhe. Die kleinen Nachtgeräusche dünken ihr wie Hammerschläge und Wagengerumpel. Das Ticken der Armbanduhr ist ein metallenes Dröhnen. Sie glaubt das Fallen des Schnees zu hören. Sie steht auf, schiebt den Vorhang vom Fenster zurück und sieht die Umrisse der Bäume im dunkelverfließenden Weiß. Sie dünkt sich auf den Meeresboden versetzt. Indes sie angestrengt lauscht, vernimmt sie Schritte im Haus. Sie ist fast sicher, daß es Etzels Schritte sind. Er kommt von draußen und geht die Treppen hinauf. Sie steht noch eine Weile regungslos, das Gesicht in den Händen. Am Morgen tritt er ins Zimmer, während Kerkhoven mit Doktor Römer telefoniert. Er nickt ihr zu und setzt sich in die Ecke. Sie braucht ihn nur anzuschauen, um zu wissen, daß er so wenig geschlafen hat wie sie. Sie weiß auch, daß er in der Tat nachts im Garten war, Frau Jänisch hat ihn gesehen. Aus umschatteten Höhlen lodern sie seine Augen grün an. Ihr wird angst und bang. Es ist die eifersüchtige Rache für die vergangene Nacht, denkt sie, und während aus dem Nebenzimmer Kerkhovens Stimme dringt, heftet sie einen beredten Blick auf Etzel und macht eine verneinende Bewegung mit dem Kopf. Er versteht. Wie rasend springt er vom Sessel auf, stampft mit dem Fuß und faucht tonlos: »Das will ich nicht. Das soll nicht sein.« Und stürzt aus dem Zimmer.
Wenn die Kalten glühend werden, dann weh denen, die sie lieben.
Abends. Kerkhoven ist um sechs weggefahren. Er hat morgen sehr früh zu tun. Marie macht sich Sorgen um ihn. Er sieht schlecht aus. Er sieht aus wie ein Mann, der einen abseitigen Weg geht und um jeden Preis verhindern will, daß ihm jemand folgt. Wenn ihn Marie fragend anschaut, mit stummer Frage bis in die Nähe der Mitteilung dringt, schüttelt er in einer Weise den Kopf, die bedeutet: es ist besser, du bleibst verschont. Dazu eine Gebärde, die bedeutet: ich komm schon zu dir, wenns Zeit ist. So schleppt er die Last weiter. Es schmerzt sie. Männer sind keine richtigen Menschen, denkt sie, irgend etwas hat die Natur vergessen, ihnen zu geben. Beim Abschied ist er besonders lieb mit ihr gewesen. Während der Wagen schon im Fahren war, hat er sich aus dem Fenster gebeugt und ihr zugerufen, er sei froh, daß Etzel bis morgen bleibe, sie solle ihn grüßen. Denn Etzel war nicht da. Er treibt sich Gott weiß wo herum. Erst um neun Uhr kommt er. Marie fragt ihn, ob er gegessen hat. Ja, er hat gegessen. Drüben in Treskow im Wirtshaus zum Kurfürst. Dann ist er am Ruppiner See entlang nachhause gegangen. Marie bessert eine Spitze aus. Feine Näharbeit, die viel Aufmerksamkeit erfordert. Etzel sieht ihr mit zerstreuter Neugier zu und beginnt vom Meister zu sprechen. Was er sagt, ist eine Fortsetzung von Maries Gedanken. Aber wenn er von gewissen Dingen mehr weiß als Marie, so hält er doch damit zurück. Es ist die Männersolidarität. In ihrer Interessenverbundenheit betrachten sie die Frauen als feindliche Partei, die nicht verhandlungsfähig ist. Im Grunde sind sie lauter kleine Buben, ob zweiundzwanzigjährig oder in Ämtern und Würden. Langsam steigert sich Etzel in einen Hymnus hinein, der etwas Gereiztes, ja Fanatisches hat, ein Eindruck, den das böse Glitzern seiner Augen verstärkt. Kleine giftige Stacheln kehren sich unmerklich gegen Marie. Sie horcht auf. Um ihren Schrecken zu verbergen, hält sie das zarte Spitzenband gegen das Licht und prüft ihre Arbeit. Und plötzlich rückt er heraus. Schluß mit den Umschweifen. Er hat sichs überlegt, es hat all die Zeit her in ihm gewühlt, er muß es ihr sagen: sie darf den Meister nicht länger hintergehen. Marie wird so furchtbar bleich, daß ihn die Reue packt. Er möchte das niederträchtige Wort nicht gesagt haben, er stammelt und will sie an sich ziehen, sie stößt seine Hände zurück und flüstert: »Du bist wahnsinnig, Etzel.« Er nickt eifrig, er gibt es zu, er sagt: »Ja, ich bin wahnsinnig.« »Schick mich fort,« sagt er. »Jag mich auf und davon.« Und bemächtigt sich ihrer Hand und schlägt seine Zähne in den Daumenballen, daß sie vor Schmerz aufschreit. Weh denen, die den Kalten zum Glühen gebracht haben, sie müssen in seinen Armen verbrennen.
Sie soll seine Frau werden, das steckt dahinter. Er hat es lange unterdrückt, seit jenem ersten Mal, wo er davon gesprochen, jenem ersten Tag in Lindow, wir erinnern uns. Jetzt rückt er mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit heraus, herrisch fordernd, bittend und bohrend. Er will sie mürbe machen. Die aufreibenden Debatten dehnen sich über Abende und Abende, Nächte und Nächte aus. Er beugt sich keinem ihrer Argumente, nicht dem Hinweis auf ihre Jahre, der ihn um die Besinnung bringt, nicht dem aus ihre Bindung, der ihn demütigt. Es ist ein bauernhafter Trieb zur Ordnung in ihm, der so tief in seiner Natur wurzelt wie der polare der Rebellion. Er hat fürs erste genug von der Rebellion und will mit dem Aufräumen beginnen. Einer Frau wie Marie muß man etwas anderes bieten können als den Schutt der Vergangenheit. Wenn sie ihn heiratet, kommt man aus der Schiefheit Verworrenheit und Winkelzügigkeit heraus, und es wird Ordnung. Dazu würde das bloße Zusammenleben, Flucht Lossage und dergleichen nicht genügen, er verlangt die Verbriefung, die Sicherheit, das »Wirkliche«. Er schiert sich den Teufel drum, daß man heutzutage so was nicht mehr macht und nicht mehr braucht, er will es und er braucht es, alles übrige läßt ihn kalt. Sie muß seine Frau werden. Angetraut. Marie Andergast. Einen andern Namen zu tragen hat sie kein Recht mehr. Marie weiß bald nicht mehr, was sie ihm antworten soll. Er ist über die Maßen töricht. Sie versucht, ihn mit Güte und Spott, mit Bitte und Beschwörung zur Einsicht zu bringen, alles scheitert an seinem steinernen Starrsinn. Sie soll ihm so gehören wie sie dem Meister gehört hat. Sie soll ihm genau dasselbe sein, was sie einmal dem Meister gewesen ist. Das heißt, falls er sich in der Annahme nicht irrt, daß sie dem Meister wirklich gewesen ist, was eine Frau dem Mann sein kann. Er ist sich weder der Anstößigkeit noch der Unheimlichkeit dieser Gleichstellung bewußt. Kaum dies ist ihm bewußt, daß er sich als der Erbe fühlt, der sich beeilen muß, seine Rechte geltend zu machen. Und nicht bloß als der Erbe, auch als der Sieger. Er hat den Meister aus dem Feld geschlagen. Es gibt einen Punkt, wo er, Etzel Andergast, der Stärkere und wo der bewunderte Führer, der »Meister der Transmutation«, wie er ihn bei sich manchmal nennt, ihm auf Gnade und Ungnade ausgeliefert ist. Doch liegt noch ein anderes Geheimnis darin, ein schmerzliches, minder männchenhaftes: im Augenblick, wo er aufhört, sich auf solche Art mit dem Meister zu identifizieren, hat er ihn auf der Stelle verraten. Das durchschaut Marie, es ist Selbstschutz, sie fühlt es tief, aber es kann sie nicht wankend machen. Da er sie immer hartnäckiger in die Enge treibt, muß sie wahrheitsgemäß sagen, daß sie die Grundlagen ihrer Existenz nicht zerstören kann. – »So. Was für Grundlagen sind denn das?« fragt er erbittert. Und da sie nicht antwortet: »Die Kinder vielleicht? Ein Mann wie der Meister wird dich nicht deiner Kinder berauben.« – Es sind nicht die Kinder, versetzt sie, wenn es ums Entweder-Oder ginge, würde sie auch dieses Opfer auf sich nehmen, doch ums Entweder-Oder gehts nicht. – »Für dich nicht, das ist es eben. Für mich ja.« – »Soll ich mich in ein Abenteuer stürzen?« – »Hast du allerdings nicht nötig,« höhnt er, »da ich dir das Abenteuer ins Haus liefere.« – »O!« ruft sie und steht auf. – Er ist bestürzt. »Nein. Nein. Vergiß es wieder, liebe liebe Marie.« Sie will nichts mehr hören. Sie flüchtet von ihm weg. »Wohin soll das führen,« spricht sie erregt, die Hände an den Schläfen, »man kann doch nicht die Säule umstürzen, die einen trägt; man kann doch nicht einen gewachsenen Baum ausreißen wie ein Büschel Unkraut.« – Er geht finster auf und ab. »Du tust als wärs das Ende der Welt,« grollt er, »du bist doch schon einmal von einem Mann weggegangen.« – »Es ist kaum zu ertragen,« murmelt Marie, von Kummer erstickt, »darauf kann ich nicht antworten. Es geht gegen Ehre und Vernunft.« – Obgleich er verstockt bleibt, sieht er ein, auf dem Weg ist kein Weiterkommen. Sie begreift das Wesentliche nicht: daß er ohne sie nicht leben kann und, so wie es jetzt ist, auch mit ihr nicht. Er kann nicht ihr heimlicher Gespons sein. Er will nicht der Liebhaber im Schrank sein. Er will sie mit keinem Menschen auf Erden teilen, nicht einmal mit dem Meister, auch nicht, wenn er neunundneunzig Teile kriegt, und der Meister nur einen. Er will sie ganz und ohne Abzug, mit Haut und Haar. Alles. Wenn er nicht alles haben kann, will er gar nichts. Sie muß sich zu ihm bekennen. Tut sie es nicht, so beweist sie damit, daß er ihr nichts gilt. Und was für eine Situation dem Meister gegenüber, er der Besitzende, der Meister der Verzichtenmüssende, es ist würdelos, es macht ihn schamrot, wenn er daran denkt; er kann ihm nicht mehr unter die Augen treten. – »Du siehst, du siehst,« ruft ihm Marie zu, »ich hab dirs vorausgesagt, ich nehm ihn dir weg, ich habs gewußt, du wirst es bereuen.« – Er verschließt ihre Lippen mit der Hand. Das soll sie nie mehr sagen. Bereuen? Ebensogut könnte er bereuen, daß ihn seine Mutter geboren hat. Er kann es ihr nur vorwerfen. Wie er es Marie vorwerfen muß, wenn sie aus seinem Leben einen Trümmerhaufen macht. – »Ach, Etzel,« stöhnt Marie gequält, »ach, Etzel.« – Er kennt keine Schonung. Die Worte werden zu Peitschenhieben. Er sieht nicht, wie sie leidet. Ihr urbaner Geist ist seiner schneidenden Logik nicht gewachsen. Erst als sie vor Erschöpfung zusammenbricht, macht er ein Ende. Zwei Tage später kommt er mit vierundzwanzig ausgesucht herrlichen Rivierarosen und einem neuen Plan. Er will zu Kerkhoven gehen und ihm alles offen darlegen. Es ist ja Brauch und Regel zwischen ihnen, daß sie jede Sache miteinander besprechen, jedes Lebensproblem, so wird er auch dieses mit ihm friedlich bereden und seine Entscheidung aufrufen. Marie erstarrt. Wenn ihr das nicht zusagt, fährt er unbeirrt fort, oder ihr als taktischer Fehler erscheint, so soll sie ihrerseits es tun, sie ist auf alle Fälle befugter als er zu einem solchen Schritt. Kann sie sich auch dazu nicht entschließen, die Hemmung wäre begreiflich, so gibt es eine dritte Möglichkeit, nämlich, daß sie beide vor ihn hintreten, was den Vorteil hätte, daß er sich gewissermaßen vor der vollzogenen Tatsache sähe und man sich nur über das Mittel zur Lösung des Konflikts einigen müßte. – »Ach so, beide,« sagt Marie ironisch, »Arm in Arm vielleicht?« – Er schaut sie düster an, und sie kann sich nicht enthalten zu bemerken: »Deine These ist doch, daß er es weiß. Wenn er es also ohnehin weiß und billigt, wozu die Bemühung?« – »Natürlich weiß er,« belehrt Etzel sie mit einer Art Nachsicht, »daran ist kein Zweifel. Es gibt aber zwei Wissen, ein oberes, das zum Handeln zwingt, und ein unteres, das man in sich verschließt, teils aus Großmut, teils aus Schuldgefühl. Dieser gewaltige Mensch . . . überleg dirs doch einen Augenblick, Marie. Er ist doch ein Seher. Der Herr der Schicksale. Wir, wir sind nur Statisten in seinen Augen . . . wohlgelittene Statisten, für die er sorgt und die er liebt, aber Statisten. Wenn das eigentliche Stück anfängt, schickt er uns in die Kulissen. Ists nicht wahr? Du kennst ihn nicht, Marie. Nicht wie ich ihn kenne. Er würde alles verstehen.« – »Ja, und daran zerbrechen!« schreit Marie auf. – Er starrt sie sprachlos an, mit offenem Mund. – »So gut kennst du ihn, daß du das nicht einmal weißt. Es würde ihn zerbrechen.« Sie kehrt sich ab, legt beide Arme über die Augen und fügt aufschluchzend hinzu: »Und mich auch.« – Da sagt er nichts mehr. Er stiert eine Weile zu Boden, dann geht er ans Klavier, öffnet den Deckel und schlägt auf eine Taste. Es ist das dreigestrichene hohe D. Unablässig, zwanzigmal derselbe blecherne schrille Ton. Es klingt wie das Gekläff eines kleinen Köters. Es füllt das ganze Zimmer. Es füllt das Haus. Es füllt den Weltraum. Es nimmt kein Ende. Um Marie drehn sich die Mauern. Ein Satan, denkt sie vernichtet, ein Satan, der mitunter Rosen bringt. Fast ohne Bewußtsein wankt sie zur Tür und wirft ihm beim Vorübergehen über die Schulter zu: »Die Kinder schlafen.« Als er allein ist, schaut er auf die Uhr. Dreiviertelzwölf. Zehn Minuten später sitzt er auf dem Motorrad. Wie er das nächste Dorf erreicht hat, kehrt er um. Er sucht Marie in allen Zimmern des Erdgeschosses. Schließlich findet er sie im Eßzimmer, wo sie im Finstern, in der Kälte, auf dem Sofa liegt, das Gesicht in Kissen vergraben. Er trägt sie auf seinen Armen hinaus als wär sie ein Kind. Ineinander verklammert und verkrampft stürzen sie ins Bodenlose. Eros ist kein gemütlicher, kein geheurer Gott. Er ist ein ungeheurer, erbarmungsloser Gott.
So vergeht der Januar, der Februar, und das alles ist erst der Anfang.
Am zweiten März hielt Kerkhoven den Vortrag über die Jugendneurosen, der schon im September hätte stattfinden sollen und dann verschoben wurde. Marie saß mit Etzel in einer der vordersten Reihen. Sie hatte ihren Mann noch nie öffentlich sprechen hören und hatte lächerliches Lampenfieber. Der Saal war zum Bersten voll, die Wirkung auf die lautlose Zuhörerschaft höchst eigentümlich, nicht als wohne sie einer wissenschaftlichen Ausführung bei, sondern einer unerwarteten Offenbarung. In der Tat hatten die Erläuterungen und Schlüsse Kerkhovens mit Wissenschaft nicht mehr viel zu tun. Es war ein Zeitbild. Aufriß einer Generationsverfassung. Keine populäre Verdünnung, keine Verschleierung durch fachliche Terminologie. Wohlgeordnetes Material und klare Schlußfolgerung: so stehen die Dinge, so stehen wir, seht selbst, was an diesem kritischen Wendepunkt zu geschehen hat, ob die Verantwortungen, die auf euch, auf uns allen lasten, kategorisch genug sind, um uns zu einer Reform des brüchigen Systems, einer Neuordnung unseres Lebenszustands zu bewegen. Keine bloß nationale politische soziale Forderung. Sie betrifft die Gesamtsituation der gegenwärtigen Menschheit. Alles örtliche, indizierte Leiden der Gruppen und Schichten, der Wirtschaft, der Justiz, des Staates ist Folge. Der Ursache gegenüber verhält sich die Gesellschaft, verhalten sich die Völker und Regierungen wie der Hehler, der den Dieb nicht zu kennen vorgibt, während er mit ihm unter einer Decke spielt. Der Einzelkörper kann als erkrankt gelten, wenn ein Organ seine Bestimmung nicht mehr erfüllt. Der Menschheitskörper lebt oder siecht unter denselben Bedingungen. Es gibt ein kollektives Fieber. Es gibt eine kollektive Störung der Sinnesfunktionen. Es gibt eine Pandemie des Irreseins und eine noch weit bedrohlichere des Irrefühlens. Das Individuum gleicht dann einer Zelle, die ihren Erneuerungswillen einbüßt. Und wie das Leben der Zelle gründet sich das des Individuums auf ein Gesetz der gegenseitigen Anleihe, der Teilhaberschaft, der Mitwirksamkeit. Wenn eine ganze Generation oder doch ihr menschheitswichtigster Teil dem Ruf der Krankheit folgt (er hat es einmal den Gehorsam gegen die Krankheit genannt), so nimmt sie quasi ihre Zuflucht zu einem Moratorium, und man muß einräumen, daß sie damit das kleinere Übel wählt, das größere würde zur Selbstzerfleischung führen und hat auch da und dort dazu geführt. Die Generation, die er im Auge hat, ist, historisch und soziologisch angesehen, verwaist, das heißt, es fehlt ihr die Stützung und Führung der Vorgeneration, Hunderttausende, Blüte der Völker, weggemäht in einem zu kurzen Zeitraum als daß die Natur hätte Ersatz schaffen können. Es ist wie ein missing link. Wenn man ein Glied amputiert, muß sich notwendigerweise der Blutkreislauf verändern. Damit der Aufruhr der Säfte sich wieder beruhigt, braucht es Geduld, bedarf es der »Mitwirksamkeit« des Gesamtwesens. Für alle Lebensvorgänge im weitesten Sinn ist der menschliche Körper das Symbol schlechthin. Der Zellenstaat unterliegt denselben Gesetzen wie der soziale. Das Geheimnis des Körpers ist das Schlüsselgeheimnis der Welt; es ist von geistiger, von göttlicher Beschaffenheit, und obwohl wir noch nicht den tausendsten Teil eines Tons von dem ungeheuren Konzert der Natur zu hören gelernt haben, ist uns doch die Ahnung von den großen Zusammenhängen aufgegangen, erstes Zeichen des dämmernden Tages. Dies Begreifen des Zusammenhangs, vom Biologischen ins Seelische übertragen, enthält zugleich das Heilmittel gegen seelische Selbstvergiftung und Selbstverbrennung, ja sogar, von einem höheren Blickpunkt aus betrachtet, ein Mittel gegen den Tod.
Nach Schluß des Vortrags gingen Etzel und Marie in das hinter dem Podium gelegene Zimmer, wo Kerkhoven von einer Unmenge von Leuten umlagert war, die ihn mit Fragen und Anliegen bestürmten oder nur ihrer Begeisterung Ausdruck geben wollten. Sie hatten ihn in eine Ecke gedrängt, wo er mit Doktor Römer, Doktor Marlowski, einigen Professoren der Universität und Nell Marschall sprach. Etzel zog Marie nach der andern Seite, er wollte Nell hier nicht begegnen. Als sie zu dreien nachhause fuhren, Marie hatte natürlich beschlossen, in der Stadt zu übernachten, erzählte Kerkhoven, Miß Marschall habe ihn stürmisch umarmt, sie sei ganz außer sich gewesen, und er habe ihr versprechen müssen, morgen in die Siedlung zu kommen, sie wolle ihm alles zeigen und wegen verschiedener Einrichtungen seinen Rat erbitten. Er habe es ihr nicht abschlagen können. »Sie kommen doch mit, Etzel,« wandte er sich an diesen, »in dem Fach sind Sie ja Spezialist.« – »Wenn Sie befehlen, Meister, komm ich mit, sonst . . . Sie wissen, Nell und ich haben wenig füreinander übrig.« – »Na, schön, so befehl ichs.« Beim Gutennachtsagen beugte sich Etzel rasch über Kerkhovens Hand und küßte sie. Das hatte er noch nie getan. »Aber Lieber, aber Mensch,« sagte Kerkhoven bestürzt und tätschelte ihm den Kopf. Marie war dabeigestanden. Als sie mit Kerkhoven allein war, ging sie auf ihn zu, legte ihm beide Hände auf die Schultern, sah ihm ernst in die Augen und sagte: »Ich dank dir für den heutigen Abend. Er nennt dich einen Seher, unser Adoptivsohn, und ich finde, er hat recht.« – »Ach wo,« wehrte Kerkhoven ab, »Kinder, Kinder. Ein armer Teufel bin ich. Gar nicht auszumessen wie arm.« Er sah Marie aufmerksam an. »Sag mal Marie,« begann er stockend, »du kommst mir seit einiger Zeit verändert vor . . . ich . . . nicht wahr, du nimmst mir eine offene Frage nicht übel . . .« – Ihr wurde bang. »Nein, Joseph, warum denn? was . . .« – »Nämlich,« er stockte noch mehr, »ich wollte dich fragen, ob du dich innerlich von mir abgewandt hast. Du verstehst, was ich meine . . .« – »Abgewandt? von dir? Aber Joseph!« – Hätte er tiefer geschaut oder schauen wollen (denn es gibt etwas im Menschen, das sich gegen die Erkenntnis der Wahrheit mit allen Kräften wehrt), so hätte er, gerade er, alles gesehen, alles gewußt. »Es ist etwas in deinem Wesen,« entschuldigte er sich, »ich weiß nicht recht, was es ist. Als wenn ein Schatten zwischen uns stünde.« – Marie schüttelte verwundert den Kopf. »Aber Joseph,« wiederholte sie mit einem kleinen Lachen, das ihr nicht ganz gelang. – Er nahm ihre Hand und betrachtete sie, und das war ihr nicht behaglich, sie entzog sie ihm. Er wollte noch etwas sagen, schien aber die rechten Worte nicht zu finden. »Wäre das überhaupt möglich, Marie?« Er heftete einen gespannten Blick auf sie. – »Wie kommst du denn darauf?« stammelte Marie mit blassen Lippen – »Ich weiß nicht. In den letzten Tagen hatt ich manchmal eine . . . eine Apprehension. Ich will so fragen: habe ich etwas zu befürchten?« – Eine Sekunde lang schloß sie die Augen und antwortete in festem Ton: »Nein, Joseph.« – »Unvermindertes Vertrauen?« – »Ja, unvermindertes Vertrauen.« – »Ich dank dir, Marie. Jetzt dank ich dir.« Er sah nicht, er sah nicht . . .