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Wir reisten in langen Etappen, mit vielen Aufenthalten, vom tirolischen Gebirge bis nach Sizilien. Wir waren sehr glücklich.
Ich hatte noch nie mit einem Menschen länger als drei Tage im selben Raum gehaust, weder mit einem Kameraden noch mit einer Frau. Gut, daß ich an räumliche Beschränkung gewöhnt war und mich an keiner Enge stieß. Wir waren übereingekommen, unser Wanderleben auf das bescheidenste einzurichten. Ganna fand es wundervoll, einen Mann zu haben, der sein Geschäft im Kopf trug und seine praktischen Angelegenheiten auf jedem Wirtshaustisch in zehn Minuten erledigen konnte.
Die neue Sorglosigkeit war wie ein Traum. Doch trat sie als etwas Fremdes in mein Leben. Wenn eine jahrelang getragene Last plötzlich von einem abfällt, ist der Zustand nachher nicht immer eine Erleichterung. Man hat zu kämpfen. Es ergeben sich andere Atmungsverhältnisse. Ich hatte immer so viel Einsamkeit gehabt, wie ich irgend bedurfte; jetzt hatte ich überhaupt keine mehr, nicht bei Tag und nicht bei Nacht. Ganna war beständig da, wollte gesehen und gehört, behütet und geliebt werden. Und Liebe geben. Wenn man Liebe aus dem Erdboden schaufeln könnte, sie hätte sie aus dem Erdboden geschaufelt, nur um mir zu beweisen, wie unerschöpflich ihr Vorrat davon war.
Aber es kommt zu allerlei Zwischenfällen, die schwer vermeidbar sind, wenn man in einer Stube mit zwei Betten haust und in den Ecken und neben den Türen die ReisekofFer getürmt stehen. Ich sitze zum Beispiel still bei einem Buch. Um mich nicht zu stören, schleicht Ganna auf Zehenspitzen durchs Zimmer. Doch, o weh; ein Stuhl steht im Weg, und sie wirft ihn um. Großes Gepolter. Oder ein Wasserglas fällt ihr aus der Hand. Oder ein Kofferdeckel knallt zu. Tausend behende Entschuldigungen. Sie hat entschieden Pech. Man muß sie trösten, wenn sie Pech hat. Sie lebt in einem Dauerkrieg mit den Objekten. Sie verliert ihre Geldbörse; Entsetzen. Sie wirft einen Brief in den Schlitz an einer Haustür statt in den Postkasten; beweglicher Jammer. Man muß sie trösten. Man kann ihr unmöglich böse sein, wenn sie völlig unbekannte Herren und Damen zutraulich und mit seraphischem Flöten anspricht, als seien es lauter Onkelchen und Tantchen Schlemm; sie irrt sich eben; sie ist zu verträumt. Oder wenn sie auf einem Spaziergang in Erwartung einer Rast so viel Bücher mitschleppt, wie man braucht, um ein Staatsexamen zu bestehen. Es ist komisch. Man muß lachen. Sie sieht ein, daß man lachen muß, und lacht mit. Das hat aber nicht zur Folge, daß sie es ein anderes Mal anders macht. Sie lebt mit Inbildern. Und mit denen macht sie es wie die berühmten Vögel, die von des Appelles gemalten Trauben picken wollen. Ich möchte ein wenig Ordnung in ihr Gemüt bringen, ein wenig Zusammenhalt. Schwer. Ganna gehört zu den Naturen, die nicht fähig sind, Erfahrungen zu machen und auf Grund von Erfahrungen zu handeln. Und mitgeteilt werden kann Erfahrung sowenig wie Schmerz. Mir ahnt alsbald, daß ich sie formen müßte. Ich müßte ihr eine Gestalt geben, denn sie hat noch keine. Es hat lange, sehr lange gedauert, bis ich dahinter kam, daß man sie nicht formen konnte. Nicht ihrer Weichheit oder ihrer Härte wegen. Das Weiche wie das Harte läßt sich formen. Nur was dazwischen ist, das Fließende, das Gallertige, das, was ewig seine Substanz wechselt, läßt sich nicht formen.
In ihrer Unschuld wähnte sie, man brauche sich einem geliebten Mann nur hinzugeben, um ihn zu beglücken. Ihre Sinne waren ohne Differenziertheit. Zu einer vollkommenen Hingabe war sie unvermögend, weil der Wille in ihr nie ganz erlosch. Sie wollte willenlos werden, weiter ging es nicht: Keim eines Verhängnisses. Dem Blut nach war sie eine ungebändigte Naturkraft, an der jede Verfeinerungsabsicht scheiterte. Sie hielt es ihr Leben lang für einen brutalen Eingriff in ihre Persönlichkeit, wenn man das finster Elementare in ihr zügeln und veredeln wollte. Sie verstand nicht einmal die Bemühung. Und der Bluttrieb war der einzige, der sie zwischen poetisierender Geistigkeit und erdhafter Bindung mitteninne hielt, in gefährlicher Schwebe. Ich begriff instinktiv, daß ich ihr darin die Unbefangenheit nicht rauben durfte.
Ich war auch der Mann nicht, der in diesem Betracht erzieherisch hätte wirken können. Ich hatte eine so bannende Ehrfurcht vor dem unabänderlichen So-und-nicht-anders-Sein jeder Kreatur, daß ich den Mut nicht aufbrachte, gerade das Nächtigste und Urgeheimste eines Menschen zu bilden und aufzuhellen. Mit Feigheit im Leibe kann man nicht erziehlich wirken. Ich war auch kein Meister in der Liebe, schon deshalb nicht, weil meine Sinne durch eine Art schuldvoller Dunkelheit unfrei waren. Dies alles muß gesagt werden, es ist die verborgene Wurzel von allem Folgenden, niemand könnte sonst verstehen, wie sich die Dinge entwickelt haben.
Schuld: Ich scheue das Wort; dennoch lag von Anfang an Schuld in meinem Verhältnis zu Ganna. Insofern nämlich, als ich keine Leidenschaft für sie empfand. Darauf kam ich nicht gleich. Es wurde mir erst langsam klar. Als es mir klargeworden war, mußte ich Gannas jähe Anfälle von Leidenschaft mit heimlichem Schrecken abwehren. Sie mißverstand mich. Sie mußte mich mißverstehen, sonst wäre sie ja aus allen Himmeln gestürzt. Das durfte ich nicht auf mich nehmen. Ich mußte dafür sorgen, daß sie möglichst lange in ihren Himmeln blieb. Es war nicht sehr schwierig. Sie flüchtete in eine Fiktion. Sie machte mich zu einem Robert Browning und sich zu einer Elisabeth Barrett. Das Vorbild einer hochgeistigen Ehe ermöglichte es ihr, meine wachsende Unlust an Liebesbeteuerungen, nach denen sie hungerte, in eine metaphysische Verbundenheit umzudeuten. Ich bewunderte die Kraft, mit der sie in einer Fiktion zu leben vermochte. Meine Bewunderung für sie war überhaupt ungeschwächt. Ich konnte alle meine Arbeitspläne mit ihr besprechen. Nach kurzer Zeit beherrschte sie die Handwerksausdrücke wie ein hartgesottener Literat. Als die Nachrichten, die ich aus Deutschland erhielt, keinen Zweifel mehr zuließen, daß mein Buch nicht nur einen künstlerischen, sondern auch einen materiellen Erfolg hatte (was freilich nicht zu erheblichen Einnahmen führte, da ich den Verleger gewechselt und der frühere eine hohe Abstandssumme und die Rückzahlung von Vorschüssen gefordert hatte), merkte ich, daß sie die Ruhe und Ausgeglichenheit verlor, die bis dahin über ihrem Wesen gelegen war wie Schmelz. Es hatte den Anschein, als fühle sie sich meiner plötzlich nicht mehr so sicher. Ich fragte sie offen, ob dem so sei. Sie gab es zögernd zu. Sie fand, es sei ihres Amtes, die Verlockungen der Welt und die Süßigkeiten des Ruhms nicht an mich heranzulassen. »Warum?« fragte ich verwundert. »Wovor hast du Angst?« Sie meinte, sie hätte keinerlei Bürgschaften für die Zukunft. »Braucht man denn Bürgschaften, Ganna?« fragte ich. Selbstverständlich, erwiderte sie, die Gegenwart sei zu wenig. »Aber du kannst mich doch nicht«, sagte ich, »wie die Känguruhweibchen ihre Jungen, in einer Hautfalte mit dir herumtragen?« Doch, das könne sie, das wünsche sie, versetzte sie mit ihrem liebenswürdigschlauen Lächeln. Sie hatte nicht genug Sicherheit. Sie dürstete nach größerer Sicherheit. Sie räumte es ein. Ich streichelte beschwichtigend ihre Haare. Ich nannte sie Seelchen, mit dem zärtlichsten Namen, den die deutsche Sprache hat.
In Taormina logierten wir in einem steingepflasterten Loch in einer Spelunke. In den Betten waren Wanzen. Die Moskitos fraßen uns auf, Netze waren nicht vorhanden. Ganna setzte am Abend allerlei Räuchereien in Brand, aber dann erstickte man nachts in Qualm und Gestank. Hätten wir täglich zwei Lire mehr ausgegeben, wir hätten menschenwürdig wohnen können. Davon wollte Ganna nichts hören. Das Budget einzuhalten war ihre bangste Sorge. Budget war eines der Zauberworte, von denen sich nach und nach viele am Horizont unserer Ehe erhoben gleich Leuchtkäferchen bei zunehmender Dunkelheit. Der Begriff Budget war verschwistert mit dem Begriff Bankkonto. Das Bankkonto war der größte Leuchtkäfer, der unheimlichste, ebenfalls ein Zauberwort. Der Vater hatte ihr eingeschärft, unter keinen Umständen das Kapital anzugreifen, niemals einen Heller mehr zu verbrauchen als die Zinsen. »Ein Mensch, der vom Kapital zehrt, ist zu jedem Verbrechen fähig«, hatte das drohende Diktum des Professors gelautet. Ganna hatte es zu ihrem Leitsatz gemacht. Der Vater, je mehr angebetete Figur, je mehr er in die Ferne rückt, war gewissermaßen der Oberpriester des »Kapitals«, eines höchst verehrten Fetischs, und er hielt seine mächtige Hand über der geheimnisvollen Institution jener mündelsicheren Papiere, auf denen das Bankkonto beruhte. Es waren lauter Sicherheiten.
Ganna wußte natürlich, daß sich die herrlich runde Summe von achtzigtausend Kronen um den Betrag verringert hatte, der zur Bezahlung meiner Schulden nötig gewesen war. Sie hatte einen Finanzplan entworfen, der den Fehlbetrag wieder hereinbringen sollte. Demnach durften wir in den nächsten Jahren statt des viereinhalbprozentigen Zinsertrags von dreitausendsechshundert Kronen nur dreitausend verbrauchen, der Rest sollte zum Kapital geschlagen, der Mehrverbrauch von meinem Einkommen bestritten werden. Dies erschien mir als eine geniale Lösung. Äußerste Sparsamkeit war also geboten. Jede Wanze und jeder Moskito in Signor Pancrazios jämmerlichem Quartier veranschaulichte in gewissem Sinn das Garantiesystem mit dem Oberpriester und dem mündelsicheren Tabernakel. Was für eine rührende Mühe gab sich Ganna, mir zu beweisen, daß meine spöttische Verachtung dieser gottähnlichen Sicherheiten Leichtsinn und Unkenntnis seien. Sie sprach beschwörend vom Ethos der Selbstbeschränkung und der sittlichen Pflicht, dem Schicksal das Schwert aus der Faust zu winden, mit dem es die Edlen ständig bedroht. In die Lektüre Platos vertieft, den Bleistift in erhobener Hand, mit dem sie Notizen an den Rand der Seiten schrieb, die Kinderstirn gerunzelt, wies sie auf die Ananke hin, diese alles durchdringende Macht, vor der man sich zu beugen habe. Es machte Eindruck auf mich. Ich stimmte ihr zu. Genaugenommen war ich ja nicht Herr über das Geld. Wiewohl das Bankkonto auch auf meinen Namen lief, unterwarf ich mich allen Sparmaßnahmen Gannas widerspruchslos. Ich war durchaus in der Lage eines Mannes, dem der Stolz und die Selbstachtung verbieten, fremde Gerechtsame anzutasten.
Ich unternahm einen Ausflug auf den Ätna und hatte Ganna versprochen, am Abend des dritten Tages wieder bei ihr zu sein. Ich verirrte mich aber in den Lavafeldern, zudem schlug das Wetter um, und ich mußte in der Hütte eines Hirten Zuflucht nehmen. Dadurch verspätete sich meine Rückkehr um sechs Stunden. Ganna hatte in wachsender Erregung auf mich gewartet. Schon um sechs Uhr nachmittags alarmierte sie Signor Pancrazio und seine Leute. Zwei Stunden darauf verlangte sie weinend, man solle die Polizei verständigen und eine Abteilung Carabinieri aussenden. Um elf Uhr ließ sie sich durch die Bitten der gesamten Familie des Wirts und der deutschen Logiergäste nicht abhalten, ihren Regenmantel umzuwerfen und schluchzend die stockfinstere Landstraße hinunterzulaufen, hinter ihr Pancrazios zwei Söhne, die sie endlich zur Umkehr bewogen. Als ich gegen Mitternacht kam, stürzte sie mir mit einem gellenden Schrei an die Brust wie eine Irre. Pancrazio und die Seinen, von so hoher Gattenliebe erschüttert, behandelten sie von da ab mit der ehrfürchtigen Rücksicht, deren nur Italiener fähig sind. Ein vierzehnjähriges Mädelchen äußerte mit entzückender Altklugheit die Vermutung, die fremde Signora sei wohl guter Hoffnung. Was sich alsbald auch bestätigte. Als zwei Tage später der Südwind den gelben Staub der Sahara auf die Insel herüberwehte, gelbe Dämmerung die Landschaft einhüllte, der Ätna Feuergarben spie und die erschrockene Bevölkerung Prozessionen veranstaltete, sagte Ganna mit großem Sybillenblick: »Begreifst du jetzt meine Angst? Ich hab's gefühlt. Es war schon in mir.« Ich fragte mich bedrückt, wie ich mich fernerhin derartigen Hemmungslosigkeiten gewachsen zeigen solle. Ich war nicht abgeneigt zu glauben, daß es einen Zusammenhang gab zwischen ihr und den dunklen Kräften der Natur. Verwundert grübelte ich darüber nach, wie ein solches Urwesen dem nüchternen Schoß der Familie Mewis entschlüpft sein konnte.
Die Schwangerschaft war wider das Programm. Wir hatten uns vorgenommen, in den ersten zwei Jahren kein Kind zu haben. Man kann nicht mit einem Kind hauslos in der Welt herumziehen. Es war in Rom, als sie mir, zitternd vor Glück, das große Geständnis machte. Ein Monarch kann sich nicht verantwortlicher dünken als Ganna in der Erwartung des Mutter-Werdens. Sie ließ sich medizinische Spezialwerke aus Wien kommen. Sie befolgte eine entbehrungsreiche Diät eigener Erfindung. Sie suchte einen deutschen Arzt auf und beriet stundenlang mit ihm. Sie behandelte ihren Körper mit liebevoller Schonung. Sie ging innen und außen auf Zehenspitzen. Ihr einziger Gedanke war das Kind. Ihre einzige Sorge war, ob es schön werden würde, schön und bedeutend. Sie war überzeugt, dies stehe in ihrer Macht. Wie eine Bäuerin glaubte sie an Versehen und hütete sich vor häßlichen Eindrücken. Täglich verbrachte sie die Vormittage in den vatikanischen Sammlungen und saß mit bannendem, saugendem Blick vor Meisterwerken der Plastik. Sie kaufte eine Fotografie des Neapler Wandgemäldes, das den Narkissos hingelagert darstellt. Sie hängte das Bild über ihrem Bett auf und betrachtete es vor dem Einschlafen und beim Erwachen mit selbsthypnotischer Hingegebenheit. Sie traute ihrem unbändigen Wollen auch einen Einfluß auf den Vorgang der Menschwerdung zu. Ich durfte sie darin nicht irre machen, sonst wurde sie böse. Ironische Bemerkungen erzürnten sie. Sie hatte für Ironie kein Organ. Sie fand sich nicht belächelnswert, sie fand sich heilig. Und noch etwas kam hinzu. Die endgültige Sicherheit, nach der sie schmachtete, die besaß sie jetzt. Da sie ihr Kind nicht in einer fremden Stadt zur Welt bringen und in der Nähe ihrer Familie sein wollte, kehrten wir im Herbst nach Wien zurück.
Mir bangte davor. Ich fürchtete die Ansprüche der Familie, die Unbekümmertheit, mit der sie meine Person beschlagnahmen würde. Ich fürchtete die ummauerte Existenz. Wenn ich mich ein für allemal zum Dasein des Bürgers und Steuerzahlers entschloß, mit dem Bankkonto im Rücken gegen alle Fährnisse gedeckt, Schoßkind und Stolz der Mewis, Schlemms und Lottelotts, dann war es aus mit dem Flammengang und Simsonskampf, dann hatten Fedora und Riemann recht, dann war ich verkauft und verraten. Aber Ganna wußte mir meine Ängste auszureden. Sie sprach mit solcher Zuversicht und Begeisterung von einem Leben in stiller Häuslichkeit, daß ich mich gläubig fügte.
Nach vielem Suchen mieteten wir weit draußen in der westlichen Vorstadt, weit auch vom Hause Mewis, eine möblierte kleine Gartenwohnung, die den Winter über frei war. Ganna wollte sich noch nicht endgültig niederlassen. Die Einrichtung hätte zuviel Geld gekostet. Hinausschieben war für sie wie Sparen. Die eine Front der Wohnung ging nach einer wurmartig gewundenen Straße mit einstöckigen Häusern und kleinen Vorgärten. Alle zwanzig Minuten rasselte eine Dampftramway am Haus vorbei. An der Lokomotive war eine Glocke angebracht, die man von fern her und lange, nachdem sie vorüber war, bimmeln hörte. Was Ganna an dem Quartier bestochen hatte, war ein saalartiges Zimmer mit einer Glaswand gegen den Garten, das vorne von Licht durchströmt, hinten aber so finster war, daß man auch bei Tag die Gasflamme brennen lassen mußte. Es war der Staats- und Empfangsraum, Wohn- und Eßzimmer, meine Arbeitsstätte, und außerdem schlief ich auf einem Diwan zwischen zwei Mauerfragmenten in den Wochen vor Gannas Niederkunft darin. Es war zitronengelb getüncht und durch eine zitronengelbe Stoffportiere in zwei Hälften geteilt. An der Wand links befand sich der sterbende Gallier, an der Wand rechts der Dornauszieher, beide auf stoffbehangenen Kisten als Postamente, beide in Gips; römische Erinnerungen. Ich verweile dabei so lange, weil der Raum viel Schicksalhaftes für mich hatte. Man weiß noch wenig vom Einfluß der Räume auf die Stimmung, die Gedanken, die Entschlüsse. Ein Zoll mehr oder weniger in Höhe oder Breite, und das Lebensgefühl ist verändert. Ich kam mir wie in einem zu weiten, beim Trödler gekauften Anzug vor, der einem um den Leib schlottert. Ich war nie richtig zuhause in dem Zimmer. Wenn ich in der Nacht aufwachte, sickerte das Schneelicht durch die Spalten des Vorhangs; dann wäre ich am liebsten durchs Fenster in den Garten gestiegen, um etwas Bübisches anzustellen, vielleicht das lächerliche Zimmer mit Schneebällen zu bombardieren. Oder ich wünschte, Heinzelmännchen möchten kommen, sich an den Schreibtisch setzen und die Arbeit schaffen, die mir nicht gelingen wollte, an der ich mich wund rieb seit Wochen, während die schellenklingelnde Lokomotive frech durch meinen Schädel donnerte. Es ist nicht gut, mit einem vielgeschäftigen Weib zu sein, wenn man zartes Bild zu malen, zartes Gewebe zu spinnen unternimmt. Es ist nicht eine einzelne Frau, es sind viele, so viel wache Stunden der Tag hat, so viele Gannas sind es, und jede will was anderes, jede ist voll von sich, jede freut sich, regt sich auf, plant etwas, hat ein Anliegen, und manche kenne ich noch gar nicht, ich müßte ihnen erst vorgestellt werden.
Kinderwäsche muß beschafft werden. Die Miete muß bezahlt werden. Dienstleute müssen entlohnt werden. Ich brauche einen Winteranzug. Ganna braucht einen Mantel. Die Zinsen langen nicht. Das Kapital muß angegriffen werden, Gannas böser Traum. Man muß etwas von den »Mündelsicheren« verkaufen, Gannas Entsetzen. Der heilige Respekt vor dem Bankguthaben hat mich bereits angesteckt. Es gibt nichts Penetranteres als das Geld und den Geist des Geldes. Am Monatsersten gehe ich zur Bank, um die für den Haushalt nötige Summe zu beheben. Es ist mir zumut wie einem Dieb. Der Kassier am Schalter, ein hagerer Mann mit goldgeränderter Brille, ist der Stellvertreter des alten Mewis auf Erden; sofort wird er mich einem strengen Verhör unterwerfen. Ein Mensch, der das Kapital angreift, ist zu jedem Verbrechen fähig. Gannas winzige Hände umschließen das Bankkonto wie eine Gesetzesrolle. Der Kassier läßt die Geldscheine auf die marmorne Platte flattern, das Kapital rauscht. Ich zähle sie scheu nach, und als ich sie in die Brieftasche stecke, habe ich das Gefühl, den Mann am Schalter überlistet zu haben und mit unrechtmäßig erlangtem Geld das Weite zu suchen. Ich entferne mich mit den Schritten eines Defraudanten. Ich habe keine Ruhe, bis ich Ganna das Geld auf Heller und Pfennig abgeliefert habe. Ganna schreibt auf, Ganna verrechnet, Ganna gibt mir mein Taschengeld. Ja, mein Taschengeld, wie einem Pensionär. Ich finde es selbstverständlich. Wozu braucht man bares Geld, wenn man in Kost und Logis lebt? Ich habe nicht übel Lust, dies dem Mann am Schalter das nächstemal zu meiner Verteidigung mitzuteilen. Er wird mich dann milderen Auges betrachten.
»Gibt's nicht bald was zu essen?« frage ich verdrießlich, wenn es auf der Pendeluhr in dem gelbgetünchten Heuschober zwei Uhr schlägt. »Gleich, Alexander«, haucht Ganna bestürzt, eine von den vielen täglichen Gannas, »sofort«. Aber was dann das schmuddlige »Mädchen für alles« auf den Tisch bringt! Dinge, die ihre Natur verleugnen. Fleisch, das wie Holzkohle aussieht. Torten, die an Bücherdeckel erinnern. Suppen, deren einziger Vorzug ist, daß sie dampfen. Alles mit mächtigem Eifer hergestellt, unter Gannas unendlicher Bemühung. Gannas Bemühung, das ist ein Kapitel für sich. Denkt euch eine rasante Stoßkraft, auf die nichts erfolgt, einfach nichts, die verpufft, spurlos. Eine beinahe wissenschaftliche Gründlichkeit, den ernstesten Vorsatz, und das Resultat ungefähr so, wie wenn jemand mit dem Schmiedehammer eine Fliege auf einer Fensterscheibe erschlägt. Alles ist genau erwogen, es ist ein radikales Vorgehen, aber die Fensterscheibe geht dabei in Trümmer, was jeder andere voraussehen würde, nur Ganna nicht. Ganna wundert sich baß. Die Küchenschürze umgebunden, steht sie am Herd, rührt mit dem Kochlöffel den Teig in der Pfanne, und auf der Anrichte liegen aufgeschlagen die Gedichte von Hölderlin, in die sie träumerisch hineinschielt. Wenn der Teig unten schwarzgebrannt ist, weiß sie sich nicht zu helfen und schimpft mit dem Mädchen. Ich erkenne den Kern des Übels und sage belehrend: »Siehst du, Ganna, Hölderlin lesen und Pfannkuchen backen, das geht nicht zusammen. Du mußt dich für eins von beiden entscheiden.« Ganna sieht es ein, aber es ist schwer, da sie immer zugleich des Gottes und des Zweckes voll ist. Man kann ruhig sagen, daß sie vor Bemühung schwitzt. Wenn sie mir dienen will, ist ihr kein Weg zu weit, keine Unbequemlichkeit zu groß. Aber alles scheitert am Übermaß der Anstalten. Immer wenn sie daran geht, mir bei der Arbeit Ruhe zu verschaffen, geschieht es, daß sie den erwähnten symbolischen Stuhl umschmeißt. Es gibt Hausteufelchen, die wollen ihr nicht wohl. Ihre glühende Strebsamkeit zerschmilzt alles, wonach sie greift. Ich finde es interessant, atemberaubend sogar, doch es ist nicht eben das, was man unter einem friedlichen Dasein versteht. Man kommt sich vor wie auf einem Schiff, das durch die Ungeschicklichkeit des Steuermanns fortwährend in der Brandung herumtanzt.
Dann die dienstbaren Geister. Das erste Mädchen blieb sechs Tage, das zweite drei, das dritte vierzehn, von den folgenden keine länger als drei Wochen. Ganna kann sich die Sache nicht erklären; auch ich stehe vor einem Rätsel. Erst nach und nach geht mir ein Licht auf. Ich mache die Entdeckung, daß unter Gannas Herrschaft jeder Fehler eines Menschen alsbald zum Laster wird. Es ist geheimnisvoll. Wenn eine als Nascherin kommt, geht sie als Diebin fort. Die Unordentliche verwandelt sich in eine Verwüsterin. Da Ganna keine Ahnung hat, wie man ein Bett macht und eine Türklinke putzt, werden ihre Befehle mit stillem Hohn aufgenommen. Sie weiß nie, wieviel Zeit eine Arbeit beansprucht. Entweder fordert sie Unmögliches, oder sie wird betrogen. Sie versteht das Volk und seine Sprache nicht. Ihre etwas geschwollene Ausdrucksweise macht die Leute stutzig, und sie mißtrauen ihr. Erst ist sie honigsüß, und ohne Übergang wird sie grob. Der bürgerliche Hochmut der Mewistochter und ihre literarische Bildung erlauben ihr nicht, die dienenden Menschen als Wesen ihresgleichen zu betrachten. Sie möchte manchmal gern, aber es gelingt ihr nicht. Beim geringsten Streit erbost sie sich, und ihre Augen lodern wild. Anfangs kann ich beschwichtigend einwirken, späterhin wendet sich ihr Zorn in solchen Fällen auch gegen mich. Ich bin gezwungen, sie gewähren zu lassen, sonst wäre der häusliche Kleinkrieg zu ermüdend. Da war eine Resi, die es fertigbrachte, Ganna um den Finger zu wickeln, weil sie ihr die dicksten Schmeicheleien sagte; die raubte eines Abends den Wäscheschrank aus und verschwand. Da war eine Kathi, die hatte mehrere Liebhaber, und wenn Ganna einen von ihnen in der Küche überraschte, gab es ein Riesengeschrei von beiden Seiten. Da war eine Pepi, die wurde von der Polizei abgeholt, weil sie im Verdacht einer Brandstiftung stand. Da war eine Hanna, von der sich herausstellte, daß sie schwer syphilitisch war; als wir sie entließen, schlich sich ihr Galan nachts ins Haus und bedrohte mich mit dem Revolver. Da kamen Aushilfsmädchen, so schmierig und verschlampt, als hätte man sie bei einer Razzia aufgelesen. Da kamen Bedienerinnen, die unter ihren Röcken Mehl, Reis und Einmachgläser fortschleppten. Den ganzen Vormittag riecht es nach verbrannter Milch. Mädchen kommen, Mädchen gehen. Stundenlang steht Ganna bei Vermittlerinnen herum. Am Abend strahlt sie: Sie hat eine »Perle« entdeckt. Zwei Tage später stellt es sich heraus, daß die Perle eine verfaulte Erbse ist. Ganna hat Anfälle von Mutlosigkeit, und ich muß sie trösten. Bisweilen erscheint eine der Schwestern, um Ganna beizustehen. Sie tun es nicht ohne Schadenfreude. Sie sehen die Zukunft schwarz. Ganna mag etwas von Büchern verstehen, sagen ihre Mienen, vom Leben hat sie keinen Dunst.
Während der Wehen Gannas ergriff ich die Flucht. Ich weiß, daß ich mich dieses Geständnisses zu schämen habe, allein es war der Überdruß am Nest, der mich forttrieb. Ich hielt mich den ganzen Nachmittag bei den Raubtieren in Schönbrunn auf. Etwas Kaltes und Glitschiges saß mir im Nacken. Ich hatte Ganna schreien gehört. Sie schrie tobender als andere Frauen, die kreißen. Ihre Natur setzte sich mit ungeheurer Wildheit gegen den Schmerz zur Wehr. Was, ich, Ganna, soll leiden, ich, die Mewistochter, Alexander Herzogs Frau, soll leiden? Es nützte nichts, sie mußte leiden. Ich litt mit ihr, aber ich wollte es nicht sehen. Nicht nur aus gemeiner Mannsfeigheit, sondern weil es ja nicht meine Leidenschaft war, durch die ich sie leiden gemacht.
Als ich heimkam, lag etwas Schwarzes, Haariges auf weißem Linnen. Es war richtig ein Sohn, wie Ganna vorausgesagt hatte. Er wies aber vorläufig keine Ähnlichkeit mit dem Narkissos auf. Im blütensauberen Bett, die rostroten Haare unter einem blaugebänderten Häubchen, streckte mir Ganna mit seligmattem Lächeln die winzige Hand entgegen. Ihr Anblick rührte mich tief. »Findest du es schön?« fragte sie. – »Ja, sehr schön«, antwortete ich, und mein Gesicht wird wohl etwas dumm ausgesehen haben. Als ihr das Kind an die Brust gelegt wurde, feuchteten sich ihre Augen. Es war, als gebe sie dieses Schauspiel der ganzen Welt, als habe noch nie eine Frau ein Kind geboren, noch nie eine Frau ein Kind gesäugt. Nun ja, sagte ich mir, manche Menschen erleben die Dinge, wie die ersten Menschen sie erlebt haben. Wir nannten das haarige Amphibium Ferdinand, abgekürzt Ferry. In der Tat wurde es ein ungewöhnlich schönes Kind, auch hier hatte Ganna ihren Willen durchgesetzt.
Immer öfter fragte ich mich, durch welche Macht ich stets diesem Willen erlag. Ich bin nicht willenlos; willensschwach nur insoweit, als meine Natur jedem falschen Kräfteaufwand entgegenwirkt. So zog ich mit ihr in eine Gegend, wo die Füchse einander gute Nacht sagten, als wir im Frühjahr die Wohnung mit dem gelben Zimmer verlassen mußten. Es war ein Wirtshaus, die Einsiedelei genannt, seitdem ist es verdientermaßen vom Erdboden verschwunden. Ein trauriges und übles Logis war das, viel ärger als Signor Pancrazios Spelunke. Es erinnerte mich an das Mordwirtshaus im Märchen, in welchem die erschlagenen Gäste stets im Keller verscharrt werden. Einen Vorzug hatte es: Es war billig. Das war ausschlaggebend für Ganna. Doch war sie auch der Bevormundung ihrer Schwestern satt, und noch viel mehr der höllischen Plackereien mit Dienstboten. Also auf in die romantische Baracke. Ganna sagte, sie wolle sich nun endlich wieder ihren höheren Aufgaben widmen. Ich stimmte ihr zu. Ich fand es an der Zeit. Zwar wußte ich nicht ganz genau, worin die höheren Aufgaben bestanden; ich kreditierte sie gleichsam, aber Näheres wußte ich nicht von ihnen.
Ich arbeitete in einer finstern Zelle, durch deren Decke der Regen drang, indes bei schönem Wetter das Johlen der Ausflügler im Wirtsgarten und bei jedem andern Gannas Gezanke mit der Kinderpflegerin meine Gedanken zerfetzte. Wozu war das alles, ging es mir zuweilen durch den Sinn, wenn ich nun leben soll wie der letzte Vagabund? Ein Bankkonto, so überlegte ich, ist offenbar eine Art Büchsenkonserve wie Gänseleber; es in frischem Zustand zu genießen scheint verpönt zu sein. Was jene Pflegerin betrifft, Oprcek hieß sie, so war sie eine ausgemachte Verrückte. Das Einschläfern des Kindes bewirkte sie mit unzüchtigen Liedern, und wenn Ganna mit ihr stritt, verneigte sie sich kichernd, hob die Röcke bis ans Knie und murmelte tschechische Verwünschungen vor sich hin.
Ich entsinne mich einer Nacht, da ich von dem durchdringenden Kreischen meines Söhnchens erwachte. Ganna flattert aufgeregt im Zimmer herum und kocht beim Schein einer qualmenden Kerze Kamillentee. Die Oprcek hält das Kissen mit dem Säugling in hocherhobenen Armen und vollführt unter greulichen Gesängen einen Niggertanz. Ganna fleht mich an, ich solle einen Arzt holen. Es ist weit bis zum nächsten Arzt, aber Gannas Angst besiegt meine Schlaftrunkenheit. Ich ziehe mich an und gehe in die Nacht hinaus. Und während ich in den Vorort hinuntergehe, ergreift mich eine gestaltlose, bittere Sehnsucht, die mich nur so hintaumeln läßt durch die gewitter- und regenschwere Finsternis ... Ich habe die Stunde nie vergessen können.
Im Herbst machten wir uns endlich seßhaft. Wir bezogen den oberen Trakt einer stattlichen Villa an der Grenze des dreizehnten Bezirks. Möbel, Spiegel, Geschirr, Vorhänge, Teppiche, Lampen mußten gekauft werden. Verheerender Eingriff ins Bankkonto. Ganna hatte schlaflose Nächte.
Das Haus gehörte einem alten Ehepaar namens Ohnegroll. Nie ist mir ein lügenhafterer Name vorgekommen. Der Mann war tückisch und boshaft, die Frau eine Megäre. In den Gartenbeeten standen farbige Terrakottazwerge mit Kegelhütchen. Über diese Zwerge ärgerte ich mich täglich derart, als hätten sie mir meine Barschaft gestohlen. Eine Mansarde unter dem Dach diente mir als Arbeits-, oftmals auch als Schlafstätte. Sie gewährte Ausblick auf eine zerrupfte Wiese, auf der tagsüber unter Leierkastenbegleitung ein Karussell sich drehte. Aber abends und nachts war es totenstill, und da habe ich den ganzen Winter hindurch ungestört gearbeitet.
Als es Frühling wurde, kam die Reiselust über mich. Ganna wollte sich nicht von ihrem Kind trennen, so verabredete ich mich mit Konrad Fürst, und wir fuhren in den Süden. In Ferrara ging meinem Gefährten das Geld aus; bei der Rückkehr war er mir an siebenhundert Kronen schuldig. Es verging nicht eine Woche, da bestellte mich Fürst in ein Cafehaus und bat mich fast unter Tränen, ich möge ihm noch weitere tausend Kronen leihen; es handle sich um eine Spielschuld, er habe sein Ehrenwort verpfändet, wenn er bis zum andern Tag das Geld nicht aufbringe, müsse er sich erschießen. Ich antwortete kühl, mit solchen Kavaliersfaxen dürfe er mir nicht kommen; sei er in Not, gut, dann müsse ich ihm helfen, doch hielte ich es für geraten, daß wir einander die nächste Zeit nicht sähen. Es war ein verschleierter Bruch. Die frivole Lebenshaltung Fürsts und seine Großmannsallüren hatten mich seit langem mehr und mehr abgestoßen.
Da ich eine größere Zahlung von meinem Verleger erwartete, glaubte ich das Loch im Konto stopfen zu können, bevor Ganna es entdeckte. Indes verzögerte sich diese Zahlung, und ich war genötigt, Ganna das Geschehene mitzuteilen. Auf einen Ausbruch des Ärgers war ich gefaßt, nicht aber auf eine solche Flut von Empörung und Erbitterung. Zuerst starrte sie mich sprachlos an. »Na, weißt du, Alexander«, stotterte sie blaulippig und wieder: »Na, weißt du, Alexander ...« Wie ein Mensch, vor dessen Augen Ideale zusammenbrechen. Mit ihren hackenden Schritten und winzigen Füßen stapfte sie auf und ab, zerrte die Decke vom Tisch, stieß mit den Knien die Stühle aus dem Weg, rieb die kleinen Zähne knirschend aufeinander, preßte die winzigen Hände an die Schläfen und schmähte endlos vor sich hin: Ein sauberer Freund; ein schönes Lümpchen; unerhört, die Gutmütigkeit und den Leichtsinn eines Menschen, der Familienvater ist, zu mißbrauchen; sie werde sich die Schurkerei nicht bieten lassen; sie werde dem geschniegelten Hochstapler einen Brief schreiben, den er nicht an den Spiegel stecken werde ...
Sie hatte Grund, ungehalten zu sein. Sparte sie sich doch die Seele aus dem Leib, drehte jede Krone dreimal um, ehe sie sie ausgab, feilschte mit jedem Händler um den Korb Gemüse; gönnte sich kein neues Paar Schuhe, wenn die alten nicht schon in Fetzen gingen. Gut. Aber so hätte sie sich nicht aufführen dürfen. Da war das Unrecht, dessen ich mich schuldig gefühlt, plötzlich kein Unrecht mehr. Obgleich sie mich bald hernach wegen ihrer Heftigkeit weinend um Verzeihung bat, blieb ein Stachel, der sich einbohrte. Ich hatte ein anderes Gesicht gesehen. Sogar in ihrem reizend unschuldigen Lächeln war es drin, das andere Gesicht.
Wie wenn Fäden auf einer trüben Flüssigkeit schwimmen und langsam zusammenschießen, um irgendwelche krause Figuren zu bilden, so machte der Unfriede in Ganna ihr Leben undurchsichtig und ihr Verhältnis zu Menschen und Dingen gesetzlos. Gewisse wiederkehrende Szenen sind dafür bezeichnend, deren typischer Ablauf Engramm geworden ist. Ich habe Karten für das Philharmonische Konzert besorgt. Es beginnt um sieben. Fünfundvierzig Minuten muß man für die Fahrt in die Stadt rechnen. Um dreiviertel sechs ermahne ich Ganna, sich anzuziehen. Sie liegt träumerisch auf der Terrasse, in der Rechten ein Buch über die mystische Geistesrichtung der Präraffaeliten, in der Linken den obligaten Bleistift. »Gleich, sofort«, haucht sie erschrocken, legt das Buch achtlos auf das Blechsims, wo es auch verbleibt und am andern Morgen vom Regen durchweicht gefunden wird, und eilt ins Schlafzimmer. Es vergehen zehn, vergehen zwanzig Minuten, ich, schon in Hut und Mantel, schaue alle Augenblicke auf die Uhr, dann fass' ich mir ein Herz und sehe nach, was mit Ganna los ist. Sie steht halbnackt im Badezimmer und wäscht sich die Haare, jetzt, um sechs Uhr zehn. Ich bin wütend. Ganna fleht, ich möge sie um Gottes willen nicht hetzen, sie beeile sich ohnehin soviel sie könne. Sie ist das Opfer widriger Umstände. Ihre besten Absichten werden von tückischen Zufällen durchkreuzt. Alle treten mit Füßen auf der armen Ganna herum. Auch ich. Unter Seufzen, Keuchen, Klagen ist sie um sechs Uhr fünfunddreißig fertig. Noch ein »Sprung« ins Kinderzimmer, inbrünstiger Abschied von Ferry, hastige, aber (weil man doch auf »die Person« angewiesen ist) mit schmelzender Stimme erteilte Verhaltungsmaßregeln an die Pflegerin (ich weiß nicht, die wievielte es ist), und man rennt zur Dampftrambahn. Dort wartet man weitere zehn Minuten, Ganna mit beleidigtem Gesicht und verpreßten Lippen. Kaum hat sie Platz genommen, so entdeckt sie, daß sie ihr Täschchen mit dem Opernglas und dem Geld vergessen hat. Vorwürfe. Das alles passiert nur, weil man sie »hetzt«. Sie findet, »das« hat sie nicht verdient. Sie gibt sich doch »solche« Mühe. Sie hadert ohne Aufhören. Ich geniere mich vor den Mitfahrenden; Ganna geniert sich keineswegs vor den Mitfahrenden. Das gehört zu ihrem Souveränitätsbewußtsein. Warum antworte ich ihr? Warum schweige ich nicht? Sie dauert mich, darum. Sie quält sich ab. Ich will sie versöhnlich stimmen. Es ist mir nicht wohl, wenn sie hadert und quengelt. Vielleicht ist es ihre Zauberkunst, die mich so nachgiebig macht. Vor dem Saal müssen wir wieder warten bis zur nächsten Pause. Noch immer rede ich auf sie ein, um ihr zu beweisen, daß sie im Unrecht ist, das sicherste Mittel, sie im Gefühl ihres Rechts zu bestärken. Doch ihr Ärger klingt nur noch als leeres Geplapper fort. Dann sitzt sie hingebungsbereit und mit verschwärmter Miene auf ihrem Platz. Musik wirkt auf sie wie Branntwein. Ich weiß längst, daß sie unmusikalisch ist wie ein Stück Holz, daß sie nicht das leiseste Verständnis für den Bau eines Werkes hat, das Gesamtgefüge, die Motiveführung, für Wert oder Unwert, Gehalt oder Leere, daß man ihr ruhig eine bessere Operettenouvertüre als Brucknersymphonie aufreden könnte, und sie käme prompt ins Schwelgen; aber das hindert mich nicht, an die Intensität ihres Gefühls zu glauben, an die Echtheit ihrer Erschütterung. Ich empfinde ja Ganna wie ein Stück von mir selbst. Ich kann nicht anders; täte ich es nicht, es wäre um mich geschehen. Natürlich kommt es vor, daß der Anblick ihrer Trunkenheit mein Schamgefühl verletzt, meinen urteilenden Sinn beleidigt; dann brauche ich mich nur zu erinnern, mit welcher feurigen Andacht, welcher helfenden Leidenschaft sie mir zuhört, Stunden und Stunden, wenn ich ihr meine Arbeiten vorlese, wie ich da ihr mitpochendes Blut spüre und ihr ganzes Wesen beglückte Zustimmung ist. Da ist mir die Trunkenheit eben recht; darf ich sie also verdammen, wenn sie sich an anderem Ort hemmungslos auswirkt? Es sei denn, alles miteinander wäre Irrtum und Täuschung.
Mit den meisten früheren Freunden und Bekannten hatte ich keinen Umgang mehr. Entweder hatte sich die Beziehung totgelebt, oder sie waren in Ämtern und Stellungen, oder sie verloren sich in der geistigen Unterwelt. Viele sagten, ich sei ein kaltherziger Menschenverbraucher. Vornehmlich die sagten es, die mich ihrerseits nahezu verbraucht hatten. In allen Menschen steckt eine bösartige Freßgier. Wer sich ihnen einmal gegeben hat, den wollen sie bis auf die Knochen verzehren; sträubt er sich, so nennen sie ihn treulos. Ich galt auch für hochmütig. In Wirklichkeit war ich in hohem Grad schüchtern und bin es noch. Ich vertrug nur nicht die selbstgefällige Unwissenheit der Bürger in bezug auf meine Person und mein Tun, eine überhebliche Duldung, sowie man sich mit einem Nachbarn abfindet, der sein kümmerliches Gärtchen mit einer Festungsmauer umgibt.
Ganna predigte mir Weltlichkeit. Sie sagte, ich müsse aus meinem Turm heraus. »Du mußt unter Menschen, du brauchst Eindrücke«, sagte sie. Ich war nicht abgeneigt, unter Menschen zu gehen, doch leider meinte sie damit Leute, die einen Jour oder Rout gaben und berühmte Namen bei sich sehen wollten. Es war ihr Ehrgeiz, mir die gebührende Stellung in der großen Welt zu verschaffen; doch was sie für große Welt hielt, waren gewisse Intellektuellen- und Finanzkreise, in denen sie sich auch als Mädchen bewegt hatte. Sie war stolz darauf, Frau Alexander Herzog zu sein, und wollte ihren sozialen Rang genießen. Jede Einladung war ihr eine ehrenvolle Bestätigung dieses Ranges. Für den Rang der Gesellschaft aber, in der sie sich genügte, fehlte ihr das Unterscheidungsvermögen. Wenn sie hinter sich ihren Namen wispern hörte, drang ihr das Wohlgefühl bis unter die Haarwurzeln. Wenn ihr ein Advokat oder ein Universitätsdozent die Hand küßte, strahlte sie. Wenn sie einen Sektionschef als Tischherrn hatte, war sie aufgeregt wie eine Theaterelevin, der man eine große Rolle zuerteilt. Ich war durchaus willens, all diesen Herren den Kredit einzuräumen, den ihnen Ganna so verschwenderisch bewilligte. Ich war ja ein kleiner Mann. Mein Selbstgefühl war schwach entwickelt. Geistige Leistungen haben mich nie übermütig werden lassen. Ich dachte, Ganna, erfahren in den Bräuchen ihrer Sphäre, werde schon das Richtige treffen. Ich ließ mich mitschleppen. Ich ging fromm »in die Häuser«, wie ich es manchmal sarkastisch nannte. Hier und da fiel mir bei, daß man sich eigentlich für die Einladungen revanchieren müßte. Ganna behauptete, das sei überflüssig, von einem Künstler erwarte man das nicht. Da es mir bequem war, glaubte ich ihr und stellte mich damit auf dieselbe Stufe mit dem Tenor, dessen man sich auch nur versicherte, weil seine Name in der Zeitung stand, auf eine niedrigere noch, denn der Tenor bezahlte für die Ehre, die man ihm erwies, indem er gelegentlich etwas zum besten gab. Leute zu bewirten hätte zudem seine Schwierigkeiten gehabt; man aß furchtbar schlecht bei uns. Wenn Ganna ein Familienessen veranstaltete, wozu sie sich noch am ehesten entschloß, erhob sich manchmal verdächtiges Gekicher über den Geschmack und die rätselhafte Beschaffenheit eines Gerichts. Ganna hatte keine Ahnung, daß es schlecht war. Ihr selbst war es vollständig gleichgültig, was man ihr vorsetzte. Sie verzehrte eine halbgare Kartoffel mit demselben fühllosen Eifer wie eine Ananas.
An einem Abend waren wir bei Bankdirektor Bugatto geladen, der damals eine gefeierte Finanzgröße war. Ich entsinne mich genau einer ganzen Reihe von unangenehmen Gefühlen, die mich bestürmten. Ich sehe, wie Ganna in ihrem Element ist. Sie bildet Cercle. Ein Kranz von Professoren, Doktoren, Rechtsanwälten, Statthaltereiräten, Industriellen samt einigen zugehörigen Damen umgibt sie. Sie stellt kühne Behauptungen auf und verficht sie bis zum äußersten. Es sind anfechtbare Paradoxe; es sind Lesefrüchte; aber sie freut sich des Beifalls; sie hat unstreitig Erfolg. Ein hochorigineller Kopf, sagen die Leute. Ich bin sehr zufrieden mit ihrem Erfolg, das versetzt sie in gute Stimmung für Tage. Es liegt mir daran, daß ihre glänzenden Eigenschaften anerkannt werden. Ich habe es dann leichter mit ihr. Peinlich ist mir nur, daß sie zehnmal öfter als notwendig »mein Mann« sagt. Ich hasse dieses besitzergreifende Fürwort.
Bei alledem wird mir die Langeweile schier unerträglich. Das öde Herumsitzen; das geistlose Frage- und Antwortspiel; der ordinäre Klatsch. Und Gannas liebedienerisches Wortgeplänkel: Ich kann mir nicht länger verhehlen, daß sie sich ausbietet; ihr Geflöte, ihre provinzlerische Koketterie, ihre fahrige Aufgeregtheit: es macht mich leiden, macht mich wahrhaft leiden, spürt sie es denn nicht, nicht meine Scham, meine zweideutige Situation, ihre eigene Übertriebenheit, ihre Knechtseligkeit vor Perlen, Toiletten, Renten und Titeln? Nein, sie spürt es nicht. Sie geht auf wie Hefe. Sie blüht. Zwei-, dreimal nähere ich mich ihr und mahne zum Aufbruch. Sie fleht stumm, noch bleiben zu dürfen. Sie unterhält sich so herrlich. Auf dem Nachhauseweg fragt sie, was ich gegen sie hätte. Alle seien reizend nett gegen sie gewesen, nur ich hätte durch meine brummige Laune das schöne Beisammensein getrübt.
Sie versteht nicht, was soll man da tun? Sie fährt fort, zu stochern und sich zu beschweren, bis mir die Geduld reißt und ich eine zornige Antwort gebe, durch die ich mich ins Unrecht setze. Darauf hat Ganna nur gewartet. Sie nützt den Vorteil rachsüchtig aus. Sie findet, ich mache mir die Menschen systematisch zu Feinden und dürfe mich daher nicht wundern oder beklagen, wenn es mir an Publikum fehle. Eine giftige Bemerkung, die dadurch nicht weniger verletzend ist, daß sie zwei verschiedene Kategorien rabulistisch verquickt. Rede, Widerrede, Ganna ergibt sich nicht. Es nimmt kein Ende, nimmt dermaßen kein Ende, daß nachts um zwei Uhr die Ohnegrolls mit einem Besenstiel von unten an die Decke stoßen. Ganna überhört es. Sie verbeißt sich in jedes meiner Worte. Kein Gesäusel und Geflöte mehr wie im Salon der Würdenträger und der Renten, sondern rechthaberisches Zetern und eine Suada, die keinen rhetorischen Kniff verschmäht, um den Gegner in die Knie zu zwingen. Das Tolle ist, daß ich wirklich in die Knie breche. Das hat mich immer wieder in starres Staunen versetzt. Bedenk' ich's heute, so kann ich nicht umhin zu glauben, daß die Sinnlichkeit daran mitschuldig war, der augenlose Trieb, in dem etwas wie Betäubungssucht steckte.
Mit Schrecken erinnere ich mich an Tage, da der kleine Ferry krank war. Beim leisesten Anzeichen von Fieber geriet Ganna außer sich. Zunächst wurde das Kinderfräulein einem strengen Verhör unterzogen. Hatte sie eine Verfehlung begangen, in der Diät oder in der Wartung, dann brach das Unwetter über ihr los, und ihr wurde gekündigt. (Wenn das Fieber sank, wurde die Kündigung widerrufen.) In solchen Fällen versammelten sich in Gannas Hirn die Bilder aller erdenklichen und möglichen Krankheiten und durchrasten ihre Phantasie wie eine entfesselte Meute. Jede Exaltation rechtfertigte sich bei ihr durch die eingebildete Gefahr. Aber die Gefahr kann vermieden werden, wenn man beizeiten die Ursache erkennt. Der Mensch, will sagen Ganna, hat alles in der Hand, Glück und Unglück, Leben und Tod. Hält er sich an die Ratschläge der Ärzte und die Vorschriften der Wissenschaft, so kann ihm nicht viel passieren. Das größte Übel sind die Bazillen. Den Kampf gegen die Bazillen stellt sich Ganna im Grund als eine Art Flohjagd vor. Man ist immun, wenn man den Doktoren und Professoren den Trick abgeguckt hat, durch den sie diese bösartigen Organismen zähmen und dressieren. Da Ganna fast bei allen Krankheiten genau sagen kann, wie man sich die Krankheit zugezogen, gibt es auch immer eine Schuld und einen Schuldigen. Wenn sie Gliederreißen bekommt, weiß sie nach Wochen noch, daß ich ihr abgeredet habe, den Pelz anzuziehen, als wir an einem bestimmten Tag, den ich längst vergessen habe, zu Tante Klärchen fuhren. Ganna schaut der Natur auf die Finger. Sie glaubt an die Ärzte wie ein frommer Katholik an das Sakrament. Bei der geringsten Unpäßlichkeit wird der Arzt gerufen, ja, wie sich von selbst versteht, der Spezialist für das betreffende Leiden. Jeder Arzt ist in ihren Augen ein allmächtiger bürgerlicher Gott. Aber wehe dem Gott, wenn ihm nicht rasche Heilung gelingt. Dann begeht sie Blasphemie und ruft, Tochter des heidnischen Krals, einen andern Gott zu Hilfe.
Ich habe oft dagegen angekämpft. Ich habe sie belehrt, gewarnt, beschworen. Vergeblich. Es sind Ausschweifungen des Gefühls, sagte ich mir dann, man lebt in einem Treibhaus der Gefühle. Der Alltag ist etwas Gemeines; das Gefühl verschlingt ihn. Das Gefühl wird Spiegel und Norm der Welt. Ganna in den Arm zu fallen und die Richtung ihrer Bewegung zu verändern ist so aussichtslos, als wolle man einen Orkan bitten, sich nach einer andern Himmelsgegend zu wenden. Ich begann ihre Maßlosigkeit zu fürchten. Da meine Kraft auf anderm Feld gebunden war, fehlte sie mir, wenn ich sie ihr gegenüber brauchte. Manchmal schloß ich einfach die Augen, wenn ich sah, was zu sehen mich nicht freute. Ich bemühte mich, das Erlebnis Ganna als meine Bestimmung hinzunehmen. Je mehr die Wirklichkeit auf mir lastete, je mehr entlastete mich das Bild, das ich mir von Ganna schuf. Es war wie aus Erz, unzerstörbar für lange. Ein dämonischer Mensch, sagte ich mir. Es war das erste Aufblitzen einer Erkenntnis, die später, viel später, wie ein Feuerbrand über mich kam. Dämonisch; an sich besagt das Wort ja wenig. Es ist ein Ausredewort, eine falsche Münze. Es soll etwas Unerklärliches billig erklären und seelische Unzulänglichkeit einer unbekannten Macht in die Schuhe schieben. Zu jener Zeit war Ganna aber noch nicht aus den Fugen. Ich hätte sie noch in die Gewalt bekommen können, wenn ich aufmerksam, wenn ich wachsam, wenn ich härter gewesen wäre.
Doch war es damals noch außerordentlich schwer, sich gewissen bestrickenden Zügen ihres Wesens zu entziehen, ihren drolligen Vergeßlichkeiten, ihren närrischen kleinen Tölpeleien, ihrer Traumverfangenheit. Das hatte alles noch den Reiz der Jugend und wurde durch das Glück verschönt, von dem sie noch getragen war.
Sie liegt mitten in der greulichen Unaufgeräumtheit ihres Schlafzimmers selig hingegossen auf dem Diwan und versieht Goethes Italienische Reise mit Bleistiftstrichen und Marginalien. Im Kinderzimmer brüllt der Säugling, denn sie hat indessen das zweite Kind geboren, meine Tochter Elisabeth, im Wohnzimmer hackt Ferry auf dem Klavier herum, im Flur liefern sich Köchin und Hausmädchen eine Schlacht, in der Gartenveranda unten keift Frau Ohnegroll mit der Stimme eines boshaften Kläffers. Dies alles berührt Ganna nicht. Sie hört es nicht. Sie schwelgt im Geiste. Da fällt ihr zufällig nach außen dringender Blick auf eine Rose, die ich ihr den Tag zuvor gebracht. Sie lächelt, erhebt sich und trägt das Glas mit der Rose zu ihrem Toilettenspiegel hinüber. Jetzt hat sie zwei Rosen, im Spiegel ist noch eine ...
Oder dies. Es ist Mai. Der Begriff »Mai«, gleichviel, wie das Wetter sein mag, ist für Ganna nicht zu trennen von den Begriffen »Sonne« und »blauer Himmel«. Infolgedessen geht sie in einem dünnen Sergekleid und mit einem gebrechlichen Miniaturschirm ins Freie, wo ein eisiger Nordwind weht und alle Viertelstunde ein Regenschauer niederprasselt. Tut nichts. In ihrer Vorstellung ist »Mai«. Sie kommt zu einem Obststand und gewahrt die ersten Kirschen des Jahres. Herrlich, denkt sie, ich werde für Alexander Kirschen kaufen. Sie ersteht ein Pfund Kirschen. Man reicht sie ihr in einer Papiertüte. Diese hat aber unten ein Loch, und indes sie träumerisch heimwärts wandelt (wenn sie allein ist, braucht sie sich nicht zu »hetzen«, da »genießt« sie das Gehen), indes sie also die eingebildete Mailuft »genießt«, fällt Kirsche um Kirsche durch das Loch in der Tüte. Einige Leute drehen sich nach ihr um und grinsen. Das Trottoir hinter ihr ist in regelmäßigen Abständen mit roten Kirschen betüpfelt. Eine mitleidige Frau macht sie endlich aufmerksam. Wer vermöchte ihren Schrecken zu schildern! Gott sei Dank, die Straße ist nicht sehr belebt; sie geht zurück und sammelt die Kirschen sorgsam wieder auf ...
Ja, eine weltfremde, tapsige, rührende Ganna. Eine Ganna, die man vor Beschädigungen und Wunden bewahren möchte. Wäre nur nicht der Krater im Untergrund, das aus der Tiefe herauflangende finstere Element, von dem man nie weiß, wann es losbrechen und was für Unheil es anrichten wird.
Mit Irmgard hatte ich mich immer mehr angefreundet. Aus flüchtigen Gesprächen waren ernsthafte geworden, danach hatten wir uns zu gemeinsamen Ausflügen zusammengetan, denn im Gegensatz zu Ganna war Irmgard eine ausgezeichnete Fußgängerin und Touristin. Sie hatte, ebenfalls im Gegensatz zu Ganna, eine geringe Meinung von sich und war mir dankbar für die Mühe, die ich mir gab, ihr Lebens- und Selbstgefühl zu kräftigen. Dessen bedurfte sie am meisten, obgleich sie ein fester und bestimmter Charakter war; doch hatte sie als Weib schon verschiedene Enttäuschungen erlitten, die sie mutlos gemacht hatten. Sie hatte eine besondere Art von Schönheit. Sie sah aus wie gewisse Plastiken von ägyptischen Prinzessinnen.
Eigentlich stand es mit uns so, daß wir uns jeden Augenblick hätten ineinander verlieben können. Es geschah nicht. Was es verhütete, war ein Etwas, das zwischen uns war, wie ein von Ganna gezogener Zauberstrich. Irmgard hatte altmodische und sehr ehrenhafte Begriffe von ehelicher Liebe und Treue. Außerdem: Der Mann der Schwester; der Gedanke ließ sie zurückschaudern. Auch ich wagte nicht, den Zauberstrich zu überschreiten. Gannas Argwohn wecken hieß eine Feuersbrunst entfachen. Schon lauerte der Argwohn. Sooft Irmgard davon sprach, zitterte sie wie ein Kind im Finstern, und mir erging es nicht viel besser. Immer wieder betonten wir voreinander die Reinheit unserer Gefühle und waren im Darauf-Achten so zurückhaltend, daß jeder Händedruck eine eigene Kühle, jeder Gruß eine überlegte Vorsicht bekam; dennoch schaute uns Ganna zu. Ganna stand unsichtbar daneben und paßte auf, daß ihr nichts von ihrer Sache gestohlen wurde, kein Blick, kein Hauch, kein Lächeln, kein Gedanke.
Vielleicht war es nur weibliche Neugier, ein bißchen Eifersuchtsneugier, die Irmgard eines Tages zu der Frage veranlaßte, was mich an Ganna feßle. Sie habe viel darüber nachgedacht und könne sich's nicht erklären. Ich wußte zuerst keine rechte Antwort. Dann sprach ich von Ganna als dem ordnenden Prinzip in meinem Leben. »Wieso«, fragte Irmgard verständnislos, »Ganna ordnend? Ganna?« Ich sah ein, daß ich dies Irmgard schwer begreiflich machen konnte. Nach einigem Überlegen fand ich den Ausweg und nannte zum erstenmal das geistige Bild mit Namen, zu dem mich Ganna inspiriert hatte; ich sagte, es sei ein neuer Typus, der weibliche Don Quijote. Irmgard schüttelte den Kopf. Es war ihr zu hoch. Sie kannte doch ihre Schwester Ganna. Die Laufbahn vom Sargnagel zur idealistischen Windmühlenkämpferin leuchtete ihr offenbar nicht ein. Zaghaft bemerkte sie, es sei wohl eine dichterische Hilfskonstruktion von mir. Ich leugnete es.
Ein paar Tage darauf kam Ganna zu Irmgard, pflanzte sich steif vor ihr auf und sagte im Ton eines Polizisten, der eine Verhaftung vornimmt: »Ich verbiete dir, mit meinem Mann zu flirten.« – Irmgard erwiderte unwillig: »Ich habe nicht gewußt, daß Alexander dein Gefangener ist.« – »Verschaff dir selber einen Mann und laß meinen gefälligst in Frieden«, fuhr Ganna fort; Irmgard sagte nachher bitter, sie habe den Ton eines Hökerweibes gehabt, das bei einem Straßenauflauf seinen Gemüsestand verteidigt; »die Versuche, hinter meinem Rücken mit ihm anzubandeln, finde ich unerhört«, rief Ganna aus. Sie hatte eine besondere Art, das Wort unerhört auszusprechen; der Ton lag langgedehnt auf der letzten Silbe. Irmgard konnte sich nicht helfen, sie mußte lachen. Sie wies nach der Tür: »Skandal kannst du bei dir zu Hause machen. Es scheint, du willst dich über Alexander beschweren. Ich bin aber seine Gouvernante nicht.« Als Ganna zornentbrannt gegangen war, konnte sich Irmgard wiederum nicht helfen: Sie weinte.
Nachdem sie mir den Zwischenfall erzählt hatte, fragte sie spitz: »Wie ist das nun mit dem weiblichen Don Quijote? Willst du mir verraten, wo du da eine edle Narrheit siehst, lieber Schwager?« Ich war verlegen. »Man darf Ganna nicht nach einzelnen Handlungen beurteilen«, erwiderte ich; »man muß sie als Ganzes nehmen, als die ungebändigte Natur, die sie ist. Ihre Irrtümer, ihre Leidenschaften, ihre Fehlschlüsse, dem allen liegt eine grandiose Einheitlichkeit zugrunde. Warum nicht, edle Narrheit? Ihr habt sie doch immer verspottet. Das Lächerliche steckt sehr tief, dort, wo sie mit Phantomen kämpft. Alles wird ihr zum Phantom: die Menschen, die Welt, du, ich, sie selber. Von der Wirklichkeit weiß sie gar nichts.« Irmgard sah mir mit ihrem ehrlichen Blick versonnen ins Gesicht. »Armer Alexander«, flüsterte sie. – »Warum armer Alexander?« – »Ach, ich meine nur so ...« – »Was meinst du?« – »Ich meine, vielleicht bist du es, der von der Wirklichkeit nichts weiß.«
Ich merke, daß Ganna lebhaft beunruhigt ist. Sie horcht, sie spioniert, sie sieht mich mit dem traurig forschenden Blick an, den die verlassenen Geliebten auf der Bühne haben. Um mich auszuholen, stellt sie mir schlaue kleine Redefallen. Wenn ich mich nicht fange, probiert sie es mit gröberem Geschütz. »Ich bin die unglücklichste Frau auf der Welt!« ruft sie aus und geht kreuz und quer durchs Zimmer, als wolle sie die Wände niederreißen. – »Du siehst Gespenster, Ganna, das Unglück existiert nur in deinem Kopf. Irmgard ist ein viel zu anständiger Mensch, um sich auf fragwürdige Abenteuer einzulassen.« – »Irmgard? Die geht über Leichen.« – »Aber Ganna?« – »Und du? Du würdest mich betrügen?« – »Es steht mir der Sinn nicht danach, Ganna.« – Sie wirft sich mir an die Brust. »Wirklich? Du schwörst es mir? Du schwörst, daß du kein Verhältnis mit ihr hast?« Ich muß lachen. Es ist so roh, wie sie es vorbringt, man fühlt sich wie auf die Nase geboxt; warum lacht man eigentlich? Sie nimmt meine Hand zwischen ihre beiden, besieht aufmerksam den Handteller und sagt mit einem Ausdruck, als sehne sie sich nach meinem Widerspruch, um das harte Urteil mildern zu können: »Die Herzlinie ist verkümmert. Hast du am Ende kein Herz, Alexander?« – »Ganz gut möglich«, entgegnete ich, »aber worauf du deutest, ist, soviel ich weiß, die Verstandeslinie.« – »So?« sagt sie erleichtert. »Gott sei Dank.«
Sie kommt zu dem Schluß, daß sie mir vielleicht etwas mehr zu bieten haben, als Frau verlockender sein müßte. Sie schafft sich für teures Geld ein mondänes Parfüm an und gießt gleich einen ganzen Kaffeelöffel voll über sich aus, was des Guten entschieden zuviel ist. »Ich bin nicht raffiniert genug«, klagt sie mit einem Unterton von Stolz, »ich habe kein Talent zur Kokotte.« – »Nein, das hast du in der Tat nicht, Ganna«, bestätige ich und nehme die Gelegenheit beim Schopf, ihr zu sagen, daß sie immerhin zu Hause nicht schlumpig herumgehen müsse, wie sie zu tun pflegt. Sie zieht es sich zu Gemüt und kauft für bare fünfunddreißig Kronen einen falschen japanischen Kimono, in dem sie aussieht wie der Sarastro in der Zauberflöte. Aber die Pantoffeln, die sie zu dem Prachtstück trägt, sind schmierig und zertreten, und da sie die Strümpfe nicht befestigt, solange sie sich nicht zum Ausgehen fertigmacht, hängen sie ihr herunter und schauen unten aus dem Kimono hervor wie leere Wursthäute. Als sie meine Mißbilligung wahrnimmt, sagt sie ungehalten: »Ja, gut, die Bänder sind abgerissen, aber das hat doch mit dem Menschlichen nichts zu tun.« Natürlich nicht, ich hatte es auch nicht behauptet. Aber das »Menschliche« ist doch kein Geheimfonds, aus dem man nur in gehobenen Stunden schöpft, und im übrigen der Permiß für falschen Kimono, zerlumpte Pantoffeln und nachschleifende Strümpfe ...
In dieser Zeit stellt sich folgendes bei Ganna ein. Wenn tagsüber ein Streit, eine Meinungsverschiedenheit zwischen uns geherrscht hat, verdichten sich ihre Bitternisse und Unzufriedenheiten, die beständig zunehmen, im Schlaf, und sie befreit sich von ihnen in Form einer Explosion. Dann schreit sie. Es ist in der Regel ein einmaliger, gellender, fürchterlicher Aufschrei, der durchs ganze Haus schallt und alle Bewohner aus dem Schlaf schreckt. Nach und nach wird dieser Schrei zu einem grauenhaften Ereignis für mich, zu einem lebensverfinsternden Einschnitt. Ich erwache, wenn er ertönt, in einer Art, als ob mir eine lange Nadel von einem Ohr zum andern durch den Schädel getrieben würde. Ich beuge mich im Finstern über sie, ich frage, ich will sie beruhigen. (Späterhin, als wir nicht mehr im gleichen Raum schliefen, stürzte ich, aufgeschreckt von dem Schrei, in ihr Schlafzimmer, während mir kalte Schauer über den Rücken liefen; manchmal kam mir der böse Verdacht, daß sie mich durch das gräßliche Röhren an ihr Bett zwingen wollte; sicherlich nicht bewußt; aber um nicht allein zu sein; um mich nicht vergessen zu lassen, daß sie vorhanden sei und meinen Lebensraum ausfülle; aus Eifersucht auf meinen Schlaf; wer konnte das bei ihr ergründen?) Sie erzählt mir den Traum, der in dem Schrei gegipfelt hat. Seltsame Träume sind es oft, Träume einer martersüchtig ans Schicksal verratenen, ausblicklosen Seele; Träume, die etwas Finsteres und Urweltliches haben, etwas Abstruses wie alles an ihr, was unterhalb ihres Wachseins vorgeht. Sie hat zum Beispiel von Irmgard geträumt, die rothaarig und mit blutendem Mund vor ihr stand; und der Mund war darum blutig, weil sie Gannas Herz in der Hand hielt und von Zeit zu Zeit hineinbiß wie in einen roten Apfel.
Die ich in Armen halte, um ihr Zuspruch zu spenden, ist die Mutter meiner Kinder, nicht das Weib, nicht die Gattin. Ihre aufgesammelten Schmerzen, Klagen und Vorwürfe ergießen sich wie ein Katarakt. In ihrer fieberhaften Beredsamkeit kommt sie vom Hundertsten ins Tausendste, vermengt Gestriges mit längst Vergangenem, Eingebildetes mit Wahrem und Halbwahrem, und wenn ich die eine Beschuldigung widerlegt habe, beginnt sie mit einer dreimal widerlegten von vorn. Es ist so unheimlich, wie wenn jemand, ohne das gewebte Muster zu kennen oder anzuschauen, die wirren Fäden auf der Rückseite des Teppichs mit wunden Fingern aufdröselt. Ihr Hirn ist ein Behältnis für alle unreinen Wässer, die im Verlauf von Tagen hineingeströmt sind und jetzt überlaufen. Irmgard und immer wieder Irmgard. Wo ich sie getroffen, wie lange wir beisammen gewesen, wovon wir geredet. »Wenn du mich hintergehst, Alexander, ich weiß nicht, was dann passiert, ich nehme mir das Leben.« Dann: Daß ich ihre Autorität bei den Dienstleuten untergrübe. – »Du hast ja keine Autorität, Ganna.« – Ich widerriefe ihre Anordnungen. – »Gewiß, wenn sie unsinnig sind.« – Hätte ich mir nicht vorgestern seelenruhig die Frechheiten angehört, die das Fräulein zu sagen gewagt? – »Ich konnte dir nicht beistehen, du hast sie behandelt wie einen Hund.« Die Antwort macht sie rasend; »na, weißt du, Alexander, na, weißt du ...« Unaufhaltsam sprudeln die unreinen Wässer aus ihr heraus, in die Dunkelheit starrend, meine ich, der Kopf müsse mir springen. Nun kommt das Budget an die Reihe. Daß ich keinmal mit dem Taschengeld auslange; daß das Kapital von Jahr zu Jahr schmelze wie Schnee in der Sonne; daß der Schuft, der Fürst, noch keinen Heller zurückgezahlt habe. Ob ich die Kinder dem Elend preisgeben wolle? Und meine Kälte, meine Lieblosigkeit. »Aber Ganna! Ganna! Ich und lieblos!« – Ja; wo ich nur könne, verleugnete ich sie; ließe mich von meinen aristokratischen Bekannten einladen und ginge heimlich hin. Schämte ich mich denn ihrer? »Sag mir offen, Alexander, schämst du dich meiner?« – Um mich dreht sich alles. »Schlaf endlich«, sage ich, »sei endlich still ...«
Im Sommer 1905 starb Professor Mewis an einem Herzschlag. Gannas Schmerz war seltsam ungebärdig. Bis dahin war sie vom Schicksal so verwöhnt worden, daß sie dem Tod gewissermaßen noch keine Beachtung geschenkt hatte. Wie konnte sich der Tod erlauben, und so jählings noch dazu, das geheiligte Haupt der Familie Mewis zu fällen? Sie begann, mit dem Verstorbenen Abgötterei zu treiben. Sie sammelte Reliquien, sammelte Bilder und Aussprüche von ihm. Sie wob Legenden. Sie ging mit dem Plan um, seine Biographie zu schreiben. Sie gab sich zum Ärger der Schwestern für seine Lieblingstochter aus; und daran glaubte sie selbst unverbrüchlich.
Doch der Herr war nicht mehr, der Mann mit der Eisenfaust. Dessen Name, nur genannt, sie innerlich hatte aufmerken lassen. Der Bilder- und Götzendienst war der letzte Respektszoll, den sie ihm erwies. Nun brauchte sie keinen Herrn mehr zu fürchten.
Bald nach dem Tod des Professors mußte Frau Mewis, immer für ein paar Monate des Jahres, in einer Anstalt interniert werden. Das Wrack war dem Druck des Wassers gewichen. Das Aufhören des seelischen Zwangs hatte die Krankheit frei gemacht. Ganna besuchte die Mutter wöchentlich ein- oder zweimal. Jedesmal quälte sie mich, ich solle sie begleiten. Eines Tages ging ich mit ihr. Wir wurden in einen Raum mit vergitterten Fenstern geführt. In einem Lehnstuhl saß die Irre und zerriß mit sonderbarer Wildheit eine Zeitung in kleine Fetzen. Sie mußte stets etwas zerreißen oder zerstören, Briefe, ein Buch, ein Kleidungsstück. Manchmal beschmierte sie auch die Wände mit Unrat.
Sie bezeigte keine Freude über unser Kommen. Mit hektisch glänzenden Augen und heiserer Stimme beschwerte sie sich, daß man sie widerrechtlich gefangenhalte; sie habe deswegen an Seine Majestät den Kaiser geschrieben. Ganna sprach zärtlich auf sie ein, mir waren die Lippen versiegelt. So sympathisch mir die alte Dame in ihren ruhigen Tagen war, so abstoßend fand ich sie jetzt, so hassenswert in ihrer Krankheit. Der kranke Geist erregt nicht Mitleid wie der kranke Körper, sondern Furcht und Abneigung. Daß in den Adern meiner Kinder etwas vom Blut dieser Verstörten floß, war mir ein schlimmer Gedanke. »Ist er immer so auf den Mund gefallen, dein Herzallerliebster, oder hast du ihn erst so weit gebracht?« wandte sie sich mit anzüglichem Feixen an ihre Tochter. Ganna betrachtete dies als Aufforderung, ein Loblied auf mich und unsere Ehe anzustimmen. Darauf begann die Kranke in peinlich übertriebenen Ausdrücken von meinem letzten Buch zu schwärmen und versicherte, sämtliche Patienten des Hauses hätten es mit Begeisterung gelesen. Ich konnte es nicht mit anhören. »Wir wollen gehen, Ganna«, drängte ich. Als wir vors Tor traten, verabschiedete ich mich hastig von ihr und rannte davon.
Dahinter liegt sehr viel Inhalt. Es geht bis in die Nerven, in die Stimmung, bis in die Umarmung. Am deutlichsten zeigt es sich natürlich in Gang und Schritt. »Geh mit uns spazieren«, bittet Ganna, »laß die Verabredungen sein, geh mit mir.« Ich willfahre ihr. Aber das froh begonnene Unternehmen endet in Hader und Mißvergnügen. Sie ist keiner körperlichen Anstrengung gewachsen, will es jedoch nicht wahrhaben und bezichtigt mich, ich ermüde sie absichtlich, um ihre Untauglichkeit beweisen zu können. Ich lasse den häßlichen Anwurf unwidersprochen, ich kann nicht allen ihren Beschuldigungen widersprechen, die Ganna-Dialektik bringt einen um den Verstand. Mit ihr in die Landschaft wandern, schön. Aber die Lust vergeht mir schon, wenn sie ihre Vorbereitungen trifft. Sie hält sich nicht an die vereinbarte Zeit. Ich will unbelastet sein, sie hingegen schleppt alles mit, was ihr unentbehrlich dünkt: ein Buch, einen dicken Mantel, eine Decke zum Lagern, den Schirm für etwa einfallenden Regen, auch wenn kein Wölkchen am Himmel ist, die umfängliche Tasche mit Mundvorrat, Notizblock, Salben, losen Blättern, und den Strohhut, der am Gummiband an ihrem Arm hängt. Sie kann nicht alles allein tragen, ich muß mitschleppen. Ich will marschieren, sie will schwelgen. Ich hasse es, die Gegend anzuschwärmen, sie ist verzückt über jeden grünen oder dürren Hügel. In ihrer Wonne schiebt sie ihren Arm in den meinen, aber da mich dies zwingt, mit ihr Schritt zu halten, das heißt, nachdenksam Fuß vor Fuß zu setzen wie ein Invalide, reiß' ich mich ungeduldig los und eile voraus. (Denn ich ging so schnell, wie ich schnell atmete, schnell aß und schnell lebte; wie konnten wir da zur Gleichart und Gleichbewegung gelangen? Es war eine organische Unmöglichkeit.) Da bricht nun Gannas Erbitterung aus. Eine Frau, die zwei Kinder geboren und jedes acht Monate lang gestillt habe, verdiene Rücksicht und nicht ein so rüpelhaftes Benehmen wie das meine, so unglückliche Mienen, so herzloses Drängen und Jagen. Es ist wahr; ich bin nicht schonend genug; ich lasse sie die physische Schwäche fühlen; ich bin nicht ritterlich genug; es ist wahr. Hätte sie nur das vom Kindergebären nicht gesagt. Kindergebären und Stillen ist in ihren Augen dasselbe, was für einen Feldherrn die gewonnenen Schlachten sind, preiswürdige Taten, für die sie mit dem Materdolorosa-Kranz zu ehren ist, als ob Kinder nur mittels einer geheimnisvollen Tücke des Mannes erzeugt würden und die Frau, als unschuldiges Opfer, lebenslange Tributleistung für den schnöden Vertrauensbruch zu fordern habe. Wenn Ganna einmal eine dialektische Bastion erobert hat, stürmt sie unverdrossen vorwärts. Warum, so fragt sie in den Himmel hinauf, ist gerade ihr das Los beschert worden, an der Seite eines rohen Egoisten leben zu müssen, ihr, die so lächerlich bescheiden ist, die sich längst, Gott ist ihr Zeuge, längst abgewöhnt hat, etwas für sich zu wollen, die Tage und Tage mutterseelenallein zu Hause hockt, während er sich seine Zerstreuung anderswo verschafft ...
Es mag wahr sein, Ganna, manches mag wahr sein, aber hör doch endlich auf, schau doch, wie die Leute uns nachgaffen. Sie hört nicht auf, den ganzen Nachhauseweg nicht, beim Abendessen nicht, es ist ein eiferndes Gegrolle, ein schaurig-einfältiges Gewebsel, bisweilen schweig' ich, bisweilen braus' ich auf, ich kann mich nicht immer meistern, ich kann vor allem Ganna nicht meistern, es ist alles zweierlei, zweierlei Fühlen, zweierlei Schauen, zweierlei Tempo. Schließlich weiß ich mir keinen andern Rat mehr, als daß ich mich an den Flügel setze, ein Notenheft aufschlage und mit ungeschickt stolpernden Fingern, jeden Lauf, jedes Allegro erschwindelnd, ein Chopinsches Prélude, ein Stück aus den Davidsbündlern heruntertrommle. Auf einmal ist Ganna wie verwandelt. In einem Sessel liegend, lauscht sie mit den groß geöffneten Augen eines betenden Kindes. Was reizt mich eigentlich daran, sie mit meinen elenden musikalischen Stümpereien in Begeisterung zu versetzen? Vielleicht, weil da das zweierlei Tempo zum rhythmuslosen Chaos wird? Weil sie dann Abbitte leistet und mich herzt und auf Knien vor mir liegt? Der Unterschied zwischen uns war der: Sie vergaß alles, von einer Stunde zur andern, wie nur Engel oder Dämonen vergessen, ich vergaß nichts, in Ewigkeit nichts. Dabei wurde es immer dunkler in meinem Gemüt.
Aus der Zeit, da Irmgard sich mit dem Bergwerksingenieur Leitner verlobte, finde ich folgende Eintragungen in meinem Tagebuch: »Für Irmgard war ich nur ein Ruhepunkt, Station für ihre Sehnsucht. Seit sie mich aufgegeben hat, ist es, als hätte sie sich selbst aufgegeben, etwas Welkes liegt über ihr. Wer sich aber selbst aufgibt, dem kann kein Gott mehr helfen, nur die beflügelte Seele bleibt jung, ihr ist die Liebe eingeboren, sie braucht sie nicht zu empfangen, sie gibt, weil sie hat, und ihre Bekümmernis kommt aus der Fülle, nicht aus dem Mangel.« Und die andere: »Es gibt eine Traurigkeit, daß man sich der Länge lang auf die Erde legen möchte, um zu weinen; daß man mit einer wunden Zunge redet; daß die Luft wie ein Gebirg auf den Schultern wuchtet. Und doch ist alles nach der Natur der Dinge verlaufen. Wie schön, wenn zwei Menschen in Freiheit nebeneinander gehen und gleichsam im Bilde einander gehören. Dann ist auch im Schmerz des Verlustes ein bitterer Wohlgeschmack, und was so unbestimmt und unbeschwert hingeglitten ist zwischen Leidenschaft und Geschwistergefühl, ist noch nicht einmal zerschellt, weil es sich golden in die Erinnerung geschmeichelt hat. Meine Angstträume jede Nacht! Gestern abend im Park, nachdem wir uns zum letztenmal ausgesprochen und sie unbeweglich und mit weißem Gesicht vor mir stand, flog ein leuchtender Meteor in ungeheuerem Bogen über den Himmel ...«
Seit auch die jüngste Schwester Traude geheiratet hatte, ihr Mann war ein Berliner Industrieller namens Heckenast, fühlte sich Irmgard als allein Übriggebliebene nicht mehr wohl zu Hause. Und so griff sie zu, als der sympathische und kluge Leitner um sie warb. Mein Gefühl für sie hatte nichts an der ursprünglichen Frische eingebüßt, obgleich ich zu dieser Zeit begonnen hatte, mit anderen Frauen in Beziehung zu treten. Ihr Bild war mir teuer. Ich war sehr abhängig von Frauen. Ohne erotischen Rausch, ohne die zauberische Verstrickung der Sinne lebte ich nur halb. Irmgard wußte es. Sie erhob niemals einen Anspruch auf mich. An jenem Abend, von dem ich gesprochen habe, haschte ich nach einem langen Schweigen nach ihrer Hand und preßte meine Lippen darauf. Sie zuckte erschrocken zurück. Plötzlich fragte sie, nur so vor sich hin: »Wie stehst du eigentlich mit Ganna?« – Ich erwiderte: »Es hat sich nichts verändert. Es kann sich nichts verändern.« – Und sie: »Hast du nie daran gedacht, dich von ihr zu trennen?« – Ich schüttelte den Kopf. Ich sagte, der Gedanke sei mir nie gekommen; mir wäre, fügte ich hinzu, als ginge ein solcher Entschluß ans Leben. – »Aber du betrügst sie doch fortwährend«, flüsterte sie mit leiser Verachtung, »und zugleich schläfst du mit ihr ... Machst ihr ein Kind nach dem andern ... Was denkst du dir dabei?« – »Du hast recht«, gab ich bedrückt zu, »trotzdem ... meine Ehe mit Ganna steht über jeder Diskussion. Abgesehen von den Kindern ... Es ist da etwas ... Ich kann's dir nicht erklären, du mußt die Tatsache nehmen, wie sie ist.« – »Mit den andern spielst du also bloß?« – »Unsinn, Irmgard. Du weißt sehr gut, daß ich nicht mit Menschen spiele. Versteh mich doch, es ist ein mystisches Band.« Genau das sagte ich. Irmgard antwortete mit einem scheu zweifelnden »Ja«? Sie glaubte mir nicht. Sie fühlte aber weder die Kraft noch das Verlangen in sich, mich in dem Glauben an das »mystische Band« irre zu machen. Vielleicht wollte sie auch nicht zu denen zählen, die mir die Gewissenskonflikte erleichterten, indem sie das »mystische Band« nicht berührten. Doch täuschte sie sich, wenn sie annahm, dieses Band existiere in Wirklichkeit gar nicht. Es war da. Es bestand aus Schuldgefühl und Gespensterangst. Es war durchwirkt von der Ahnung kommenden Verhängnisses, denn ich glaube, ich gehöre zu den Menschen, die ihr zukünftiges Geschick unwissend-wissend als lebendige Substanz in sich tragen.
Entsinne ich mich recht, so fiel meine sinnliche Abkehr von Ganna ziemlich genau in die Zeit, da wir die Villa Ohnegroll verließen. Die Wohnung war zu klein geworden, und wir zogen in ein Mietshaus am nördlichen Rande der Stadt, im Weinberggelände am Fuß des Kahlenbergs. Dort war vorerst nur der Halbstock frei; es war im November, als wir einzogen, und bis zum Mai mußte ich mit meiner Arbeit abermals in einer Dachkammer Zuflucht suchen. Ich war nicht ungehalten darüber. Ich schlief und lebte unterm Dach wie in einer Sonderwelt. Die Decke war so niedrig, daß ich sie mit dem ausgestreckten Arm berühren konnte. Wenn ich die eiserne Tür hinter mir verriegelt hatte, war ich mit meinen Gebilden unerreichbar allein. Als ich dann nach Monaten in den Ganna-Bezirk übersiedelte, war mir längst nicht mehr so wohl, obgleich ich in einem abgetrennten Trakt hauste. Es war eine wachsende Friedlosigkeit um Ganna. Sie lag im Kampf gegen alle Menschen. Sogar mit dem Hausmeisterehepaar hatte sie beständig Streit, entweder wegen Benützung der Waschküche oder zu zeitiger Torsperre oder Verhetzung einer Köchin oder verleumderischer Reden in der Nachbarschaft. Immer war etwas los. Immer mußte ich vermitteln, beschwichtigen und Abbittgänge machen. Und an schönen Abenden vollführten die Volkssänger in den Weinschenken der Umgebung einen rührseligen Lärm. Was blieb mir anderes übrig, als das Haus zu fliehen, wenn mir unbehaglich darin wurde?
Als Ganna allmählich die Gewißheit erlangte, daß ich ihr nicht mehr treu war, erregte ihr dies großen Kummer. Was aber in ihrem tiefsten Innern dabei vorging, habe ich nie ganz erfahren können. Manchmal traf ich sie in Tränen, manchmal kam es zu einem erbitterten Ausbruch, manchmal schien es mir, als finde sie sich ab und habe beschlossen, meine Seitensprünge zu dulden, ungefähr, wie viele Frauen es hinnehmen, daß der Mann ins Wirtshaus geht. Da ich, um sie zu schonen, meist sehr heimlich verfuhr, tröstete es sie, wenn sie die Betreffende nicht kannte. Sie redete sich dann ein, daß auch andere Menschen sie nicht kannten. Und war dieses Versteckenspiel nicht aufrechtzuerhalten, so hatte sie einen anderen Trost; sie sagte sich, es handle sich ja nur um eine »Geliebte«, Trägerin einer Nebenfunktion. Denn sie, Ganna, war die angetraute Frau. Daran war nicht zu rütteln. Auch war der Welt der Glaube beizubringen, daß sie, Ganna, bei meinen Liebesverhältnissen gewissermaßen die Oberaufsicht führte. Sobald nun ein neues weibliches Wesen in meinen Lebenskreis trat, das meine Gedanken und mein Herz gefangennahm, suchte Ganna vor allen Dingen die Gefährlichkeit der Rivalin festzustellen, das heißt, bis zu welchem Grad Gannas Besitzrechte unangetastet blieben. Ihr Gesamtverhalten entwickelte sich dann nach den Richtlinien einer Hauspolitik. Es war ungemein seltsam, wenn sie denen, die ihr nahestanden, auseinandersetzte (oft wurde mir dies zurückerzählt), ein Mann wie ich müsse seelisch verarmen ohne frische Zufuhr von Erlebnissen; es sei wichtig für sein Schaffen, daß er nicht in der Familie einroste, zudem plage er sich mit seiner Arbeit so erbärmlich, daß man ihm einige Zerstreuungen gönnen müsse. Das ergab, wenn ich es klar hätte beurteilen wollen, wovor ich mich hütete, eine Praxis, die im Grunde auf eine literarische Kapitalsanlage der Liebeserlebnisse hinauslief. Was auf der einen Seite an Leidenschaften, an Zeit, auch an Geld, zum Beispiel für Reisen und Geschenke, verausgabt wurde, kam auf der anderen in gedichteter Form mit Zins und Zinseszins wieder herein. Jede Seelenbewegung, jeder Aufschwung setzte sich um in den Stoff zu einem Buch; das Buch wird gedruckt und bezahlt, und hat es gar noch Erfolg, so sind die Unkosten reichlich gedeckt. Das war Gannas Einsicht. »Man muß Einsicht haben«, sagte sie und ermahnte mich nur, nicht allzuviel von mir herzugeben, ihr zuliebe, als werde das Soll und Haben in ihrer Buchführung durch erotische Vergeudung ungünstig beeinflußt; »alle diese Frauen sind Vampire, sie wollen dir das Blut aus den Adern saugen«, warnte sie mich, und zum Beweis dessen, daß entartete Weiber ihr Vernichtungsgeschäft an arglosen Männern in alter und neuer Zeit ungehindert betrieben hatten, las sie mir gelegentlich einschlägige Stellen aus der Christlichen Mystik von Görres vor.
Ob Ganna sich innerlich grollend ins Unvermeidliche ergab oder ein Auge zudrückte, hing natürlich auch von meiner jeweiligen Freundin ab. So erregte die schöne Belgierin Yvonne ihr besonderes Wohlgefallen, weil sie ihr bei den spärlichen Besuchen in meinem Hause mit ängstlicher Rücksicht entgegenkam. Man hatte ihr ein Wort Yvonnes zugetragen, das sie entzückte, vielleicht nur, weil sie dessen tieferen Sinn nicht erfaßt hatte. »Niemals würde ich es wagen, dieser Frau den Mann abspenstig zu machen«, hatte sie gesagt, »daraus würde das schrecklichste Unheil entstehen.« Yvonne wußte wohl schwerlich, wie prophetisch ihre Äußerung war. Sie gestand mir einmal, Ganna sei der beunruhigendste Mensch, der ihr je begegnet sei. Es kam vor, daß sie sich so verstört aus meinen Armen löste, ganz plötzlich, wie wenn ihr Gannas winzige Faust die Kehle zugedrückt hätte. Als ich ihr vorschlug, ich wolle mit ihr reisen, wohin sie wolle, für wie lange sie wolle, erbebte sie und hauchte entsetzt: »Um Gottes willen nicht. Du mußt bei ihr bleiben. Für mich wärst du doch immer bei ihr.« In diesem Fall war Ganna ihrer Sache sicher. Ihre Schwester Justine erzählte mir eines Tages spöttisch, Ganna habe ihr mit einem diskretseinwollenden Alkovenlächeln mitgeteilt: »Denk dir, er hat jetzt ein Verhältnis mit einer belgischen Komtesse.« Sogar die etwas stumpfe Justine war von dieser sonderbaren Prahlerei unangenehm berührt, und mich betrübte und empörte sie.
Wenn meine Freunde, die dieses lesen, den Kopf schütteln sollten, wird niemand ihre verwunderte Mißbilligung besser verstehen als ich. Ich höre sie fragen: Wie hast du es ausgehalten? Hast du keine Ahnung gehabt von der furchtbaren Gefahr, die du blind neben dir, hinter dir, um dich herum wachsen ließest? Wie war es vereinbar mit deinem Gefühl für Wahrheit und Anstand, daß du die Frau immer tiefer ins seelische Leiden und in die Lebensunsicherheit gestoßen hast? Denn ein Leiden war es doch, mochte sie sich in ihrem unzerstörbaren Optimismus noch so sehr darüber täuschen. In dem ganzen Verhältnis war doch Lüge; etwas in deiner Existenz war doch morsch ... Wie konntest du sie fortführen?
Das alles trifft nicht zu. Man darf das Bild, das ich hier male, nicht mit dem verwechseln, das ich in jener Epoche meines Lebens sah. Es ist schwer genug, die Erfahrungen von weiteren zwanzig Jahren, die dazwischen liegen, halbwegs auszuschalten, so daß eine zeitbedingte Wahrheit entsteht von dem Ausmaß, wie ich sie in meiner damaligen Lage erkennen konnte. Das Schicksal verfährt oft mit uns wie der Verfasser eines Detektivromans. Stück für Stück und Schritt für Schritt enthüllt es uns einen Sachverhalt, der uns bis zur endgültigen Aufhellung verborgen war, und die Überraschung, die wir dann erleben, rührt nur davon her, daß mit unserm Scharfsinn und unserer Urteilskraft ein geschicktes Spiel getrieben wurde.
Ich hatte ja einen unerschütterlichen Glauben an Ganna. Wenngleich es mich immer häufiger zu andern Frauen trieb und ich einer sinnlichen Verlockung nie widerstehen konnte, blieb ich ihr doch in einer mir selbst rätselhaften Weise verbunden, und diese Verbundenheit, die bei ihr mit der Gewalt einer Naturkraft in Erscheinung trat, war ein ehernes Gesetz, das mein Dasein bestimmte. Unmöglich, dagegen zu wirken, unmöglich, es zu übertreten. Alles andere konnte nur zeitweilige Abirrung sein. Dies beteuerte ich ihr auch, und die wiederholte heilige Beteuerung bestärkte ihr Sicherheitsgefühl und machte sie zügellos. Aber wenn sie auch noch so verwegen die Grenzen überschritt, die ihr gezogen waren, und diese Verwegenheit nahm allerdings von Jahr zu Jahr zu, so änderte dies doch nichts an meinem inneren Vertrauen, an meiner Bewunderung für die Außergewöhnlichkeit ihres Charakters, an dem Glauben an ihre geistige und seelische Kameradschaft, um so weniger, als ich dergleichen Übergriffe oft nicht einmal sah oder als solche erkannte. Es ereignete sich unter anderm, daß sie ohne mein Vorwissen in einer deutschen Wochenschrift einen umfänglichen Aufsatz über mich und mein Werk veröffentlichte, eine verständige und ganz lesenswerte Abhandlung, wennschon mit den gängigen ästhetischen Floskeln jener Zeit reichlich gespickt. Einige meiner Freunde machten mich auf die Bedenklichkeit eines solchen Vorgangs aufmerksam; die Ehefrau eines Schriftstellers könne doch nicht als Dolmetsch seiner Ideen auftreten, meinten sie. Dem widersprach ich. Der Essay sei glänzend geschrieben, hielt ich ihnen entgegen (das war er nicht), und wer wolle der Gattin verbieten, sich objektiv und würdig über das Schaffen des Gatten zu äußern? Ich war nicht sehr überzeugt von der Triftigkeit meiner Argumente, aber ich konnte ja Ganna nicht im Stich lassen.
Noch mehr erstaunten die mir Nahestehenden, als mein Buch »Die sieben Totentänze«, an dem ich volle vier Jahre gearbeitet hatte, mit einer feierlichen Zueignung an Ganna erschien, worin sich der Dank für die Helferin und Versteherin mit dem Ausdruck der Liebe für die Gattin und Gefährtin vereinigte. Diese Verherrlichung Gannas geschah aufrichtigen Herzens. Ich habe nie eine Zeile niedergeschrieben, in der ich mich verleugnete, bin nie imstande gewesen, ein Gefühl schönfärberisch zu überschminken. Es war ein freies Geschenk, das ich ihr damit darbrachte; und doch, es gibt Geschenke dieser Art, die durch geheimnisvolle Mittel erzwungen werden, sei es nur durch die ständige stumme Erwartung, die stumme Forderung einer Wiedergutmachung. Und dann: Die Ganna in meinem Leben und die Ganna in meiner Phantasie waren zwei grundverschiedene Wesen. Verschmolzen wurden sie jeweils durch meine Dankbarkeit oder, was ich so nannte, ein fließendes, dunkles Gefühl von Verpflichtung und Verschuldung. Das kam zu allem andern noch hinzu und hörte nicht auf, mich zu quälen. Unbegreiflich warum, da ich ja, wenn überhaupt eine Schuld zu begleichen, ein Dank abzustatten war, sie tagaus, tagein, jahraus, jahrein mit meiner ganzen Person, meinem ganzen Sein bezahlte. Es war, wie wenn ein längst freigesprochener Angeklagter nicht müde wird, dem Staatsanwalt die Beweise seiner Unschuld zu liefern. Diese martervolle Seelenverfassung führte dazu, daß ich die Ehe zu einem sittlichen Postulat erhob, dem keine Wirklichkeitsfolge entsprach; daß ich Ganna in eine luftleere Höhe hinaufidealisierte und ihr aus der Ferne, auf meinen vielen Reisen, die ergebensten, sehnsüchtigsten Briefe schrieb. Ich erdichtete eine schier überweltliche Bindung an sie und übersah, daß der irdische Mensch Alexander Herzog keinen festen Boden mehr unter den Füßen hatte. Ich erhob Ganna zu einem Prinzip, zu einer Idee, sie und die Kinder waren eins, drei Herzen, die in meinem drin schlugen und denen ich dienstbar zu sein hatte zeit meines Lebens. Das wußte Ganna. Sie baute darauf. Der Grund, auf dem sie baute, erschien ihr tragfähig genug für die schwerste Belastung.
Die Sorgen bringen Ganna um den Schlaf: Von der stattlichen Mitgift ist kaum mehr der zehnte Teil vorhanden. Das abgemagerte Konto beleuchtet wie ein von letzten Holzresten gespeistes Feuer eine leichtsinnige Lebensführung, ein frevelhaftes Vertrauen auf fürstliche Einkünfte, eine Lotteriewirtschaft mit einem Wort. Die Einkünfte aus meinen Büchern sind zwar nicht unerheblich, kommen aber gegen den Verbrauch nicht in Betracht. Die Hoffnungen, die ich auf sie setze, eilen immer dem Erfolg weit voraus. An einen Ersatz des Heiratsgutes, womit sich Ganna beim Beginn der unsoliden Gebarung getröstet hat, ist nicht zu denken.
Infolgedessen sieht man sie wie einen verhärmten Kanzlisten tagtäglich über Rechnungen und Belege gebeugt und mit gerunzelter Stirn in dem riesigen Haushaltungsbuch, das sie sich angeschafft hat, Zahlenreihe um Zahlenreihe addieren. Nebst den bedeutenden Ausgaben für Miete, Löhne, Reisen, Versicherungen, Küche und Kleidung handelt es sich dabei um endlose kleine Posten und Pöstchen für Seife, Zwirn, Trambahnfahrten, Bettler, Briefmarken, Stiefelbesohlung; jeder Heller wird aufgeschrieben. Ich sage: »Ganna, du machst dir doch überflüssige Arbeit, leg doch ein Sammelkonto für all das Nebenbei an.« Das will sie nicht. Die pedantische Genauigkeit hat ihren Grund: Es fehlt Ganna am Überblick im Großen, und sie verbirgt sich diesen Mangel durch eine Aneinanderreihung des Kleinsten. Sie muß tausend Nichtigkeiten im Kopf behalten, und wenn es dabei zu Verwirrungen kommt, sind sie nicht verzeihlich bei einer Frau, die nie ohne einen Band Nietzsche oder Novalis zu Bett geht und achthaben muß, daß der gemeine Alltag nicht ihre edlen Gedankenflüge lähmt? Leider verliert sie darüber nicht selten die Haltung, die sie mir und sich schuldig ist. Sie schnauzt mich an wie ihren Hausknecht, wenn ich mich zu einer unbesonnenen Geldausgabe verleiten lasse. Gleich marschiert die drohende Zukunft auf. Das Hungertuch, an dem die Kinder nagen werden, hängt schon vor der Tür. Ich hatte damals einen Freund in Berlin, den ich sehr liebte, einen Mann von hohen Gaben und größtem menschlichem Format. Er kämpfte schwer mit der Not. Ich half ihm bisweilen aus, freilich nur mit allzugeringen Beträgen. Ganna will auch die nicht konzedieren. Sie »sieht es nicht ein«. Es gibt andere, reichere, die sich »solchen Luxus« leisten dürfen, findet sie. Das Hemd sei einem näher als der Rock, behauptet sie. Die Familie geht vor. Mit den siebzehnhundert Kronen, die der Schuft, der Fürst, noch immer schulde, könnte man mit den Kindern über den Sommer ans Meer fahren, was sie »bitter nötig« hätten. Ich stelle in Abrede, daß die Kinder eines Aufenthalts am Meer bedürfen; sie erfreuen sich einer blühenden Gesundheit. »So«, blitzt mich Ganna entrüstet an, »hat nicht Doktor Blau bei Elisabeth eine Neigung zu Bronchialkatarrh festgestellt?« Ich wage einzuwenden, für die Summe, die sie jährlich für unnotwendige Arztvisiten ausgebe, könne sie nicht nur nach Biarritz reisen, sondern sich außerdem noch ein halbes Dutzend Pariser Toiletten anschaffen und brauche nicht in pittoresken Gewändern eigener Erfindung herumzugehen. Ganna schreit auf wie eine verwundete Wölfin. »Meine Einfachheit wirfst du mir vor? Pariser Kleider soll ich mir anschaffen? Bin ich denn die Odilon? Und auf die Ärzte verzichten, wenn meinen Kindern was fehlt? Du freilich würdest die Armen ruhig leiden sehen.« Was soll ich antworten? Daß ich die »Armen« in der Tat »ruhig leiden« sehen würde, da ich zur Natur mehr Vertrauen habe als zu den Rezepten der Herren Doktoren Blau und Grün? Es gibt eben keine Fakten und Erfahrungen für Ganna, es gibt nur augenblickliche Triebbefriedigungen, die wie innere Kurzschlüsse wirken und den ganzen seelischen Beleuchtungsapparat zerstören. Wenn sie mir auf vorgestreckten Unterarmen das Haushaltungsbuch präsentiert wie eine Gesetzestafel oder das niederschmetternde Verzeichnis meiner wirtschaftlichen Sünden aufzählt, bin ich auf einmal kein schöpferischer Geist mehr, kein Perikles am Arm einer Aspasia; ich bin dann der gewissenlose Aufbraucher ihrer Mitgift, des heiligen Kapitals, das der Stammvater Mewis für ihren und ihrer Kinder lebenslänglichen Nutzgenuß bestimmt hat. Mit leidenschaftlicher Geschwätzigkeit rühmt sie sich, daß sie durch die Entdeckung einer billigen Bezugsquelle für Obst und Gemüse mindestens hundert Kronen im Monat erspart, übersieht aber dabei, daß diese Ersparnisse durch die Unfähigkeit und Zuchtlosigkeit ihrer Dienstleute dreifach wieder zum Teufel gehen. Aber das darf ich nicht einmal andeuten. Sie würde rasen. Ich weiß mir keine rechte Hilfe. Ach, Ganna, denk' ich mir oft, was soll man nur tun, damit dein Gemüt zur Ruhe kommt und dein Geist die Dinge reiner sieht? Dazu bestand freilich wenig Aussicht, und die folgenden Ereignisse begruben meine schwache Hoffnung endgültig. Ganna war jetzt zweiunddreißig Jahre alt, und wenn der Mensch im allgemeinen in diesem Alter nicht mehr lenkbar ist, sie war es durch Blut und Veranlagung ganz besonders nicht.
Zu jener Zeit trugen die Frauen des gebildeten Bürgerstandes eine affenhafte Liebe für ihre Kinder zur Schau. Sogenannte Abhärtung, hygienische Vorschriften, pädagogische Maßregeln, das alles wurde mit feierlicher Wichtigkeit beschwatzt, in Versammlungen erörtert und nach den modernsten Grundsätzen verwirklicht. Man hätte glauben sollen, in den Sprößlingen dieser wohlhabenden Damen, die sich jede Extravaganz leisten konnten, wüchse ein Geschlecht sittlich und körperlich vollkommener Typen heran, befähigt, der menschlichen Gesellschaft ein hoffnungsreicheres Gesicht zu geben. Indessen haben wir von einem neuen Menschheitstag bis jetzt nichts bemerkt.
Ganna hatte sich hartnäckig geweigert, ihre Kinder in die öffentliche Schule zu schicken. Sie wurden zu Hause unterrichtet, auf die Dauer eine kostspielige Sache. Aber jedes Schulzimmer war nach Gannas Behauptung ein verpestetes Lokal, Sitz ansteckender Krankheiten, eine Infektionshölle, wie sie es nannte. Zudem war sie eine erbitterte Gegnerin der üblichen Lehr- und Erziehungsmethoden. Sie war für individuelle Behandlung, für Berücksichtigung der Eigenart, für harmonische Entwicklung der Persönlichkeit. Wunderschön; aber wo waren die Anstalten dafür? Mir waren die Theorien jener damals neu heraufkommenden Pädagogen verdächtig, die mit ihrer Vergottung des Kindes den Grund legten zu der Herzensverrohung einer späteren Ära.
Ich gab Ganna zu bedenken, daß man Kinder zum Gefühl der Gemeinschaft erziehen müsse; daß man sie zu unsozialen Selbstsüchtlingen mache, wenn man sie vor Opfer und Unterordnung, Härte und Rüttelung bewahre; wo sähen sie sich hinversetzt im Gegensatz zu den Millionen Unverschonter, welche Scham und Rache wartete ihrer, wenn einst der Tag der Abrechnung und des Ausgleichs kam? Das war in den Wind gesprochen. Einem Geist wie Gannas mußte der Weltzustand, in dem sie sich bewegte, unveränderlich erscheinen, da sie ja auch keine Wandlungsmöglichkeit in sich selbst besaß. Sie erging sich in ausschweifenden Phantasien über die Grausamkeit der Schultyrannen, denen es nicht um Wissen und Bildung zu tun sei, sondern um Zensur und Sittenzeugnis. Seien nicht alle Zeitungen voll von Schülerselbstmorden? Nein, sie lasse die unschuldigen Seelen nicht gewaltsam vergiften. »Eure Schulen sind Zuchthäuser«, rief sie mit der Miene eines fanatischen Predigermönchs, »eher lass' ich mich vierteilen, als daß ich meine Kinder zu solchem Sträflingsdasein verdamme.« Meine Kinder! Ganna, Ganna! Mein Haus, mein Mann, meine Kinder: A und O des Lebens, das »dein« liegt daneben wie ein krepierter Hund.
Was hatte sie vor? Ferry ging ins zehnte Jahr, man mußte sich seinetwegen entscheiden, er konnte nicht länger wie ein Prinz von Gleichaltrigen abgesondert werden; Elisabeth ebenfalls nicht. Sie lebten ja auch schon im Treibhaus. Die Glaswände mußten endlich zerschlagen werden. Mich dünkte, als kämpfe ich mit Ganna einen heimlichen Kampf um die Seelen der Kinder. Nicht Liebe und Liebeswille gaben dabei den Ausschlag, sondern das, was ich die atmosphärische Wirkung eines Menschen nenne, den stummen und gleichmäßigen Einfluß einer schutzgeisthaften Gegenwart. Wie sich Blut von Vater und Mutter zu Erbe und Schicksal mischen, hat noch niemand ergründet; war es doch ungewiß, ob Vater und Mutter mehr dazu beitrugen als ihren anmaßenden Glauben. Gannas Verzärtelungstrieb war eine ernsthafte Bedrohung. Aber war ich denn selber so weit von Verzärtelung entfernt, daß ich richten durfte? Man kann einem gar nicht genug Liebe mitgeben, pflegte ich zu schwachmütig zu sagen, als ob Liebe, die man schenkt, für den Empfänger ein Universalrezept gegen Unglück und Leiden wäre; als ob ich nicht gewußt hätte, daß uns bitterer friert, wenn uns der warme Mantel genommen wird, wie wenn wir nie einen gehabt hätten.
Eines schönen Tages lustwandelt Ganna in ihrer schwelgenden Langsamkeit durch die Gassen des Vororts und kommt zu einer umzäunten Wiese, die sich in anmutiger Wellung, wie eine wehende grüne Fahne, hügelaufwärts hinbreitet. Sie bleibt stehen. Ein Gedanke schießt ihr ins Hirn: Hier müßten die Kinder ihre Schule haben. Trächtiger Augenblick. Sogleich sieht sie alles vor sich: hübsche Holzhäuser, langgestreckte Klassenpavillons, luftige Schlafsäle für die Internen, Versammlungsraum, Lesesaal, Tennisplatz, Turnbaracke; zum Greifen wirklich. Warum sollte sie ein so ideales Heim nicht nach ihren Plänen bauen können? Wer sollte sie hindern? Es ist schließlich eine Geldfrage.
Daran knüpfen sich folgende Überlegungen, die innerhalb weniger Minuten durch ihren erfinderischen Kopf wirbeln, während sie wie angewurzelt dasteht und mit der Wiese liebäugelt. Geld wird einem vorgestreckt, dazu gibt es Geldleute. Man wird sie am Nutzen beteiligen, die Rückzahlung hängt von der Rentabilität ab. Man wird eine Gesellschaft gründen. Eine Schulgemeinschaft. Eine so herrliche Wiese in herrlicher Lage stellt ein Vermögen dar. Vielleicht kann man sie billig erwerben. In einigen Jahren ist sie im Wert dermaßen gestiegen, daß man die Kosten des ganzen Unternehmens davon bestreiten kann, gesetzt den unwahrscheinlichen Fall, es bezahle sich nicht von selbst. Aus ganz Österreich und Deutschland werden die Schüler herbeiströmen. Man macht Propaganda großen Stils. Man verschafft sich das Öffentlichkeitsrecht, wozu hat man Beziehungen. Es wird eine Goldgrube. Die Wiese reserviert sie für sich. Sie bleibt ihr Privateigentum. Angenommen, sie kostet jetzt sechzig-, vielleicht siebzigtausend, so wird sie in zehn Jahren, wenn der Bezirk ausgebaut ist, unter Brüdern eine halbe Million wert sein. Mit einer halben Million verschafft sie mir eine unabhängige Existenz und ein sorgenfreies Alter. Außerdem werden es die Kinder wie im Himmel haben.
Und Ganna sieht nirgends eine Schwierigkeit.
Erinnert dies nicht an die Plänemacherin im Märchen, die aus einem Karren mit Töpfergeschirr unermeßlichen Reichtum herausspekuliert, bis dann durch einen widrigen Unglücksfall das ganze Geschirr in Scherben vor ihr liegt?
Es ist ein psychologisches Geheimnis, daß Menschen wie Ganna von den Umständen so lange begünstigt werden, bis der Spannungsgegensatz zwischen Traum und Wirklichkeit mit einer Katastrophe endet. Blickt man tiefer, so kennzeichnet sich die Schwäche ihrer Konstruktion von vornherein durch die Spaltung der Beweggründe: es entsteht ein Sowohl-Als-auch, eine Doppeltheit der Absicht. Sie wollen sich gegen das Mißlingen wie gegen das warnende Gewissen sichern, indem sie den nächstliegenden Zweck mit einem fernerliegenden, der unpersönlicher scheint, stützen und überhöhen. Statt daß sie aber damit die Kraftquelle verstärken, wie sie meinen, zerteilen sie sie, und während sie sich einen Fluchtweg nach dieser und nach jener Seite offenhalten wollen, verrammeln sie alle beide. Genau das war Gannas Fall, als sie mit ihrer unwiderstehlichen Energie daranging, nicht nur für ihre Kinder ein Erziehungsparadies aus der Erde zu stampfen, sondern auch zu gleicher Zeit mittels einer großzügigen Spekulation die Zukunft des geliebten Gatten gegen jede Schicksalsdrohung zu feien. Dadurch scheiterte beides, wurde beides Wahn.
Begleiten wir sie bei ihren weiteren Schritten, die ebenso kühn wie sachgemäß sind. Sie erfährt, daß die Wiese einer Frau Nußberger gehört, einem alten Weiblein, Witwe eines Weinbauern. Sie macht dem Weiblein einen regelrechten Besuch und fühlt ihm auf den Zahn. Ihre Erwartung hat sie nicht betrogen, die Wiese ist zu haben. Der Preis: hundertzwanzigtausend. Ganna tut, als sei sie die Beauftragte einer Interessengruppe, und fängt auf alle Fälle an zu handeln. Sie hat den Eindruck, daß ihr dies nicht viel nützen wird, aber da eine Hypothek von vierzigtausend auf dem Grundstück liegt, die nicht abgelöst werden muß, verringert sich die aufzubringende Summe um diese vierzigtausend. Noch am selben Tag begibt sich sich zu ihrem Freund und Verehrer, dem Advokaten Dr. Pauli, der einer der gesuchtesten Anwälte der Stadt und ein Mann von großem Einfluß ist. Sie entwickelt ihm ihr Projekt. Er ist höchlichst davon angetan. Er verspricht ihr seine Hilfe. Hauptfrage: Wie bekommt man die Wiese? Soviel hat Ganna schon heraus: das Mütterchen Nußberger braucht Bargeld. Wiederholte Unterredungen mit der freundlichen Greisin überzeugen sie, daß diese bereit wäre, Ganna das Grundstück gegen eine verhältnismäßig geringe Angabe abzutreten, wenn für die Gesamtkaufsumme genügend Sicherheit geboten wird. Ganna wendet ihre ganze Liebenswürdigkeit und bestrickende Suada auf, um den Anzahlungsbetrag möglichst niedrig zu halten. Verwandte erscheinen, Töchter, Enkel, Schwiegersöhne, der ganze Nußberger-Clan, alle brauchen Geld, es wird endlos hin und her geredet. Tatsächlich gelingt es Ganna, die Angabe auf zweitausend Kronen herabzudrücken. Das macht sie einfach genial. Allein woher die zweitausend nehmen? Vom Konto? Unmöglich. Es ist die letzte Reserve. Sonach muß ein Geldgeber gefunden werden, der um der großen Sache willen das Risiko auf sich nimmt. Er findet sich. Dr. Pauli hat einige seiner Bekannten zur Gründung der Schulgemeinde überredet. Einer der Gründer läßt sich bestimmen, die Angabe zu leisten. Wie es Ganna zuwege bringt, daß die Wiese auf ihren Namen und nicht auf den der Gesellschaft überschrieben wird, ist ein Meisterstreich. Sie hat es mir einmal zu erklären versucht, aber ich habe es nicht verstanden, solche Geschäfte waren mir zu kompliziert, ich wunderte mich nur, daß Ganna sich so wohl darin auskannte: Sie muß eine angeborene Begabung dafür haben, dachte ich mir.
Nun geht es rasch vorwärts. Der Kreis der Teilnehmer vergrößert sich täglich. Es sind lauter vermögende Leute. Mich erstaunt es, wie viele Eltern es gibt, die ihren Kindern die Ärgerlichkeiten eines strengen Bildungsgangs ersparen wollen und sich dabei auf Freiheit, Mindestprogramm und moderne Prinzipien ausreden. Sie wissen offenbar Bescheid um die Fallstricke des Lebens und greifen entzückt zu, wenn sie durch Zahlung einer standesgemäßen Prämie ihrer lernfeindlichen Nachkommenschaft zu einem privilegierten Dasein verhelfen können.
Jedoch weit größer ist mein Staunen über Gannas unermüdlichen Eifer und ihre augenscheinliche Tüchtigkeit. Anstoßend an die Wiese liegt ein Landhaus in einem geräumigen Garten. Von Anfang an hat Ganna ihren Feldherrnblick darauf geworfen. Es ist zu vermieten; sie mietet es; später will sie es für das Heim käuflich erwerben. Mit der Wiese zusammen läßt sich dann die Schule in großem Maßstab ausgestalten, vornehmlich als Internat. Es finden aufregende Verhandlungen statt. Zumeist in meiner Wohnung. Ich komme mir vor wie ein Mann, der in einen Straßenauflauf geraten ist und sich ängstlich erkundigt, worüber sich die Leute erhitzen. Gannas Berichte werden immer verworrener. Zu ruhiger Unterhaltung fehlt ihr die Zeit. Frühmorgens saust sie in die Stadt, spätnachmittags erscheint sie wieder, abgehetzt, atemlos, verhungert. Dann geht's ans Schreiben. Sie schreibt Briefe, Dutzende in einem Zug, Prospekte, die gedruckt werden müssen. Artikel für die Zeitungen, pädagogische Aufsätze, Erlasse im Namen der Schulgemeinde, Gesuche ans Unterrichtsministerium, Stundenpläne für die Klassen, Entwürfe für die Wirtschaftsführung. Ich bin starr über ihre Ausdauer, ihre Umsicht, ihre Vielseitigkeit. Ihr Zimmer ist ein Amtslokal. Die Dienstboten treiben, was sie wollen. Die Kinder sind sich selbst überlassen. Tagsüber flieh' ich das Haus. Wenn ich abends heimkomme, sind alle Räume voller fremder Menschen. Advokaten, Beamte, Schulmänner, Journalisten, enthusiastische Damen, zweifelhafte Persönlichkeiten, die die Gelegenheit wittern, eine Stellung zu ergattern, alles drängt sich in den drei Zimmern, verzehrt belegte Brote, trinkt unendliche Mengen Bier, Wein, Schnaps und Tee, debattiert lärmend und schnüffelt in meiner Bibliothek neugierig in Büchern und Handschriften. Beständig steht jemand am Telefon, am öftesten Ganna. Es regnet Depeschen, langatmige Kundgebungen werden verlesen und Abordnungen gewählt, die die Behörden bearbeiten sollen.
Die Schulgemeinde beginnt ihre Tätigkeit, das Aktienkapital ist gezeichnet; da bricht die erste Rebellion aus. Ganna hat sich Übergriffe zuschulden kommen lassen, so wird wenigstens behauptet. Sie hat den Abmachungen zuwidergehandelt, heißt es, hat in fremde Ressorts eingegriffen, hat die falschen Leute an wichtige Posten gesetzt, hat zum Beispiel einen hübschen jungen Kerl, einen gewissen Borngräber, auf ein paar windige Empfehlungen und seine aalglatten Manieren hin zum Schuldirektor gemacht. Alsbald erweist es sich, daß der Mann stänkert und gegen sie intrigiert. Ich gehe der Sache nach, ohne ihr auf den Grund zu kommen. Ich muß mich an Gannas Erzählungen halten. Mit der ihr eigenen Furchtlosigkeit vor Gemeinplätzen sagt sie: »Ich habe eine Schlange am Busen genährt.« Doch dieser ist nicht der einzige, der ihr in den Rücken fällt. Jeden Tag gibt es neue Gegner, Zettelungen, Zwischenträgereien, Verrätereien, Verschwörungen. Borngräber schart eine Partei um sich. Ganna schart eine Partei um sich. Nicht sehr ersprießlich für einen Schulbetrieb. Was ist denn nur los, denke ich, Ganna kann doch keinem Kind was zuleide tun, weshalb sind denn die Menschen so aufgebracht gegen sie? Ich werde mit allerlei Klagen und Anschuldigungen behelligt. Ich kenne mich nicht aus und frage Ganna, wie sich dies oder jenes verhalte. Ganna schildert die Vorgänge so, als sei sie das Opfer von Bosheit und Neid, als lege man es darauf an, ihr das Regiment aus der Hand zu winden. Sie fordert, ich solle mich ihrer annehmen. Wenn ich mein gewichtiges Wort in die Waagschale werfe, so beteuert sie, wird niemand mehr wagen, sich gegen sie aufzulehnen. Ich glaube zwar nicht an die Gewichtigkeit meines Wortes, aber ich will nichts unversucht lassen, ihr zu helfen, denn auch ich habe den Eindruck, daß sie einer entfesselten Meute gegenübersteht. Kummer zehrt an ihr. Sie opfert sich für einen großen Gedanken, man lohnt es ihr übel. Leicht erkennbar hebt sich die Figur des weiblichen Don Quijote aus der feindseligen Umwelt. Es muß etwas geschehen. Ich verhandle mit den Lehrern, mit dem perfiden Borngräber, mit Dr. Pauli, mit einem würdigen Hofrat, der der Ehrenprotektor der Schule und Gannas Vertrauensmann ist. Ich erreiche so gut wie nichts. Ich kenne mich in dem Hader nicht mehr aus. Ein erbittertes Durcheinander von Stimmen umschwirrt mich. Ich bin kein Vermittler, ich kann mich zwischen Streitenden nicht entscheiden. Man erklärt mir, daß mich Ganna in einigen wesentlichen Punkten falsch unterrichtet hat. Als Ganna mein Schwanken wahrnimmt, wird sie ausfällig gegen mich. »Was soll ich denn tun, Ganna«, sage ich desperat, »es ist ja, wie wenn ein Wespenschwarm über einen herfällt.« Ich statte dem Vorsitzenden des Aufsichtsrates einen Besuch ab, einem kaiserlichen Rat Schönpflug. »Das Verhalten von Frau Herzog ist nicht ganz durchsichtig«, äußert sich der sonst recht sympathische Mann. Ich antworte ihm schroff, ich könne nicht den geringsten Zweifel an den lauteren Absichten meiner Frau zulassen. Dies teile ich Ganna mit. Sie wünscht, ich solle meine Meinung in einer kurzen Denkschrift dem Kuratorium bekanntgeben, das werde ihren Feinden die Mäuler stopfen. Ich darf mich nicht weigern, ich hätte keine ruhige Stunde mehr. Andrerseits bin ich in Gefahr, mich bloßzustellen und vielleicht, es ist ja möglich, eines Tages der Lüge geziehen zu werden; Ganna ist in hohem Grad der Selbsttäuschung unterworfen, kann sein, daß sie weniger unschuldig ist, als sie glaubt. Ich verfasse die Erklärung, worin ich die Reinheit ihres Charakters und die sittliche Größe ihres Handelns überzeugend darstelle. Dann ergreife ich die Flucht und bringe mich für einige Wochen in Ebenweiler in Sicherheit.
Bevor ich den Fortgang und das Ende der immer bedrohlicher und häßlicher werdenden Schulgeschichte erzähle, will ich von meinen eigenen Erlebnissen in diesen Jahren vor dem Krieg und in der ersten Zeit des Krieges berichten, darunter zwei sehr bedeutsamen, die, jedes in seiner Art, großen Einfluß auf die Gestaltung der Zukunft hatten. Das eine war die Geburt meiner Tochter Doris, das andere die Schenkung eines Hauses, ja eines ganzen, wohleingerichteten Hauses samt Grund und Boden, Freundesgabe eines jungen Ehepaares, zu dem ich seit langem in herzlichen Beziehungen stand. Ich hatte mit den beiden bisweilen über meine häusliche Not gesprochen, die Schwierigkeit, in einer Mietswohnung Ruhe und Sammlung zu finden, und den daraus entstehenden Zwang, den Tag zu vergeuden und die Nacht zuzusetzen. Da boten sie mir in einer großherzigen Regung das Geld zum Bau eines Landhauses an. Zuerst benahm mir der Glücksschrecken den Atem. Ich wagte es nicht abzulehnen, wagte nicht zuzugreifen. Es war ohne Beispiel; ich fragte mich, ob ich das Recht hätte, diese Schicksalsgunst zu nutzen, fast dünkte mich, ich werde dadurch zum Betrüger an den Freunden. Wie soll man für ein solches Opfer einstehen, auch wenn der andere keines darin sieht, wie dafür danken, da doch Dank, den man nicht abtragen kann, zur Bürde wird? Ich hatte nichts von der Vielfraßnatur jener Genies (ich hielt mich auch für keins), die die Hilfeleistung ihrer Anhänger als selbstverständlichen Tribut empfangen. Ich war zu sehr durchtränkt vom bürgerlichen Geist der Pakte und Verträge. Die Formel des Nichts für Nichts und Wert für Gegenwert saß mir im Blut. Und es wurde mir nicht leicht, mir ein Verdienst zuzuerkennen, das die Generosität der Freunde in höherem Sinn rechtfertigte.
Ganna freilich hatte derlei Skrupel nicht. Sie fand es durchaus in der Ordnung, daß mich die Menschen ein wenig verwöhnten. Sie erstatteten mir nur zurück, was ich ihnen in Fülle gegeben, meinte sie mit aufgerissenen Augen. »Ach was«, versetzte ich unmutig, »es gibt ein paar tausend von meiner Sorte. Neunzig Prozent verrecken im Rinnstein, man hat schon ein Vorzugslos gezogen, wenn man zu fressen und ein Bett zum Schlafen hat. Was bin ich denn? Steht es mir zu, in einer Luxusvilla zu wohnen? Wir leben viel zu unverschämt auf Sicherheit hin.« Ganna widersprach heftig. War sie doch das Kind einer üppigen und anmaßenden Zeit, in der Geist und Werk ihren Börsenkurs hatten wie Effekten. Es hob meinen Wert unendlich in ihren Augen, obschon sie es nicht merken ließ, daß ich ein Mann war, dem man ein Haus in den Schoß warf. Seit den Mediceern hatte sich dergleichen nicht begeben. Sie posaunte das ihr und mir gewordene Glück in alle Himmelsrichtungen, und wenn ich sie um Zurückhaltung bat, schaute sie mich verständnislos an. Doch hatten wir nun ein neutrales Gebiet, wo gemeinsame Interessen ein gemeinsames Handeln ermöglichen. Man mußte Ganna beschäftigen, man mußte sie mit Brennstoff füllen wie einen Ofen. Sie konnte zwanzig Dinge zu gleicher Zeit betreiben, und jedes mit dem nämlichen Schwung und wilden Eifer. Und als wir mitsammen die Pläne für das Haus besprachen, das Grundstück aussuchten, mit dem Baumeister verhandelten, die Voranschläge prüften, Möbel, Beleuchtungskörper und sonstige Nutzgegenstände kauften, wich die drückende Passivität von mir, in die ich ihr gegenüber allmählich geraten war, und ich ließ mich wenigstens schleppen. Und damit sie nicht dahinterkam, daß ich mich nur schleppen ließ, streichelte ich bisweilen die winzige Hand, die mir Zuckerstückchen reichte, damit ich meinerseits nicht dahinterkam, daß sie mich schleppte. In der Ehe gibt es für den Schwächeren viele Gelegenheiten, keinen Charakter zu haben.
Es bedurfte keiner besonderen List und Bemühung Gannas, mich dazu zu bringen, daß ich den neuen Besitz, dieses mir persönlich zugedachte Haus, Arbeitsstätte und Zuflucht, auch auf ihren Namen schreiben ließ. Eines Tages gingen wir selbander zum Grundbuchamt, und da wurde Ganna in aller Form rechtens Miteigentümerin der Villa. Ich machte mir keinen Augenblick Gedanken darüber. Ich überlegte nicht, daß ich damit ein Pfand aus der Hand gab, das erste und einzige, über das mir die freie Verfügung zustand. Ich zog nicht in Betracht, daß ich Ganna damit in einem Besitzgefühl verfestigte, das ihr, weit über die materielle Verschreibung hinaus, eine Verschreibung von Leib und Seele im magischen Sinn des Wortes bedeutete.
Aber all dem war ich ja nur äußerlich verhaftet. Später stellten sich mir diese Jahre wie der Gang durch einen finstern Hohlweg dar, mit seltenem Verweilen, seltenen Aufblicken. Ich fühlte das Nahen ungeheurer Ereignisse voraus. Die Sturmwolke, die noch unterm Horizont lag, warf schon elektrische Wellen, und so war ich immer unstet, wie ein Vogel vor dem Gewitter. Böser Zauber wob über dem Land und über den Menschen, unheimlich war mir, wenn ich nachts durch die Straßen einer deutschen Stadt ging, wie es häufig geschah; ich litt unter meinen Gesichten wie ein Schläfer, der träumt, sein Haus stehe in Flammen. Mich dünkte, eine andere Welt fordere mich als die, in der ich mir bis dahin genügt. Unbeträchtlich schien mir, was ich gemacht; und unzulänglich; zu allzuwenigen redete es, in abgelebten Formen bewegte es sich. Ich ahnte Wartende, aber ich wußte nichts von ihnen. Weit weg war ich noch von meiner Grenze, weit weg von mir selber; zerstieß ich die Kruste nicht, die mich umkerkerte, so wurde ich von ihr zermalmt.
In den Brand wurden auch die Sinne hineingerissen. Heißhunger wechselte mit Überdruß ständig. Keine Frau erfüllte mich; keine gab mir, was ich unklar suchte: Bild des eigenen Wesens, letzten Frieden des Blutes. Von einer zur andern raste ich, und es war oft, als müsse ich sie auseinandernehmen wie ein Gehäuse mit unbekanntem Inhalt, als müsse ich sie schälen wie eine Frucht, die man dann verschmäht. Es war nicht Abenteuerei. Es war nicht leere Gier. Vielleicht steckte etwas von dem Mißverständnis drin, das die lebendige Gestalt zornig-spielerisch mit der phantasiegeborenen vertauscht und sich mit jener zufriedengibt, weil sie diese nicht vollenden kann. Vielleicht rührte es an die Tragik des Mannes, der nach der Eisregion der Symbole aufbricht und sich unterwegs bei den warmblütigen Larven vergißt.
Als das Kind zur Welt kam, wohnten wir schon im neuen Haus.
Erst danach gewannen die Vorgänge in der Schulgemeinde den Umfang einer Katastrophe, die tief in mein und Gannas Leben eingriff. Die Hauptursache des Unfriedens war, daß Ganna sich hartnäckig weigerte, der Gesellschaft die Wiese zu überlassen. Die Aktionäre bezeichneten es als unerträglich, daß das umfangreichste Grundstück des Heims, auf dem die neuerrichteten Schulgebäude standen, im Privatbesitz bleiben und die Eigentümerin, als Mitglied des Konsortiums, eine erhebliche Pachtsumme beziehen sollte. In stürmischen Versammlungen wurde Ganna das Unmoralische und geschäftlich Unhaltbare dieses Verhältnisses vorgeworfen. Es stelle sie in ein übles Licht, wurde gesagt, daß sie zugleich den idealen Nutzen und den Löwenanteil des materiellen Gewinns beanspruche. Es ist schon so: Leute, die sich um einen Profit betrogen sehen, den sie selber einzustreichen wünschen, sind äußerst rigoros in der Beurteilung derer, die neben ihren geistigen Verdiensten auch einen greifbaren haben wollen. Das geht nicht, behaupten sie, entweder du bist ein Händler oder du bist ein Priester, beides zu sein ist unanständig. Die Advokaten der Gegenpartei bestritten sogar Gannas Anrecht in Bausch und Bogen. Sie verfochten die These, Ganna hätte die Wiese mittels einer dubiosen Machenschaft an sich gebracht, und erboten sich, diese Anklage zu beweisen.
Ganna ist ihrer Sinne nicht mehr mächtig. Die Welt verfinstert sich ihr. Sie schwört heilige Eide, sie wolle lieber zugrunde gehen, als auf die Wiese verzichten; nicht einen Quadratfuß, nicht einen Grashalm gebe sie her. Es kann nicht ausbleiben, daß unsere Kinder, um derentwillen doch die Sache gegründet worden ist, die Unbeliebtheit ihrer Mutter zu spüren bekommen. Mit der Vorzugsstellung, die Ganna für sie erträumt hat, ist es nichts. Aber daß sie eine Benachteiligung und seelische Schädigung erfahren, wie Ganna weinend versichert, kann ich nicht finden. Ich hielte es für ganz ersprießlich, wenn sie mal ein bißchen rauh angefaßt würden, sage ich mit einer Gelassenheit, die Gannas Wut erregt. »Du wagst es, die Verbrecher in Schutz zu nehmen?« faucht sie mich an. »Da sieht man wieder, was für ein Schwächling du bist. Alle Welt weiß ja, daß du deine arme Frau bei jeder Gelegenheit preisgibst. Gott wird dich schon strafen.« Was für Reden! Preisgegeben hab' ich sie bisher wahrlich nicht, und was soll das mit dem strafenden Gott? Was weiß sie denn von Gott, sie, die sich seines Namens nur bedient, wenn sie Bannflüche schleudert. Sie hat sich einen Gott erdacht, der als Ganna Herzogs Spezialschutzmann amtiert und auf der Stelle seine Donnerkeile schleudert, wenn seiner geliebten Ganna von schlechten Menschen ein Leid geschieht.
Sie rückt den verschiedenen Lehrern auf die Bude und sagt ihnen knüppeldicke Aufrichtigkeiten. Das verbessert die Sachlage nicht. Ferry weigert sich, noch länger ins Schulheim zu gehen; jetzt ist es wirklich so weit, daß man die Kinder entgelten läßt, was Ganna sündigt. Der Unterricht, von Ganna vordem als mustergültig gepriesen, ist auf einmal unterm Hund. Dieselben Lehrer, die noch vor kurzem lauter Fröbels und Pestalozzis waren, sind über Nacht verworfene Subjekte geworden. Den Direktor Borngräber hinauszubeißen, in den sie zweifellos ein wenig verliebt gewesen ist, scheut sie kein Mittel. Sie konspiriert mit dem Schuldiener und den Scheuerfrauen. Tag für Tag schlägt sie sich mit Personen herum, denen gegenüber der Name Herzog längst keinen Respektschutz mehr für sie bildet. An ihnen reibt sie sich. An ihnen reibt sie sich auf. Wie jeder zweckpolitisch gerichtete Mensch, ist sie beständig von Aufstachlern und Ohrenbläsern umgeben. Ich habe Angst, daß sie nicht reine Hände behalten wird.
Das Hauswesen verfällt. Am Abend kommt sie erschöpft von ihren Kampfzügen zurück. Sie schlingt die aufgewärmten Reste des Mittagessens in sich hinein, ohne zu schmecken, ohne zu wissen, was sie verzehrt. Sie stürzt ins Kinderzimmer, wo sich die Schleusen ihrer aufgestauten Zärtlichkeitsflut öffnen, denn da sich ihre mütterliche Obsorge auf diese kurze Zeit beschränkt, glaubt sie durch Heftigkeit des Gefühls ersetzen zu sollen, was ihm an Stetigkeit mangelt, und nimmt von keinem Umstand Kenntnis, der ihr die Vergötterten in einem andern Licht zeigen könnte als dem ihrer augenblicklichen Verliebtheit. Doch braucht nur eines der Kinder ihre Ungeduld zu erregen oder sich einer zufälligen Laune nicht zu fügen, so schreit sie das bestürzte, eben noch gehätschelte Wesen sinnlos an, und wenn man ihr gar widerspricht (es gehört zu den größten Sonderbarkeiten Gannas, daß sie keinen Widerspruch verträgt, in nichts, von niemand), dann schäumt sie vor Zorn. Gellt die Telefonglocke, so schlurft sie in den zertretenen Pantoffeln in den Flur, und man vernimmt am Apparat ihr dumpfes »Hallo-oh«, das mich vor Nervosität verrückt macht, zehnmal, zwanzigmal Halloh, einen wahren Jägerlaut, der wie aus dem Urwald klingt, mit dem düstern langhingedehnten O. Es läßt sich genau unterscheiden, ob am andern Ende des Drahtes jemand ist, der von ihr etwas will, oder einer, von dem sie etwas will; im ersteren Fall ist ihre Stimme scharf, schneidend, herrisch, im letzteren süß, flehend und unterwürfig. Nach dem Abendessen setzt sie sich zu mir ins Zimmer und strählt ihre Haare, eine Beschäftigung, die sie ungebührlich lange ausdehnt und bei der sie träumt, Luftschlösser baut und an erlittenem Unrecht nagt. Der Kamm fährt knisternd durch das rotbraune Haar, die weitgeöffneten, intensiv blauen Augen starren ergriffen ins Leere. Wovon ergriffen, das weiß niemand, nicht einmal sie selbst, aber der unergründliche Schmerz, der sich in ihren Zügen malt, bewegt mich. Und wenn ich denke, sie werde zu Bett gehen, um ihre zerquälte Seele endlich der Ruhe zu überlassen, fällt ihr etwas Vergessenes ein, und sie hastet zum Schreibtisch, um einen viele Seiten langen Schriftsatz oder Brief abzufassen, der sich meist am andern Tag als bedeutungslos und überflüssig erweist. Es ist das Wesen der Hölle, daß sie immer höhere Grade der Pein und des Schreckens hat; während man meint, Ärgeres könne nicht geschehen, befindet man sich noch in der Vorhölle, im gemäßigten Entsetzen vergleichsweise, und das war meine Lage in der Zeit, als Ferry und Elisabeth das Schulheim verlassen und in einer öffentlichen Anstalt untergebracht werden mußten. Ob es eine Maßregelung war oder ein freiwilliger Austritt, ist mir verborgen geblieben. Ganna behauptete, es sei ein Racheakt, und ich mußte ihr glauben, ich hatte keine Lust, der Wahrheit nachzuforschen, ich wollte nicht noch mehr Konfliktstoffe schaffen. Die Leiter der staatlichen Institute waren auf die freie Schule nicht gut zu sprechen, und Gannas Ratlosigkeit war groß, als die verschiedenen Gymnasien sich weigerten, Ferry mitten im Semester aufzunehmen, ihre Entrüstung war noch größer, als auf den ungenügenden Bildungsgang des Knaben verwiesen wurde. Die Sorge legte sich verdunkelnd über mein Gemüt. Ich fühlte mich haftbar für den Sohn, aber wie konnte ich vor dem Geschick für ihn einstehen, wenn mir die Mutter alle Verantwortung entriß und sich eifernd zur Richterin aufwarf, gegen deren Spruch es keinen Appell gab? Wovor sie das Kind zu verschonen getrachtet, das wurde nun erst recht sein Los: geistige Unsicherheit, erzieherische Willkür. Ich hatte die Zeit nicht, ihr abzudingen und abzuringen, was sie von mir und der Welt forderte als ihr Recht. Nein, ich hatte nicht die Zeit und nicht die Kraft, mit ihr zu hadern und sie zur Umkehr zu bewegen. Ich dachte, vielleicht törichter-, vielleicht anmaßenderweise, Gott habe mir meine Tage zu anderem Vollbringen gesetzt. Gannas Welt war eine Welt der schrankenlosen Freiheit, sich ihrer schrankenlos zu bedienen war für sie der einzige Weg zum Glück, wenn auch dieses Glück noch so vermeintlich war. Ich erinnere mich an Stunden, da ich in sie drang, als hinge all mein Seelenheil davon ab, ihren starren Sinn zu brechen, sie milder, urbaner, einsichtsvoller zu machen. Aber es war, wie wenn man aus Wasser ein Gesicht kneten wollte. Einmal sagte sie zu mir in seltsamer Zerknirschung: »Für dich müßte ich eine Heilige sein, aber ich kann nicht heilig werden ohne Todsünde.« Ich habe dieses schmerzliche und eigentlich furchtbare Wort nie vergessen können. Ein Abgrund tat sich plötzlich auf, in dessen Tiefe ich eine mit gespenstischen Schatten kämpfende Ganna erblickte.
Und wie stand es denn um mich? Was war ich denn? Ein Mensch, gepreßt in des Schicksals Faust. Der Krieg riß mich auf, riß mich entzwei, wie der Sturm die Eisdecke über einem See zerreißt, er brachte mich ins Fluten und Überfluten, und aus dem stillen Träumer und Wirker, einem winterlichen Träumer, einem gefrorenen Träumer, wurde ein Erwachter mit Erfahrungen von vielen, den Leiden von vielen in der Brust. Schlaf und Ruhe flohen mich, ich trat aus der steinernen Abgeschiedenheit heraus; ich suchte zu helfen, ich suchte zu dienen, ich suchte eine Seele, und hätte ich sie nicht endlich in Bettina Merck gefunden, so hätte mich die Verzweiflung erwürgt.
Von alledem merkte Ganna nichts. Zu einem Gespräch über diese Dinge kam es nicht, zu ernsthafter Auseinandersetzung fehlte die Gelegenheit, denn sie war völlig in ihre Geschäfte verstrickt. Es hatte etwas Unheimliches, wie wenig die Weltkatastrophe sie berührte. Ihre Teilnahme an dem Geschehen, das die fünf Kontinente in ihren Grundfesten erschütterte, war die eines kleinen Mädchens, das sich ungläubig wundert, wenn der Himmel von einer fernen Feuersbrunst gerötet ist. Daß die Unheilsbotschaften, die zu ihr drangen, auf wirklichen Tatsachen beruhten, dessen war sie nie recht sicher. Ihr Schrecken hatte darum etwas Schablonenhaftes, als handle es sich um eine verschwörerische Übereinkunft zwischen Menschen, die sie im Grunde nichts angingen, wogegen die greifbare, die wahrhafte, die Ganna-Welt, die Ganna-Kinderwelt mit diesen legendären, keineswegs bewiesenen Vorgängen eigentlich nichts zu schaffen habe.
Ich hatte mich gleich in den ersten Wochen des Krieges als Freiwilliger gemeldet. Kein Mann von Herz und Anstand dachte damals an Recht oder Unrecht des Kriegs, auch wußte keiner, was Krieg im Grunde war und bedeutete. Man war Teil eines Ganzen, das Ganze war, oder schien es wenigstens zu sein, ein lebendiger Organismus und begriff sich als Volk, als Vaterland, als Stätte alles Werdens und Seins. Ich erfand gegen Ganna eine Ausrede, fuhr über Nacht nach Wien und ging ins Konsulat. Der Konsul, der mich kannte, wollte mich, des großen Zulaufs wegen, vorerst wieder nach Hause schicken, aber ich bestand darauf, daß man mich untersuchte. Der Arzt konstatierte eine Herzneurose. Ich kehrte ziemlich enttäuscht nach Ebenweiler zurück und erzählte Ganna, was ich getan. Sie konnte sich nicht fassen vor Entsetzen. »Was fällt dir ein, Alexander«, rief sie, »Vater unmündiger Kinder, Erhalter einer Familie, ist das dein Ernst?« Nun war es an mir, fassungslos zu sein; ich glaube, an jenem Tag kam ich dahinter, daß die Figur des weiblichen Don Quijote doch nur eine Hilfskonstruktion war. »Was ist denn nur mit deinem Herzen?« jammerte sie bewegt, als ich den Befund des Arztes berichtete. »Siehst du, weil du dich nicht schonst. Du rauchst zuviel, du schläfst zuwenig, glaub mir doch endlich.« – »Ach nein, Ganna«, sagte ich, »das ist es nicht. Leben heißt sein Herz verbrauchen. Das ist es. Ich werde mich zu sehr heruntergegrämt haben. Bist du nie auf die Idee gekommen, daß Sich-Grämen schädlicher ist als Rauchen und Zuwenig-Schlafen?« Da war sie ganz beleidigt. Sie wollte wissen, worüber ich mich gegrämt hätte, als handle sich's um einen bestimmten Fall. Einen solchen Fall konnte ich nicht angeben, was hätte das auch besagt, sie hätte mich zu widerlegen versucht, es wäre leeres Gerede daraus entstanden, doch drängte sie immer heftiger in mich, und schließlich wollte sie wissen, ob sie mir eine gute Frau sei. »Hast du denn Ursache, dich zu beklagen? Sprich doch, bin ich dir keine gute Frau?« – »Ja, Ganna, ja, gewiß«, sagte ich, »du bist mir eine gute Frau.« Da wollte sie mein Ehrenwort, daß ich es wirklich so meinte. – »Was soll denn da ein Ehrenwort, Ganna, sei doch nicht kindisch«, entgegnete ich und hatte wie nie zuvor die Empfindung von hoffnungsloser Formelgläubigkeit, vom Hangen am entseelten Begriff und der Verliebtheit in ein Selbstbildnis, dem kein lebendiger Zug mehr anhaftete.
Inzwischen sind die Dinge dahin gediehen, daß das Konsortium oder Kuratorium oder wie die Körperschaft sich nannte mit nicht mißzuverstehenden Drohungen die Wiese von Ganna fordert. Sie möge den Preis nennen, wird ihr bedeutet, die Summe müsse sich aber in vernünftigen Grenzen halten. Schwer für Ganna, die Grenze zu ziehen, da doch die Verwertung der Wiese der Inhalt ihrer Nacht- und Tagträume ist und sie mich, der auf diese Weise gar nicht beglückt zu werden wünscht, damit zum sorgenlosen Manne machen will. Mit einer schier unbegreiflichen Zärtlichkeit hält sie im Geist das Grundstück fest; das »Wieslein« sagt sie und lächelt genauso selig, wie wenn sie unserer kleinen Doris die Brust reicht. Was ist das denn, was geht in einem solchen Menschen vor? Ich kann es mir nicht erklären.
Der von allen Seiten auf sie ausgeübte Druck ist zu stark; sie verliert die Nerven. Hin und her geworfen zwischen Trotz und Schwäche, Besitzgier und Furcht, Erbitterung und Spekulationsleidenschaft, kann sie sich zu keiner Entscheidung durchringen. Wer ihr in den Weg kommt, den fragt sie um Rat, was sie tun solle, die Schwestern, die Schwäger, die Dienstmädchen, die Lieferanten, den Gärtner. Doch wenn sich einer nicht im Sinne ihrer heimlichen Wünsche äußert, wird sie unangenehm und ergeht sich in langatmigen Belehrungen ihres Standpunktes und Lobpreisungen der Wiese.
Sie beruft eine Generalversammlung. Es wird geredet, gestritten, durcheinandergeschrien, zuletzt verspricht Ganna, ihren Entschluß am nächsten Tag bekanntzugeben. Am nächsten Tag teilt sie dem Ausschuß brieflich den Verkaufspreis mit. Kaum hat sie den eingeschriebenen Brief abgesendet, erschrickt sie zu Tode und widerruft ihn sogleich. »Die lachen sich den Buckel voll«, sagt sie zu mir, »dreimal so viel muß ich verlangen, es sind lauter reiche Leute, ich lass' mich nicht von denen ins Bockshorn jagen.« Ich warne sie. Ich verstehe nichts von der Sache, aber mir scheint, sie riskiert ein gefährliches Spiel. Neue Verhandlungen, wieder Geschrei und Getobe, schroffer Abbruch. Auch die Schwäger mahnen sie zur Mäßigung. Dr. Pauli bezeichnet das Angebot, das man ihr gemacht, als anständig und annehmbar, sie aber sträubt sich mit Händen und Füßen, sie behauptet, man will sie übers Ohr hauen. Man beweist ihr das Ungereimte ihrer Forderung, sie scheint es einzusehen, eine Stunde darauf ist sie wieder bei ihrer früheren Meinung. Sie rennt von Pontius zu Pilatus, bestürmt Gutgesinnte, beschimpft Andersdenkende, raubt den Leuten die Zeit, schildert die Intrigen, durch die man sie einzuschüchtern versucht, nennt abenteuerliche Summen, deren man sie mittels Pression berauben will, fragt den, fragt jenen, fragt endlos: Soll ich es tun, soll ich es nicht tun, zu dem Preis, zu jenem Preis, zu dieser Bedingung, zu jener Bedingung? Werd' ich's bereuen, werd' ich's nicht bereuen? Ist es nicht ein Verbrechen an meinem Mann und meinen Kindern, wenn ich dem Gesindel die herrliche Wiese in den Rachen werfe? Sie hat keinen andern Gedanken mehr im Kopf. Sie lebt wie auf der Flucht. Sie vernachlässigt ihre Person, ihre häuslichen Pflichten, mich, die Kinder. Zu den Mahlzeiten erscheint sie überhaupt nicht mehr. Bisweilen sitzt sie auf einer Bank in einem öffentlichen Park und verspeist einen Apfel. Manchmal hält sie Siesta in einem Automatenbüfett und lauscht mit feuchten Augen dem Gekrächz eines Grammophons, als wäre es das philharmonische Orchester.
Ihre Unschlüssigkeit, ihren Groll, ihre Unrast, ihre Händel, ihre verworrenen Argumente, den ganzen Kehricht eines mit abstoßenden Mitteln geführten Sachstreits, das alles bringt sie zu mir. Ich soll das »letzte Wort« sprechen. Ich weigere mich; das letzte Wort wäre ja doch nur das vorletzte. Jeden Abend bis in die tiefe Nacht dasselbe Lied mit dem ermüdenden Refrain, sie tue es lediglich für mich, einzig und allein für mich kämpfe sie. Ich solle es wenigstens anerkennen. »Wenn du es anerkennst, will ich verzichten«, sagt sie. »Erkennst du es an, erkennst du es an?« Die reine Echolalie. Was soll ich antworten? Sie wird keinesfalls verzichten, auch wenn ich es noch so willig anerkenne.
Ich halte die bodenlosen Redekünste nicht mehr aus; die verkniffelten juristischen Darlegungen; die Verdächtigung von Personen, die entweder gutgläubig sind oder doch von keinen verwerflicheren Absichten gelenkt als Ganna selbst, nämlich Geld zu machen. Mich widert vor der unappetitlichen Vermengung von Profit und Geistestat. Die Wiesengeschichte hat bereits Staub aufgewirbelt. Meinen Namen dabei genannt zu wissen peinigt mich. Der alte Rat Schönpflug spricht mich im Klub an und beschwört mich, ich möge Ganna vor weiteren Torheiten bewahren, man sei sonst genötigt, ihr einen bösen Prozeß anzuhängen, der vielleicht nicht nur zivilrechtlicher Natur sein werde. Es ist abscheulich, es ist erniedrigend, ich muß dem ein Ende bereiten.
Eines Morgens betrete ich, zum Ausgehen fertig, Gannas Schlafzimmer, um mich von ihr zu verabschieden. Sie kommt eben aus dem Bad, eingehüllt in einen rot und weiß karierten Bademantel. Sie ist meiner noch kaum ansichtig geworden, da beginnt sie schon mit der täglichen Leier. Um zwölf Uhr soll eine Besprechung bei Dr. Pauli stattfinden, ob ich nicht hinkommen wolle. Es wäre eine große Hilfe für sie. Sie würde es mir nie vergessen (so wie sie mir die Weigerung nie verzeihen würde, denk' ich im stillen).
Ich habe ihr in der letzten Zeit wenig Freundlichkeit bezeigt. Es war zu schwer für mich. Ich kann nicht freundlich sein, wenn mir nicht so zu Sinn ist. Ich bin immer verdrossener, wortkarger und kälter geworden. Ich mache mir meine Lieblosigkeit selbst zum Vorwurf. Aber das Herz ist mir verstopft. Ich finde kein überbrückendes Wort. Auch jetzt nicht. Ich zucke die Achseln. Mir graut vor der Verhandlung in einer Anwaltskanzlei. Es sei unmöglich, sage ich. Sofort wird Ganna aggressiv. Ließe ich sie doch toben und ginge weg. Aber ihre Reden sind wie Leim, und an diesem Leim bleib' ich kleben. Als sie es schändlich nennt, daß ich ihr nicht beistehe, für den sie sich opfere, bedeute ich ihr, ich hätte das Opfer nicht verlangt und nicht gewünscht, sie diene mir besser als Frau im Hause und Mutter unserer Kinder. Da sprüht eine Rakete von Hohn aus Gannas Mund. »Das der Dank! Für einen solchen Mann verblut' ich mich, für ein solches Ungeheuer! Das der Dank!« – »Auf Dank zu rechnen, hattest du nicht Anlaß«, sage ich mit einer Ruhe, die Ganna hätte stutzig machen müssen, die aber gleichwohl ohne Eindruck auf sie bleibt, »sowenig, wie ich auf ein Leben gerechnet habe wie das, das du mir bereitest.« – Ganna lacht erbittert. »Was heißt das? Was für ein Leben? Wie willst du denn leben? Als Hungerleider, bis du weiße Haare kriegst? Wo wärst du überhaupt ohne mich? Frag dich doch.« – »Ich weiß nicht, wo ich wäre ohne dich, ich weiß nur, daß es mit dir, so wie jetzt, nicht mehr geht. Entweder machst du Schluß in der Sache mit der Wiese und verkaufst, oder ich gehe meiner Wege und lasse mich von dir scheiden.«
Kaum ist das Wort gefallen, so verzerren sich Gannas Züge schreckenerregend. Denn dieses Wort, es ist noch niemals ausgesprochen worden. Niemals hat sie erwartet, es zu hören. Sie fühlt sich meiner so sicher, als wäre ich ihr angewachsen wie ihr Arm oder ihr Bein. Es ist ihre Grundsicherheit, ihre Wurzelsicherheit. Möglicherweise liegt es, das fürchterliche Wort, in einer verschütteten Tiefe ihres Bewußtseins, wie ein Sprengkörper in einem Keller. Sie schreit. Der Schrei, es ist ein entsetzlich gellender Kehllaut, dauert fünfzehn bis zwanzig Sekunden, und sie rennt dabei wie besinnungslos durchs Zimmer. Sie ist bestimmt nicht mehr bei sich. Bestimmt ist es nicht geheuer mit ihr. Trotzdem habe ich das Gefühl, als verschaffe ihr der völlige Verlust der Selbstkontrolle einen gewissen Genuß, den Genuß der Ausartung, des seelischen Auseinanderrinnens, wie ihn Epileptiker während eines Anfalls haben sollen. Indem sie sich mit furienhaften Bewegungen den Bademantel vom Leibe reißt, überschüttet sie mich mit einer Flut irrer Schmähungen. In allen Lagen ihrer hohl dröhnenden Stimme wirft sie mir unzählige Male das Schreckenswort zu: Scheiden. Fragend, rufend, kreischend, heulend, keuchend, mit zu Krallen verbogenen Fingern und grünsprühenden Augen. Und als ich den schauerlichen Ausbruch, der mir eine unbekannte Ganna enthüllt, schweigend über mich ergehen lasse, rennt sie zum Fenster, splitterfasernackt, wie sie ist, und beugt sich mit dem ganzen Oberkörper über die metallene Brüstung, als wolle sie sich im nächsten Augenblick hinunterstürzen. Blitzartig fällt mir die Szene auf dem Balkon am Mondsee ein; sechzehn Jahre ist es her. Eigentlich tut der Mensch immer das nämliche, denk' ich traurig, greift zu den nämlichen Mitteln, um den andern unterzukriegen, zu den nämlichen Worten, den nämlichen Gesten, man vergißt es nur, fällt immer wieder darauf herein. Trotz meines qualvollen Zorns bleibe ich verhältnismäßig kalt. Ich weiß ja, sie wird es nicht tun, außerdem besteht wenig Gefahr, das Fenster liegt nur vier Meter über dem Hof, unten ist der Rasen, höchstens wird sie sich ein paar Rippen brechen. Aber die Gewißheit in mir, daß sie sich nicht hinunterstürzen wird, verleiht der Situation etwas finster Lächerliches. Gleichzeitig bricht der Zorn, der sich meiner bemächtigt hat, wie ein Strahl kochenden Dampfes aus mir heraus; seit Jahren und Jahren hab' ich ähnliches nicht verspürt; mit einem Sprung bin ich hinter ihr, packe sie bei den nackten Schultern, schleudre sie aufs Bett und schlage mit den Fäusten blindlings auf sie ein. Wie das zugegangen ist, weiß ich heute noch nicht. Schlage auf sie ein wie ein Wirtshäusler. Wie ein Fuhrknecht. Ich, Alexander Herzog, schlage auf sie ein. Und Ganna ist ganz, ganz still. Sonderbar, weil sie so still ist, lass' ich von ihr ab, stürme in mein Zimmer hinauf, schließe mich ein, falle in den Lehnstuhl und brüte regungslos über meinem Unglück.
Und was tat Ganna derweil? Später habe ich es durch einen Zufall erfahren. Ich fand einen versiegelten Umschlag auf ihrem Schreibtisch, darauf standen mit anklägerisch wuchtigen Buchstaben die Worte: Mein Testament. Als ich sie erstaunt fragte, wann und weshalb sie ein Testament abgefaßt habe, erzählte sie mir mit tränenüberströmtem Gesicht, daß es eben in der Stunde geschehen sei, da ich sie geschlagen. Ich bat sie innig, nicht davon zu sprechen. Doch sie beschrieb mir ihre Verzweiflung und wie sie sich zugeschworen, die Wiese am selben Tag noch zu verkaufen. Einmal würde ich schon begreifen, was ich ihr, was ich mir selber angetan ...
Von da an gab es eine private Dolchstoßlegende in unserm Haus. Ganna ließ nicht von der Fiktion, daß ich ihr in den Rücken gefallen sei, als sie im Begriff gewesen, ein Millionenvermögen für mich zu erwerben. Diese Fiktion war Gannas Stütze bei allen ferneren Schicksalsschlägen, die sie erlitt. Darin glich sie besiegten Völkern und machtgierigen Parteien, daß sie ohne Sündenbock keine Möglichkeit hatte, vor dem Leben zu bestehen. Und Sündenböcke sind immer zu finden, da es ja ohne geteilte Verantwortung kein praktisches Handeln gibt.
Von Ganna mit dieser moralischen Hypothek belastet, deren Zinsendienst ich in gewohnter Willigkeit auf mich nahm, trat ich in einen neuen Abschnitt meines Lebens, den, um dessentwillen ich diese Bekenntnisse niedergeschrieben habe.