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Ich lernte Bettina Merck im Hause eines befreundeten jungen Ehepaars namens Waldbauer kennen, sehr lieben Menschen; der Mann war Kunsthistoriker. Bettina war damals fünfundzwanzig Jahre alt, also siebzehn Jahre jünger als ich. Sie war seit sieben Jahren verheiratet und hatte zwei Kinder, zwei Töchter. Ihr beinahe gleichaltriger Mann war der Chef einer großen Porzellanmanufaktur, deren Leitung er trotz seiner Jugend nach dem Tod des Vaters übernommen hatte. Der Vater Bettinas war ein populärer Komponist und Kapellmeister gewesen, daher ihre musikalische Begabung. Freund von Kainz und Mahler, galt er noch jetzt, unvergessen von vielen, als einer der letzten Träger altösterreichischer Tradition. Manche seiner Lieder waren Volkslieder geworden und lebten ohne den Namen ihres Schöpfers. Ich hatte ihn gekannt. Sehr deutlich erinnerte ich mich des feinen, zarten Mannes. Er hatte eine besondere Art von liebenswürdigem Spott an sich gehabt; überhaupt war Liebenswürdigkeit sein Merkmal gewesen. Als ich davon sprach, leuchteten Bettinas Augen. Sie verehrte den Vater über alles.
Was mir gleich am ersten Abend an ihr auffiel, war eine gewisse lachende Beschwingtheit. Sonderbarerweise regte sich ein feindseliger Instinkt in mir, als sei es nicht angemessen, so heiter beschwingt zu sein, als stehe es im Widerspruch zur Zeit und zur Welt. Genau wie ihr Vater, war mein nörgelnder Gedanke, immer leicht, immer im Dreivierteltakt. Jede scherzhafte Bemerkung, die in der Gesellschaft fiel, veranlaßte sie, laut und aus voller Kehle zu lachen. Zuweilen war der ganze Raum von ihrem Lachen erfüllt, das die andern ansteckte und etwas wie Glanz um sich verbreitete. Auch das störte mich. Warum nur? Als Kind hatte ich Anfälle von Weltschmerz gehabt, wenn ich andere Knaben ein Butterbrot verzehren sah, und ich hatte keines. Als ich langsam auftaute und auf ihren leichten Ton einging, so weit mir dies gegeben war, geschah es doch mit dem sauren Vorbehalt eines Klassenvorstands, der im Gespräch mit einem gar zu muntern Schüler ängstlich auf Wahrung seiner Würde bedacht ist.
Ein paar Tage später saß sie mir plötzlich in der Trambahn gegenüber, und wir kamen rasch ins Gespräch. Wieder empfand ich ihre heitere Lebhaftigkeit als Herausforderung, denn sie stand im schroffen Kontrast zu meiner Art und zu den Menschen, mit denen ich umging. Ich hatte das törichte Gefühl, als wolle sie mich überrumpeln. Ja, vollkommen töricht war dieser Eindruck; an dergleichen dachte sie nicht im entferntesten. Ich entsinne mich, daß ich ihr verblüfft nachschaute, als sie sich an ihrer Aussteigestelle von mir verabschiedete und über die Straße schritt. Es war ihr tänzerischer Gang, der mein Erstaunen erregte. Darf man denn so gehen, überlegte ich und wickelte mich in meine komische Mißlaune wie in einen Pelz, den man in der Wärme für einige Zeit ungern abgestreift hat.
Ich weiß nicht mehr, wie es kam, daß wir uns bald darauf zu kleinen Spaziergängen verabredeten. Ich glaube, ich war es, der sie zuerst dazu aufforderte, und zwar rief ich sie telefonisch an. Aber warum ich es tat, kann ich heute nicht mehr sagen. Es ist ja oft so, daß die geringfügigen Anlässe zu den allerentscheidendsten Entschließungen völlig im dunkeln liegen und späterhin nie mehr zu ergründen sind. Vielleicht war ein Tonfall, ein Blick, eine Handbewegung, ein Lächeln, ein beiläufiges Wort in mir geblieben; ich weiß es nicht mehr. Auch das ist mir entfallen, ob es nach längerer oder schon nach kurzer Bekanntschaft geschah, daß ich ihr die Druckbogen meines neuen Romans zum Lesen gab, jenes Buches, das mir den ersten breiten und nachhaltigen Erfolg verschaffte. Es war der Roman einer Stadt, deutschen Mittelstadt, ein geschlossenes Gebilde, balladesk in der Führung der Figuren und finster in der Lebensstimmung wie das meiste, was ich geschrieben habe, jedoch reich an volkhaften Zügen, die die spätere Wirkung erklärten. Es war der Tribut, den ich meiner deutschen Heimat leistete, der gestaltgewordene Dank an das deutsche Volk, eine Kriegsgabe in gewissem Sinn, da ich doch nicht mit den Waffen in seinen Reihen stand.
An die Umstände, unter denen ich Bettina das Buch brachte, kann ich mich, wie gesagt, nicht erinnern, wohl aber habe ich das, was sie nach der Lektüre darüber äußerte, ziemlich genau im Gedächtnis behalten, schon darum, weil es etwas ganz anderes war, als ich erwartet hatte. Ich hatte gehofft, sie würde begeistert sein. In meiner naiven Autoreneitelkeit hatte ich daran um so weniger gezweifelt, als ich ja wußte, daß sie meine bisherige Produktion mit Teilnahme verfolgt hatte, sich sogar offen zu denen bekannte, die meine engere Gemeinde bildeten. Das hatte auch meinen anfänglichen Widerstand gegen sie besiegt, ich muß es zugeben, obgleich es meiner Objektivität kein rühmliches Zeugnis ausstellt. Nun aber stieß ich statt auf die erhoffte enthusiastische Zustimmung auf eine Trockenheit, die mich ein wenig aus der Fassung brachte. Ich war bis dahin keiner Frau begegnet, die mit höheren Bedingnissen an meine Arbeit herantrat. Vor allem gewöhnt an Gannas uneingeschränkte Bewunderung, die sich ohne vergleichenden Maßstab stets in Superlativen bewegte, fand ich mich durch Bettinas mutige Rückhaltlosigkeit unglücklich bedrängt. Sie verhehlte nicht, daß manche Partien des Buches sie ergriffen, manche Figuren überzeugt hätten, allein im ganzen war es ihr zu schwer, nicht geistig, sondern im Gefühl, im Bau, zu schwer und, das Wort machte mich stutzig, zu barbarisch. Darauf gab es natürlich kaum einen Einwand, indessen, man will sich rechtfertigen oder erklären, und ich sehe noch den eigentümlich festen und gespannt aufmerkenden Blick ihrer grüngrauen Augen, als ich ihr meine Absichten auseinandersetzte. Sie begriff außerordentlich rasch, sie hatte eine fabelhafte Einfühlungsgabe, und was mir besonders auffiel, war ihr nervenmäßiges Verständnis für alles Rhythmische, seine leisesten Nuancen und Schwingungen. Jedoch konnte sie sich mit der kleinbürgerlichen Welt nicht befreunden, die ich da gemalt; sie war ihr zu vertrackt, zu voll von Larven und Gespenstern, nicht schwebend genug, im Erotischen zu dumpf, zu qualmig, zu gepreßt. Bei dieser Gelegenheit kam sie auf das Gegensätzliche des Österreichischen und dessen, was man jetzt als deutsch in den Himmel hebe, das, was sie und ihre Freunde das Neudeutsche nannten, auch auf die überhebliche Geringschätzung, die österreichische Form und Helligkeit, Weichheit und Urbanität bei den geschworenen Preußen erfahre; das könne sie gar nicht aushalten. Ich hörte ihr zu, ich schaute sie an, ich sagte mir: Sie ist nicht nur die Tochter eines Künstlers, sie ist selbst eine Künstlerin. Ja, das war sie, und zwar durch und durch, mit jeder Faser, mit jedem Hauch, mit einer Kraft und inneren Folgerichtigkeit, die mir bei einer Frau gänzlich neu waren. Kein Wunder, daß sie da gar bald meine Vertraute und mein Kamerad wurde. Es war eine durch die Natur und meine Seelenlage bedungene Verbindung.
Und nun muß ich etwas Seltsames erwähnen. Lange Zeit hindurch befand ich mich über meine Beziehung zu Bettina im unklaren. Ich wußte nicht einmal, ob sie mir gefiel oder nicht. Als ich, ganz allmählich, in meiner rechenschaftslosen Weise, entdeckte, daß ich sie liebte, nahm ich zu meinem Erstaunen wahr, daß ich noch immer keine Spur von Verliebtheit empfand. Und als diese Liebe schließlich von meinem Körper, meiner Seele, meinem Herzen, meinem Geist, mit einem Wort um und um Besitz von mir ergriffen hatte, glaubte ich noch immer an eine Art von sublimer Gefährtenschaft, ohne Tragweite in die Zukunft, ohne fesselnde Verpflichtung. Wie ging das zu? Es war mir jedenfalls noch nie passiert. Vielleicht kam es daher, daß nichts Dunkles, Hinlangendes in ihr war, nichts, das erobern und festhalten wollte, nichts, was nach Versicherungen und Gelöbnissen aussah, daß sie mich einfach in meiner Freiheit ruhen ließ und selber geduldig und gelassen wartete, was da werden mochte. Vielleicht, weil sie nicht krampfig war und nicht süchtig und nicht gierig und nicht zweckbesessen und ihr von dem, was Glück spendet und Glück wahrt, eine so wundervoll schwebende Vorstellung innewohnte. Entschieden war es dies, das Leichte und Beschwingte, das ich anfangs so verdrießlich abgelehnt hatte und das nun wie ein völlig neues Element gewichteverteilend in mein Leben trat. Mit den andern hatte immer etwas nicht gestimmt, die Sinne oder die Anschauungen oder die Charaktere oder der Geschmack oder das Lebensgefühl, dann war man in die Untiefe geraten, wo man strandete. Hier stimmte es nicht nur, sondern fügte sich auch mit jedem Tag aufs allernatürlichste fester zusammen. Es war, wie wenn man nach jahrzehntelangem Aufenthalt unter einem das Gemüt verdüsternden Regenhimmel endlich das blaue Firmament über sich erblickt, das sich nur selten trübt. Manchmal dachte ich mit Sorge: Wird es auch so bleiben? Kann es so bleiben? Wird sie nicht das Gift meiner Dunkelheit in sich saugen?
Lange sträubte sich Bettina, zu uns ins Haus zu kommen. Da es Leute gab, die von mir als einem Manne redeten, der jeden Tag zum Frühstück eine Jungfrau verspeist, hinderte sie in der ersten Zeit ihr Selbstgefühl daran, mir gehorsam zuzulaufen wie ein Hündchen, das apportiert, wenn man es ruft. So drückte sie es späterhin einmal spöttisch aus. Zudem hatte ich versäumt, auch ihren Mann einzuladen, als ich sie zu einem Besuch aufforderte, das nahm sie mir übel. Dann gab es einen richtigen Gesellschaftsabend, an welchem Paul Merck, die Waldbauers und einige andere Freunde erschienen. Sie tauten freilich erst auf, als sich Ganna, die sich unter diesen Menschen fremd fühlte, zurückgezogen hatte. Bettina mochte unser Haus nicht. Sie sprach nicht darüber, doch ich spürte es. Sie fröstelte, wenn sie es betrat. Bisweilen fragte ich sie nach dem Grund, aber sie schüttelte nur abweisend den Kopf. Daß ihr die Räume nicht zusagten, das etwas Extravagante der Anlage, ließ sich bei ihrem konservativen Geschmack leicht begreifen, aber ich mußte alsbald fürchten, daß es hauptsächlich die Herrin war, zu der sie in ihrem Innern kein Verhältnis finden konnte. In der Tat, sie konnte es mir auf die Dauer nicht verbergen, war Ganna für sie das unfaßlichste Wesen unter der Sonne, und sooft ich den Versuch machte, ihr Gannas Charakter und Seelenbeschaffenheit zu erklären, die großen sittlichen und geistigen Eigenschaften rühmte, die Ganna nach meiner Überzeugung besaß, hörte sie mir still zu, mit einem sonderbaren, neugierigen Glanz in den Augen, doch ohne jemals auch nur mit einer Silbe einen Zweifel laut werden zu lassen. Dies hätte sie sich nie erlaubt. Nun wußte ich aber, daß sie eine äußerst scharfe Beobachterin war, in einer Art, daß ich mir manchmal, gegenüber der Sicherheit und Schnelligkeit ihrer Auffassung, wie ein kleiner Junge vorkam und mit offenem Mund dastand, wenn sie mir irgendeinen Vorgang mit Einzelheiten schilderte, von denen ich kaum eine einzige wahrgenommen hatte. Doch gehörte sie nicht zu den Menschen, die sich daraus eine geistige Einnahmequelle machen. Sie verstand zu schweigen, und zwar so lange zu schweigen, bis es dringlich an der Zeit war, zu reden. Und es war auch so mit ihr, daß sie viele Dinge sah und hörte, die nicht zu sehen und zu hören sie aus gewissen Erwägungen heraus beschlossen hatte. Aus dem, was sie bemerkte oder nicht bemerkte, notierte oder nicht notierte, aufnahm oder an sich vorübergehen ließ, hätte man eine ziemlich umfassende Beschreibung ihres Charakters aufbauen können. Zum Beispiel wußte sie, wie alle Welt es wußte, daß sich Ganna nicht nur langmütig von mir betrügen ließ (Bettina nannte es »betrügen«, obgleich bei meinem offenen Verfahren gegen Ganna von Betrug nicht die Rede sein konnte), sondern sich auch mit meinen Abenteuern brüstete, um den Menschen zu verstehen zu geben, an ihr gemessen seien alle andern Frauen nichts wie vorübergehend begünstigte Kebsen. Bettina wußte es und deckte es in ihrem Bewußtsein wieder zu. Sie tat es gleichsam im Namen aller Frauen, die dadurch beleidigt wurden, auch im Namen Gannas. Sie war der Meinung, daß man die Menschen zu sehr entehre, wenn man nicht ignoriert, wozu sie sich erniedrigen. Ich, mit meiner damaligen morschen Auffassung eines Libertins, zuckte die Achseln darüber und fand Gannas Haltung durchaus preisenswert.
Unglücklicherweise (für mich unglücklicherweise, da ich ängstlich darauf bedacht war, Ganna in Bettinas Achtung zu halten) geschah einmal in Bettinas Gegenwart folgendes: Ganna hatte dem Hausmädchen eingeschärft, es solle aufpassen, ob Elisabeths Klavierlehrerin den Unterricht nicht zu früh abbreche, wie sie zu argwöhnen Ursache hatte. Als ihr mitgeteilt wurde, das Fräulein sei soeben aus dem Zimmer gegangen, acht Minuten vor der Zeit, eilte sie in den Flur, wo Bettina eben ihren Mantel anzog, und stellte die Bestürzte schroff zur Rede. »Sie haben pünktlich zu sein«, schnaubte sie die zitternde Lehrerin an, »pünktlich zu kommen und pünktlich zu gehen, dafür bezahle ich Sie. Wenn Sie das nicht wollen, dann ersparen Sie sich künftig den Weg.« Ich muß ehrlich gestehen, mich beirrte das nicht weiter, es prallte an mir ab, wahrscheinlich weil ich an derartige Auftritte längst gewöhnt war. Man wird stumpf; ich hatte mich daran stumpf gelebt. Aber Bettina war leichenblaß geworden. Ich bezahle Sie: das einem Menschen zu sagen! Es war ihr unheimlich dabei zumute. Viel, viel später, als sie mich an die Szene erinnerte, gestand sie mir, sie sei nahe daran gewesen, Ganna am Handgelenk zu packen und ihr zuzurufen: Frau, Frau, besinnen Sie sich doch! Wie führen Sie sich denn auf! Ich begriff es nicht recht. Für mich war es ein Temperamentsausbruch, weiter nichts. Ganna ist eben, wie sie ist, tröstete ich mich und andere, man muß auch das Üble schlucken, wenn man daneben des Guten genießen will. Und so sah ich nicht, wünschte nicht zu sehen, was da wuchs und wurde.
Dennoch wurde mir auf Schritt und Tritt bewußt, daß sich die Situation gegen früher einschneidend verändert hatte. Von einer gewissen Zeit an konnte ich Ganna die Offenheit nicht mehr zeigen, die mir in den schlimmsten Stürmen unserer Ehe die Illusion der unzerstörbaren Einheit und Ganna den Glauben bewahrt hatte, sie allein sei die herrschende weibliche Macht in meinem Leben. Ich wich ihr aus. Ich schlug die Augen vor ihr nieder. Ich war kalt und verletzend gegen sie. Und vor allem: Ich entzog mich der ehelichen Gemeinschaft gänzlich. Das war vorher nie geschehen. Ein Zärtlichkeitsalmosen für Ganna war immer übriggeblieben: Troststunde, Bestechungszahlung. Auf einmal war es nicht mehr möglich. Bettina war dawider. Nicht als hätte sie es verlangt oder erwartet; bewahre. Aber ihre Art zu sein war dawider, eine wahre und redliche Art zu sein. Eine Art zu sein, die in mich hineinfloß als das Entsprechende und mich umformte.
Ein Abend im November lebt in meiner Erinnerung wie ein Stück Grauen.
Es ist spät, als ich nach Hause komme. Ich habe ein beglückendes Erlebnis gehabt. Bettina hat mir auf der Geige vorgespielt, zum erstenmal seit den sieben Monaten, da ich sie kenne. Eine ganze Bach-Suite, schließend mit der Chaconne. Es ist nicht eben eine Meisterleistung gewesen; das große Letzte der Großen war nicht darin; aber wieviel Gesang, wieviel Schmelz, wieviel reine Kraft und inniges Feuer; und wie geheimnisvoll verwandt meinem Puls und Herzschlag, als hätte ich selber gespielt, selber die Rhythmen erfunden. Eine unvergeßliche Stunde, die mir eine hinter dem heiteren Weltkind verborgene Bettina gezeigt hatte.
Und nun starren mich die weißgekalkten Wände der Halle, die zugleich Eßzimmer ist, nüchtern an, und die närrisch verbogenen Beleuchtungskörper drohen wie emporgereckte Arme. Rasch noch zur kleinen Doris, einen Blick auf die geliebte Schläferin, rasch ein paar Bissen hinuntergewürgt, dann will ich an die Arbeit. Aber an der andern Seite des Tisches sitzt Ganna, die Augen voll glühendem Vorwurf, die Lippen zuckend, die Arme verschränkt, das ganze Weib eine einzige stumme Klage und Anklage.
Ich sollte gehen. Ich sollte ihr gute Nacht sagen und in meine Sternwarte hinaufgehen. Mein Bleiben ebnet der fälligen Erörterung die Bahn. »Warum kommst du so spät? Wo bist du gewesen?« Natürlich weiß sie, wo ich gewesen bin. »Was ist denn mit dir, Alexander? Hast du mich ganz vergessen? Bin ich dir gar nichts mehr?« Dann drängender, bitterer: »Deine ganze Zeit gehört jetzt dieser Frau. Du affichierst dich ja mit ihr. Die fremdesten Leute reden schon darüber.« Ich schweige noch immer. Ich gehe herum und starre in die Ecken. Ganna fährt fort: »Ich habe ja nichts dagegen, daß du dich auslebst. Hab' ich es je an gutem Willen fehlen lassen? Aber gerade deshalb werde ich zu Tode gequält.« Mein Schweigen reizt sie. Sie ringt die Hände. »Wie kannst du nur, Alexander! Ein Mann wie du! Die Person macht mit dir, was sie will. Hast du denn kein Erbarmen?«
Ich verliere wieder den Arbeitsabend, dachte ich; wenn ich jetzt hinausgehe und ihr freundlich gute Nacht sage, wird sie sich zufriedengeben, sie hat ja ein so merkwürdig brüchiges Gedächtnis. Aber ich kann nicht. Ich kann mich nicht entfernen und damit die aufdräuende Greuelszene im Keim ersticken. Es ist die Furcht, die mich daran hindert. Die bare, nackte Furcht. Ich muß das, so gut es mir möglich ist, erläutern. Ganna hat die schreckliche Gabe, meine Phantasie aufs äußerste zu beunruhigen. Kein anderer Mensch ist hierzu in gleichem Maß befähigt. Das ist auch ihre Macht über mich, die nicht etwa im Schwinden ist, sondern noch immer zunimmt. Sie weiß es. Sie weiß, daß ich es nicht übers Herz bringe, sie sitzen und ins Leere brüten zu lassen. Wenn ich in Ruf- und Reichweite bin, kann es trotz des »brüchigen Gedächtnisses« geschehen, daß sie eine Katastrophe heraufbeschwört. So malt es sich in meinem Geist, obwohl ich nicht zu sagen vermag, welcher Art diese Katastrophe ist. Es würde ja schließlich genügen, wenn sie einen Spiegel zerschlägt, die Dienstmädchen aus den Betten schreit; es ist sogar nicht unmöglich, daß sie sich etwas antut. Nichts ist bei ihr unmöglich. Von einer Minute zur andern schaltet sie vorsätzlich das Bewußtsein aus, ein ziemlich rätselhafter Vorgang, und ist dann nicht mehr verantwortlich für sich. Sie wird vor einem öffentlichen Skandal nicht zurückschrecken. Ist sie doch einmal in Ebenweiler nach einem Streit in einer Sturmnacht ins Gebirge gelaufen, und ich habe sie von Jägern und Bauern suchen lassen müssen. Ereignet sich dergleichen, so ist es mit dem ohnehin ständig bedrohten Arbeitsfrieden für Wochen vorbei. Davor zittere ich. Meine Überlegung ist: Um jeden Preis alles hinhalten, bis das Werk fertig ist; dann wird man die Arme frei haben; dann wird man handeln können. Selbstbetrug. Denn da das Werk niemals fertig sein wird, immer nur ein Buch, und ich mich von einem Buch ins andere stürze wie einer, der im Ozean um sein Leben schwimmt, von Woge zu Woge, ist nicht abzusehen, wann ich mit dem Handeln beginnen soll. So hat sich die Vorstellung in meinem Hirn eingegraben, daß meine Gegenwart das einzige Mittel ist, Ganna an einem zerstörerischen Attentat gegen meine Existenz zu hindern. (Und in einem gewissen Sinn hat sich diese Vorstellung später als richtig erwiesen.) Zugleich aber weiß ich, es ist lediglich meine Gegenwart, die ihr den Mut zur Raserei gibt. Wie findet man aus diesem Dilemma heraus? Welcher Mann von Herz bringt es schließlich über sich, eine Frau in einer schmerzlichen Stunde allein zu lassen, wenn er weiß, daß damit ihr Lebensraum verödet ist, daß sie ausgebrannt in sich zusammenfällt?
Und so mache ich mich zur Beute ihrer Gemütsausschweifung. Um jenes eingebildete Schlimmste zu verhüten, nehme ich das tatsächlich Unerträgliche auf mich. Es ist wie eine Schwefelwolke. Ganna ergeht sich in maßlosen Schmähungen Bettinas. Ich verliere die Besinnung. Ich schreie sie an. Das aber will sie, mich aus der Ruhe reißen, das ist ihre Genugtuung und Rache. Die Worte fliegen herüber und hinüber wie Giftpfeile. Da öffnet sich unhörbar die Tür. Aus dem Schlaf geschreckt tritt im Nachthemd Elisabeth auf die Schwelle. In tiefer, halbverschlafener Verstörtheit schaut sie Vater und Mutter an. Dieser Kinderblick! Er macht mich schuldig für ewig. Ich nehme sie auf den Arm und trage sie mit schweigenden Liebkosungen ins Bett zurück. Als ich wieder bei Ganna bin, sitzt sie da und weint. Sie kann weinen. Ich habe keine Tränen.
Es läßt sich nicht verkennen: Ein geschlagener Hund könnte nicht ärger leiden als Ganna. Die Welt ist ihr verrückt. Denn ihre Welt bin ich. Sie kann das Geschehene nicht fassen. Es ist, als ob man ihr langsam das Herz aus der Brust operierte. In der Nacht liegt sie schlaflos und überdenkt alles, ihr tränenverschleierter Blick hält kein Bild mehr fest. Sie grübelt darüber nach, was sie wohl verbrochen hat. Sie kann nämlich beim besten Willen keinen Fehler an sich entdecken. Sie hat stets ihre Pflicht erfüllt, dünkt ihr, sie war von den reinsten Absichten beseelt. Sie findet, wenn das Leben zu schwer ist für zwei so schwache Arme wie die ihren, sollte man Mitleid mit ihr haben. Daß sie mich mitleidlos sieht oder glaubt, macht sie an allem irre. Sie läßt durchblicken, ein böser Zauber sei in mich gefahren, sonst könnte ich nicht ihre Liebe vergessen und daß kein anderes Weib auf Erden lebt, das mir so grenzenlos ergeben ist. Es ist zwar ihre unerschütterliche Überzeugung, daß ich niemals von ihr weggehen werde, so hätte ich mich ja selbst oft genug geäußert, gibt sie mir mit einem beängstigenden Auflodern in ihren Augen zu verstehen, aber warum nähme ich sie denn nicht jetzt schon bei der Hand, um sie herauszuführen aus dem Labyrinth ihres großen Kummers? Und sie baut sich eine Hoffnung. Ich will sie nur auf die Probe stellen, denkt sie sich aus; ich will die Tragkraft ihrer Liebe prüfen. Immerhin bedürfe es hierzu so drastischer Mittel nicht, das sagt sie mit dem reizend unschuldigen Lächeln, das in seltenen Momenten noch in ihrem Gesicht aufschimmert, nicht so herzbrechender; ich könnte ihr doch gelegentlich einmal andeuten, daß sie wieder meine Ganna sein würde, wenn sie die Probe bestanden hat, könnte mit ihr einen Spaziergang machen, wonach sie sich so sehnt, könnte ihr eine einzige kleine Zärtlichkeit sagen wie in früheren Zeiten. Sie muß sich wundern, wie dumm die Männer sind. Sie hätten es so leicht mit den Frauen und machen es so verkehrt. Doch dieses philosophische Staunen über die Verblendung der »Männer« ändert nichts daran, daß ihre Brust vor Weh verbrennt und ich dastehe wie der Sebastian am Marterpfahl ...
Warum aber auf einmal diese Aufregung, diese Angst, dieses Verlustfieber, da sie sich doch jahrelang gegenüber meinen Seitensprüngen, wie sie es nannte, einer wohlwollenden Neutralität befleißigt hat? Es entgeht ihr eben nicht, daß alles anders ist als bei andern Frauen. Sie befindet sich vor einer Unerklärlichkeit. Was kann denn an dieser Bettina Merck so Besonderes sein, fragt sie sich, fragt sie zuweilen auch mich. Sie studiert sie. Sie möchte ihr gerecht werden. Doch sie begreift die Anziehungskraft nicht, die sie auf mich ausübt. Sie findet sie weder schön noch geistvoll. Ja, wenn sie geistvoll wäre. Sie ist auch keine erste Jugend mehr. Offenbar, argumentiert Ganna voller Gram, sind es raffinierte Künste, deren sie sich bedient: Ich mit meiner Einfachheit und Geradheit komme dagegen nicht auf; jene ist rasend geschickt, es scheint, man muß geschickt sein; ich wollte, ich könnte es lernen, aber ich bin zu ehrlich dazu; außerdem ist sie eine gewissenlose Draufgängerin und pfeift auf die Meinung der Welt. Oder sie bohrt solcherart: Die hat's gut; reiche Leute; der Mann den ganzen Tag im Geschäft; keine Sorgen, als wie sie sich putzen und die Modistin und die Friseurin ins Verdienen setzen kann; ich dagegen, eine abgerackerte Frau, die keine Zeit hat, an sich zu denken; ich hab's ja immer gesagt: Verderbt muß man sein, herzlos, vor nichts haltmachen, keine Seele im Leibe haben, das wirkt auf so einen sensationslüsternen Mann ...
Ich gebe diese Gedankengänge wieder, weil ich sie nicht nur aus gelegentlichen Reden und Andeutungen, sondern auch aus dem tiefsten Einblick kannte, den man sich in eine menschliche Natur verschaffen kann. Das Interessante an ihnen liegt immer in dem Zweiteiligen, dem scharfen Wechsel zwischen Licht und Schatten, Erkenntnis und Vernageltheit, Angst und Haß, Torheit und Wildheit, Verdächtigung und Selbstunsicherheit. Wäre ihr Denken weniger zerstückt gewesen, ihr Gefühl weniger aussetzend, es hätte sie niedergeworfen. Jedoch erstreckte sich ihre innere Zerstreutheit auch auf den Schmerz, daher konnte sie in abgerissenen Augenblicken, die wie Korkstücke auf gischtigem Wasser trieben, ganz friedlich und guter Dinge sein. Freilich wurden die Fristen immer kürzer, in denen es ihr verstattet war, halbverloschen zu träumen und sich die Zukunft selig auszumalen. Es erfolgte Stoß auf Stoß gegen ihr Gemüt, das Leben zeigte ihr die Zähne. Es traf sie mitten ins Herz, als sie erfuhr, daß ich Teile meiner neuen Arbeit dem Freundeskreis um Bettina vorlas. Daß ich sie nicht ein einziges Mal dazu gebeten hatte, erregte die bitterste Eifersucht in ihr, die sie je verspürt, ärger als jede körperliche. Sie fühlte sich verstoßen und ausgestoßen. Doch es war leider schon so weit mit mir, daß ich Ganna als Zuhörerin nicht haben wollte, weil die Freunde sie nicht haben wollten. Ganna war ihnen unsagbar fremd. Sie fügte sich nicht ein, sie kannte die Bräuche nicht, sie verstieß gegen den Takt. Das kam natürlich nicht zur Sprache, aber es konnte mir nicht verborgen bleiben. Ich litt für Ganna, um Ganna. Es war nicht zu ändern. Und dann, Ganna und Bettina im selben Raum und ich zwischen beiden, als Stimme nur, es hätte eine tödliche Dissonanz ergeben. Um nun Ganna einigermaßen zu versöhnen, nahm ich meine Zuflucht zu einer Lüge; ihr Gefühl und Urteil sei mir so wichtig, erklärte ich ihr, daß ich sie allein vor mir haben müsse, ich brauche den unmittelbaren Kontakt mit ihr. Obwohl sie mir nicht ganz zu glauben wagte, halb glaubte sie mir doch, und vielleicht habe ich ihr damit über das Schlimmste dieser Enttäuschung für eine Weile hinweggeholfen. Aber da es eben nur für eine Weile sein konnte, war meine Lüge in einem tieferen Sinn viel grausamer und verräterischer, als die rücksichtslose Wahrheit es hätte sein können.
Hätte Ganna nur ein klein wenig Weltverstand gehabt, wäre sie nur eine Spur gehemmter und beherrschter gewesen, es wäre mir nicht so schwer gefallen, den Freunden einiges Verständnis für ihre barocke, sprunghafte und konventionslose Art beizubringen; andere, verhängnisvollere ihrer Eigenschaften verhehlte ich mir ja damals noch krampfhaft. Aber Ganna tut selber alles, um sich verhaßt, mehr, um sich gefürchtet zu machen. So winzige Hände, und was können sie nicht ausreißen, so winzige Füße, und was können sie nicht zertreten! Eines Tages schießt sie zum Telefon, läßt sich mit Paul Merck verbinden, teilt ihm mit, sie hätte gehört, daß seine beiden Töchter Schafblattern hätten und daß unter diesen Umständen unser Arzt einen direkten Verkehr zwischen beiden Familien nicht für wünschenswert halte. Und sie schloß mit den unglaublichen Worten: »Ich möchte Sie dringend ersuchen, Herr Merck, daß Sie Ihrer Frau den Verkehr mit meinem Mann so lange verbieten, bis die Ansteckungsgefahr vorüber ist.« Paul Merck, ein wohlerzogener Mann, wußte nicht, wie ihm geschah. »Verzeihung«, stotterte er in den Apparat, »ich bin nicht gewohnt, meiner Frau etwas zu verbieten.« Er legte den Hörer weg, als sei er glühend gewesen, so erzählte mir Bettina später, griff nach einer dicken Broschüre und riß sie in seinem Zorn mittendurch, was für einen Athleten ein Kraftstück gewesen wäre.
Mich überlief es kalt, als ich die Geschichte vernahm, und bei dem nächsten Zusammensein mit Paul Merck bemühte ich mich, Entschuldigungsgründe für Ganna zu finden. Ich ging noch weiter; ich sprach von Gannas Ungewöhnlichkeit als Erscheinung, von ihrer Genialität als Weib, ihrer geistigen und menschlichen Bedeutung und ereiferte mich derart, daß sowohl Paul Merck wie Bettina mich in höchster Verwunderung schweigend anstarrten. Merck konnte schließlich ein skeptisch-amüsiertes Lächeln nicht unterdrücken, aber dies steigerte nur meine advokatische Glut. In Bettinas Gesicht verriet kein Zug irgendwelchen Zweifel, weder Neugier noch Teilnahme. Sie sah aus, als berichte ich etwas von einer Dame in Neuseeland.
Indessen hatte sich Ganna vorgenommen, zu Bettina zu gehen, um selbst mit ihr zu sprechen. Sie ist doch eine gescheite Person, war Gannas Gedanke, vielleicht hat sie ein Einsehen. Sie hatte zwar das Gefühl, als spaziere sie direkt in den Rachen des Löwen, aber da sie von ihrer Überlegenheit durchdrungen war, hielt sie den Erfolg für ziemlich sicher, und so sagte sie sich in aller Form bei Bettina an. Diese sah der Unterredung mit Herzklopfen entgegen, doch davon war ihr nichts anzumerken, als sie Ganna mit der Artigkeit empfing, die sie jedem Gast in ihrem Haus bezeigte. Sie hat mir nachher den Verlauf des Gesprächs beschrieben, aber erst viele Monate später schilderte sie gewisse Einzelheiten, mit denen sie mich damals, unter dem deprimierenden ersten Eindruck, hatte verschonen wollen.
Reizend gedeckter Tisch, nach bewährtem Rezept zubereiteter Tee, Platte mit belegten Broten, etwas dürftig belegt, die Zeiten erlauben es nicht anders, aber für Ganna ist es ein Festmahl. Sie ist ausgehungert. Sie sieht schlecht aus, zerquält und müde. Ihr Kleid ist mindestens drei Jahre alt und sitzt unordentlich. Bettina hat heftiges Mitleid mit ihr, redet ihr zum Essen zu und gießt immer wieder Tee ein. Ganna läßt sich's munden. Ihr Blick schweift durch das Zimmer. Sie äußert sich wehmütig-anerkennend über die geschmackvolle Einrichtung. »Ja, Geschmack haben Sie«, spricht sie traurig vor sich hin, »das muß Ihnen der Neid lassen. Aber dazu gehört Zeit.« Bettina gibt rücksichtsvoll zu verstehen, sie halte es nicht für einen Fehler, Zeit zu haben. »Nein, aber es verleitet dazu, daß man die eigenen Interessen zu stark kultiviert«, bemerkt Ganna lehrhaft und mit einem wohlvorbereiteten Stich. Es käme auf die Art der Interessen an, meint Bettina kühl. Ganna lacht etwas hart. »Nun, was das betrifft, so beschränken sie sich bei Ihnen doch hauptsächlich auf Ihre Person«, sagt sie. Bettina ist erstaunt über so viel Kenntnis ihrer Natur. »Ich sehe ja an Alexander, wie leicht man diesen Äußerlichkeiten verfällt«, fährt Ganna fort; »seit er mit Ihnen verkehrt, ist ihm kein Anzug mehr elegant genug, früher war er so bescheiden, jetzt weiß er auf einmal, wo man Krawatten kaufen muß, und verlangt, Gott, wie komisch, daß seine Hosen jede Woche in der Falte gebügelt werden. Ich lache mich tot.« Bettina versteht nicht, warum dies zum Totlachen ist, aber aus Gefälligkeit stimmt sie in Gannas ziemlich gezwungenes Lachen fröhlich ein. Da glaubt Ganna den Augenblick gekommen, um aufs Ziel loszugehen. »Sie müssen deswegen nicht denken, Frau Merck«, sagt sie mit messerscharfer Stimme, »daß Sie mit solchen mondänen Allüren meinen Mann kapern können. O nein. Da müßten andere kommen und sind auch andere dagewesen. Überhaupt, meine Ehe mit Alexander, das verrat' ich Ihnen nur aus Nettigkeit, damit Sie orientiert sind, falls Sie es noch nicht wissen, meine Ehe mit Alexander ist ein Rocher de bronze. Niemals, mag geschehen, was will, niemals wird sich Alexander von mir scheiden lassen. Darüber bin ich ganz beruhigt. Glauben Sie ja nicht, daß ich mir Sorgen mache. Ich möchte nur verhüten, daß Sie sich in der Hinsicht falschen Hoffnungen hingeben.« Bettina muß sich erst fassen. Ein derartiger Platzregen von Schrecklichkeiten ist ihr, so lange sie denken kann, nicht auf den Kopf gefallen. Auch jetzt wieder ist ihr, als müsse sie Ganna packen und ihr zurufen: Frau, was reden Sie denn! Besinnen Sie sich doch! So was ist ja unter Menschen nicht möglich! Sie zwingt sich zu einem Lächeln und erwidert im Ton, wie man zu einem phantasierenden Kind spricht: »Sie haben bestimmt Recht, Frau Ganna. Sie brauchen mir das wirklich nicht zu sagen. Niemand hat die Absicht, Ihnen Alexander wegzunehmen.« Ganna stößt einen Laut aus, der wie ein drohendes Knurren klingt. »Ich wollte es auch niemand raten«, sagt sie barsch abschließend und erhebt sich, Bettina begleitet sie in den Flur und hilft ihr beim Anziehen des Mantels. Sie trägt ihr Grüße an die Kinder auf. Ganna ist gerührt. Sie verabschiedet sich mit gefühlvollen Dankesbezeigungen. Sie hat keine Ahnung, wie töricht und verletzend sie sich benommen hat. Sie trägt den Kopf hoch und freut sich über ihren Sieg. Bettina, als sie wieder allein ist, hat einen Schwindelanfall. Sie reißt die Fenster auf. Ihre Füße sind eiskalt, die Fingernägel blau. Sie friert bis ins Mark. Sie geht ins Schlafzimmer, entkleidet sich und fällt ins Bett. Den ganzen Tag über ist ihr sterbenselend. Sie sucht das Furchtbare zu vergessen. Es muß aus ihr heraus. Es darf nicht in ihr drin sein. Als sie mir von dem Besuch erzählte, bebend, fröstelnd, verhalten, war schon eine Woche darüber vergangen.
Da sich alle meine früheren Verhältnisse nach einem Jahr, höchstens nach zweien, friedlich ab- und ausgelebt hatten, wartete Ganna auch diesmal trotz tieferer Beunruhigung zuversichtlich auf das Ende. Als das Ende nicht kommen wollte, trat eine völlige Gleichgewichtsstörung bei ihr ein. Düsterer alter Aberglaube erwachte in ihr. Bisweilen äußerte sie allen Ernstes den Verdacht, Bettina müsse mir einen Zaubertrank eingegeben haben. Jedenfalls schien ihr die Gefahr einer dauernden Liebesknechtschaft so groß, daß sie auf Mittel und Wege sann, mich aus Bettinas vermeintlichen Netzen zu befreien. Auf dieser Grundlage erhob sich eine der unzerstörbaren Ganna-Fiktionen, mit deren Hilfe sie sich immer eine Weile seelisch über Wasser hielt: Ich schmachtete nach ihrer Ansicht in einer widerwillig ertragenen sexuellen Hörigkeit, in welcher ich von dem Wunsch gequält wurde, mich den Banden der herzlosen Circe zu entziehen und der viel echter geliebten Ganna wieder in die Arme zu sinken. Sie ließ es nur nicht zu, die grausame Verführerin, sie schläferte mich mit ihrem Liebesgift ein und beraubte mich so sehr meiner Mannheit, daß ich Ganna vor ihr verleugnen mußte, was um so leichter war, als es die Circe selbstverständlich fertigbrachte, alle Tugenden Gannas in Laster umzudeuten. Doch mit dieser noch ziemlich harmlosen Verzerrung der Wirklichkeit begnügte sich Ganna keineswegs. Allmählich befestigte sich in ihr die Vorstellung, Bettina habe bei dem Zwangsverkauf der Wiese ihre Hand im Spiel gehabt; nicht bloß Bettina allein, die ganze »Waldbauer-Clique« sei daran beteiligt gewesen, wie denn das einzige Bestreben dieser Leute und ihres gesamten Anhangs darauf ausginge, sie, Ganna, zu verleumden, mich ihr immer mehr zu entfremden und sie gänzlich zu vernichten.
Da nützte keine Widerrede, kein Nachweis des zutage liegenden Unsinns, kein Augenschein, kein Bitten, Beschwören oder Kopfschütteln, das wuchs und wuchs unaufhaltsam, verschwisterte sich mit andern Wahnideen, machte die Luft, in der ich atmete, zu einem schmutzigen Brei und den Himmel über mir schwärzer und schwärzer.
Ich müßte eigentlich viel mehr von Bettina erzählen, als ich bisher getan habe, aber es fällt mir schwer. Jedes Bild von ihr rückt sogleich in solche Nähe, daß mein Blick keinen Umriß mehr gewahrt, und ich kann mich nur darauf beschränken, Schritt für Schritt aufzuzeigen, was sich durch sie in meinem Innern und meinem Leben geändert hat. Ich denke, dies gibt einen deutlicheren Begriff von ihrem Wesen, als wenn ich mich weitläufig über ihre Eigenschaften, ihr Aussehen oder ihre verschiedenen Stimmungen verbreitete. Der Mensch, mit dem man wahrhaft lebt, ist ja auf eine sonderbare Weise unsichtbar, so wie man sich selber unsichtbar ist; man spürt ihn nur, man hat ihn in sich drin und entfaltet sich wiederum in ihm. Das Wort Liebe hat da gar keine rechte Bedeutung mehr.
Es ist klar, daß mir Bettinas Ehe von Anfang an viel zu denken gab. Ohne daß wir uns darüber ausdrücklich unterhalten hatten, schien es mir ausgemacht und zweifellos, daß sie sich in diesem Punkt nicht zu Halbheiten und Unaufrichtigkeiten erniedrigte. Nach und nach erkannte ich denn auch, wie die Dinge zwischen ihr und Paul lagen. Im Grunde sehr unverwickelt. Sie hatten sich als ganz junge Leute gern gehabt und ein wenig, wie auf Probe, geheiratet. Sie waren nicht schlecht dabei gefahren. In der ersten Zeit war es zu einigen unschuldigen Stürmen gekommen, dann hatten sie einen Freundschaftsvertrag geschlossen und lebten nun in herzlicher Verständigung mit- oder nebeneinander. Seit kurzem fühlten beide, daß ihre Beziehung einer neuen Ordnung und Klärung zutrieb. Sie sprachen oftmals darüber, in allem Frieden, sie machten einander das Herz nicht schwer. Bettina besaß keinerlei Vermögen; »ich bin wie ein Bettelbub in die Ehe getreten«, sagte sie mir einmal, »und wenn es sein muß, geh' ich wieder so heraus.« Und ein andermal äußerte sie: »Eine Ehe ist keine Versorgungsanstalt; über die Kinder einigt man sich, schon um der Kinder willen, und im übrigen, was geh' ich den Mann an, der mich oder den ich nicht mehr haben will?« Leicht sein, frei sein war alles. Manche Freunde, die ihr verwundert zusahen, wie sie ihren Faden spann, waren geneigt, es Schicksalsvertrauen zu nennen. Aber das war wohl ein zu anspruchsvolles Wort für sie. Sie war, ganz einfach, nicht wehleidig. Sie fürchtete sich nicht vor dem Leben. Sie brauchte keinen zahlenden Versorger. Sie verachtete jegliche Sicherheit.
Die Monate in der Stadt waren zerrüttend für uns beide. Es war die Zeit, da das Männermorden draußen stumpfe Gewöhnung wurde. Der Glaube, daß man mit dem Volk für eine gerechte Sache litt, wurde von allen Seiten unterhöhlt und brach zusammen. Nahe Menschen, die begeistert hinausgezogen waren, kehrten ruiniert an Leib und Seele heim, untauglich zu jedem Geschäft, Verlorene. An der Somme fiel ein Halbbruder von mir, den ich in seiner Jugend zärtlich geliebt hatte. Kein Brief, kein Gruß, schweigender Tod. Die hetzerischen Lügen von oben und unten und jenseits der Grenzen zermürbten das Herz. Die Üppigkeit der Reichen, ihr bacchantischer Taumel, war ein Schauspiel, das an Frechheit nicht überboten werden konnte. Während sie die Nächte vertanzten und verhurten, standen Armeen von Müttern vor den Bäcker- und Metzgerläden, ein Zug von Lemuren. Gar oft wanderte ich mit Bettina durch unbeleuchtete Vorstadtgassen; das ungeheure, massenhafte Elend betäubte uns. Abermals bat ich, mündlich und schriftlich, um Verwendung im Heer; das Gesuch erledigte sich, als ich an einer langwierigen Gallenkolik erkrankte. Ohne Bettina, ihr Mitleben, Mitatmen, auch in meiner Arbeit, hätte ich nicht weiter gewußt. »Darf man so aneinander Genüge finden?« fragte ich sie beklommen. »Ist es nicht eine Herausforderung des Schicksals? Zwei armselige Menschlein, die den Untergang um einen Augenblick des Glücks hinausschieben wollen; als ob's darauf ankäme, das Erwachen nicht um so gräßlicher wäre ...« Bettina nahm es nicht an. In aller Demut nahm sie es nicht an. Es gab einen Unheilsvogel, der schrie in den Nächten im Garten hinter ihrem Haus; sie hatte ihm, seinem Schrei nachgeformt, den Namen Giglaijo gegeben, und wenn sie ihn hörte, gefror jeder Blutstropfen in ihr. Aber sie besaß ja diese segensreiche Kraft im Vergessen des Bösen und Häßlichen, es war die andere Seite ihres Mutes, und wenn die Wurzeln in der Erde aufbrachen und die Sonne anfing, sich über einen gewissen Dachfirst zu erheben, fieberte sie dem Frühling entgegen und genas langsam vom Winter, der ihr Finsternis und Siechtum war. Sie hatte eben auch ihre Dunkelheiten in sich, und die dunklen Stunden der Heiteren sind oft viel dunkler als die der Dunklen.
Zu Sommersbeginn konnten wir uns loslösen aus der melancholischen Existenz in der Stadt. Es war zur festen Einrichtung geworden, daß wir die Zeit vom frühen Juni bis zur Septembermitte in Ebenweiler verbrachten. Ganna kam mit den Kindern erst im Juli, nach Schulschluß, und die Wochen, die wir für uns allein hatten, waren die Glücksinseln des Jahres. Dort, im heimatgewordenen Tal war es erlaubt, die brennende Welt zu vergessen. Man spottete nicht des Hochgerichts dabei, die Natur billigte es in ihrer erhabenen Gnade. Wenn der Geschützdonner im Süden dumpf herüberdröhnte, klang es wie Gottes Groll über eine Menschheit, die seine Schöpfung schändete; die Eismauern um den Gipfel waren wie zugeriegelte grüne Pforten, vor denen das Menschensterben haltmachte. Alles gehörte uns beiden, die Wälder, der See, die Bäche, die Brücken, die weißen Wege. Es gab Sternenabende, an denen das zitternde Firmament goldne Flocken auf das Bett unserer Liebe streute, und Regennächte, an denen alle Haßflammen der Erde ausgelöscht schienen. Ich wanderte hin und her, von meinem Haus zu Bettinas Haus, von Bettinas zu meinem, zu allen Stunden des Tages und der Nacht, abends, wenn die Kühe zur Tränke getrieben wurden, morgens, wenn der Bauer die Sense dengelte, der Tag hieß Bettina, die Nacht hieß Bettina, das Leben hieß Bettina.
Doch wenn Ganna da ist, muß dafür bezahlt werden. Mit unzähligen Kisten und Koffern, Rollen und Säcken rückt sie an, jedes Kind muß seine besonderen Spielsachen mithaben, für jedes mögliche Lesegelüst hat sie sich mit Büchern versorgt, es würde für fünf Jahre Einsamkeit und Kerker reichen. Ich mache ihr Vorhaltungen über das Zuviel an Transport, die Sachenüberschwemmung. Aber da komm' ich schön an; warum soll gerade sie verzichten, fragt sie kampflustig; wo sind denn ihre Toiletten, ihre Hüte, ihre vierzehn Paar Schuhe, will ich ihr die vielleicht zeigen? Ihren Liegesessel soll sie etwa nicht mitnehmen? Ihren Schopenhauer nicht? Seht mir doch diesen Mann an, der seine Frau geistig auf Wasser und Brot setzen will!
Ich hatte sie öfters flehentlich gebeten, Ebenweiler zu meiden. Sie habe doch das schöne Heim am Rande der Stadt, stellte ich ihr vor, die Kinder könnte sie mir für einige Zeit mit dem Mädchen schicken. Sie wies es entrüstet von sich. Sie lasse sich nicht verdrängen, sagte sie. Sie sei die legitime Frau. »Soll ich es dir und deiner Geliebten noch bequemer machen«, brauste sie auf; »damit die Leute glauben, ich hätte freiwillig abgedankt? Nein, den Gefallen tue ich der Person nicht. Was ihr mit mir treibt, schreit ohnehin zum Himmel.«
Bettina hatte schon im ersten Sommer ein Bauernhäuschen eine Viertelstunde von unserm entfernt gemietet. Es war unbedacht von ihr gewesen, sich in so bedrohlicher Nähe von Ganna niederzulassen. Aber sie gewann das Haus lieb und entschloß sich erst im vierten Sommer, eins am andern Ende des Tals zu beziehen. Zu spät begriffen wir auch, daß es ein Fehler war, einen Ort als gemeinsame Zuflucht zu wählen, wo ich durch jahrelange gesellschaftliche Beziehungen und als bekannte Figur sozusagen unter jedermanns Aufsicht stand. Allein die Landschaft war mir teuerer als jede andere; ich dankte ihr neben der eigentlichen Heimat alles, was äußere Natur, Atmosphäre, Wasser, Stein und Pflanze einem schauenden und schaffenden Menschen zu geben vermögen; ein anderer Schlupfwinkel fand sich nicht, und hätte er sich gefunden, Ganna hätte uns in jeden verfolgt. Am ehesten durften wir dort hoffen, gestützt auf meine Vertrautheit mit den Einheimischen, als freies Paar dem sonst unvermeidlichen Anathem zu entgehen.
Ganna nahm den Vorteil wahr, der sich ihr dadurch bot. Daß wir die bürgerliche Welt herausforderten, war ein Gewinnposten für sie. Ihre Märtyrermiene erweckte das Bedauern der Menschen. Wäre sie weniger geschäftig bemüht gewesen, Partei zu bilden, Ganna-Partei, sie hätte noch mehr Anhänger gehabt. Gleichwohl konnte es nicht ausbleiben, daß Bettina von gewissen Kreisen verfemt wurde. Kalte Blicke streiften sie; man tuschelte hinter ihr her; Verleumdung wirbelte auf wie Kehricht, wenn der Wind hineinbläst. An jedem zweiten oder dritten Tag wurde ihr ein herrisches Sendschreiben, eine befehlerische Botschaft Gannas überbracht. Sie aber ging darüber hinweg. Sie würdigte das alles ihrer Aufmerksamkeit nicht. Beflügelten Schrittes eilt sie dahin, ein bißchen Unrat spritzt an die Knöchel: Was macht das aus? Die führenden Damen laden sie nicht zu ihren Jours und schneiden sie bei Begegnungen: Es kümmert sie nicht. Sie bemerkt es nicht. Manchmal gibt es ihr einen kleinen Riß; man hat ja seinen Stolz und weiß, wer man ist, aber es ist rasch verwunden, der Anblick eines Blumenbeets, eine halbe Stunde Geigenspiel genügen, es zu vergessen. Sie ist nicht die Frau, die vor den Menschen die Augen niederschlägt. Gemeinheit ist ihr unverständlich, an Klatsch hört sie vorbei, das Aufnahmeorgan fehlt. Eine ängstliche Bekannte glaubt ihr zur Vorsicht raten zu sollen; es sei doch nicht nötig, daß sie sich immerfort öffentlich mit mir zeige. Sie antwortet: »Warum nicht? Wie sollen sich denn sonst die Leute daran gewöhnen?«
Bei alledem war es die brüchige Stelle in unserer Position. Wir hätten heimlicher verfahren müssen, besonnener und rücksichtsvoller. Wir hätten unser Glück nicht Ganna auf die Nase setzen dürfen. Wir haben sie dadurch schwer gereizt und verbittert. Wir haben damit eine Schuld auf uns geladen, die uns in späteren Jahren mit Wucherzinsen, hundertprozentig, abverlangt wurde. Wenn Ganna damals noch ein Gefühl der Frauenwürde in sich gehabt hat, wir erstickten es gedankenlos und achteten im Rausch des Einander-Gehörens der Stimme der Vernunft nicht. Gewiß, ich war längst an Ganna verzweifelt, tief und gründlich verzweifelt, hatte es längst aufgeben müssen, aus ihr eine Gefährtin zu machen, aber steckte da nicht ein Versäumnis, das fünfzehn, sechzehn, siebzehn Jahre zurücklag, und hätte ich nicht mit Gewalt oder mit Güte, mit jedem erdenklichen Opfer reinen Tisch machen müssen, statt mich in furchtsamer Schwäche und einem aus Feigheit geborenen Pflichtbewußtsein an der Seite einer Frau hinzuschleppen, der ich und die mir nichts mehr zu geben und zu werden vermochte? Und Bettina in ihrer Hochgemutheit, ihrer Abwendigkeit von allem Trüben, Zerspaltenen, Problematischen und Finstern schloß die Augen und ging achselzuckend daran vorüber. Ja, es war kühn, es war stark, es hatte einen edlen Trotz, aber es war nicht gut, und es half uns nicht. Es säte Unheil.
Leben der Menschen untereinander. Die Wahrheit eines jeden ist nur die Wahrheit seiner Enge. Das Gesamte der Art und der Eigenschaften läuft immer durch ein Prisma und wird dort in seinen Farben gebrochen. Sehr verschieden ist die Beobachtungserfahrung von der Leidenserfahrung, und es besteht keine Hoffnung, das grell Widerspruchsvolle jemals zu vereinen, denn das Ich und das Nicht-Ich sind Feinde vom Anfang der Welt her.
Zweifellos war es die Geschichte mit der Klothilde Haar, die meiner Hoffnung, mit Ganna zum Frieden zu kommen, den Todesstoß gab. Die Monate bis zum Sommer 1919, die letzten, die ich mit ihr in gemeinschaftlichem Haushalt verbrachte, können nicht anders denn als böser Traum bezeichnet werden.
Während die österreichische Monarchie zusammenbrach und in Fetzen gerissen wurde; während Deutschland unter Revolten stöhnte und sich in Krämpfen wand; während der von den Schlachtfeldern fortgewehte Leichendunst die Städte verseuchte und die Grippepest schien wegmähen zu wollen, was noch an jungen Leben übrig war; während die Not aus Verzweifelten Verbrecher, die Enttäuschung aus ehemals Opferwilligen Banditen machte; während im Osten eine neue Welt entstand und im Westen sich die alte in Form von papierenen Verträgen selbstmordete: währenddem stülpte Ganna in ihrem kleinen häuslichen Staat das Unterste zuoberst, häufte Zwist auf Zwist und machte den Ihren das Leben zum Privatinferno, aus keinem andern Grund als dem, daß sie in den Wahn verfallen war, die Klothilde Haar sei meine und Bettinas Kreatur, beauftragt und bezahlt, sie, Ganna, gänzlich zu verdrängen.
Die Haar war kurz nach Doris' Geburt ins Haus gekommen. Sie war ein Fräulein Mitte der Dreißig, ein kaltes, moroses Wesen, nicht sehr arbeitsam, nicht sonderlich vertrauenswürdig. Aber Ganna hatte anfangs ihre Tugenden nicht genug preisen können, hauptsächlich deswegen, weil die Haar das Kind abgöttisch liebte; solche Leidenschaften finden sich ja nicht selten bei dienenden Frauen; im übrigen haben sie für kein Geschöpf auf Erden einen Funken Zuneigung.
Durch die Zeit und die Umstände war ich genötigt worden, mich selber der Wirtschaft anzunehmen, da Ganna die Schwierigkeiten nicht bewältigen konnte. Ich hatte den Fehler begangen, der Haar gewisse Rechte einzuräumen, durch die sich Ganna benachteiligt fühlte. So hatte ich ihr unter anderm den Schlüssel zur Speisekammer übergeben und verrechnete mit ihr über die Vorräte von Mehl, Zucker, Reis und Fett, die sie in meinem Auftrag angeschafft hatte. Ich konnte es nicht mehr mit ansehen, wie die Kinder an aller kräftigen Nahrung Mangel litten; Ganna war unfähig, für ausreichende Kost zu sorgen, die Erwerbung von einem Kilo Butter scheiterte an ihrer Hilflosigkeit in allen praktischen Dingen.
Als sich nun erwies, daß die Haar feste Beziehungen zu Schleichhändlern hatte, und sie mir anbot, diese Beziehungen im Interesse des Haushalts zu verwerten, griff ich zu und zahlte auch jeden geforderten Preis. Schon dies erzürnte Ganna, denn bei ihrer ans Asketische grenzenden Bedürfnislosigkeit dünkten ihr alle Ausgaben für Essen und Trinken, sofern sie nicht auf Stillung des Hungers und Durstes abzielten, überflüssig, wenn nicht verbrecherisch. Kam hinzu, daß der Vermittler zwischen den Schleichhändlern und der Haar deren Geliebter war, ein Herr namens Wüst, der bis zum letzten Tag des Kriegs in der Etappe gestanden war und nun wie so viele einen Erwerb suchte. Abends in der Dunkelheit schleppte er ins Haus, was er bei Tag erschachert hatte, dann kam die Haar mit der Rechnung zu mir, einer gesalzenen Rechnung, um die Wahrheit zu sagen, und sie wurde nicht versüßt durch das unangenehm schadenfrohe Lächeln der Person.
Die Einmengung und das lichtscheue Treiben des Wüst wirkte auf Ganna wie ein giftiger Stachel. Sie überhäufte die Haar mit ehrenrührigen Bezichtigungen. Die Haar war ihrerseits auch nicht auf den Mund gefallen. Schließlich drohte sie, zu Gericht zu gehen und Ganna wegen Verleumdung zu verklagen. Ich sagte zu Ganna heftig: »Dazu darfst du es nicht kommen lassen.« Sie erwiderte, dergleichen zu tun werde die gemeine Diebin sich hüten, sie hätte keine Ursache, auf die fette Pfründe zu verzichten, in deren Genuß sie zu setzen ich in meiner Charakterlosigkeit für gut befunden hätte. Die Haar, die an allen Türen horchte, hatte ein sadistisches Vergnügen an solchen Szenen. Sie hegte einen so ingrimmigen Haß gegen Ganna, daß sie sich schon deswegen an ihren Posten klammerte, um sich an den Qualen ihrer Feindin zu weiden. Ich hinwiederum konnte mich nicht entschließen, sie fortzuschicken, denn in dieser Zeit des Aufhörens aller Dienstwilligkeit hätte ich nicht so leicht einen Menschen gefunden, der bei allen sonstigen schlechten Eigenschaften das Kind gewissenhaft betreute, zudem war ich heilfroh, daß jemand da war, der ordentlich kochte und das Hauswesen halbwegs beisammenhielt.
Die unerquicklichen Auftritte zwischen Ganna und der Haar häuften sich. Sogar in der Nacht ging es plötzlich los; das Stimmengekreisch drang bis an meinen Schreibtisch, so daß ich mir die Ohren mit Watte verstopfte. Wenn Herr Wüst in der Abenddämmerung in den Flur schlich, schwer bepackt, stand Ganna auf der Lauer und empfing ihn mit Beschimpfungen. Eines Tages, als ich nicht zu Hause war, machte der Mensch Anstalten, sich in seiner Wut tätlich an ihr zu vergreifen; Ferry eilte zum Schutz der Mutter herbei; er war sehr kräftig; dadurch, daß er den Mann am Hals würgte, brachte er ihn zu Fall; sie wälzten sich auf dem Boden, und währenddem rief Ganna das Polizeikommissariat an. Die Haar weigerte sich, das Haus zu verlassen, bevor sie nicht von Ganna eine schriftliche Ehrenerklärung erhielte. Ganna hatte behauptet, die Haar hätte eine Kiste Eier gestohlen. Die Haar beschwerte sich bei mir, ich sagte zu Ganna, nach meinem Erinnern seien die Eier verbraucht worden. Ganna schäumte. Dergleichen habe sich in der Welt noch nicht begeben, stieß sie hohl-gellend hervor, der eigene Mann im Bund mit dem Dienstboten und deren Zuhälter, das sei fürchterlicher als alles, was ich ihr sonst angetan und täglich antue; aber sie wisse es längst, die Seele der Verschwörung sei die Dame Merck, die hätte die Haar samt ihrem Geliebten gedungen, um ihr das Leben zu vergällen, klar wie die Sonne, die Spatzen pfiffen es schon von allen Dächern. »Ganna«, rief ich sie an und rüttelte sie, »Ganna!« Ich zog sie ins nächste Zimmer. »Ganna! Wach auf, das kannst du doch nicht im Ernst meinen!« Sie sah mich irr an und erwiderte: Doch, doch, das meine sie ganz im Ernst, sie hätte auch die Beweise. »Beweise? Was für Beweise? Für solchen bodenlosen Unsinn Beweise?« Sie schwieg verstockt.
Die Sache mit der Haar hatte sich in der Nachbarschaft herumgesprochen. Einmal in der Nacht flog ein Stein ins Fenster von Gannas Schlafzimmer, ein andermal wurde die Haustüre mit Kot beschmiert. Einmal ging ich durch eine Ansammlung von Männern hindurch; als ich an ihnen vorüber war, schrie eine hohe dünne Stimme: »Schmeiß ihr den Krempel in die Zähne, dem Viech!« Ich schloß das Tor hinter mir, da erfüllte der Ruf den Flur, das Stiegenhaus, die Zimmer, und als ich mich an den Schreibtisch setzte, las ich es auf dem leeren weißen Papier: Schmeiß ihr den Krempel in die Zähne!
Über alle diese Vorgänge hatte ich nicht ein einziges Mal mit Bettina gesprochen. Ich brachte es nicht über mich. Die Scham verschloß mir den Mund. Ganna richten hieß mich selber richten. Doch kann ich nicht behaupten, daß Bettina deshalb nichts wußte. Sie konnte sogar auf das geschäftige Hörensagen verzichten. Mein Stillschweigen war für sie durchscheinend wie Seidenpapier. Ich bin kein Mensch, der etwas verbergen kann. Alle Stimmungen, alle Erlebnisse, fast die Gedanken liegen offen zutage. Freunde haben sich oft über mein vergebliches Bemühen, etwas zu verheimlichen, lustig gemacht. Und Bettina, sie erriet, was mit mir geschah, wenn ich noch nicht über die Türschwelle war. Mich auszuforschen unterließ sie. Damit war nichts gedient. Mir über Betrübnis und Sorge hinwegzuhelfen, damit war gedient. Sie war nicht der Meinung, daß zwei Leute, die einander lieben, sich fortwährend ihr Unglück klagen sollen. Besser, man schmeichelte es weg. Ihr konnte in jener Zeit so Schlimmes nie zustoßen, daß sich der Himmel ganz bewölkte; ein bißchen Sonne fand sich zuletzt doch. Wenn man sich ernstlich zusammennahm, sich recht dicht bei seinem guten Geist hielt, sich nicht mausig machte, dann zeigten sich die Mächte nicht dauernd ungnädig. Mit der Geige in der Hand konnte man ihnen sogar unter Umständen was abdingen, womit man wieder eine Weile weiterleben konnte.
Ich kann nicht sagen, was mir das war und bedeutete, dieser Glaube an den Weg, an die Bestimmung, an den Sieg des redlichen Willens über Trübnis und Fährnis. Ich sah ihr mit Verwunderung zu – und mit Neid. Überall waren Menschen, die ihr gefällig waren, und andere, denen sie zu nützen suchte; eine arme Hausschneiderin, die sich kümmerlich durchhungerte und der sie Aufträge zuschanzte; ein junger Künstler, dem sie Empfehlungen verschaffte; ein Freund, der krank aus dem Feld zurückgekehrt war und den sie pflegte und mit Nahrungsmitteln versorgte. Immer war sie unterwegs, um etwas Zweckentsprechendes und Hilfreiches zu tun, nicht wie eine Samariterin, davon hatte sie nichts an sich, eher wie jemand, der sich einen Sport daraus macht, gewisse Versäumnisse des Schicksals auszugleichen, so nebenher, hinter dem eigenen Rücken. Dabei kenne ich niemand, der so häufig und böswillig mißverstanden wurde wie sie mit ihrer Kummerlosigkeit und lächelnden Aufrichtigkeit. Das hat mir oft zu denken gegeben. Vielleicht war es, weil sie zu geschwind in Worten war, zu sicher im Urteil, und weil sie sich nichts vormachen ließ, immer mit ihrer kleinen tapferen Wahrheit auf den Plan trat. Das verletzte natürlich viele. Es ist gut, wenn man einen Menschen hat, mit dem man sich beschäftigen kann, ohne mit ihm kämpfen zu müssen. Unerschöpfliche Fülle von Anschauungen, wenn sie mir am Abend erzählte, wie ihr Tag verlaufen war, und Stoff zu Gesprächen bis in die Nacht.
In diesen Tagen geschah es auch, daß ich eine ganze Kette von Sonetten für sie schrieb, von denen drei hier stehen mögen.
Ich träumte dich in blühenden Narzissen,
in einer Landschaft zwischen Sonn' und Mond
so, wie Diana zärtlich hingerissen,
die sich mit ihrem Lächeln selbst belohnt.
Der Erdwelt selig dienende Vertraute,
gabst du dich ihr mit Aug' und Herzschlag hin,
und als dem Traum gewisser Tag erblaute,
warst du im Frühstrahl meine Führerin.
Das macht dich schön, das Tun und Immer-Tun,
die stolze Abkehr von verjährten Leiden,
das Sträuben gegen träge Dunkelheiten,
das Stets-Verschwenden und das Nirgends-Ruhn.
So bist du mir geheimnislos entfaltet,
in jeder Form zwiefach und wahr gestaltet.
Daß ich als Schwester dich so spät erkannte,
als geisterhafte Freundin mir erwählt,
mit Namen meiner Seele dich benannte
und mit der deinen erst im Herbst vermählt:
Das ist wie Strafe und zu wissen bitter,
denn meine Jahre haben raschern Sturz
als eines Vogels Flug im Vorgewitter,
und gnadenlos ist mir der Abend kurz.
Graut deiner Jugend nicht vor meinen Narben?
Vergällt nicht mein Oktober deinen Mai?
Die Straße hinter mir ist Wüstenei,
an Bord der deinen stehen Blüt' und Garben.
Dennoch: Mein Inneres hat kein Sturm beschädigt,
und was uns bindet, ist des Jahrs entledigt.
Stein, den ich hebe, was verschweigst du mir?
Ich such' dich, Gott, und sehe kein Gesicht.
Und Sonne, Mond und Sterne, Baum und Tier,
warum erscheint ihr und ich fass' euch nicht?
Und du, beseelt Geschaffne, Zwillingsgeist,
an meine Brust Geschmiegte: Bist du's auch?
Ist denn der Schall, dem du den Namen leihst,
nicht bloß Vokalrausch und Gespensterhauch?
Und ist das Mit-dir-Sein und Mit-dir-Schreiten
nicht Bild von hingeträumten Wirklichkeiten?
Und muß dein schlagend Herz, dies liebe Leben,
nicht weltenweit von mir im Dunkel schweben?
Kein Nein, kein Ja. Da bleiben Engel stumm.
Das Du ist ewiges Mysterium.
Und dann, im Herbst, begann die große Umwälzung in meinem Leben.
Es war an einem milden Oktobertag, als wir von einer Wanderung im Gebirge zurückkamen und uns auf einer Bank unfern der Dorfstraße niederließen, froh der Einsamkeit, die mit dem Herbst in das geliebte Tal eingezogen war. Wir hatten lange schweigend über die Wiesen geschaut, auf denen der abendliche Nebel braute, da fragte mich Bettina, ob ich mir schon überlegt hätte, was im kommenden Winter mit uns beiden geschehen solle. Ich sah sie betroffen an. Ich verstand nicht gleich, was sie meinte. »Was soll sich denn ändern?« fragte ich. Sie schlug die Augen nieder. Sie sagte, wenn ich der Ansicht sei, es brauche sich nichts zu ändern, möge ich ihre Frage vergessen. Ich begriff, daß es keine aufs Geratewohl gestellte, keine nebensächliche Frage gewesen war. Ich wußte, worauf sie hinauswollte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Ich stotterte ein paar abgerissene Worte; ich sähe ja selbst ... ich hätte in der letzten Zeit oft daran gedacht ... Dann verstummte ich wieder. Bettina tastete sich zaghaft vor. Ob ich es für richtig hielte, daß wir weiterhin mit der Binde vor den Augen lebten? ... Ob es anginge, daß ich so wie jedes Jahr zu Ganna zurückkehrte? »Meinst du, daß es gut ist? Ich weiß nicht«, sagte sie. Zwei Sekunden lang setzte mein Herzschlag aus. »Was? Was weißt du nicht, Bettina?« forschte ich. Sie nahm allen Mut zusammen. »Ich weiß nicht, ob ich es kann. Ich fürchte, ich kann nicht mehr«, flüsterte sie. Ich starrte zu Boden. Meine Lippen formten die Worte, die noch unausdenkbar waren: »Von Ganna weggehen? Das meinst du?«
Bettina hatte nie zuvor ausdrücklich davon gesprochen, doch hatte ich in den letzten Tagen zu spüren geglaubt, daß sie auf meine Initiative wie auf eine Erlösung wartete. Nur konnte sie es nicht über sich bringen, den Anstoß zu geben. Auch jetzt lagen der Wunsch, der Druck der inneren Notwendigkeit einer Entscheidung lediglich in ihrem bewegten Mienenspiel, ihrem inhaltvollen Blick. Ich hatte das Gefühl: In dieser Stunde darf ich nicht versagen, es geht um alles. »Und die Kinder?« fragte ich. Sie legte ihre Hand auf meine. »Die Kinder, ja. Das ist natürlich hart. Aber ich sage mir, zwei sind unter deiner Obhut groß geworden ...« – »Doris braucht mich, Bettina.« – »Gewiß. Nun, du verlierst sie ja nicht. Ich denke, sie wird so viel wie möglich bei uns sein.«
Ich hörte nur halb und das Halbe mit Bangen. Ich hielt mir vor, daß ich vieles an den Kindern gutzumachen hatte. Was ist verderblicher als die Gegenwart einer niemals gelassenen Mutter, einer gehetzten, mit sich zerfallenen, mit der Menschheit hadernden, von Menschen nichts wissenden? Alle Abwehrtriebe erwachen, Zärtlichkeit wird Last, Strafe Willkür, kein Eigenwille stößt auf den heimlich ersehnten Widerstand, der Kern verkümmert, und im dunklen Gefühl seiner Gefährdung verbirgt er sich hinter Schutzhüllen, die ihn nicht entfalten, sondern verhärten. Und jetzt sollte ich sie ganz verlassen, da es doch einzig meine Gegenwart war, die sie vor dem Ärgsten bewahrte?
Bettina sagte leise: »Du mußt wissen, was du tust. Ich mache nur einen Vorschlag. Diese vier Jahre, sie haben doch etwas zur Reife gebracht. Es stimmt nicht mehr zu mir, das Verhältnis in öffentlicher Heimlichkeit. Es hat keine Wahrheit und keine Berechtigung mehr.« – »Sehe ich ohne weiteres ein, Bettina. Aber Ganna wird nie in eine Scheidung willigen, nie.« – »Es handelt sich nicht um Scheidung«, antwortete Bettina sanft; »es handelt sich um einen Akt der Sauberkeit, mein Lieber. Zunächst wenigstens.« – »Wie«, fragte ich überrascht, »du könntest ... du würdest vor aller Welt ...?« – Sie lächelte. Damit war alles gesagt. – »Auch wenn ich auf den offiziellen Schritt verzichte«, beharrte ich, »ahnst du, was uns bevorsteht?« – Sie nickte. Sie wußte es längst. – »Und wo sollten wir leben? Dort? Unmöglich. Sie würde ... Nein, du kannst es dir trotzdem nicht vorstellen ...«
Sie hatte alles erwogen. Sie entwickelte mir ihren Plan. Man würde in Ebenweiler bleiben. Man würde sich verborgen halten. Es gab da eine alte Hofrätin Wrabetz, die eine geräumige und bequeme Villa besaß, die sie zu einem erschwinglichen Preis für den Winter zu vermieten bereit war. Im Frühjahr müßte man freilich in ein Bauernhaus übersiedeln, im Herbst hätte man wieder die Villa. Dies alles legte sie mir mit ihrer ruhigen Bestimmtheit dar, in einer Art, wie man ein Kind lenkt und führt, wobei sie mir zugleich zu verstehen gab, daß in allen Stücken sie es sei, die sich von mir gelenkt und geführt wußte.
Mein Blick irrte zwischen zwei Visionen hin und her, einer beglückenden und einer unaufhellbar finsteren. Ich war innerlich wie gelähmt. Die Jahre kamen über mich als Warner. Sechsundvierzig Jahre und die ganze Existenz von Grund aus umstülpen, sagte ich mir, so radikal, daß kein Stein mehr auf dem andern bleibt. Instinktiv suchte ich nach Gegenargumenten. Ich deutete schüchtern an, daß sie ja selber nicht frei sei. Sie machte eine ihrer erstaunlichen Gesten, die ihr alle Worte ersparten; sie besagte in diesem Fall: Ich werde an dem Tag frei sein, an dem ich für dich frei sein muß. Das schlug mich. Ich sagte, ich würde an Ganna schreiben, heute noch. Sie schien es zu billigen, aber ich merkte sofort, daß sie es nicht billigte. Ich fragte, was dagegen einzuwenden sei. Sie entgegnete, der Einwand liege auf der Hand, sprechen müsse ich mit Ganna doch. Unbedingt, versetzte ich, aber es sei besser, wenn sie schon vorbereitet sei, das mildere den ersten Schock. Vor allem müsse sie es schwarz auf weiß sehen, daß von Scheidung nicht die Rede sei. Bettina begriff meine Angst nicht. »Bist du nicht Herr über dein Leben?« fragte sie. »Wer hat mehr Anspruch, es zu sein?« – »Dennoch. Es wird fürchterlich.« – Bettina meinte, es sei verfehlt, ja gefährlich, falsche Hoffnungen in Ganna zu wecken; ich dürfe mich nicht durch ein Versprechen binden. Sie sagte immer nur »ich meine«, wenn sie von der Lösung einer Schwierigkeit sprach, aber ich hatte längst die Erfahrung gemacht, daß diese Meinung fast stets die richtige war und den einzigen Ausweg zeigte. Schon deswegen müsse ich zu Ganna fahren, um in meinem Haus alle nötigen Anordnungen zu treffen, hielt sie mir vor, und damit war es beschlossene Sache für sie, bei wem ich während meines Aufenthalts in der Stadt wohnen sollte; nicht im Hotel, sondern bei einer gemeinsamen Freundin, der Unauffälligkeit halber. Dies setzte mich neuerdings in Schrecken. Es war so rasch, von vornherein so unabänderlich. Als ob es abänderlich hätte sein dürfen. Wenn von nun ab eine echte Gemeinschaft Alexander-Bettina errichtet werden sollte, war es nicht möglich, daß ich in mein gewesenes Heim zurückkehrte, um als Gannas Ehemann darin zu wohnen. Nie und nimmer hätte Ganna sonst begriffen, daß es ernst war. Ich sagte: »Du hast Recht, Bettina. Du hast vollkommen Recht. Es leidet keinen Aufschub mehr.«
Desungeachtet wehrte ich mich stumm. Ich hatte nicht den Mut, ihren Rat zu befolgen und Ganna ohne briefliche Vorbereitung gegenüberzutreten. Ich war für die Schritt-für-Schritt-Methode. Ich war kein Knotenzerhauer wie jener andere Alexander. Was Bettina vorschwebte, war etwas sehr Einfaches: Mich glücklich zu machen, mit mir glücklich zu sein, mich zu entlasten. Ich aber fühlte mich sonderbar überrumpelt. Ich hatte die Möglichkeit, mein Leben von dem Gannas zu trennen, aufrichtig noch nie erwogen. Daß ich es als ein verfehltes Leben seit langem empfunden und nach und nach auch erkannt hatte, änderte daran nichts. Es war wohl der eingefleischte Widerwille zu handeln, der mich von der klaren Entschließung abgedrängt hatte. Von den zwei Hauptgattungen von Menschen, der handelnden und der beharrenden, bin ich ein typisches Exemplar der letzteren Art. Damit hängt ein gewisser Fatalismus zusammen, der nicht durchaus Charakterschwäche sein muß, obwohl sich niedrige Eigenschaften um ihn gruppieren, die in der Bequemlichkeit und Gewöhnung wurzeln. Das Neue hat für solche Menschen einen abschreckenden Aspekt. Nur keine Veränderungen, keine neuen Kämpfe um das Tägliche, sagen sie sich, die alten sind aufreibend genug gewesen. Philiströse Anhänglichkeiten an Sachen spielten dabei eine Rolle; das zum Asyl gewordene Haus; das liebgewordene Bett; der alte braune Schreibtisch mit dem tintenbeklecksten grünen Bezug und einem Dutzend vertrauter Gegenstände. Freilich auch stärkere Bindungen: das Kind, die kleine Doris, die so zärtlich an mir hing, daß sich alle ihre Lebensäußerungen um mich drehten. Wie sollte man der Vierjährigen begreiflich machen, daß der Vater in einem andern Haus, bei einer andern Frau wohnen würde? Konnte es mich nicht die Liebe des geliebten Wesens kosten? Würde es mich nicht vergessen? Bedeutete dieses Vergessen nicht eine Seelenwunde?
Doch solche Gedanken, so trüb sie waren, hielten sich erst im Vorraum meiner Angst vor Ganna auf. Und diese Angst verfinsterte mein Inneres dermaßen, daß ich sie Bettina nicht rückhaltlos einzubekennen wagte. Ganna lag mir wie ein Gebirge auf der Brust. Allgegenwärtig füllte sie den Tag und die Nacht. Beruhte vielleicht auch hier auf Gewohnheit, Gewohnheit des Ringens und Haderns, des Lastenschleppens und Schuldenabzahlens, was ich für Pflicht und, noch immer, noch immer, für ein »mystisches Band« hielt? Abenteuerliche Fluchtpläne schossen mir durch den Kopf, um von der einen wie von der andern Frau loszukommen. Die Forderung Bettinas, das reinigende Entweder-Oder, erschien mir in meiner Verwirrung als brutaler Eingriff in meine Existenz. Wäre sie mir nicht der teuerste Mensch auf Erden gewesen, den missen zu sollen eine Vorstellung war, die ich nicht mehr ertrug, ich hätte mich wahrscheinlich in den ersten Tagen des inneren Zwiespalts aufgelehnt und wäre, vernichtet und gebrochen allerdings, in meine Ganna-Hölle zurückgekehrt. Ja, wenn Ganna ein vernunftgerichtetes Weib wäre, grübelte ich, überredbar, verwandelbar, wenn sie zur Welt, die Welt zu ihr einen Zugang hätte, wie wundervoll wäre es dann, mit Bettina zu leben, wie leicht, wie froh könnte man werden, endlich leicht, endlich froh. Doch schon die Notwendigkeit, daß ich mich Ganna eröffnen mußte, war ein glühender Schrecken.
Aber ich hatte mich nun entschlossen. Wenn der Beharrende sich einmal zum Handeln durchgerungen hat, bewegt er sich mit nachtwandlerischer Starre in der Kette der Geschehnisse, und sogar der Fehltritt wird ihm zum Behelf. Und da jeder Schriftsteller glaubt, sein geschriebenes Wort enthalte mehr Überzeugungskraft als sein gesprochenes, da außerdem ein Brief eine gewisse Stillung der Nervenungeduld ist und keinen augenblicklichen Dreinredner zu fürchten hat, setzte ich mich hin und schrieb ausführlich an Ganna. Den Sachverhalt zunächst. Die Unmöglichkeit, die Dinge in ihrem alten Stand zu lassen. Meine lastvolle Gemütsverfassung seit Jahren und daß ich aus der Schwärze heraus müsse. Inständige Bitte, Ganna möge mir helfen und sich nicht trotzig widersetzen. Zum Schluß die feierliche Versicherung, weder ich noch Bettina dächten an Scheidung, wir wünschten beide nichts anderes, als uns in freier Gemeinschaft zu verbinden. Dieser unehrliche Besänftigungsversuch war, wie Bettina es vorausgewußt, ein schwerer Fehler und der Anfang und Grundstein von allem kommenden Elend und Entsetzen.
Ein paar Tage darauf fuhr ich nach Wien. Wie wir es besprochen hatten, wohnte ich bei einer Freundin Bettinas, der Baronin Hebenstreit, einer jungen Kriegerwitwe. Es war mir nicht eben behaglich, als Logiergast in der Stadt zu sein, wo mein Haus und meine Kinder waren. Auf Ganna wirkte es wie ein Faustschlag.
Sie glaubte an die ganze Sache nicht. Ja, den Brief hatte sie gelesen, zweimal, fünfmal, zehnmal, aber was besagt ein Brief. Sie brauchte Augenscheinlichkeit. Ein Brief war keine Augenscheinlichkeit. Ein Brief kann widerrufen werden. Einen Brief kann man unter fremdem Einfluß, unter unwiderstehlichem Zwang schreiben (und die Überzeugung von diesem Einfluß, diesem Zwang setzte sich von da an in ihrem Hirn als eherne Unumstößlichkeit fest und wurde damit gleichfalls zum Ausgangspunkt des heraufziehenden Verhängnisses). Ich hatte ihr in einer Nachschrift zu dem Brief mitgeteilt, ich würde sie am Dienstag um zwölf Uhr mittags besuchen; am Montag reiste ich. Die Ankündigung des Besuchs erschien ihr als barer Unsinn. Was sollte das heißen? Sich selbst in seinem eigenen Haus besuchen? Lächerlich. Am Montagabend telefonierte ich ihr und nannte meine Adresse. Nun hatte sie die Augenscheinlichkeit: Ich wohnte nicht bei den Meinen. Ihre letzten Illusionen stürzten krachend ein.
Als sie sich von ihrer Betäubung erholt hatte, überlegte sie, was sie ihren Bekannten, den Schwägern, den Schwestern, der Mutter, den Kindern, den Dienstleuten sagen solle. Es war mehr als ein Unglück für sie, es war eine unauslöschliche Schande. Sie wußte nicht, wie sie, mit dieser Schande behaftet, den Menschen unter die Augen treten sollte. Obgleich sie sich damit tröstete, daß es doch nur eine Frage von wenigen Tagen sein konnte, hatte sich das ihr Unfaßliche ereignet, daß ich bei fremden Leuten Unterschlupf gesucht hatte. Die fremden Leute würden es alsbald andern fremden Leuten mitteilen, damit war sie gerichtet und entehrt.
Um dem Klatsch zuvorzukommen, ließ sie sich am Telefon mit verschiedenen Männern und Frauen verbinden, die sehr erstaunt waren, von ihr zu hören, ich sei früher als sie gedacht vom Land zurückgekehrt und hätte mich wegen einer unvorhergesehenen Hausreparatur bei Frau von Hebenstreit einquartiert. Obwohl sie es geschickt verstand, diese Tatsache irgendeiner Frage, die sie stellte, oder einer Mitteilung, die sie machte, wie etwas Beiläufiges hinzuzufügen, wurden die Leute gerade dadurch stutzig und hinlänglich aufgeklärt. Dieselbe Methode, das Schicksal zu korrigieren und die Wirklichkeit auszulöschen, unternahm sie bei den Kindern. Auch die Kinder glaubten ihr nicht. Sie schauten bei der Nachricht, daß ich woanders wohnte, kühl betroffen drein. Wahrscheinlich hatten sie ähnliches längst erwartet.
Bei all diesen Verrichtungen und Bemühungen sah ich sie leibhaftig vor mir, wie sie auf Filzschuhen im Hause umherging und mit lispelnder Stimme sprach; wie sich die ahnungsvolle Ganna vor der zuversichtlichen Ganna versteckte und der einen das Herz weh tat, die andere vor Ungeduld verbrannte; wie sie mit weitaufgerissenen Augen bei jedem Signal zum Telefon stürzte; wie sie von einer gewissen Stunde an ohne Unterlaß in meinem Arbeitszimmer auf und ab schritt, mich an den Schreibtisch zauberte, mit Vorwurfsblicken durchbohrte und bisweilen ihre stereotypen Verfluchungen vor sich hin murmelte, derengleichen ich so oft gehört; dieses Weib ... Gott wird sie strafen ... An ihren Kindern wird er sie heimsuchen ... Vernichten werde ich sie ... Doch es gab noch eine andere Ganna, die von solchen megärenhaften Reden unberührt war; der rannen die hellen Zähren aus den Augen, und sie wischte sie mit der geballten Faust weg. Als ich die Tür öffnete und eintrat, warf sie sich mir mit einem erstickten Ruf an die Brust.
Unmöglich, alle Unterredungen zwischen mir und Ganna aufzuzeichnen, auch nur zu zählen. Schauplätze waren: die Bibliothek, die Terrasse, der Garten, Gannas Schlafzimmer, die Straße; Zeit: der Morgen, der Mittag, der Abend und die Nacht. Zusammengesetzt ergäben sie ein ununterbrochenes Reden von vielen Tagen. Auf Platten aufgenommen, würden sie die erschöpfenden und aussichtslosen Versuche zweier Menschen vorführen, voneinander etwas zu erlangen, was gegen das innere Vermögen von beiden geht. Der eine will ein Band zerreißen, der andere will es flicken, da er denn doch bemerkt, wie viele Löcher und Risse es schon hat. Der eine will eine Aschenstätte verlassen, der andere behauptet, das Feuer brenne noch, heiliges Feuer, das zu löschen Frevel wäre. Der eine rechnet mit der Vergangenheit ab, der andere anerkennt die Bilanz nicht und winselt um weiteren Kredit. Gespräche so alt wie die Welt, so unfruchtbar wie Kieselsteine, so quälend wie Zahnschmerzen. Hier erhielten sie neuen Sinn und furchtbare Tragweite durch Gannas Art und Person.
Ich war mit den liebevollsten Vorsätzen zu ihr gekommen. Um sie zum freiwilligen Verzicht auf die Ehegemeinschaft zu bewegen, bot ich alle Güte auf, deren ich fähig war. Ich sprach von den neunzehn Jahren unseres Zusammenlebens und der Verpflichtung, die ihr diese Jahre auferlegten; daß sie das Andenken an sie nicht leichtfertig zerstören dürfe. Ganna stimmte mir zu, doch mit der Einschränkung, dieselbe Verpflichtung bestünde auch für mich. Ich berief mich auf ihr Verständnis für meine Arbeit, mein Werk. Gewiß, antwortete Ganna, eben deshalb müsse sie mich von einem Schritt zurückhalten, der meinen geistigen Ruin herbeiführen würde. »Woher weißt du denn das«, fuhr ich auf, »schämst du dich nicht deiner Vermessenheit?« Das verrate ihr das Gefühl, beteuerte sie mit Parzenblick, nie habe sie sich getäuscht, wenn es sich um mein Wohl und meinen Weg gehandelt habe.
Sie verstand nicht. Sie wollte nicht verstehen. Wir kamen nicht vom Fleck.
Niemals würde ich ihr meine Freundschaft entziehen, wenn sie sich dieser Schicksalsstunde gewachsen zeige, sagte ich. Sie war erschüttert. Sie weinte. Es sei so schwer, versetzte sie, es sei so schrecklich schwer. Natürlich sei es schwer, fuhr ich fort, aber sie dürfe mir nicht das Verfügungsrecht über mein Leben rauben; so viel müsse sie von mir gelernt und glauben gelernt haben, daß die Bahn der Bestimmung, die einer gehe, nicht durch Zwangsmaßnahmen abzugraben sei. Sie gab es schluchzend zu, griff aber im selben Atem zu dem Rettungsargument, sie müsse für ihre Kinder kämpfen. Darauf bemerkte ich ihr, es seien ja auch meine Kinder. Darauf sagte sie: »Du achtest ihrer ja nicht in deinem blinden Trieb.« So beleidigend der Anwurf auch war, beherrschte ich mich doch und erwiderte, die Kinder würden ihr ja nicht weggenommen, sowenig ich mich ihnen entzöge, gerade um der Kinder willen müsse sie sich menschlich und stolz betragen, zu viel Streit und Hader hätten sie schon geschluckt. »Deine Schuld, deine Schuld!« weinte sie auf. »Mag sein, meine Schuld«, ließ ich zu, »obwohl es eine einseitige Schuld in diesen Dingen nicht gibt.« Ich stellte ihr vor, daß ich die Enttäuschung, wenn sie auf ihrem niedrigen Standpunkt beharre, nicht verwinden würde; sie habe doch das Zeug zu allem Guten und Großen in sich, habe die Dichter geliebt, die Bilder geliebt, die Weisheit geliebt; ich glaubte an sie, hätte stets an sie geglaubt, aber wo sei das alles hin? Sie blinzelte verzweifelt. Sie sei so allein auf der Welt, klagte sie und rang die winzigen, alten, immer alt gewesenen Hände, sie habe keinen Menschen. Das Alleinsein werde sie innerlich festigen, tröstete ich sie jesuitisch; ich brauchte sie; ich hätte ihr gegenüber eine Mission; die Ferne werde die Schatten mildern, das Erlittene vergolden.
Sie war leidenschafdich bewegt. Sie reichte mir die Hand und gelobte mit zitternder Stimme, sich mir in allem zu fügen; ich kenne sie nicht; ich wisse nicht, zu welchen Opfern sie fähig sei. Ich küßte dankbar ihre Stirn. Ich übersah, daß meine hingebende Mühe, sie zu überzeugen, sie nur davon überzeugte, daß sie von einem Mann, der so empfundene, so hohe Worte an sie richtete, nicht lassen konnte. »Was soll ich tun? Sag mir, was soll ich tun?« wimmerte sie. Ich: Darüber könne doch keine Unsicherheit herrschen. Sie: Freudig wolle sie ihr Herzblut für mich verspritzen, nur das eine dürfe ich um Gottes willen nie von ihr fordern: die Scheidung. Ich: Sie brauche ja bloß die Hand zu lockern, den neuen Zustand mit Würde zu tragen und nicht mich mit einer Verantwortung zu belasten, die sie selbst auf sich zu nehmen habe.
Das hätte ich nicht sagen dürfen; damit gab ich arglos die Anweisung zu dem Rezept, mit dem ich langsam vergiftet wurde. Sie sei mir stets eine treue Freundin gewesen, begann sie wieder, sie habe nichts Kleinliches an sich, sie nicht, andere wohl; die sie überflüssig leiden machten, die. – »Überflüssig, Ganna? Nun reißt du ja alles wieder um, was wir mühsam aufgebaut haben!« – »Weil du an Scheidung denkst«, hauchte sie, »und weil Scheidung mein Tod wäre.« Ich fing ihren rabiaten Blick auf. In meiner Torheit glaubte ich den Moment gekommen, sie an den Schwur zu mahnen, den sie vor neunzehn Jahren am Seeufer geschworen. »Du hast vor Gott geschworen, mich freizugeben, wenn ich es verlange; weißt du's nicht mehr, Ganna?« – »Natürlich, gewiß«, antwortete sie und schluckte aufgeregt. – »Also. Soll ein solches Gelöbnis keine Folge haben?« – Sie sah bestürzt vor sich hin. Sie wußte genau, daß dem Schwur eines unerfahrenen jungen Mädchens keine reale Bedeutung zukam, immerhin begriff sie, daß sich eine moralische nicht in Abrede stellen ließ. »Wenn du gerecht bist, mußt du zugeben, daß ich mein Versprechen gehalten habe«, sagte sie endlich mit dem Dulderinnen-Augenaufschlag (den Ausdruck »Schwur« vermied sie ängstlich), »oder hast du dich über Mangel an Nachsicht zu beklagen gehabt, du böser Wüstling?« Dabei tätschelte sie mütterlich meine Hand.
Es war uferlos. Ganna wurde der Auseinandersetzungen nicht satt. Sie waren ihre Lust, ihre Qual, ihr Anreiz, ihre Hoffnung. Sie redete sich die Lunge aus dem Leib. Um eine Verlängerung der Diskussion herbeizuführen, gab sie in kritischen Augenblicken scheinbar nach und nahm eine Stunde später alle Zugeständnisse zurück. Wenn ich fortging, begleitete sie mich, lange Strecken oft, suchte mit mir Schritt zu halten, um meine alten Vorwürfe wegen ihres Langsamgehens sichtbar zu entkräften, und sprudelte atemlos ihre Gründe, Scheingründe, Verheißungen, Klagen und Aufzählungen meiner Sünden in immer neuen Fassungen hervor. Sie konnte nicht begreifen, was ich an dieser Bettina hatte. Bettina war doch auch nur ein Weib und – wahrhaftig kein besseres als Ganna. Ich möge ihr doch gestehen, wodurch mich jene herumgekriegt habe; vielleicht könne sie mir dasselbe geben; vielleicht beruhe es auf einem Trick; sie wolle aufpassen; sie wolle gelehrig sein. Jede Nacht fiel ich wie ein Toter ins Bett.
Bettina war eine Woche nach mir in die Stadt gefahren, um ihren Haushalt aufzulösen. Eines Abends kam ich zu ihr in die Wohnung und fand sie im halbausgeräumten Eßzimmer, im Pelzmantel. Es war kalt geworden, und sie hatte weder Holz noch Kohlen mehr. Ihre Kinder befanden sich bereits in Ebenweiler in der Wrabets-Villa. Ich blieb gleichfalls im Mantel. Es war nicht nötig, ihr von dem zu berichten, was jetzt mein Leben ausmachte. Sie wußte es ohnehin. Sie brauchte mich nur anzusehen. Ich fragte nach Paul. Sie sagte, er sei abgereist. »Wohin?« fragte ich. »Auf die Fabrik«, erwiderte sie. Es fiel mir eine Gespanntheit an ihr auf wie an einer überzogenen Violinsaite, die klirrt. Sie habe ihn zur Bahn begleitet, fügte sie hinzu, um halb sechs sei der Zug gegangen. Dann fragte sie unvermittelt, ob ich fröre. »Ja, mich friert«, sagte ich. Sie eilte aus dem Zimmer und kam mit vier Paar Schuhleisten zurück, die sie aus ihren bereits verpackten Stiefeln gezogen hatte. Aus einem Haufen Papier zündete sie, vor dem Ofen kniend, Feuer an und warf die Leisten darauf. Da sie aus Hartholz waren, wurde es nach einer Weile tatsächlich ein bißchen warm, und ich belobte sie ob ihrer Tüchtigkeit. »Wenn wir noch den Tisch und die Stühle verbrennen, wird es ganz gemütlich«, sagte ich. Sie lächelte geistesabwesend. Ich schaute sie unruhig an. Ich dachte, sie hätte ein Zerwürfnis mit ihrem Mann gehabt, und erkundigte mich, wie sie mit ihm verblieben sei. »Verblieben? Gar nicht«, sagte sie. – »Wieso gar nicht? Wie hat er denn unser Vorhaben aufgenommen?« Sie antwortete nicht gleich; sie holte noch allerlei leere Schachteln und Kistchen herbei, mit denen sie das verlöschende Feuer nährte. Plötzlich sagte sie mit einer seltsam hohen Kopfstimme: »Wir sind nämlich seit heute mittag um zwölf geschieden.« Dabei liefen ihr die hellen Tränen über das Gesicht, wie Bächlein, geradewegs in den Mund. Ich starrte sie groß an. Also, das ist möglich, so geht es unter wirklichen Menschen zu, war mein Gedanke. »Und die Kinder?« fragte ich. – »Die hat er mir natürlich gelassen.« Ich starrte sie an und schüttelte den Kopf und wunderte mich und beneidete sie.
In einer schlaflosen Nacht hatte Ganna einen erlösenden Einfall. Frühmorgens schickte sie einen Boten mit einem Zettel in mein Quartier. Sie schrieb, ich solle sogleich zu ihr kommen, sie hätte mir etwas mitzuteilen, das alle Schwierigkeiten mit einem Schlag aus dem Wege räume. Und was war es? Ich traute meinen Ohren nicht: eine Ehe zu dreien. Es war ehrlich gemeint. Sie war hingerissen von der Idee. »Geh doch, Ganna«, sagte ich unmutig, »das ist doch kindisch. Wo lebst du denn? Darüber läßt sich doch nicht ernsthaft debattieren.« Sie war beleidigt und befremdet. »Warum nicht?« antwortete sie. »Denk an den Grafen von Gleichen.« Ausflüge in die Sagenwelt brächten uns nicht weiter, fiel ich ihr gereizt ins Wort. »Sagenwelt? Seh' ich nicht ein. Man gibt ein Beispiel. Sind wir nicht moderne Menschen?« – »Wenn du darunter einen unappetitlichen Mansch von Gefühlen und eine lächerliche Situation verstehst: nein.« Erbittert hieß sie mich einen Bourgeois, dem es an Mut fehle, im Leben zu verwirklichen, was er in seinen Büchern verkünde. Ich konnte mich nicht erinnern, den Grafen von Gleichen jemals verherrlicht zu haben, aber Ganna behauptete es nun einmal.
Sie beharrte auf dem Plan. Während sie erregt auf und ab stelzte, noch unfrisiert, in einer grauen Wolljacke, deren Ärmel ihr bis zu den Fingerknöcheln reichten, redete sie wie trunken in die Luft hinein: »Mit gutem Willen geht alles; jeder muß in einem solchen Fall ein Opfer bringen; weshalb soll dich die andere allein haben? Ich habe die älteren Rechte; Bettina muß ihren Egoismus unterdrücken; ist etwa nicht Platz genug im Hause?« Ich schwieg, blätterte in einem Buch und schwieg. »Laß mich doch mit ihr darüber sprechen«, fuhr sie befeuert fort, »wenn sie nicht völlig von Gott verlassen ist, muß sie es einsehen.« Sie hatte sich die Verteilung der Rollen folgendermaßen ausgedacht: Bettina würde die Repräsentation übernehmen, das entspräche ihrem Ehrgeiz, sie selbst die innere Verwaltung; bei Konflikten aber, es würde ja nicht zu Streitigkeiten kommen, sie hätte den festen Vorsatz, klug und besonnen zu sein, bei Konflikten sei es meines Amtes, den Schiedsrichter zu machen.
Ich weiß heute noch nicht, ob Ganna an das erträumte Graf-von Gleichen-Idyll innerlich glaubte. Es ist auch müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, da ihre Träume identisch waren mit ihrem Tun und die Abart von Phantasie, die sie besitzt, sogar auf jene Spuren von Tatsachenlogik verzichtete, die noch den verworrensten Träumen eigen ist. Ihre Traumwelt war autonom. Die Geschehnisse, in denen sie sich bewegte, waren Produkte von Wachdelirien. Täglich begann sie von neuem mit dem Wunschbild der Ehe zu dreien und setzte mir mit den ausgeklügeltesten Argumenten seine Vorzüge auseinander. In meiner ungeduldigen Abwehr erblickte sie die Wirkung der boshaften Einflüsterungen Bettinas. Als ob ich Bettina eine Silbe davon gesagt, als hätte ich mich nicht in den Erdboden hinein geschämt, wenn Bettina es erfahren hätte; als ob ich nicht fortwährend die übermenschlichsten Anstrengungen gemacht hätte, vor Bettina zu verhehlen, was Ganna mir zumutete, um die Frau, mit der ich gelebt hatte, nicht an die Frau zu verraten, mit der ich leben wollte.
Als nun Ganna die Aussichtslosigkeit ihrer Mühen erkannte, stellte sie die Sache so dar, als ob man ihre edelsten Absichten hintertrieben habe. Sie folgerte: Wenn die beiden den Frieden verweigern, zu dem sie, Ganna, selbstlos die Hand geboten, müssen sie schwerwiegende Gründe dafür haben, Gründe, die auf Gannas Schädigung, Gannas Ruin abzielen. Was lag näher als der Verdacht, daß Bettina Merck nichts im Sinn hatte, als sich in den Besitz des Hauses zu setzen? Das hatte sie ja schon im Auge gehabt, als sie sich in die Verschwörung mit der Klothilde Haar einließ. Ich, grenzenlos gefügig, machte den Helfershelfer, denn die abgefeimte Circe wickelte mich ja um den Finger. Dann wird Bettina die alleinige Herrin spielen, wird ein fürstliches Leben führen und die besiegte Ganna ins Ausgeding schicken. Ja, so ist es, so wird es sein, wenn sie nicht beizeiten ihre Vorkehrungen trifft. Mit solcher Schärfe sah Ganna das Bild der in ihrem, im Alexander Herzogschen Hause triumphierend waltenden Bettina vor sich, daß sie manchmal laut vor sich hinstöhnte und mit den Zähnen knirschte. Und als sie dann noch vernahm, daß Bettina von ihrem Mann in aller Stille geschieden worden war, machte sie dies nicht etwa stutzig als befolgbares Beispiel, sondern sie sah nur die Bestätigung ihres schwarzen Argwohns darin, und es wurde ihr angst und bang. Die Wirklichkeit war ihr unter den Füßen weggeglitten, doch sie bedurfte ihrer auch nicht mehr: Alles war so, wie sie es weltabgewendet imaginierte. Das Haus war in Gefahr, das Haus, ein Begriff, der allmählich in ihrem Geist anschwoll wie alle Trauminhalte, Begriff des Habens, Begriff des Wurzelns, steinerne Sicherheit.
Demgemäß wuchs die Bereitschaft, die sie an den Tag gelegt, um ihren teuersten Besitz, Mann und Haus, mit der Bluts- und Erbfeindin zu teilen, in ihren Augen ins Heroische, und wenn sie sich vergegenwärtigte, wie schnöd ihr Anerbieten zurückgewiesen worden war, hatte sie ein Edelmuts-Attest für alle Zukunft.
Und alles wandelte sich in Gannas Geist nach Gannas Einbildung. Es leidet keinen Zweifel: Sie ist das Muster einer Gattin gewesen, die Verträglichkeit, die Pünktlichkeit, die Ordnungsliebe in Person. Umkränzt von solchen Tugenden ist sie bei mir verleumdet worden, und die »Feinde« haben gewühlt und gewühlt, bis ich nicht mehr anders gekonnt, als mich von ihr loszusagen. Jene selben Leute, die die Klothilde Haar besoldet haben. Jene selben Leute, die es zu verhindern gewußt, daß sie mich mittels der Wiese zum Millionär machte. Des ferneren entsteht in Ganna die Überzeugung, daß wir neunzehn Jahre lang wie die Turteltauben gelebt haben, daß kein Wölkchen jemals den Himmel unseres Eheglücks getrübt hat. Diese Überzeugung erstarrt in ihr zur Legende, ähnlich wie manche historische Vorgänge in den Lesebüchern.
Da aber aus diesem Turteltaubendasein augenscheinlich etwas entstanden ist, was Ganna nicht verschuldet hat, so muß es andere Schuldige geben. Daher Schuldaufgrabung, Schulderörterung, Schulduntersuchung ohne Ende. Die Phantome und Fiktionen wachsen aus der Luft. Verjährte Worte, verjährte Taten werden gewaltsam umgedeutet, Meinungen gefälscht, Aussagen verdreht und weit auseinanderliegende Sachverhalte in unlauteren Zusammenhang gebracht. Ein Heer von Mißgünstigen, Böswilligen, Lügnern und Ränkeschmieden erscheint auf dem Hintergrund der Jahrzehnte und von ihnen umzingelt eine Ganna, die wie ein Seraph im goldenen Äther ihres Alexander Schicksalshüterin gewesen ist.
Dies wurde Tag für Tag vor mir aufgerollt, und Tag für Tag sollte ich Rechenschaft ablegen, Nachweise liefern und Zeugnisse ausstellen. Ich frage mich, warum ich nicht einfach meiner Wege gegangen bin. Warum, warum habe ich nicht mein Bündel geschnürt und bin auf und davon? Schwer zu erklären. Ich glaube, in meiner Veranlagung ist da etwas in Unordnung. Ich bin nicht imstande, seelische Verwüstung hinter mir zu lassen. Nicht aus Weichheit noch aus Mitleid. Ich besitze ja eine ziemliche Portion Selbstsucht. Ich bin kein leichtherziger Gewährer, kein besonders eiliger Helfer, kein guter Schenker, und ehe ich mich außerhalb meiner Arbeit zu einem Akt der Hingebung entschließe, habe ich alle Stufen der Vorsicht und Trägheit zu übersteigen. Es ist da etwas anderes. Nicht ein einzelnes losgelöst, in Verschichtungen liegt es vor. Zunächst die Empfindung von der Gleichzeitigkeit des Geschehens, die ihren Sitz in den Nerven hat. Der hohe Grad seelischer Erschütterbarkeit, der damit verbunden ist, bewirkt zwangsläufig, daß ich mich in die von mir körperlich getrennte Zeit, in die lebendig werdenden Räume und in die Menschen versetzen muß, die sich in meinem Schicksals- und Phantasiekreis befinden. Und so versetzen, daß ich sie sehe, höre, schmecke, taste, rieche, was mich wieder zu umfassenden Schutzmaßregeln nötigt, die mich mehr Anstrengung und mehr Gedanken kosten, als mir durch alle realen Schwierigkeiten aufgebürdet würden. So gleiche ich bisweilen aufs verzweifeltste einem Chirurgen, der sich nicht zur Operation entschließen kann und unsinnigerweise, statt wenigstens den Patienten zu betäuben, selber Morphium nimmt.
Aber das zweite dann: Es wohnte mir doch ein sittliches Gesetz in der Brust, eine höhere Stimme, die nicht zum Schweigen zu bringen war. Da war diese Frau; mochte sie unzulänglich sein oder nicht, mochte sie sich ihr Los selber bereitet haben oder nicht, mochte ich, mochte Bettina, mochte die Welt ihr Tun und Wesen billigen oder nicht: Ich war ihr doch verhaftet; ich hatte mich ihr doch einst zugeschworen; ich war verantwortlich für sie trotz allem Andersreden; ich hatte drei Kinder mit ihr gezeugt; sie war ein haltloses, wegloses, zielloses Weib und ohne mich verloren. Konnte ich da mir nichts, dir nichts desertieren, mich aus dem Staub machen und ein neues Leben anfangen (neues Leben, gedankenlosestes aller Worte), bevor ich im alten gründlich aufgeräumt hatte? Aufgeräumt sogar mit dem Wirrsal der Phantome und Fiktionen? Es schien mir möglich. Ich wußte damals noch nicht, daß sie ihr furchtbares Eigenleben und Eigenwachstum hatten, die Phantome und Fiktionen, daß sie allmählich wie der Flaschengeist im arabischen Märchen den ganzen Himmel überziehen würden. Ich konnte nicht los. Ich war nicht kaltblütig genug, nicht brutal genug. Ich wollte mir ein Stück von Ganna retten. Eine Erinnerung, eine dankbare Regung, ein Gefühl der Achtung.
Da nun Woche auf Woche verging und trotz aller herzabschnürenden Mühe, die ich mir gab, eine gütliche Einigung immer weiter in die Ferne rückte, beschloß ich, die Fäden kurzerhand zu zerreißen und nach Ebenweiler zu fahren, wo Bettina mich täglich erwartete. Ich verpacke Bücher, Manuskripte, Kleider, Wäsche, Ganna sieht mir verstört zu, die Kinder stellen kleinlaute Fragen. Dann kommt die Stunde, da ich mich von ihnen verabschiede; Ganna begleitet mich an die Bahn. Was soll man nur sagen, um die Pein dieses Auseinandergehens zu kürzen, zu mildern? Ganna redet, redet, die Kehle voll Mehl, ihre Worte verhaspeln sich, sie hat Angst, ich könne mich erkälten, Angst vor einem Eisenbahnunglück, es ist alles so unsicher jetzt, sie erteilt mir diätetische Ratschläge, sie redet bis zu der Sekunde, da der Zug abfährt. Ich schaue an ihr vorbei. Sie läuft angestrengt noch ein Stück neben dem fahrenden Waggon her und winkt. Das Bild verließ mich nicht. In ihm war etwas von Gannas ganzem Wesen enthalten.
Siebzehn Stunden im Zug. In jenen Tagen war alle Kommunikation gestört. Der Wagen ist schmutzig; er stößt und scheppert wie eine Postkutsche, an Stelle der Fensterscheiben sind Bretter angebracht, durchs Dach regnet es, die Lampen sind zerbrochen. Ich schaue in die Dämmerung hinaus, Ganna läuft neben dem Zug her und winkt. Und in der Nacht steht sie vor der Tür des Abteils und bettelt um Einlaß, die Kehle voll Mehl.
Dann Ebenweiler in leuchtendem Schnee. Die vertraute Landschaft hat ein neues Gesicht. Ihre Lieblichkeit ist Majestät geworden. Bettina empfängt mich am Bahnhof, die Wangen von der Kälte gerötet, die grüngrauen Augen von unsäglichem Glück strahlend. Wir fahren im Schlitten zu dem im Schnee begrabenen Haus. Die Welt ist weihnachtlich gestimmt.
Ich hatte nicht geahnt, daß der Frieden eines Haushalts und seine feste Führung und Regel etwas so Berauschendes haben können. Ich hatte es nie erlebt. Mit diesem Winter begann eine langwährende Periode intensiver Arbeit für mich, trotz all des Schreckensvollen, von dem ich zu berichten haben werde. Ich war in gewisser Weise behütet. Einmal durch die Landschaft, die mir wie ein bescheidener Genius erschien, immer stillend, nie aufrührend, vor allem aber durch Bettinas umsichtige, hegende, geräuschlose und anscheinend völlig mühelose Obsorge um mein Wohl und meine Ruhe. Ich fühlte mich bei ihr und mit ihr so geborgen wie im Innern des Bergs, an dessen Flanke wir hausten. Weltzerstörung und Ganna-Krieg lagen ein Jahrtausend zurück. In der Glücksverwirrung der ersten Monate dünkte mir, daß wir zu jenem Paarwesen verschmolzen, von dem ich so lange geträumt hatte als von einer hohen Verwirklichung.
Bettinas beide Töchterchen verhielten sich anfangs dem neuen Familienoberhaupt gegenüber ein wenig scheu. Wie Kinder über uns Erwachsene urteilen, gehört zum Unerforschlichsten, was es gibt. Halb mißtrauisch, halb reserviert warteten sie die weitere Gestaltung der Dinge ab. Mein unersättliches Ruhebedürfnis, meine Empfindlichkeit gegen Stimmenlärm und alle Störung waren für sie dasselbe, was Maulkorb und Leine für spielende junge Hunde sind. Sie hätten es mir nachtragen können, daß ich immerfort beflissen war, ihren Übermut zu zügeln. Sie haben es mir nicht nachgetragen. Auch nahmen sie mich verhältnismäßig ernst, jedenfalls war ich der Gegenstand seriöser Gespräche, die sie abends vor dem Einschlafen führten.
Es war eine schmerzliche Erfahrung für mich: Ungeachtet der Wandlung meines äußeren Lebens ins Helle kam ich nicht zur Freude. Vielmehr die Freude konnte nicht an mich heran. Wenn sie sich meldete, ließ ich sie gleichsam wissen, ich sei nicht zu sprechen. Mochte sie noch so lange vor meiner Türe stehen, ich machte die Türe nicht auf. Es war dies eine Enttäuschung für Bettina, die erste in unserm Zusammenleben, und sie wurde von Monat zu Monat größer. Bettina mußte sich natürlich fragen, wozu sie gut sei, da sie mich nicht von der Erde heben konnte, Erdmann und Brunnengräber, der ich in ihren Augen war. Sie hatte gehofft, daß ich ein wenig mit ihr fliegen würde. Wie aber soll man mit einem fliegen, der alles tut, um sich schwerer, nichts, um sich leichter zu machen? Sie hatte sich gedacht, sie könnte meine Lampe sein, doch wie soll man Lampe sein, wenn der, dem sie leuchten soll, sie hinterrücks ausbläst, weil er sich im Dunkeln wohler fühlt? Es war ergreifend zu beobachten: Wenn ich aufgeräumt war, wenn ich einmal lachte, dann war ihr der Tag gerettet; sie brauchte mich nur lächeln zu sehen, da hüpfte ihr schon das Herz vor Vergnügen.
Doch immer seltener vermochte ich zu lachen und zu lächeln. Ein Glück, daß sich Bettina selber so viel Stoff zum Lachen lieferte, obschon der Vorrat manchmal auszugehen drohte. Inmitten einer Gemeinschaft, in der alle um meine Gunst warben und um freundliche Blicke baten, wurde ich zum verschlossen brütenden Einsiedler. Und das war die einzige Gefahr, die Bettina für sich und ihr Leben zu fürchten hatte, das Lichtlose, das Himmellose, Kette von Tagen ohne Lachen und Lächeln. Da war ihr auch die Geige nichts mehr, die Musik nichts mehr, da fiel ihr keine Melodie mehr ein, da verstummte die ganze Welt. In einer gelösten Stunde bekannte sie es mir. Nicht ohne Zagen. Ihre klaren Augen verbargen mir nicht ihre Angst. Daß ich des Bekenntnisses erst bedurfte, war ein Teil meiner ungeheuerlichen Torheit. Ich sah, worum es ging. Ich begriff, daß ich Bettina nicht verdorren lassen durfte. Daß ich um jeden erschwinglichen Preis zur Freude gelangen mußte. Und da es Ganna war, die zwischen mir und der Freude stand, die bewirkte, daß ich nicht mehr lachen und lächeln konnte, so mußte Ganna dazu vermocht werden, mir meine Lebens- und Menschenheiterkeit zurückzugeben, meine Sorglosigkeit, meinen unverdrossenen Mut, um jeden Preis, sonst war alles vertan, sonst mußte ich auch Bettina verlieren.
Aber wenn man auf einem Pulverfaß lebt, mit einer glimmenden Zündschnur am Spund, kann man nicht lachen und lächeln.
Da waren zuvörderst die Briefe. Sechs, acht, zehn Seiten lange Briefe. Ich kann nur sagen, ein Regen feuriger Lava wäre eine Erfrischung dagegen gewesen. Gannas Arme streckten sich über dreihundert Kilometer und wollten den Mann zurück haben. Ihre Worte schallten über dreihundert Kilometer und verlangten Hilfe, Rat, Trost, im Namen der Kinder, im Namen des Rechts, im Namen unvergänglicher Liebe. Was nicht auf dem Papier stand, das raste, schrie, jammerte und schluchzte hinter den Zeilen, hinter den spitzen, störrischen, süchtigen Buchstaben. Klagen, wie traurig sich's in einem Hause lebte, dem der Herr fehlte. Mußte es denn sein, Alexander? Mußte ich so mit Füßen getreten werden? Daß sich Doris bitterlich um den Vater grämte. Daß sie mit Ferry und Elisabeth ihre harte Mühe habe; unmöglich für sie, zwei erwachsene Menschen in Gehorsam zu halten; ob ich es vor meinem Gewissen verantworten könne, sie in den kritischen Jahren und in einer unheilvollen Zeit sich selbst zu überlassen? Träume, Ahnungen, Schreckgesichte. Kleine Nadelstiche: Wie verwundert sich der oder die Soundso über die Handlungsweise eines Mannes geäußert, den er (oder sie) bis dahin schrankenlos verehrt; wie nett sich die Schwestern gegen sie benähmen, wie man sie bedaure, wieviel Freundschaft sie von allen Seiten erfahre ...
Dann begann das Haus, das geliebte Haus, seine verheerenden Stückchen zu spielen. Das Wasserleitungsrohr ist geplatzt, es hat eine Überschwemmung in der Halle gegeben. Die Sickergrube muß verlegt werden, die Gemeinde verweigert den Anschluß an das Kanalsystem, die Miasmen bilden eine hygienische Gefahr für die Kinder. Während eines Sturms ist einer der Kamine eingestürzt. In Doris Zimmer mußte ein Ofen gesetzt werden, die Heizanlage ist schlecht, außerdem ist nicht genügend Koks zu beschaffen. Der Zimmermeister hat eine Rechnung präsentiert, sie kann sie von ihrem Monatsgeld nicht bezahlen. Sie kann auch die Lieferanten nicht regelmäßig auszahlen, sie treiben sie mit ihrem Drängen zur Verzweiflung; was soll sie den Leuten sagen? Mein Mann ist verreist, sagt sie, er kommt bald zurück; aber die Leute glauben ihr nicht und werden unverschämt.
Und damit bin ich zu Gannas Geldwirtschaft gelangt, ihrer ganzen Beziehung zum Gelde, denn dies war weitaus das Unheimlichste in ihrem Leben und Charakter. Da wir damals gerade mitten in der Inflation lebten, trat das gespenstische Wesen gleich mit voller Macht hervor.
Unbeschreiblich ihr starres Entsetzen vorzustellen, wenn in ihrem Haushaltungsbuch die gigantischen Zahlen auftauchten: Zweihundert Kronen für ein Kilo Butter; fünfzig Kronen für ein Dutzend Eier; fünfhundert Kronen für ein Paar Schuhe; zweitausend Kronen an Gehalt für Lehrer und Dienstpersonal. Ganna im Kampf mit dem Geld, das aufhörte, wirkliches Geld zu sein, das ihr unter den Fingern zerrann, während es scheinbar mehr und immer mehr wurde, das sie äffte mit einer Zahl und in Bestürzung versetzte durch den Unwert der Zahl, dies brachte eine namenlose Verwirrung in ihrem Geist hervor, eine gänzliche Verschiebung der Begriffe und eine wachsende Panik der Berechnungen. Eine Woche später, und die Hunderte sind zu Tausenden, die Tausende zu Hunderttausenden, die Hunderttausende zu Millionen geworden. Als ein Huhn achtzigtausend Kronen kostete, ein Telegramm an mich zehntausend, die Monatsrechnung für den Metzger sich auf mehr als anderthalb Millionen belief, brach sie unter dem Zahlengebirge tatsächlich zusammen. Es war für sie das Widersinnige schlechthin. Ihr, der Geld und Geldeswert heilige Stabilitäten waren, erzene Sicherheiten, war dies ein Erlebnis wie für den Gläubigen der unwiderlegliche Beweis (falls es ihn gäbe) von der Nichtexistenz Gottes. Sie hing im leeren Raum. Die Naturgesetze waren aufgehoben. Zweifellos entstand hieraus ein Furcht- und Schrecktrauma, das die verhängnisvolle Entwicklung in der Folgezeit zum Teil erklärt. Vorerst setzte sich in ihr die Meinung fest, daß sich ein solcher Umsturz aller Werte nie hätte ereignen können, wenn ich nicht von ihr fortgegangen wäre. Es verschaffte ihr eine wahnhafte Befriedigung, daß meine Treulosigkeit, mein angeblicher Verrat an ihr mit dem Unglück der Nation, mit der Katastrophe des Kapitalismus zusammenfiel.
Sie ließ es in jedem ihrer Briefe durchblicken. Jedem waren Statistiken und genaue Spezifikationen beigelegt. Keine Geldsumme konnte genügen. Andere sahen sich vor, sorgten für Reserven, trafen ihre Einteilung; Ganna wurde stets vom Augenblick überrumpelt und niedergestoßen. Es gab kein Zeitgefühl in ihr als das des Augenblicks. Und es war sehr geheimnisvoll, daß sie zwischen Augenblick und Augenblick nicht lebte, also gewissermaßen in einer fortgesetzten Kette von kleinsten Zeitteilchen ohne Seele und Besinnung war, weshalb sich hinter ihrer atemlosen Betriebsamkeit und Geschäftigkeit ein immerwährendes tragisches Hineinsterben ins Nichts vollzog.
Unter dem Druck ihrer vielfachen Not erwachte der alte Glaube an Zauberei in ihr. Sie kannte einige Bankdirektoren, zu denen sie ging. Bankdirektoren waren Zauberer in ihren Augen; sie zauberten Geld. Sie mußten auch wissen, was es mit dem Hexensabbat für eine Bewandtnis hatte. Sie ließ sich Tips geben. Sie schickte mir hieroglyphische Depeschen mit den Namen von Papieren, die ich kaufen sollte. Sie hatte dann die Illusion, mir entscheidend geholfen zu haben, und war überzeugt, ich erntete Reichtümer. Daran knüpfte sich alsbald die weitere, und zwar unausrottbare Überzeugung, ich lebte mit Bettina in »Saus und Braus«, indes sie, die verstoßene Ganna-Genoveva, zu einem Bettlerinnendasein verdammt war.
Der Zahlentumult in Gannas Briefen umschwirrte mich wie eine Wolke von Stechfliegen. Ich hätte Ganna überschüttet mit Geld, hätte ich es nur in ausreichender Menge gehabt. Was lag mir denn am Gelde; was lag Bettina am Gelde; erst recht nichts. Ich half nach und half nach. Ich paßte die Zahlen dem Bedürfnis an. Mittlerweile hatte der deutsche Währungsverfall auch aus meinen Einnahmen lächerliche Riesensummen gemacht, hinter denen nur ein geringer Realwert steckte. In den Abrechnungen konnte man die Nullen kaum mehr zählen, aber das Gesamt des Einkommens sank tief unter den Durchschnitt der letzten Jahre. Ohne ein paar Zahlungen aus dem Ausland hätte ich den Verbrauch nicht decken können. Doch überwies ich von dem Schattengeld so viel ich irgend entbehren konnte an Ganna. Aber, was gestern noch zulänglich gewesen, war heute zuwenig. Als die Entwertung endlich stillstand, waren so tiefe Schuldenlöcher aufgerissen, daß Ganna sie nicht mehr stopfen konnte. Ihre schrillen Hilfeschreie drangen in die Stille meines Arbeitszimmers. Ich kratzte zusammen, was ich irgend entbehren konnte. Ich rechnete nicht mehr, dachte nicht mehr an meinen zweiten, eigentlichen Haushalt. Aber mit keiner Summe fand sich Ganna zurecht. Gegen jede Grenze lehnte sie sich auf. Jede Vorschrift erschien ihr als ein Akt der Bosheit. Sie schwor, ich sammele Schätze, die ich ihr vorenthalte, um sie mit Bettina zu verprassen. Wenn sie einen größeren Betrag in die Hand bekam, bemächtigte sich ihrer sofort ein stupider Optimismus, als könne das Geld nie alle werden; war es dann alle, weit früher als sie gedacht, so wußte sie nicht mehr ein noch aus, saß bekümmert vor dem rotliniierten Folianten, prüfte die Quittungen nach, durchwühlte alle Taschen und Laden, behauptete, man habe sie bestohlen, und das Ende war ein Brandbrief an mich.
Die Beschäftigung mit den Mammutzahlen, als sie sich einmal daran gewöhnt hatte, bereitete ihr ein eigentümliches, aufregendes Puzzle-Vergnügen. Die Millionen und Billionen gewährten ihrem krankhaft spekulierenden Geist die Befriedigung im Unmäßigen, nach der er lechzte. Es gemahnte an Magie und Astrologie. Was kam es auf den Wert an, der Schein war ja da, als nennbare Zahl süß behexend. Indes die Preise ins Unerschwingliche, die Zahlen ins Unaussprechliche hinaufkletterten, entzündete sich in ihr die Hoffnung, ich würde, obgleich ich doch in einer andern Hemisphäre ihrer Traumwelt ein heimlicher Krösus war, fernerhin die Mittel nicht aufbringen können, um für zwei Frauen und zwei Haushalte zu sorgen, und daher gezwungen sein, in den Schoß der Familie zurückzukehren. Das war nicht ein Wunsch oder ein gelegentlich auftauchendes Phantasiespiel, sondern eine unerschütterliche Zuversicht; sie sprach von dieser Rückkehr wie von einem feststehenden Ereignis und als wäre dann die Zeit der Prüfungen, der Schande und der Verlassenheit für immer vorbei.
Sie erkannte das Schicksal nicht an. Ihre innerste Natur war die Rebellion. Mir wurde berichtet, daß sie kurz vor ihrer Mutter Tod, der in diese Zeit fiel, eine Auseinandersetzung mit der achtzigjährigen Frau gehabt habe, wobei Ganna außerordentlich heftig geworden sei, weil ihr die Mutter ihren Mangel an Demut vorgeworfen habe. »Demut«, soll sie aufbegehrt haben, »wie weit kommt man schon mit der Demut? Wie weit hast du's mit deiner Demut gebracht, Mutter?« Als die Mutter starb, brach Ganna mit den letzten Erinnerungen an Zucht. Sie war nun vierundvierzig Jahre alt.
Eines Tages sagte sie sich: Ich will von diesem herzlosen Mann (nämlich mir) nicht länger finanziell abhängig sein. Da sich alle Welt in Unternehmungen stürzte und das Wahngeld auf der Straße zu liegen schien, tat sie sich eifrig um, besprach sich mit allerlei vermeintlichen Freunden und erfahrenen Persönlichkeiten und beschloß, eine Filmzeitschrift zu gründen. Das Kino war Mittelpunkt des Interesses, und was seine Geistigkeit anlangte, so bestand eine offenbare Verwandtschaft zwischen Gannas Wesen und der Flimmertechnik auf der Leinwand. Blendwerk in jedem Sinn. Zu allem Blendwerk fühlte sich Ganna unwiderstehlich hingezogen, zu allem Hokuspokus, Sterndeuterei, Mazdaznan, Handlesekunst. Sie boten ihr reiche Möglichkeiten der Selbstdarbietung und Selbstauslöschung; die ganze Schöpfung wurde sozusagen ein gottgefälliger Betrug.
Ein Geldgeber war auch diesmal bald gefunden. Es war ein Mann mit einer Druckerei. Die Leute wollten das falsche Geld loswerden, um es später einmal mit Wucherzinsen gegen wirkliches einzutauschen, und jedem war jede Gelegenheit hierzu willkommen. Daß Ganna auch von ihrem, will sagen von meinem Gelde, etwas Beträchtliches beisteuern mußte, blieb mir verborgen. Die Ausbeuter und Projektemacher in ihrem Umkreis konnten sie jederzeit in aller Behaglichkeit rupfen. So lange sie ihnen nicht auf die Schliche kam, hielt sie sie für selbstlose Wohltäter. Mehr und mehr neigte sie zu der Ansicht, um in der Literatur Erfolg zu haben, müsse man nur seine guten Beziehungen ausnützen, und so rannte sie verschiedenen Männern von Ruf, darunter auch Leuten, die mir nahestanden, die Türen ein und war äußerst ungehalten, wenn sie mit höflichen Redensarten abgespeist wurde. Extremer Für- und Widermensch, der sie war, kehrte sich dann ihre Bewunderung sofort in Geringschätzung; der eben noch Hochgeehrte, im Handumdrehen war er ein Wicht. Sie war Herausgeber, Lektor, Kassier, Vertriebsleiter, alles in einem. Sie schrieb sich die Finger wund und lief sich die Beine lahm. An dem Morgen, da das illustrierte Heft frisch erschien, eilte sie von Buchhandlung zu Buchhandlung, von Kiosk zu Kiosk, erkundigte sich nach dem Absatz, feuerte die Verkäufer an und gab ihnen Ratschläge, wie das Publikum anzureizen sei. Daß manchmal ein erstaunter oder bedauernder Blick sie traf, der sie erinnerte, wer sie war, bedeckte sie eilig mit Bewußtseinsnacht.
Gut, Filmzeitschrift: Das war ja nichts Unanständiges oder Verächtliches. Betätige dich, dachte ich mir, tob dich aus, mach deine Erfahrungen. Aber da waren erstens die undurchsichtigen Geldmanipulationen und Finanzoperationen, die mich höchlichst beunruhigten und von denen ein Odium von Schiebung und von »eine Hand wäscht die andere« ausging. Mir schwante etwas von Wechselgeschäften und wucherischen Verschreibungen, von Gutsagen auf meinem Rücken, lichtscheuen Abmachungen und unlauteren Beziehungen; bisweilen erhob sich ein Gerücht und verstummte wieder; bisweilen kam mir eine Andeutung einer Warnung zu; kurz, es war, wie wenn sich widerwärtige Dinge hinter einer spanischen Wand begeben; man lauscht gespannt und erregt, weiß aber nicht genau, was los ist. Das weitaus Schlimmere war aber der Inhalt des Blättchens selbst. Da waren erstlich die Beiträge Gannas, hingeschluderte Novellchen und Geschichtchen von einer haarsträubenden Plattheit und Gewöhnlichkeit; unter anderem auch das boshaft verzerrte Porträt einer wegen ihrer segensreichen Tätigkeit weithin bekannten Frau, in der Ganna, ich weiß nicht warum, ihre unversöhnliche Feindin erblickte. Sodann trübselige, zum Teil sogar anrüchige Erzeugnisse einiger sudelnder Damen und Herren, die Ganna protegierte und denen sie auf diese Weise einen literarischen Tummelplatz verschaffte und Honorar zuschanzte; und zuletzt die Inserate, durch die sich das ganze Unternehmen vermutlich bezahlt machen sollte, jene Ankündigungen und Anpreisungen, wie sie in dergleichen Druckschriften üblich sind. Und das alles unter dem Namen Herzog, den Ganna ja nun einmal trug, meinen Namen. Und überall im Hause waren die unverkauften Exemplare zu Stößen aufgeschichtet, und wenn die kleine Doris gerade nichts Besseres zu tun hatte, blätterte sie die Hefte durch wie ein Bilderbuch. Ich kam eines Tages dazu. Ich riß ihr das Zeug aus der Hand. Ein bleierner Ring legte sich mir um den Kopf; der Morast spritzte mir bis an die Knie.
Schon im ersten Winter war Doris bei mir gewesen, unverändert anschmiegend, voll vertrauender Liebe, die tief in der Natur des Kindes wurzelte. Es hatte umständlicher Verhandlungen bedurft, ehe Ganna dieses Zugeständnis machte, und als ich auch späterhin, in den folgenden Sommern und Wintern, Doris während der Ferien bei mir haben wollte, setzte Ganna meinem Wunsch jedesmal die größten Schwierigkeiten entgegen. Sie erklärte es für ein Wagnis. Sie verlangte Garantien und stellte Bedingungen. Sie versuchte, mir und sich einzureden, daß das Kind nur bei ihr gedeihen und gesund bleiben, daß niemand Gannas Pflege, Gannas Umsicht, Gannas Liebe ersetzen könne. Mir billigte sie höchstens die Wohlmeinung zu, die moralische Fähigkeit sprach sie mir ab. Denn ich stand ja unter dem Einfluß einer Frau, der zu mißtrauen Ganna die triftigste Ursache von der Welt zu haben glaubte. Sie versicherte jedem, der es hören wollte, sie könne doch nicht ihr Liebstes, ihr Herzblatt, einer Person überlassen, die mit mir in einem unsittlichen Verhältnis lebe. Daß dieses »unsittliche« Verhältnis durch ihre eigene Schuld bestand, vergaß sie mit Vergnügen. Was daraus erwuchs, war ein Schacher um das Kind, ein Handelsgeschäft um sein Bei-mir-Sein; begreift ihr meine Scham?
Wenn Doris mit einer harmlosen Erkältung im Bett lag, meldete Ganna eine schwere Halsentzündung mit Fiebergraden, die mir, in der Dreihundert-Kilometer-Ferne, Entsetzen einjagen sollten. Die Absicht war, mich aufzustören, mir das Gewissen wachzuhämmern, damit ich ihrer nicht vergäße im Zusammenleben mit der Verhaßten. Es sei nicht zum Verwundern, daß die Kinder beständig krank seien, schrieb sie mir, da ich der Mutter die Mittel vorenthalte, sie vor Krankheit zu bewahren. Ich setzte mich hin und bewies ihr schwarz auf weiß, daß sie selbst in den schlimmsten Monaten der Geldentwertung ein stattliches bürgerliches Einkommen bezogen habe; ich rechnete es ihr in Schweizer Währung um. Ihre Antwort war das Aufbrausen einer Betrogenen, da sie ja nach ihrem Dafürhalten um alles das betrogen worden war, was mich das Leben an Bettinas Seite kostete. Sie erklärte, es läge kein Grund vor, daß man ihre Bezüge rationierte, sie sei sich keines Verschuldens bewußt, ihre Ansprüche bestünden vor Gott und Menschen zu Recht.
Sie hatte keine Gewalt über das Wort. Es entstand in ihr durch eine seltsame Alchimie und entzündete sich abseits vom Denken. Die Assoziationen geschahen auf dem Weg hemmungsloser Willkür. Ich sah Ganna in all den Jahren emporwachsen, und mit ihr wuchs und schwoll das Wort, das hemmungslos willkürliche Wort. Zwischen dem Guten und Bösen unterschied sie nicht, ob es Brücke oder Abgrund war, merkte sie nicht. Lyrischer Erguß und Giftsud, Flehen und Drohung, Wahres und Erkrampftes, Anhänglichkeit und Erbitterung, Gefühl und Geschäft, alles heillos verfilzt. Überhitzter Stil, eiskalte Erklügelungen. Von vier nebeneinanderstehenden Sätzen enthielt der erste eine Selbstbejammerung, der zweite eine Anklage, der dritte eine Geldforderung, der vierte eine Liebeserklärung. Während sie sich als die Vertreterin der sittlichen Weltordnung aufspielte, feilschte sie um die Erhöhung ihrer Monatsrente. Während sie schwärmerische Zeilen über eine meiner Arbeiten niederschrieb, benutzte sie die Kinder als Pfandobjekte und forderte, verhüllt und unverhüllt, greifbare Gegenleistungen für ihre Bereitwilligkeit, ihnen den Aufenthalt in meinem Haus zu erlauben; vor allem öfteres Beisammensein mit mir zum Zweck »friedlicher Aussprache« und das stets zu erneuernde Gelöbnis, daß ich nicht auf der Scheidung bestehen würde. Diesem Ansturm mußte ich die Brust darbieten. Ganna und das Ganna-Wort hielten mich in Atem wie ein Trunkenheitsexzeß nächtlicher Einbrecher.
Wir treten hinaus in die Sternennacht, Bettina und ich. Unten glitzert der See, der Himmel gleicht einem von Nadeln durchstochenen Vorhang, hinter dem blaues und gelbes Feuer brennt. Die Milchstraße ein verblüffender Bogen aus gekörntem Silber. Auf den Höhen liegt hauchzarter Nebel. Die Stille ist so herzerschütternd, daß man sie wie eine selige Art von Tod spürt. Das Ganna-Wort, der Ganna-Lärm sind verstummt, als ob ein stählernes Tor wäre zugeschlagen worden. Wir stehen Arm in Arm, wie im Gebet versunken ...
Es gibt Morgen, da wir über den Neuschnee die Abhänge hinunterrodeln wie über einen weißen Geisterteppich, ringsum der schwarze Wald, die kristallklare Luft erfüllt vom Lachen und Schwatzen der beiden Töchter Bettinas, die nun bald zu ihrem Vater in die Stadt müssen, um das Gymnasium zu besuchen. Dann wandern wir über den gefrorenen See, der so beängstigend dröhnt in den Nächten; es klingt wie das Seufzen eines verendenden Vorweltsauriers. Holzschlitten fahren lautlos über die glatte Fläche, mit Ochsen bespannt; klirrend, wie wenn Papier zerreißt, sausen die gestielten Scheiben der eisschießenden Bauern über die geglättete Fläche.
In den ersten Frühlingstagen ist es, wie wenn sich die Natur zornig ein Kleid vom Leibe risse, das ihr zu eng geworden ist. Die Wässer stürzen in den von Jahrtausenden gehöhlten Felsrinnen zu Tal, oben donnern die Lawinen, Erika und Leberblümchen drängen schüchtern aus Moos und Gras, alles ist ein unzähmbares Werden und Wachsen, der März riecht anders als der Februar, der April anders als der März, wir ziehen in die Wälder, wandern in die Nachbartäler, als machten wir eine Inspektionsreise durch unser Königreich, und manchmal packt Bettina stürmisch meine Hand und fragt, indem sie ihr Gesicht von unten her dem meinen nähert: »Bist du zufrieden? Sag, ob du zufrieden bist in deinem Sinn!« Ich sehe sie an und nicke ihr dankbar zu. Wäre sonst das andere zu ertragen gewesen? Das Leben wäre zerborsten wie ein rostiges Stück Eisen ...
Jahrelang stand die Scheidung als der von mir stumm gewünschte Abschluß hinter dem Geschehen, nach und nach wurde sie klares Erfordernis. Es gibt einen Ruf zur Ordnung, der aus dem Sozialen kommt, unabhängig von den persönlichen Freiheiten. Da war keine Heuchelei verstattet, kein zurechtgemachtes, hochmütiges Drüberstehen; so verkettete sich in mir ein Verlangen, das mit meinem Ehrgefühl als Mann und mit meinem Verantwortungsbewußtsein gegen die Gemeinschaft zusammenhing, mit jenem anderen, noch dringlicheren, das die unabgetragene Schuld an Bettina in sich schloß, die ich in bangen Stunden der Selbsteinkehr den aufgesammelten Zehnten der Freude nannte oder auch die inneren Reparationen.
Darum ging es in dem Kampf mit Ganna zunächst. Wenn die Lastaufladerin zu bewegen war, dem keuchenden Tier das Halfter abzunehmen und die Bürden abzuschnüren, konnte es wieder atmen, wieder schreiten. Sie war nicht dazu zu bewegen. Gannas erster Einwand war, sie könne sich nur scheiden lassen, wenn sie meiner Freundschaft sicher sei. Schön, sage ich, zugestanden, eigentlich versteht es sich von selbst. Es hat allerdings eine Schwierigkeit: Wodurch sichert man sich Freundschaft nach Gannas Meinung? Durch Unterschrift. Durch Brief und Siegel. Ich soll es verbriefen. Ich soll mich für alle Zeiten bindend verpflichten. Ich bin dumm genug, ihr dies auszureden. Anstatt Ja und Amen zu sagen und die verlangte Klausel zu unterschreiben und zu verbriefen, was automatisch bewirken würde, daß sie die Forderung fallenließe, um eine andere, schwerer erfüllbare zu erheben, bemühe ich mich ehrlicherweise, sie von dem Unsinn einer urkundlich stipulierten Freundschaft zu überzeugen, ihr die Einsicht beizubringen, daß Freundschaft erworben und verdient werden müsse und daß man sie nicht bescheinigen könne wie einen Mietsvertrag. Sie sieht es nicht ein. Sie hört nur die Weigerung und hält damit den Beweis meiner schlechten Gesinnung für erbracht. Man wolle sie mürbe machen; man habe eine bestimmte Taktik des Mürbemachens erfunden. »Ihr werdet mich noch zum Äußersten treiben mit eurer Taktik«, verkündet sie zornbebend. – Sie beruft sich auf mein feierliches Versprechen, den Brief vom Oktober 1919. Ich muß zugeben, den unverständigen Brief geschrieben zu haben. Da kocht die Erbitterung in ihr empor, und sie schreit, nie und nimmer würde ich ihr das Messer an die Brust setzen, wenn ich nicht hypnotisch unter dem Gebot meiner Geliebten handle. Ich muß lächeln, wenn ich an Bettina und ihre »Gebote« denke. Ganna mißversteht mein Lächeln, sie hält es für ein Schuldgeständnis und beharrt dabei, ich hätte Bettina die Scheidung zuschwören müssen, was Bettina als Gegenleistung biete, das natürlich könne niemand wissen, aber sie werde der Dame Merck zeigen, daß sie sich verrechnet habe, daß sie auf Granit beiße.
Aber auch diesmal lag es nicht in Gannas Plan, mich mit einem endgültigen Nein abzufertigen. Sie wollte verhandeln. Sie wollte alles in der Schwebe halten. Damit erzwang sie ja meine Gegenwart. Freilich, um ganz gerecht zu sein, ganz tief gerecht, wie es nur einem Gott möglich wäre, müßte man sich fragen, ob es nicht auch die Liebe war, die sie dazu trieb, eine schreckensvolle Liebe zwar, eine in Finsternis getauchte, aber dennoch Liebe, wie immer man das Wort wendet, wie zerstört es auch in einem solchen Herzen sein mag. Ich spürte natürlich nur den Schrecken und die Finsternis, sie aber litt genauso wie ich, wenigstens glaubte ich es damals noch und war nachsichtig und geduldig, denn das Leiden entwaffnet. Sie unterlag immer der Täuschung, daß ich mich um ihretwillen aufrieb, wenn ich mich aufrieb; und wenn ich sie von mir stieß, war es eine Gegenwirkung, die von ihr ausging; sie war also noch im Spiel, war noch Partnerin. Aus diesem Grund narrte sie mich mit Verheißungen, leugnete heute die Abmachungen von gestern ab und zerredete das tausendmal Gesagte zum tausendundzehnten Mal. Telegrafierte sie mir: Komm, alles wird gut werden, und ich kam dann voller Hoffnung, und die Verhandlungen führten wieder zu keinem Ergebnis, so hatte nicht sie Sabotage geübt, sondern ich hatte es an gutem Willen fehlen lassen. »Ich bin noch nicht so weit«, sagte sie im August, »laß mir noch drei Monate Zeit.« Gut, ich ließ ihr drei Monate Zeit. Im November hieß es: »Ich kann mich nicht festlegen. Niemand kann sich heutzutage festlegen. Die Verhältnisse sind zu unsicher. Im März erfüll' ich dir deinen Wunsch; mein Ehrenwort.« Und im März: »Ich will deine Vorschläge ernstlich prüfen. Aber das eine kann ich dir jetzt schon sagen: Du bist nicht in der Lage, zwei Frauen zu erhalten. Es ist meine Pflicht, dich vor dem Zusammenbruch zu bewahren.« – »Ausflüchte, Ganna. Wir können, wir müssen uns auf irgendeiner Basis einigen.« – »Ich bin viel zu oft getäuscht worden. Wollt ihr mich zwingen, daß ich an meinen Kindern zur Verbrecherin werde?« – »Ich bin nicht der Mann, der seine Kinder im Stich läßt. Das solltest du wissen.« – »Du nicht, aber deine Geliebte. Da müßte ich ganz andere Bürgschaften haben, als du sie mir bieten kannst.« – »Welche denn, Ganna? Was kann ich denn anderes tun, als dir Leib und Leben verpfänden?«
Vergeblich. Mit zäher Wut klammert sich Ganna an die ihr verschriebenen siebzig Kilo Lebendfleisch. Was immer sie vorbringt, ist halluziniert. Hinter Traum und Halluzination fuchtelt und zetert ein nüchterner, gerissener Winkeladvokat. Von dem will ich, von dem darf ich nicht wissen. Ich sehe nur die lallende Schlafwandlerin, die unselig Verstrickte, die gequälte Quälerin, das grenzenlos vereinsamte Weib, eine Ganna, der ich abzubitten habe, die ich für das beleidigte Sittengesetz entschädigen muß. Ganna, die verängstigte Mutter, die enttäuschte Gefährtin, die mißhandelte Gattin, die hilflos vor der Wirklichkeit versagende Frau verbirgt mir Ganna, die Rasende, Ganna, den Winkeladvokaten. Auch ich träume. Auch ich halluziniere. Ich bewege mich im verhexten Kreis.
Meine Freunde rieten mir, mich an einen Anwalt zu wenden. Sie hatten Angst um mich. Eine schlimme Reizbarkeit machte sich an mir bemerkbar. Ich hatte mein fünfzigstes Jahr überschritten; konnte sein, daß ich den Anstrengungen nicht mehr gewachsen war, die ich mir zumutete. Man empfahl mir den Dokor Chmelius. Ich kannte ihn von gesellschaftlichen Begegnungen her und erinnerte mich seiner als einer sympathischen Erscheinung. Es stellte sich heraus, daß es derselbe Anwalt war, der Bettinas rasche Scheidung durchgeführt hatte. Aber Bettina hatte nie von ihm gesprochen, hatte mir gegenüber nicht einmal seinen Namen genannt. Sie hatte nichts für Advokaten übrig. Sie glaubte nicht, daß sie etwas Segensreiches zuwege bringen konnten. Und ich hatte in meinem ganzen Leben mit keinem Advokaten zu tun gehabt. Jetzt wurde das gründlich anders.
Dr. Chmelius sollte zunächst Gannas Finanzbeirat sein, der Beaufsichtiger ihrer Geldgebarung, da ihre Forderungen und ihr Verbrauch nachgerade ins Ungemessene wuchsen und ich dem nicht mehr steuern konnte. Ganna weigerte sich jedoch, den Dr. Chmelius als Berater anzuerkennen; sie hatte erfahren, daß Bettina vier Jahre zuvor seine Klientin gewesen, und konstruierte eine verschwörerische Beziehung. Sie behauptete, er habe sich in den Dienst Bettinas gestellt und handle unter ihrem psychologischen Druck. Dr. Chmelius war ein gewiegter Jurist und ein vornehmer, deshalb vielleicht etwas zu zögernder Mann. Trotzdem trieb jeder seiner höflichen und rücksichtsvollen Briefe Ganna in die Siedehitze der Entrüstung. Wessen unterfing sich der Mensch? Machte ihr, Ganna, Vorschriften; erteilte ihr, Ganna, Ratschläge; wagte sogar, von Scheidung zu sprechen und zu schreiben; unerhört!
Unverzüglich stellte sie in der Person des Dr. Pauli einen Gegenanwalt auf. Dieser wollte ihr zwar wohl, war auch nicht abgeneigt, ihre Rechte zu vertreten, doch war er mit Geschäften überlastet, und bei aller Bewunderung, die er für ihre Tatkraft, ihre Findigkeit, ihren Unternehmungsgeist hegte, waren ihm die Konferenzen mit ihr zu anstrengend. Er konnte sie nicht zweimal des Tags empfangen und anhören, wie sie forderte, und er wurde ärgerlich, wenn sie von einer Besprechung zur andern ihre Entschließungen gänzlich veränderte. Deshalb übergab er den Akt einem Freund und Kollegen, einem gewissen Dr. Grieshacker. Dieser sah sich aber auch alsbald von Ganna zu stürmisch belagert und schob die Sache seinem Sozius zu, einem Dr. Schönlein, was gleichwohl zur Folge hatte, daß die causa Ganna Herzog manchmal von allen dreien begutachtet, bearbeitet und in Schriftsätzen hin und her gewälzt wurde.
Nur in Schriftsätzen, sonst kam nichts dabei heraus. Niemand wußte, was Ganna eigentlich wollte. Sie selbst am wenigsten. Wollte sie geschieden werden? Nein. Wollte sie nicht geschieden werden? Alles sprach dafür, doch hütete sie sich es, zuzugeben. Wozu machen wir uns also die Mühe? fragten die Advokaten. Ganna handelte ungefähr wie der Besitzer eines Gehöfts, dem man mit einem nächtlichen Überfall gedroht hat und der zur Sicherheit rings um sein Anwesen Gendarmen postiert. Dem Dr. Pauli lag daran, daß sie von den üblichen Expensennoten verschont blieb; er kannte ihre Bedrängnisse und bestimmte auch seine Kollegen in diesem Punkt zur Nachsicht. Eine noble Geste; er sah nicht voraus, daß es auch eine verhängnisvolle war. Dadurch gewöhnte sich Ganna, ihre Anwälte zu überlaufen und sie zu wechseln, wie man Strümpfe wechselt. Da sie keinen Begriff von menschlicher Arbeitskraft hatte noch Respekt vor ihr, mutete sie jedem, den sie in ihre Angelegenheiten eingespannt hatte, ausschließliche Beschäftigung mit ihnen zu und behandelte ihn wie einen pflichtvergessenen Lehrling, wenn ihr diese Ausschließlichkeit nicht zugestanden wurde. Und so zufrieden sie einerseits war, daß man ihre Geldnöte berücksichtigte, konnte sie doch andererseits des heimlichen Argwohns nicht Herr werden, daß, wer umsonst oder billig für sie arbeitete, auch schlecht arbeitete. In diesem Zwiespalt wurde sie immer ungenügsamer, immer aufgeregter, immer streitgieriger, immer verworrener, immer ratloser. Die Menschheit zerteilte sich ihr von nun an in zwei Lager: die Anhänger ihrer Sache und die Gegner ihrer Sache. In der Mitte standen, als lichte Führer zu Glück und Sieg, die Advokaten, natürlich die von ihr gedungenen Advokaten, die gegnerischen waren der Abschaum der menschlichen Gesellschaft.
Sie hing am Telefon und sprach unter huntertmaligem dumpfem »Hallo-oh!« mit den verschiedenen Kanzleien, auch der des Dr. Chmelius. Dieser konnte sich ihrer dringlichen Bitten um Geld nicht mehr erwehren. Der Dialog war feststehend. »Um Himmels willen, gnädige Frau, ich habe Ihnen doch erst vor einer Woche eine beträchtliche Summe überwiesen.« Darauf Ganna, mit atemberaubender Suada: Sie habe »Imprévus« gehabt, ein Ausdruck, den sie besonders bevorzugte, stand doch ihr ganzes Leben unter dem Zeichen des Unvorhergesehenen, und verbat sich die unbefugte Einmischung in ihre Geldgebarung. Wenn sie sich aber dann nicht zu helfen wußte, nahm sie ihr Haushaltungsbuch unter den Arm und fuhr zu Chmelius in die Stadt, um ihn Ziffer für Ziffer darzulegen, wie sparsam und überlegt sie wirtschafte. Alles Aufgeschriebene war sakrosankt für sie. Dies war in ihrem Fetischglauben an Wort und Zahl begründet. Die Verrechnungen in ihrem Buch hielt sie für ebenso unangreifbar wie den Ausweis der Reichsbank.
Ebenso behandelte sie jedes ihrer Sendschreiben wie ein päpstliches Breve. »Hast Du meinen Versöhnungsbrief vom sechzehnten nicht bekommen?« schrieb sie etwa. »Ich vermisse Deinen Bescheid auf meine sehr gemäßigten Vorschläge. Es scheint, meine Briefe werden Dir nicht ausgefolgt. Bestätige mir ausdrücklich und telegrafisch, daß Du den genannten erhalten und gelesen hast.« Damit setzte die Fiktion der von Bettina unterschlagenen Briefe ein. Es gab keinen Schutz gegen die Bezichtigung. Dr. Chmelius galt ihr als Anstifter. Nie könne sie es mir verzeihen, daß ich diesen Mann zu ihrem Büttel gemacht habe, ließ sie sich vernehmen, die Augen seien ihr dadurch gründlich geöffnet worden. Auf die Scheidung dürfe ich nicht mehr rechnen; sie sei praktisch undurchführbar, ideell eine Unmenschlichkeit. Nur wenn ich den Dr. Chmelius verabschiede, könnten die Verhandlungen vielleicht wieder aufgenommen werden. Füge ich mich weiterhin dem Terror meiner Umgebung, so hätte ich bei ihr verspielt. Meine Hoffnung war ohnedies auf den Nullpunkt gesunken. Wäre Jesus Christus in Person gekommen, als mein und Bettinas Anwalt hätte er bei Ganna verspielt.
An keinem Ort fand sie Ruhe, in keinem Haus, in keinem Zimmer, bei keinem Menschen, bei keinem Buch, in keinem Bett. Sie litt an Gallenbeschwerden, Herzbeschwerden, Atembeschwerden, konsultierte Spezialisten und Kurpfuscher, gebrauchte Salben und Kräutertees, sauste nach Karlsbad, an die Adria, zu Schwester Traude nach Berlin, war den einen Tag unermüdlich auf den Beinen, erklärte sich den andern für todkrank, aber auch diese Krankheit war eine Fiktion, Flucht vor der schauerlichen Unrast.
Undeutlich zeichnete sich in der Verwirrung ihrer Geschäfte der Zusammenbruch der Filmzeitschrift ab. Der Drucker hatte auf Kostenersatz geklagt. Vermutlich hatte sie sich, um ihn teilweise auszuzahlen, in neue Schulden gestürzt. Dr. Chmelius gegenüber leugnete sie es. Aber wo sollte sonst all das Geld hingekommen sein? Schwarze Unerklärlichkeit. Hatte sie heimliche Freunde, an die sie es verschleuderte, Blutsauger, die es ihr ablisteten? War es lediglich der düstere Vernichtungswille, in den Motive von schwer erkennbarer Beschaffenheit verwoben waren: Liebes-, Hasses-, Eifersuchts-, Selbstbehauptungs-, Selbstzerstörungs-, Wunscherfüllungstriebe? Dr. Chmelius berichtete mir, er habe ihr Posten vorgerechnet, daß ihr im abgelaufenen Jahr über die Hälfte meines Einkommens zugeflossen sei; darauf habe sie ihn gröblich angefaucht und von Betrug und Schwindel gesprochen, sie wisse aus verläßlicher Quelle, daß ich mehr als das Fünffache verdient hätte. Ich sagte: »Diese Reden kenne ich, wie soll ich ihr beweisen, daß dem nicht so ist? Wie soll man überhaupt jemand beweisen, daß man etwas nicht besitzt, wovon er glaubt, daß man es besitzt?« – Dr. Chmelius entgegnete verdrießlich: »Sie können der gnädigen Frau unter keinen Umständen etwas beweisen. Außer im wiederaufgeschlagenen Ehebett. Sonst nicht.«
Und so erwiesen sich die Verhandlungen, auf die sich Ganna mit scheinbarer Bereitwilligkeit einließ, samt und sonders als Spiegelfechtereien. In ihrem nächtelangen Bohren und Grübeln hatte sie sich drei Vertragsklauseln ausgedacht, über deren Unverwirklichbarkeit sie keinen Augenblick im Zweifel sein konnte, derer sie aber bedurfte, um nachher, wenn die Konferenzen gescheitert waren, die Unschuldige spielen und sagen zu können: Ich habe meinen guten Willen dargetan, die Hintertreiber, die Durchkreuzer seid ihr.
Da diese Punkte in gewisser Weise einzigartige »Sanktionen« darstellten, will ich sie anführen. Erstens sollte ich auf die väterliche Gewalt über die minorenne Tochter verzichten. Ein juristisches Eigengewächs Gannas; kein Gericht der Welt hätte einen solchen Verzicht anerkannt. Zweitens hatte ich für jede Tochter eine Mitgiftsumme in ansehnlicher Höhe zu deponieren. Wo ich eine solche Summe hernehmen sollte, wurde nicht gefragt. Der Kral verfügte es. Der Kral gebot: Versorge deine Brut, Mann; zuerst und vor allem die Brut, was mit dir selber geschieht, ist uns verdammt gleichgültig; daß er sich schinde, der Abspenstige; daß er nicht zur Besinnung komme; daß er und seine Kebse die Zwangsfesseln nicht abstreifen können. Darum Versorgung; Versorgung bis in die graue Ewigkeit. Als drittes dann: Bettina habe eine eidesstattliche Zusicherung zu unterfertigen, daß sie mich niemals hindern werde eine angemessene Zeit des Jahres mit Ganna zu verbringen. Ganna hielt eine solche Verbindlichkeit nicht nur für rechtskräftig, nicht nur für durchführbar, sondern sie erblickte in ihr auch ein Mittel, die Nebenbuhlerin jederzeit und beim geringsten Verdacht eines Gegeneinflusses vor den Kadi zu schleppen. Als dem Dr. Ghmelius diese drei Musterbeispiele von Gannas Drosselungskunst unterbreitet wurden, rief er aus: »So etwas habe ich in meiner Praxis noch nicht erlebt, und ich habe doch schon manches erlebt.«
Im Verlauf des Prozesses, den der Drucker der Filmzeitschrift gegen Ganna angestrengt hatte, kam es zum Zerwürfnis mit dem Dr. Schönlein. Den eigentlichen Anlaß habe ich nicht erfahren, mir wurde nur mitgeteilt, daß in der Kanzlei Schönleins heftige Auftritte stattfanden und ihr der Anwalt eines Tages die Vollmacht hinwarf. Sie führte bittere Klage bei Dr. Pauli, der sie zu besänftigen trachtete und, da Dr. Grieshacker die Vertretung längst vorher niedergelegt hatte, sie und ihre Sache dem Dr. Stanger-Goldenthal empfahl, einem bekannten Löwen des Barreaus, Fachmann für Ehescheidungen. Dieser war genau der richtige Mann für Ganna. Bis jetzt hatte sie, wenn ich mich so ausdrücken darf, den Advokaten ihrer Sehnsucht noch nicht gefunden. Dr. Stanger-Goldenthal füllte diese Lücke aus. Er wußte auf den ersten Blick, was Ganna von ihm wollte. Er witterte einen großen Coup. Es ist das Wesen der Juristerei, daß sie diejenigen, die ihre Zuflucht bei ihr suchen, so lange foppt und in Atem hält, bis sie ihr Vermögen, ihren Lebensmut und ihren Glauben an Recht und Gerechtigkeit eingebüßt haben. Das traf freilich mehr auf mich zu als auf Ganna. Sie war bereits unempfindlich gegen das Übel; was jemals an Geist, an Würde, an Stolz, an Herzenskraft in ihr gewesen, war in diesem Dunstkreis schon ersäuft. »Lassen Sie mich nur machen, verehrte Frau«, sagte Dr. Stanger-Goldenthal, nachdem er den Akt studiert hatte, »die Geschichte werden wir zum Klappen bringen.« Aus seinen Mienen erkannte Ganna, daß sie nichts zu fürchten hatte. Sie fühlte die artverwandte Seele. Ein Stein fiel ihr von der Brust. Die Verehrung, mit der sie in der ersten Zeit von dem Manne sprach, hatte etwas Hektisches.
Dr. Chmelius war bestürzt über die Wahl. Er verhehlte mir seine Besorgnisse nicht; er hatte einige Erfahrungen mit Herrn Stanger-Goldenthal gemacht. Er wagte sogar gegen Ganna eine warnende Bemerkung. Aber Ganna lächelte schlau, so wie jemand, der den Stein der Weisen besitzt und dem man einzureden sucht, der Besitz werde ihm verderblich werden. Er denkt natürlich, man wolle ihm die Kostbarkeit abluchsen. Dr. Chmelius tat das Äußerste, er ging zu Dr. Pauli, um sich mit ihm über den Fall auszusprechen. Da er das Gespräch nachher schriftlich zu den Akten gelegt hat, kann ich es ungefähr wiedergeben. »Es wird Ihrem anwaltlichen Scharfblick nicht entgangen sein«, fing er an, »daß Frau Ganna meinen Klienten durch ihr undurchsichtiges Verhalten maßlos quält, ihn in seiner Arbeitsleistung schädigt und damit, wie man zu sagen pflegt, die Henne abwürgt, die ihr die goldenen Eier legen soll.« – »Trotzdem ist der einzige Mensch, der von Ganna Herzog die Scheidung erlangen kann, Alexander Herzog«, erwiderte Dr. Pauli. – »In zwei bis drei Jahrzehnten ... möglicherweise«, sagte Dr. Chmelius sarkastisch. – »Der Fehler ist«, gab Dr. Pauli zurück, »daß von der Gegenseite behauptet wird, die Ehe sei unglücklich gewesen. Dadurch wird die Frau schwer verletzt und gereizt.« – »Warum sollte Herr Herzog den Wunsch haben, eine glückliche Ehe aufzulösen?« – »Einflüsse. Ganz klar.« – »Bester Kollege; ich hoffe doch nicht, daß Sie sich von einer Schwärmerin haben betören lassen.« – »Und wenn dem so wäre? Ist nicht eine Schwärmerin die geeignete Ergänzung für einen Dichter? Frau Ganna hat mir zahllose Briefe von ihm vorgelegt. Liebesbriefe. Echte Liebesbriefe. Sie zeigte mir handschriftliche und gedruckte Widmungen seiner Bücher, die ihr als Gefährtin und Mitarbeiterin das ehrendste Zeugnis ausstellen. Ich begreife nicht, was Sie wollen.« – »Haben wir denn über die moralische Haltung unserer Mandanten zu richten, Herr Pauli? Sie wissen so gut wie ich, daß die Vergangenheit im Bedarfsfall verführerisch geschminkt wird.« – »Es kann aber nicht bezweifelt werden, daß die Herzogsche Ehe ohne die Dazwischenkunft der Frau Merck nicht in die Brüche gegangen wäre.« – »Natürlich nicht. So spielen sich eben die Dinge ab. Es ist das Schicksal. Wir stehen vor Tatsachen.« – »Auch Frau Gannas Schmerz und Treue sind Tatsachen, Kollege. Man hat sie zu respektieren, wenn man Alexander Herzog ist.« – »Schön. Was soll er nach Ihrer Meinung tun?« – »Zurückkehren.« – »In die Gefangenschaft? Ins Strafhaus?« – »Ach was! Wir alle sind Gefangene und Sträflinge. Sie etwa nicht?« – »Und die Frau, die er liebt?« – »In seinem Alter setzt man nicht wegen einer Liebschaft den Namen, die Ehre und die Zukunft von drei Kindern aufs Spiel.« – »Ich verstehe nicht, was die Ehre damit zu schaffen hat.« – »Ein Mann wie Alexander Herzog hat außer der bürgerlichen noch eine andere Ehre blank zu erhalten. Weiß er nicht, was entehren heißt? Will er die gesellschaftliche Ordnung sprengen, dem Weltgeist auf die Hühneraugen treten?« Dr. Pauli ging erregt auf und ab und lachte etwas schmerzhaft. Dr. Chmelius gestand mir, es habe ihm plötzlich die Rede verschlagen. Er hatte sich zu einer Verständigung mit einem Mann des Rechts eingefunden und ging fassungslos weg von einem, der sich einer Partei verdungen hatte, rätselhaft warum. Aber dann fiel dem im Beruf ergrauten Skeptiker ein, und er schmunzelte ein wenig, als er es mir verriet, daß Dr. Pauli in einer höchst unglücklichen Ehe gelebt hatte und daß die Frau, die er noch immer liebte, mit einem andern davongelaufen war. Seine Haltung gegen mich war sonach, bei aller persönlichen Ehrenhaftigkeit, eine perfide kleine Geschlechtsrache.
Eine Woche später starb Dr. Pauli jählings an einem Gehirnschlag. Er wurde von vielen Menschen aufrichtig betrauert. Ganna war durch den Tod ihres Freundes wie betäubt. Sie legte sich drei Tage lang ins Bett. Diese Tage der Betrübnis gaben ihr die Muße, ein umfangreiches Memorial abzufassen, Bündelung aller schwebenden Fragen. Sie schickte das Konzept an Dr. Stanger-Goldenthal, damit er es in die Juristensprache übersetze, in der Ganna damals noch keine solche Meisterschaft erlangt hatte wie später. Es war immerhin ein Schriftstück von hoher advokatischer Vollendung. Der Anwalt beglückwünschte sie dazu. Als er dem Rohbau den letzten terminologischen Schliff verliehen und den erforderlichen Hauch von Vieldeutigkeit und Schwerverständlichkeit darüber gebreitet hatte, konnten Dr. Chmelius und ich uns die Zähne daran ausbeißen.
Kein Lichtblick. Hoffnungsloser Knäuel von Vorschlägen, Maßnahmen, Erörterungen, Verschleierungen, Anwürfen, Verdächtigungen, arglistigen Vorspiegelungen, Gewaltsamkeiten und Spitzfindigkeiten. Die Anwälte überschütten einander mit Briefen, überschütten die Klienten mit Briefen, diese antworten mit Briefen und überschütten einander ebenfalls mit Briefen. Schreibmaschinen klappern, Morseapparate ticken, Telefone ratschen, Eilboten rennen, jeder der Beteiligten kommt auf seine Rechnung außer dem einen, der den Massenaufwand, die Material- und Nervenverschwendung mit seinem sauer erworbenen Geld, seinem Frieden, seinem Blut und Leben zu bezahlen hat und nichts dafür bekommt als – Papier.
Und hinter alledem steht als Urheberin Ganna, ungerührt, unrührbar, erzstirnig, das täuschende Vielleicht auf den Lippen, das starre Nein im Herzen, Göttin der Zwietracht, der finstern Ate ähnlich, der mißratenen Tochter des Zeus. Unermüdlich und unverdrossen, Stein bei Stein, Weg für Weg, baut sie sich ihre Wahnwelt auf, die so überraschend viele Berührungspunkte mit der wirklichen hat und gleicherweise das Stigma des Untergangs an sich trägt.
Ich gelange jetzt zu einem Abschnitt meines Lebens, der äußerlich alle Merkmale des Erfolgs und der Glückserfüllung aufwies, doch im Innern um so mehr den Keim des Unheils barg. Ich balancierte nur lange Zeit verblendet darüber hinweg. Im Jahre 1923 fiel mir das Bucheggergut in Ebenweiler in den Schoß, im wahrsten Sinne in den Schoß, denn ich hatte an die Erwerbung eines solchen Herrensitzes nicht im Traum gedacht. Oder doch, geträumt hatte ich davon. Sooft ich, vor einem Vierteljahrhundert schon, vorübergegangen war, hatte ich eine sehnsüchtige Regung verspürt wie vor einem Märchenschloß; hier wäre gut sein, wäre gut schaffen. Das Anwesen lag (ich muß wohl sagen liegt) am Seeufer, das geräumige Landhaus inmitten eines weitläufigen Parks. Der letzte Graf Buchegger hatte es nach dem Umsturz an einen niederländischen Herrn verkauft, dieser hatte die Freude daran verloren, da er in der Gegend nicht heimisch werden konnte, und als er vernahm, daß ich seit Jahren nach einer dauernden Wohnstätte Umschau hielt, ließ er es mir in einer mäzenatischen Laune für die Hälfte des Preises anbieten, den er selbst dafür gezahlt hatte.
Das beständige Umziehen mit Sack und Pack von der Wrabetz-Villa in ein benachbartes Bauernhaus, von diesem wieder in das Winterhaus, war beschwerlich geworden. Es machte unser Leben vagabundisch. Doch wie sollte ich selbst die großmütig ermäßigte Summe aufbringen, die der Niederländer verlangte? Zudem war ein Arbeitsheim, das den strengen Wintern Trotz bot, ohne beträchtliche Umbaukosten nicht herzustellen. Freilich war ein Überfluß von Mobiliar, Silber, Wäsche und allen möglichen Gebrauchsgegenständen vorhanden, der allein schon die Hälfte des Kaufwertes ausmachte; doch obwohl der holländische Herr sich mit einer geringen Anzahlung begnügen wollte, den Rest hätte ich, niedrig verzinst, in Jahresraten zu entrichten gehabt, ergab der Voranschlag für die Instandsetzung des Hauses einen unerschwinglichen Betrag. Ich besaß keine Ersparnisse. Ich lebte wie eh und je von der Hand in den Mund. Der Verbrauch war groß, um ihn zu bestreiten, mußte ich große Einnahmen erzielen. Hierin hatte mich allerdings bis jetzt das Glück begünstigt. Wie es weiter gehen sollte, lag eigentlich Monat für Monat im Ungewissen. Es war eine ziemlich abenteuerliche Existenz, keinesfalls eine, die auf reeller Basis stand.
Offenbar gibt es eine Kategorie von Ereignissen, die sich in ein und demselben Leben gleichartig wiederholen. Während ich zwischen Lust und Absage schwankte, bot mir ein kürzlich reichgewordener Freund seine Hilfe an. Als ich ihm, voller Zweifel, die Sache darlegte und das Haus zeigte, war er Feuer und Flamme für die Erwerbung und stellte mir mit einer großen Geste das Kapital für Anzahlung und Umbau zur Verfügung. Die Rückerstattungsbedingungen waren so wenig drückend und erstreckten sich auf so weite Fristen, daß ich keine Ursache zur Sorge sah, nur Anlaß zum Dank. Wieder, wie vor Jahren, verschafften mir Freundesgüte und -hochherzigkeit ein Asyl.
Alsbald erschien ein deutscher Bauleiter und sammelte Maurer, Zimmerleute, Dachdecker, Monteure, Glaser, Ofensetzer, Anstreicher um sich. Wagenladungen und Utensilien trafen ein, vier Monate lang wurden Wände niedergerissen, andere aufgerichtet, Fenster eingesetzt, Balkons gezimmert, Traversen und Röhren gelegt, wurde gehämmert, gegraben, gerodet, gepflastert, gebohnert, gestrichen, und als der Oktober kam, zogen wir, Bettina und ich, wie zwei Kinder, denen verstattet wird, auf die Bühne zu gehen, wo sich eine Feerie begibt, in das neue Heim hinüber. Bettina war im vierten Monat guter Hoffnung.
Ich darf nicht verschweigen, daß Bettina dem Wechsel der äußeren Umstände mit Bangen entgegengesehen hatte. Eine so breite Existenz in anspruchsvollem Rahmen flößte ihr die größten Besorgnisse ein. Sie warnte mich. Ihr Weltverstand ließ sich nicht vom schmeichelnden Schein betrügen. Immer wieder hielt sie mir die Schwierigkeiten vor: zu den bestehenden Lasten die Verschuldung für Jahrzehnte; die Hilfskräfte, die für ein solches Haus erforderlich waren, damit es nicht verwahrloste; die Erhaltungskosten; die Erhöhung des Standards. Sie sagte, ich würde auf die Dauer die Last nicht tragen können. Man müsse auf schlechte Zeiten gefaßt sein; fetten Jahren folgten magere. Ich dürfe mich nicht zum Fronknecht machen, mich nicht toter Habe versklaven.
Ich lachte sie aus. Ich war meiner natürlichen Hilfsquellen allzu sicher. Wenn ich eine Zeitlang außerhalb der Ganna-Brandung war, meinte ich, das Schicksal könne mir nichts anhaben. Bettina ließ sich einlullen von dem unerschütterlichen Glauben, den ich an mich und meinen Stern hatte, obgleich sie für die Zukunft zitterte. Sie hatte viel mehr trübe Stunden als früher, dann flüchtete sie zu mir, wie ein Tier bei der Annäherung des Feindes seine Höhle aufsucht. »Ich werde es schon aufbringen«, sagte ich; »was kann uns denn passieren? Schlimmstenfalls schlägt man das Zeug wieder los.« Ich sagte auch, es sei mir ein tröstlicher Gedanke, sie und das Kind, das sie erwartete, hätten nach meinem Tod eine Zuflucht und ein Stück Eigentum. Bettina lächelte. »Wenn wir schon von deinem Tod sprechen sollen«, erwiderte sie, »meinst du wirklich ... Siehst du mich wirklich als Eigentümerin? Schau meine Finger an.« Verwundert schaute ich in ihre Hand, die sie mir entgegenhielt. »Diese Finger können keine Sachen halten«, sagte sie; »es ist mir einmal geweissagt worden, daß ich nie verschuldet sein, aber auch nie etwas besitzen werde.«
Dennoch war es ein beglückender Gedanke für sie, trotz aller Angst, daß das Kindchen ein Nest haben sollte, aus dem es nicht zweimal im Jahre vertrieben wurde. Eine feste Burg in einer angriffslüsternen Welt. Sie selber brauchte keine Burg. Sie konnte sich wehren. Aber das kleine Menschlein, das kommende (sie war vom ersten Tag an überzeugt, es würde ein Sohn sein), mußte wie ein Caspar Hauserchen frühzeitig in die Geborgenheit gebracht werden. Und sollte es nach Gannas Willen sein Los sein, daß es ohne Vatersnamen aufwuchs, war es doppelt geboten, schützenden Raum zu legen zwischen es und die von Legitimität starrende Ganna-Welt. Und plötzlich fürchtete sie sich nicht mehr. Zu Beginn der Schwangerschaft hatte sie manchmal, ganz gegen ihre Art, vor Furcht geweint. Sie schrieb damals das »Lied eines Ungeborenen«, eine ihrer schönsten Kompositionen; als sie es mir vorspielte, hatte ich noch keine Ahnung von ihrem Zustand.
Am selben Abend, sie lag im Bett, ich saß lesend bei der Lampe, rief sie mich und bat, ich möchte mich zu ihr setzen. Sie ergriff meine Hand und sagte es mir. Zögernd, mit halber Stimme; sie wußte ja nicht, wie ich ein so störendes Ereignis aufnehmen würde.
Ich erschrak. Sofort begriff ich, es war damit eine Zwangslage geschaffen, in der ich keine Schwäche mehr zeigen durfte. Das Caspar Hauserchen wollte seinen Platz auf der Erde haben. Unsere Augen ruhten ernst und lange ineinander. In dem Grau um die dunklen Pupillen Bettinas sah ich überdeutlich das Braungesprenkelte. Ich kniete vor dem Bett nieder und küßte ihre Hände, eine nach der andern, viele Male ...
Darüber, was in Ganna vorging, als sie vom Ankauf des Bucheggerguts erfuhr, kann ich nur Vermutungen anstellen. Was in der Folge zutage trat, läßt auf ein so verwickeltes Gemengsel von Zorn, Bitterkeit, Aufregung, Anteil und unklarer Hoffnung schließen, daß jeder Versuch einer Beschreibung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Zunächst fühlte sie sich schmählich hintergangen. Ihre Zwischenträger hatten sich mit der Mitteilung beeilt, ich hätte die Hälfte des Kaufpreises, oder vielleicht noch mehr, bar bezahlt, und da jedes, auch das ungereimteste Gerücht, das über mich umging, nicht bloß zu einem unumstößlichen Glaubenssatz bei ihr wurde, sondern nach und nach alle Formen der Übertreibung und Verdrehung bis zum schlechtweg Unsinnigen, ja Lächerlichen durchlief, wuchs die Summe, die ich, ohne mit der Wimper zu zucken, auf den Tisch gelegt haben sollte, ins Fabelhafte. Selbstverständlich sagte sie sich da: An mir wird geknappt und geknausert, für »die Person« hat er ein Vermögen übrig. Denn daß es Bettina war, die sich das fürstlich eingerichtete Haus gewünscht, daß ich durch ihre arglistigen Umtriebe veranlaßt worden war, es zu kaufen, war für sie von vornherein ein bewiesenes Faktum, an dem zu rütteln nur ein Böswilliger wagen konnte.
Zu gleicher Zeit schrieb sie mir einen Brief, worin sie in überquellenden Ausdrücken ihre Befriedigung über den herrlichen Erwerb kundgab. Wenn sich ein Tropfen Wermut in den Freudenbecher mische, sei es darum, weil sie die wunderbare Nachricht von fremden Leuten habe erfahren müssen und sich bekümmert gefragt habe, wodurch sie denn mein Vertrauen verscherzt habe. Besonders glücklich habe es sie gemacht, daß ich eine so enorme Summe Geldes habe aufbringen können, das lasse den Schluß zu, daß ich mich in mehr als sorgenlosen Umständen befinde und die Klagen und Ängste, die ich ihr gegenüber stets geäußert, Gott sei Dank des Grundes entbehrten. Doch nehme sie mir diese kleine Unaufrichtigkeit nicht weiter übel, ihr einziges Interesse sei mein Glück und Wohlergehen.
Ich beeilte mich, den Irrtum Gannas zu berichtigen. Sie glaubte mir nicht. Ich verwies sie auf das Grundbuch, um die boshaften Falschmeldungen über den Kauf zu zerstören. Sie glaubte auch dem Grundbuch nicht. Der Zifferngaurisankar, der sich in ihren Wunschträumen erhoben hatte und zu dem sie bebend emporblickte, war in einen rosigen Dunst von Geldzauberei gehüllt. Die Tatsache meines Reichtums verlieh ihren Ansprüchen eine solche Stütze, daß sie sich in den goldenen Wahn hineinlebte wie der Bohrwurm in das selbstgehöhlte Loch.
Aber es konnte mir gleichgültig sein, ob sie mich für einen erfolgreichen Schatzgräber hielt, der sie um den ihr gebührenden Anteil prellte. Schluß mit den Winkelzügen, den Vorbehalten, den Advokatenkünsten. Es mußte ihr die Unausweichlichkeit dessen, was zu geschehen hatte, klargemacht werden. Jetzt heißt es biegen oder brechen, sagte ich mir, als ich mich in den Zug setzte, um zu ihr zu fahren.
Meine Mitteilung, daß Bettina ein Kind erwartete, wirkte wie ein Donnerschlag auf sie. Fassungslos schaute sie mich an. »Ein Kind«, flüsterte sie bewegt, »ein Kind von dir! Ich kann es mir noch nicht vorstellen. Ich will's hegen wie mein eigenes, das darfst du mir glauben. Glaubst du's mir?« Sie weinte gerührt. Ich gab ihr zu verstehen, aufs Hegen käme es nicht so sehr an. »Du weißt, worauf es ankommt«, sagte ich. – Sie nickte eifrig. Sie versicherte, sie werde noch heute zu Dr. Stanger-Goldenthal gehen, sofort werde sie ihm telefonieren; dann werde man sich zusammensetzen und alles in Ruhe und Güte besprechen, kein Terror, keine Zwangsmaßnahmen; sie wird mir beweisen, daß sie noch die alte Ganna ist ... Ob sie mir ein kräftiges Süppchen kochen lassen dürfe? Nein, sage ich, kein Süppchen, bitte ...
Die großen blauen Augen schwammen in Nässe; sie war überwältigt von dem Phantasiebild der hingebend-verzichtenden Freundin und Gattin; ihrer selbst entledigt, flüchtete sie ins selige Intervall des Anders-Seins. Und ich glaubte ihr.
Insofern hielt sie ihr feuriges Versprechen, als sie noch am selben Tag zu Dr. Stanger-Goldenthal eilte, um ihn von der neuen Wendung der Dinge zu unterrichten. Doch ihm den Auftrag zur Einleitung der Scheidung zu geben, wie sie mir zugelobt, hatte sie sich wohl gehütet. Fiel ihr nicht im Schlaf ein. Es genügte, daß sie ihren guten Willen gezeigt hatte. Daß dem »guten Willen« auch die Tat folgen sollte, war eine Forderung, die ihren verwunderten Unwillen erregte.
Ich sagte zu Dr. Chmelius: »Gott sei Dank, Ganna ist andern Sinnes geworden; ich denke, Sie können alles vorbereiten.« Dr. Chmelius, nicht wenig überrascht, meldete dies dem Dr. Stanger. »Davon ist mir durchaus nichts bekannt«, erwiderte dieser zum noch größeren Staunen des Dr. Chmelius. »Ihr Mandant muß Sie falsch informiert haben.« – »Ich fürchte, Sie sind wieder einmal aufgesessen«, sagte Chmelius zu mir. Ich ging zu Ganna. »Dein Anwalt behauptet, du hättest ihm keinerlei Ermächtigung erteilt.« – »Infame Lüge!« schmetterte Ganna. »Ich habe so lange in ihn hineingeredet, bis er mir in die Hand versprochen hat, alles in drei Tagen zu regeln.« Ich glaubte ihr. Schuld an der Verzögerung hatte offenbar Dr. Stanger. Ich bat den Dr. Chmelius, selbst an Dr. Stanger schreiben zu dürfen. Er hatte nichts dagegen einzuwenden. Ich setzte mich hin und schrieb dem Dr. Stanger-Goldenthal einen der einfältigsten Briefe, die je geschrieben worden sind, einen Brief, wie man ihn an einen Menschen richtet, nicht an einen gegnerischen Advokaten. Es war ein kleines Epos, eine viele Seiten füllende Geschichte meiner Ehe und Darstellung der Gründe, die es mir unmöglich gemacht hatten, bei Ganna zu bleiben.
Sein Antwortbrief war voller Ironie. »Ich nehme unbewiesen an«, schrieb er, »daß die Vorwürfe, die Sie gegen Ihre Frau erheben, stichhaltig sind. Dann aber entsteht die Frage: Waren Sie wirklich in dieser Ehe das Haupt und der Meister, den die Rechtsordnung und die an der Ehe hangende Gesellschaft verlangen? Ich überlasse das Ja oder Nein Ihrem Gewissen. Ihre vorbildlich geschriebene, in logischer Perlenreihe aufgebaute Denkschrift betrachte ich nicht als juristische Waffe, sondern als menschliches Dokument. (Wodurch mir endlich klar wurde, daß das unvereinbare Gegensätze waren.) Die überwiegende sittliche Schuld an dem Ehezwist tragen Sie. Wenn meine Klientin die Scheidung ausdrücklich begehrt, werde ich sie durchführen. Entschließt sie sich gegen die Scheidung, so werde ich ihr bei dem zu erwartenden Rechtskampf nach Kräften meine Hilfe leisten.«
Ich war konsterniert. Was salbaderte denn der Mann, Ganna hatte mir doch ihre Bereitwilligkeit kundgegeben. Es war doch nicht denkbar, daß sie in diesem lebenswichtigen Augenblick wieder in ihre alten Doppelzüngigkeiten verfiel. Ich las ihr die Stelle aus Dr. Stangers Brief vor, wonach alles von ihrer Willensentschließung abhing. Sie war sichtlich betreten, schwatzte eine Weile fahrig herum, spielte die taubenäugige Unschuld, aber innerlich zitterte sie vor Wut und machte nachher dem Dr. Stanger eine greuliche Szene, in der sie die Sache so darstellte, als hätte er mir über ihren Kopf hinweg eine bindende Zusage gegeben. Das mußte natürlich den Mann gegen mich aufbringen, und er schrieb mir grob: »Es geht nicht an, sehr geehrter Herr, daß Sie meiner Klientin über mich Mitteilungen machen, die der Vollständigkeit entbehren. Dadurch wird meine Klientin irregeführt. Sie meint, ich sei für die Scheidung. Ich bin aber gegen die Scheidung. Sie muß frei handeln. Sie darf nicht das Gefühl eines Druckes haben, selbst wenn dieser von ihrem Rechtsfreund ausgeübt würde.«
Nun drehten sich die Wände und die Häuser um mich. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Neuerdings beriet ich mich mit Dr. Chmelius und setzte meiner Dummheit die Krone auf, indem ich den Wunsch äußerte, Dr. Stanger-Goldenthal in seiner Kanzlei zu besuchen; eine persönliche Aussprache, faselte ich, werde die Mißverständnisse beseitigen. Ich glaubte an Aussprache; ich glaubte an Mißverständnisse. Ich glaubte an die Wirkung meiner Person und der ihr innewohnenden Wahrheit, wie einer, der von Wegelagerern gestellt wird, sich darauf verläßt, daß er griechisch gelernt hat. Dr. Chmelius sagte achselzuckend: »Probieren Sie es. Schaden kann es nicht.« Da er mich so bedrängt sah, wollte er mir keinen Weg verrammeln, auch den aussichtslosesten nicht, wußte er doch selber keinen gangbaren mehr.
Dr. Stanger ließ mich wissen, es sei ihm eine Ehre, mich zu empfangen. Die Unterredung dauerte anderthalb Stunden. Der Mann trug einen unsichtbaren Talar. Er war bis zur Unkenntlichkeit eingehüllt in die Würde eines Verfechters der sittlichen Idee der Ehe. Ein vollendeter Schauspieler. Mir war zumute, als träte ich Luft und redete Wolle. Aber hauptsächlich sprach der andere. Und zwar mit Nachdruck, mit Selbstgefühl und von richterlicher Warte herab. Mir wurde schwindlig, mir wurde übel. Als er mich mit zahlreichen Ergebenheitsbeteuerungen ins Vorzimmer begleitete, wußte ich, daß ich eine Schlappe und eine Demütigung erlitten hatte.
Dr. Chmelius hielt es nunmehr für geboten, bei Ganna höflich anzufragen, ob und wofür sie sich entschieden habe. Darauf erfolgte die gewundene Ganna-Antwort, das Versprechen, das sie mir gegeben, bleibe in Kraft, doch könne sie sich um so weniger drängen lassen, als in diese Zeit eine Reihe von Familiengeburtstagen fielen und sie aus Pietät verhindert sei, so traurige Anstalten wie die zu einer Ehetrennung zu treffen; überdies sei ihr Herz angegriffener denn je, und sie müsse auf ärztliche Vorschrift alle Aufregungen meiden. Mich, dem vor Ungeduld die Zeit in Scherben zerbrach, vertröstete sie gleißnerisch auf den Januar. Es war jetzt September. Sie gab mir ihr »heiliges« Ehrenwort, daß sie bis zum Januar mit Dr. Stanger-Goldenthal den endgültigen Notariatsakt ausarbeiten werde; sodann müsse ich mir vier Wochen »gönnen«, um mit ihr alles in Liebe durchzusprechen; erfülle ich diese unerläßliche Bedingung, so seien alle Hindernisse aus dem Weg geräumt. Die täglichen aufreibenden, wesenlosen, fruchtlosen Gespräche mit Ganna und den Anwälten hatten meine Kraft erschöpft, ich wollte nach Hause und zu Bettina; was hätte ich tun sollen, Ganna ein anderes Herz einsetzen? Mir selber einen besseren Verstand? Ich fuhr mit wüstem Schädel und unverrichteter Dinge nach Ebenweiler und erzählte gläubig der sich gläubig stellenden und an dem ganzen Unternehmen nicht übermäßig interessierten Gefährtin, im Januar werde sich Ganna scheiden lassen.
Und als ich im Januar wieder auf dem Kriegsschauplatz erschien, überreichte mir Dr. Chmelius in der Tat den inzwischen von Dr. Stanger-Goldenthal entworfenen, von Ganna inspirierten »endgültigen« Notariatsakt. Wortlos. Mit bissig verschlossenen Mienen. Ich las das Schriftstück aufmerksam durch, faltete es zusammen und gab es dem Anwalt wortlos zurück. Ich hatte das Gefühl, in die Hände von Roßtäuschern geraten zu sein.
Soll ich wirklich aufzählen, was mir auf diesem Stück Papier zugemutet wurde? Ich vermag es nicht. Die Feder weigert sich. Ich werde ja ohnedies bald von den Fußeisen und Daumenschrauben sprechen müssen, die mir angelegt wurden, als ich entschlossen war, dem schändlichen Handel ein Ende zu bereiten, kost' es, was es wolle, und die mir in einer psychologisch leicht erklärlichen Verblendung annehmbar erschienen, vergleichsweise menschlich, gegen den mörderischen Zug von Paragraphen gehalten, den Dr. Stanger und seine riegelsame Gehilfin vor meinen erstarrenden Augen vorüberdefilieren ließen. Ich übersah zum erstenmal mit vollkommener Deutlichkeit meine Situation und gewahrte ein so bestürzendes Bild von Gannas wahrem Wesen, daß ich eine Weile versteinert war, so wie es denen im Mythos ergeht, wenn sie das Antlitz der Gorgo erblicken. Aber nein, das war es ja nicht; es gab kein wahres Wesen und kein falsches Wesen, es gab nur ein irrwischhaftes Zwischengebiet, etwas Bodenloses und schauerlich Untiefes, etwas Tagverlassenes, in seinen Zusammenhängen Scheinhaftes und aufregend Unlogisches. Darum auch nichts von einer Gorgo. Die Gorgo ist streng und finster, das wäre noch gut, da wäre Umriß und Haltung, nicht das gespenstisch Unberechenbare, das der hingreifenden Hand ein Gefühl erweckt, als tauche sie in den schleimig-brauenden Urnebel.
»Sagen Sie mir«, wandte ich mich bedrückt an Dr. Chmelius, »wovon soll ich selber leben, wenn ich diesen Berg von Verpflichtungen in seinem ganzen Umfang abtrage? Wie stellt sich die Frau das vor?« – »Das weiß ich selber nicht«, erwiderte Chmelius trocken, »wir wollen uns bei ihr erkundigen.« – »Die Dinge liegen doch so«, fuhr ich fort, »sie beschlagnahmt nicht nur mein gesamtes Hab und Gut und Werk, sondern verlangt auch darüber hinaus noch Abgaben bis zum Verbluten. Es ist, als wenn man einen Erschlagenen in Stücke schneidet, um noch sein Fleisch zu braten. Hat es je dergleichen gegeben?« – »Soll ich Ihnen eine Wagenladung meiner Akten zuschicken?« fragte Chmelius mit Hohn. – »Ich muß aber zu einem Resultat kommen, ich muß!« – »Schön. So schließen Sie in Gottes Namen diesen Frieden von Versailles. Aber ohne mich.« – »Gibt es keinen Richter, kein Gesetz, keinen Gnadenakt, die mich befreien?« – »Das sind Träume.« Vernichtet ging ich meiner Wege.
Die zwei Jahre, die es noch dauerte, bis die Scheidung erfolgte, waren ein zermürbendes, krankmachendes Ringen. Es ging um Geld und wieder um Geld und abermals um Geld und um Akten und Pakte, um Verbriefungen und Sicherheiten, und wenn man meinte, man sei der Schlichtung nahe, enthüllte sich alles als Vorwand und Trug. Da nützte der Frieden des Bucheggergutes nichts, Bettinas Tapferkeit und ihre Kunst, den Alltag zu meistern, nichts, Versenkung in Arbeit nichts, Zuspruch der Freunde nichts, sogar das Menschlein Helmut nichts, das, vom Himmel erbetener Sohn, zu seiner Zeit geboren wurde und unser Labsal war von seiner ersten Stunde an.
Die trübe Grundstimmung blieb und breitete sich aus. Die Scham über meine Ohnmacht saß wie ein Krebs im Fleische, wie Arsenik in den Eingeweiden. Und Bettina sah zu und sah zu. Ich wußte nicht, was mit ihr war; etwas war mit ihr, ich konnte es nicht ergründen. Ich wußte nur soviel: Um die Freude ging es jetzt nicht mehr, um Lachen und Lächeln nicht mehr; es ging um was anderes, aber ich wußte nicht, um was. Sie ließ die Ganna-Briefe regnen, sie ließ die Satzschriften schneien und sah zu. Es waren böse Winter in diesen Jahren ...
Während eines Aufenthaltes in Berlin brach ich eines Tages zusammen. Ein organisches Leiden hatte sich eingenistet. Der Arzt, der mich behandelte, empfahl Schonung und Ruhe. Aber wie konnte ich ruhen und mich schonen, solange Ganna tobend und drohend durch meine Welt flitzte und ich der geliebten Gefährtin als Spielball in den Händen einer bösen Trolle erscheinen mußte, solange mich die unschuldigen Augen meines Letztgeborenen fragten: Wo ist mein Sohnesrecht? Solange durfte ich nicht ruhen und auch nicht sterben.
Bei aller Sympathie für Dr. Chmelius konnte ich mir nicht länger verhehlen, daß es dem allzu überlasteten Mann an Stoßkraft fehlte. Er spürte es selbst; mehrmals hatte er mir freundschaftlich vorgeschlagen, ihn seines Auftrags zu entbinden, wenn mir ein anderer an seiner Statt genehmer sei. Da wurde mir ein noch junger Anwalt lebhaft empfohlen, ein gewisser Hornschuch, der sich in unserer Gegend niedergelassen und in kurzer Zeit eine bedeutende bäuerliche Praxis erworben hatte. Er war vier Jahre lang an der Front gewesen, und man erzählte sich, daß er als Offizier eine beispiellose Bravour entfaltet habe. Nach dem Krieg war ihm das Leben in der Stadt und in den Kreisen seiner früheren Freunde verleidet; ein bei einem Vierzigjährigen, von Tatenlust glühenden Mann sehr ungewöhnliches Einsamkeitsbedürfnis hatte ihn bewogen, ein freiwilliges Exil aufzusuchen und nach seinem eigenen Gefallen und seiner eigenen, ziemlich urwüchsigen Methode zu leben. Dieselbe unbekümmerte Draufgängerei, die er als Soldat an den Tag gelegt, bewies er auch im Dienst der Justiz. Damals übernahm er fast nur Fälle, bei denen es sich um ein eklatantes Unrecht handelte, das der Klient erlitten hatte. Öffentliche Mißstände aufzudecken, das Schneckentempo der Ämter durch heftige und manchmal gefährlich skurrile Eingaben zu beschleunigen hielt er für seinen Beruf. Nicht zu verwundern, daß er bei den Behörden nicht eben beliebt war. Aber alles, was mir über ihn zu Ohren kam, leuchtete mir ein, und so ging ich eines schönen Tages zu ihm hin. Er wohnte und amtierte in einem winzigen Haus in stundenweiter Entfernung. Kein Schild an der Tür, keine Kanzlei; ein Privatmann empfing einen Gast. Er war ein jungenhaft aussehender Mensch mit einem Kalmückengesicht und trotzig blickenden Augen. Schweigend und fast regungslos hörte er mir zu. Dann sagte er: »Ich werde mir die Akten ansehen. Vielleicht ist Kollege Chmelius so freundlich, sie mir zu schicken.«
Dies geschah. Ein paar Wochen lang rührte sich Hornschuch nicht, schrieb nicht, zeigte sich nicht. An einem Spätherbstnachmittag ließ er sich endlich bei mir melden, und es fand folgendes Gespräch zwischen uns statt: »Nachdem Sie meine bescheidene Person für den Kollegen Chmelius eingetauscht haben«, begann er, »müssen Sie trachten, daß die Gegnerin auch den Kollegen Stanger-Goldenthal verabschiedet. Eine Liebe ist der andern wert.« – »Wie soll ich das bewerkstelligen?« – »Sehr einfach. Wer, denken Sie, wird diesen Herrn mit dem imposanten Doppelnamen bezahlen müssen?« – »Vermutlich ich.« – »Und geben Sie sich der Hoffnung hin, daß seine Kostenaufstellung durch die Bewunderung für Sie beeinflußt sein wird?« – »Gewiß nicht.« – »Wollen Sie sich nicht davon überzeugen?« – »Das kann ich tun.« – »Das müssen Sie tun.« – »Und dann?« – »Dann werden Sie erklären: Ich bezahle, aber erst an dem Tag, an dem die Scheidung vollzogen ist, und zwar zu vernünftigen Bedingungen.« – »Er wird mich auslachen.« – »Lassen Sie ihn lachen und das übrige meine Sorge sein.« – »Sie meinen, man muß ihm das Interesse an der Verschleppung nehmen?« – »Genau das meine ich. Entweder er zwingt seine Mandantin zu einem unwiderruflichen Schritt, oder er legt die Vertretung nieder.« – »Leicht möglich. Aber dann wird Ganna zu einem andern gehen, und ob wir mit dem besser dran sind, steht dahin.« – »Auch das müssen Sie mir überlassen, hochgeehrter Herr. Gestatten Sie, daß ich für eine Weile als Ihr Gehirn funktioniere.« – »Was soll also geschehen?« – »Da, wie Sie richtig voraussehen, der unwiderrufliche Schritt von Frau Ganna nicht getan werden wird, ersuchen Sie den Kollegen zu gegebener Zeit um seine Nota, machen ihm aber bemerklich, daß er sich wegen der Höhe dieser Summe mit seiner Klientin auseinandersetzen müsse. Er wird sie nicht zart anfassen, wenn es einmal so weit ist, dessen können Sie sicher sein. Er wird ihr die Kehle zudrücken, und wenn sie Luft bekommen will, muß sie den Anwalt akzeptieren, den wir gutheißen.« Das reine Ei des Kolumbus. Ungefähr so verliefen die Dinge dann auch. Ich hatte Ganna viele Male beschworen, einen Sachwalter aufzugeben, der seine ganze Schlauheit und Geschicklichkeit darein setzte, den Streit zu schüren statt beizulegen, die Fäden künstlich zu verwirren statt zu ordnen, aber sie glaubte an Stanger-Goldenthal wie ans Evangelium, doch was sag' ich, wie sie nie ans Evangelium geglaubt hatte. Wenn sich zwei Menschen verbünden, deren Lust und Kunst es ist, im trüben zu fischen und unter hohlen Abrakadabras Schaumschlägerei zu treiben, ist die Beziehung inniger als die meisten echten Freundschaften, wie ja auch die Diebsgenossenschaften fester zu sein pflegen als die der ehrlichen Leute. Als Ganna aber plötzlich die Rechnung für die Entente cordiale vorgehalten wurde, als die gewaltige Summe ihr dartat, wie hoch in die Kosten ihre juristische und menschliche Begeisterung gestiegen war, daß jedes Telefongespräch sich so teuer stellte wie ein Diner bei Sacher, jede der so reizvollen und aufregenden Konferenzen mehr Geld verschlungen hatte als ihr Wochenbudget ausmachte, schrie sie zetermordio über Schurkerei und Beutelschneiderei. Nur der eine Trost blieb ihr, daß sie sich sagen und mich glauben machen konnte, sie habe mir zu liebe, weil ich es gewünscht, die Verbindung mit dem genialen Rechtsanwalt gelöst. Es kam ein kurzes Interregnum, eine advokatenlose Zeit; da war ihr zumut wie einem Morphinisten während der Entziehung. Verstört und voll Bitterkeit schrieb sie mir: »Das hast du nun erreicht, das war das Ziel eurer Taktik: Ich soll unter dem Druck mangelnden Rechtsschutzes stehen.« Und als ich auf Hornschuch hinwies und ihr riet, ihn als gemeinsamen Sachwalter anzunehmen, klang ihr der Name wie Drohung aus einer Wetterwolke. Ein Unbekannter; noch wußte sie nichts von ihm, doch haßte sie ihn bereits mit dem verzehrenden Haß des Wahnmenschen, den die unbekannte Gefahr zu den gefährlichsten Anschlägen treibt, ihr vorzubeugen.
Bei einer der häufigen Besprechungen, die ich mit Hornschuch hatte, gab er mir zu verstehen, daß es mein fortwährender persönlicher Verkehr mit Ganna sei, der das größte Hindernis für eine rasche Klärung bilde. Er riet mir, Gannas Briefe nicht mehr zu beantworten und meine regelmäßigen Zusammenkünfte mit ihr einzustellen. Ich sagte ihm, ich müsse mich doch um meine Kinder kümmern, hauptsächlich um Doris. »Warum rufen Sie die Kinder nicht zu sich, wenn es schon sein muß, daß Sie alle vier bis sechs Wochen in die Stadt fahren?« fragte Hornschuch. – »Das nützt nichts. Ruf ich sie, ist auch Ganna da.« – Hierauf machte Hornschuch eine Bemerkung, die mich wie ein Nadelstich zusammenzucken ließ. Er fragte nämlich, ob ich noch nicht darüber nachgedacht habe, wie verletzend mein dauernder Umgang mit Ganna für Bettina sei. Ich stellte es heftig in Abrede. Es könne nicht sein. Er täusche sich. Ich hätte nicht das geringste Anzeichen dafür. Er lächelte in seiner spöttischen Art.
Er hatte sich nicht getäuscht. Überleg' ich es heute, so erscheint mir meine damalige Blindheit oder Stumpfheit geradezu unverständlich. Wäre mir die Gabe der Aufmerksamkeit verliehen gewesen, ich hätte längst wahrnehmen müssen, daß meine regelmäßigen Verabredungen mit Ganna, das unablässig wiederholte Zu-ihr-Fahren, die Besuche in ihrem Haus, das Einander-Treffen in der Stadt oder an allen möglichen Orten zwischen Ebenweiler und Wien, für Bettina etwas Unbegreifliches hatten.
Sie hatte eingesehen, daß der in ihren Augen verabscheuenswerte Kampf, in den sie gegen ihren Willen verstrickt worden war, mehr Glück und Leben vernichtete, als jemals wieder aufgebaut werden konnte. Aus dem zweifelhaften Siegespreis machte sie sich nichts. Es lockte sie nicht im mindesten, eine anerkannte Bürgerin mit Ehezeugnis zu werden, es war ihr Ehrgeiz nicht, es war vielleicht nicht einmal ihr Weg, und unter keinen Umständen hätte sie sich herbeigelassen, vor Ganna deswegen die Knie zu beugen noch ihre Schuldnerin und Tributärin zu werden. Es ging gegen ihren Stolz, es ging gegen die weibliche Würde. Eines Tages sagte sie es mir ganz offen. »Es liegt mir nichts an der Scheidung«, sagte sie, »ich pfeife auf die Scheidung.« Ich war betroffen. »Und unser Bub?« hielt ich ihr entgegen. – »Wieso der Bub? Was hat der damit zu schaffen?« – »Willst du ihn ohne Namen aufwachsen lassen, als Bankert?« – »Das sind Alte-Tanten-Begriffe«, erwiderte Bettina, erglüht vom Geist des Antikrals; »wie denn ohne Namen? Er wird meinen Mädchennamen führen, das kostet ein Gesuch, wie mir Hornschuch sagt, den Namen meines Vaters, und der ist nicht schlechter als der Name Herzog.« Ich sah sie bestürzt an. »Nein«, sagte ich, »nein. Nein.«
Es wurde aber nicht anders: Für Bettinas Gefühl lebte Ganna im selben Haus mit ihr, Gannas hohle Papageienstimme erfüllte die Räume, der Hauch von Gier und Haben-Wollen drang durch Türen und Fenster, und es war kein Mann da, der dem wehrte, kein Herr, keine zugreifende Hand. Kann sein, daß ich ihre Enttäuschung in einem entlegenen Winkel meines Innern spürte, aber die Augen verschloß ich davor. Ich hatte noch nicht auf die Hoffnung verzichtet, Ganna zur Einsicht zu bringen, obgleich es der bare Schwachsinn war. Ich verschwieg Bettina meine Zusammenkünfte mit Ganna. Wenn ich Ganna treffen wollte, sie war um diese Zeit in einer nah gelegenen Sommerfrische, gebrauchte ich allerlei Ausflüchte, griff sogar zu plumpen Lügen und ging heimlich zu ihr, fast wie wenn ein Liebhaber zu seiner Geliebten schleicht. Es hatte etwas Perverses. Aber die Auseinandersetzungen mit ihr hinterließen ihre Spuren in meinem Gesicht. Wenn Bettina die bleigrauen Schatten unter meinen Augen sah, wußte sie Bescheid. Sie, die stets geschlafen hatte wie ein Baby, acht, neun Stunden in einem Zug, lag jetzt manchmal bis zum Morgengrauen mit weitoffenen Augen. Sie sah sich außerstande, etwas gegen mein selbstmörderisches und verräterisches Treiben zu unternehmen. Auch mit Hornschuch sprach sie nicht darüber. Ganna, die ihn glauben machen wollte, sie und ich seien ein Herz und eine Seele, hatte nicht versäumt, ihm gelegentlich zu schreiben, wir seien jetzt auf dem besten Weg zum Frieden; verlogenes Gerede.
Mit einer schwachen, blöden Hoffnung, einmal ums nächste, ging ich zu Ganna und verließ sie betäubt und geschunden, einmal ums nächste. In der Nacht fuhr ich aus dämonenbevölkertem Schlaf auf, in welchem mich die Bitterkeit wie Blutgift von einer Seite auf die andere geworfen hatte, und sechzehn bis zwanzig Gannas standen um mein Bett herum, die mit ihren dumpfgeplapperten Stereotypsätzen mein Ohr bis zum Brausen füllten: »Ich werde dir ein bindendes Offert überreichen, wenn du wiederkommst.« – »Mich Verschwenderin zu nennen ist eine Gemeinheit. Ich führe ein Wirtschaftsbuch mit numerierten Rechnungen.« – »Ich will mich dir in allem fügen. Nimm mir nur den Vorwand, nein zu sagen.« – »Da es gegen meinen Willen geschieht, muß ich mir sagen können, daß es nicht zu meinem Nachteil geschieht.« – »Ihr könnt mich beschimpfen, ihr könnt mich verleumden, das läßt mich kalt, mein Gewissen ist fast betrübend gut.« – »Alles hängt von dir ab, Alexander. Noch ist nichts verloren. Um deiner Ruhe willen gebe ich dir die Freiheit. Aber natürlich nur auf einer korrekten Basis.« – »Wenn dir der Thermophor Herzklopfen verursacht, lege eine nasses Flanelltuch unter.« – »Es dürfte nicht viele Frauen in meiner Lage geben, die keine andere Sorge kennen, als dem Mann ein Plus an Wohlbefinden zu verschaffen.« – »Ich gehe mit dir Hand in Hand durch einen Regenbogen zum ewigen Richter.« – »Bettina muß wissen, daß du zugrunde gehst, wenn das Band zwischen uns zerreißt.« – »Du fügst dir durch dein Verhalten gegen mich unberechenbaren Schaden zu ...« Und so weiter und so weiter. Ihr seht, ihr hört, Kassandra macht der Schmeichlerin Platz, die feilschende Krämerin der besorgten Gattin, Verheißungen wechseln mit Drohungen, Bitten mit zänkischem Aufbegehren; die eine Ganna hat ein seelenvolles Madonnengesicht, die andere die wilden Augen einer Hexe; eine zeigt sich in einer schmutzigen, karierten Wolljacke, die andere in einem falschen Kimono, aus dem unten die Strümpfe wie leere Wursthäute herausflattern; eine spricht mit der Kehle voll Mehl, die andere keift vulgär; eine ruft unaufhörlich Hallo-oh, um sich vernehmlich zu machen, die andere sucht verzweifelt Geld und kniet schluchzend auf dem Teppich; die eine hat den Blick, der immer in die vierte Dimension zu flüchten scheint, wenn sie in den drei andern versagt hat, die andere kritzelt Satzschriften auf williges Papier: Und einer jeden muß ich Rechenschaft ablegen, einer jeden etwas beweisen und erklären. Warum? Was beweisen? Was erklären? Daß ich ein Narr bin und reif fürs Irrenhaus?
Hornschuch hatte in aller Ruhe seine Vorbereitungen getroffen. Er glich einem Raubvogel, der einstweilen noch als winziger Punkt in den oberen Luftschichten schwebte, um erst herabzustoßen, wenn er seiner Beute sicher war. Er stand im Briefwechsel mit Herrn Heckenast, der Gannas Interessen zu den seinen gemacht hatte und als Wortführer des Krals auf den Plan trat. Auch mit Gannas neuem Anwalt hatte er sich in Verbindung gesetzt, einem gewissen Dr. Fingerling. Ganna hatte die Vereinigung der Agenden in Hornschuchs Hand abgelehnt. Einen Advokaten mußte man für sich allein haben, genauso wie einen Ehegatten. Mit der Wahl des Dr. Fingerling schien Hornschuch nicht unzufrieden. Es sah aus, als hätte er es mittelbar verstanden, Ganna bei dieser Wahl zu beeinflussen. Obgleich Dr. Fingerling seine Informationen von Herrn Erich Heckenast aus Berlin bezog und dieser sich wiederum an die Willensmeinung seiner Schwägerin Ganna hielt, erhob sich aus dem Nebel der Kontroversen ein vertragsähnliches Gebilde ab.
Kaum fing aber die Sache an, in das Stadium der Verwirklichung zu treten, so bemächtigte sich Gannas ein wachsendes Unbehagen. Ihre Lage war ungefähr die eines von der Polizei verfolgten Menschen, der so lange und so oft seinen Unterschlupf gewechselt hat, bis er endlich von einem schlauen Detektiv am Kragen gepackt wird. Sie trachtete, sich dem Zugriff zu entwinden. Sie hatte zwar dafür gesorgt, daß der neue Notariatsakt, der seit Wochen zwischen ihr, Schwager Heckenast und den beiden Anwaltskanzleien wie ein diplomatisches Schriftstück hin- und hergeschoben, verlängert, beschnitten, kritisiert und kommentiert wurde, derartige Zahlungslasten und sonstige Verpflichtungen für mich vorsah, daß an seine Unterzeichnung schwer zu glauben war. Doch konnte man nicht wissen. Diese Bettina würde es schon durchsetzen.Auf einmal war es Ganna nicht mehr geheuer. Die Gefahr bestand, daß sie selber in der Falle gefangen wurde, die sie so fleißig mit Speck versehen hatte. Dazu kam, daß sie sich vor Schulden nicht mehr zu retten wußte. Dr. Stanger-Goldenthal drängte wie ein Shylock auf Bezahlung und drohte mit der Pfändung der ihr als Eigentum verschriebenen Haushälfte. Sie flehte Hornschuch an, er möge bewirken, daß Dr. Stangers Forderungen wenigstens zu einem Teil beglichen würden, sie werde dann die Scheidung schon aus Dankbarkeit beschleunigen. Aber Hornschuch erklärte kalt: Erst der Pakt, dann das Geld.
In dieser Not beschloß Ganna, vom Schauplatz zu verschwinden, und zwar ins Ausland. Ihre Überlegung war primitiv: Wenn zwei Leute geschieden werden sollen, müssen alle beide zur Stelle sein; bin ich nicht erreichbar, so kann man mich nicht zur Unterschrift zwingen. Sie packte also in größter Hast ihre Koffer, raffte alles verfügbare Geld zusammen und fuhr mit Elisabeth und Doris an die französische Riviera. Zwei Tage zuvor hatte sie mich von ihrem Vorhaben verständigt; ich hatte ihre Absicht, sich aus dem Staub zu machen, durchschaut, obgleich sie versucht hatte, mein Mitleid auf ihre asthmatischen Anfälle zu lenken, die einen Aufenthalt im Süden gebieterisch heischten. Zurückhalten konnte ich sie nicht; da hätte ich sie einsperren lassen müssen. Ich hatte ihr nur verboten, Doris mit auf die Reise zu nehmen. Im Herbst war für das jetzt elfjährige Mädchen, nach vielen mißglückten Versuchen und Hospitieren da und dort, eine passende Lehranstalt gefunden worden; am frohesten war Doris selbst. Nun sollte sie mitten im Semester wieder aus der Ordnung gerissen und noch dazu in ein fremdes Land verbracht werden. Mein zorniges Veto beantwortete Ganna mit einer aufsässigen Depesche, der sie einen Eilbrief nachsandte, in welchem sie mir wortreich auseinandersetzte, Doris sei überanstrengt und bedürfe der Meerluft, die Schule sei miserabel, schon um halb sieben Uhr morgens müsse das arme Herzchen aus den Federn, sie trage sich mit der großartigen Idee, das Kind in einer Tanzschule in Nizza unterzubringen; ich könne mir die Begeisterung des süßen Lieblings kaum vorstellen. Ich zerriß den Brief in Fetzen und ersuchte Hornschuch, mein ausdrückliches Verbot Ganna noch einmal und in kategorischer Form zu übermitteln. Damit hielt ich die Angelegenheit für erledigt. Am selben Tag mußte ich zu einer geschäftlichen Besprechung nach München fahren. Kaum hatte ich dort mein Zimmer aufgesucht, als ich aus Ebenweiler angerufen wurde. Es war Bettina. Sie beschwor mich mit gepreßter Stimme, auf keinen Fall nach Nizza zu reisen. Erstaunt fragte ich, aus welchem Grund ich denn nach Nizza reisen sollte. Sie teilte mir mit, es sei ein Telegramm von Ganna da, die sich mit den beiden Töchtern bereits in Nizza befinde und, wie nicht anders zu erwarten, um Geld bitte. »Aber Bettina«, rief ich bestürzt in den Apparat, »weshalb sollte ich nach Nizza fahren wollen, ich wußte ja bis zu dieser Minute nicht, daß die Frau abgereist ist ... Also doch mit Doris ... das ist wirklich das Äußerste.« Als dann die Stimme Hornschuchs aus dem Apparat schallte, der mich mit ungewöhnlichem Ernst vor einer Unbesonnenheit warnte, weil er sonst, wie er sich ausdrückte, für Frau Bettina nicht bürgen könnte, verschlug es mir die Rede. Was bedeutete das? Langsam begriff ich, was es bedeutete. Bettina fürchtete, ich würde Ganna nachjagen, um das Kind zu holen, und mich bei dieser Gelegenheit wieder mit ihr in Verhandlungen einlassen. Während des Gesprächs hatte ich plötzlich gespürt, daß sie meiner Versicherung, ich wüßte nichts von Gannas Abreise, mißtraute, und da wurde mir angst und bang. Ich fuhr so schnell wie möglich nach Ebenweiler zurück.
Ich veranlaßte nun, daß Gannas Monatsbezüge gesperrt wurden. Dies wurde ihr von Hornschuch brieflich bekanntgegeben. Sie protestierte in einem vierzig Worte langen, wutgeladenen Telegramm. Ein zweites, noch längeres Telegramm ging an Schwager Heckenast. Dieser richtete ein ebenso herrisches wie beleidigendes Telegramm an mich, ein zweites an Hornschuch. Hornschuch schrieb an Dr. Fingerling, er sei höchlich befremdet, daß er, Fingerling, seine Mandantin mitten in den entscheidenden Verhandlungen nicht nur habe wegreisen lassen, sondern sie außerdem noch mit Geld versehen habe. Fingerling schrieb einen pikierten Brief über die Eigenmächtigkeit seiner Mandantin an Herrn Heckenast. Herr Heckenast schrieb einen verärgerten Brief an Ganna und forderte sie zur Heimkehr auf. Ganna telegrafierte, sie denke nicht daran, sie lasse sich nicht vergewaltigen. Mich wunderte, daß der Draht zwischen Nizza und Berlin und Nizza und Ebenweiler nicht entzweiriß von ihrem pathetischen Getobe. Indessen ging ihr das Geld aus. Sie konnte die Hotelrechnung nicht bezahlen und mußte sich von fremden Leuten Geld ausleihen. Die fremden Leute wurden argwöhnisch, als sie den Termin nicht einhielt, und drohten mit unangenehmen Schritten. Sie telegrafierte mir, sie werde eine gerichtliche Klage gegen mich einbringen. Es schüttete Ganna-Briefe und Ganna-Depeschen wie Schrapnells in einer Schlacht. Unser Postamt hatte alle Hände voll zu tun.
Während dieses wahnwitzigen Alarms wurde der Notariatsakt ausgearbeitet. Heftig bedrängt von ihrem Anwalt, der wieder von Hornschuch in die Enge getrieben war, sah sich Ganna gezwungen, die blaue Küste zu verlassen. Hornschuch fuhr nach Wien, wo er sich mit Herrn Heckenast in Dr. Fingerlings Kanzlei treffen sollte. Mir wurde gesagt, ich möchte mich bereit halten und auf ein gegebenes Zeichen ebenfalls nach Wien fahren. Das Zeichen wurde gegeben, und ich fuhr.
Szene: Schwager Heckenasts Zimmer im Hotel. Dramatis personae: Heckenast, Hornschuch, Dr. Fingerling und ich. Inhalt des Stückes: Das große Feilschen. Um jeden einzelnen Punkt wurde gefeilscht. Es waren so viele Punkte, daß nach drei Stunden noch kein Ende abzusehen war. Schwager Heckenast war von preußischer Kurzangebundenheit. Er ließ uns fühlen, daß er durch seine Anwesenheit gleichsam ganz Österreich, das doch so klein und arm war, eine Ehre erwies. Er war leidenschaftslos wie ein Papiermesser. Obwohl beträchtlich jünger als ich, behandelte er mich wie ein von seiner moralischen Würde geschwellter Onkel, der den Neffen aus seinem Herzen verstoßen hat; sein bürgerliches Empfinden war unheilbar verletzt durch das verwerfliche Betragen dieses Flüchtlings aus dem Kral. Kalt und schroff wie eine Mauer stand er vor den Rechten seiner Schwägerin Ganna. Er war vollkommen sachlich. Laßt die Nichts-als-Sachlichen zur Macht kommen, und mit der Barmherzigkeit und der Phantasie auf Erden ist es aus.
Dr. Fingerling war ein hagerer, rothaariger, höflicher Herr, der den Fall gern zu allgemeiner Zufriedenheit beenden wollte. Er wäre froh gewesen, wenn er schon sein Honorar in der Tasche gehabt hätte. Zehntausend Schilling waren ihm nach Unterfertigung des Vertrages zugesagt, eine klotzige Summe. Von Zeit zu Zeit winkte er Hornschuch zu sich heran und raunte ihm etwas ins Ohr. Der, scharfäugig, beweglich, knapp in Worten, rasch und geistesgegenwärtig in Angriff und Parade, erinnerte an einen Florettfechter. Mehr gelehrter Jurist als Advokat, fiel es ihm nicht schwer, den preußischen Unerbittlichen in die Ecke zu drängen, was freilich an der Härte der Bedingungen wenig änderte. Obschon er das gerade noch Tragbare für mich zu erkämpfen trachtete, ahnte mir doch, daß er meine Verhältnisse und meine Leistungsfähigkeit verhängnisvoll überschätzte. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Die Dinge waren zu weit gediehen. Es war wie ein Steinschlag. Stemmt man sich gegen ihn, wird man zerschmettert.
Die ganze Zeit über stand ich mit dem Rücken ans Fenster gelehnt und ließ den Hagel von Paragraphen, Zahlen und Zwangsbestimmungen über mich ergehen. Meine Gedanken bewegten sich in zwei Sphären. Die eine war losgelöst von dem Schlachtplatz, auf dem ich den Ochsen vorstellte; was geht mich das alles an, dachte ich, das Gerassel der Straf- und Sühneketten, was geht es mich an, es ist ja nur Geld, was sie von mir haben wollen, mögen sie es haben, schmeiß ihnen den Krempel in die Zähne, mögen sie sich balgen um meine Haut, die Seele kriegen sie doch nicht. Aber die andere Sphäre war sorgenschwarz, in ihr erhob sich die Frage: Wie soll ich's herschaffen, das viele Geld, Jahr für Jahr, angeschmiedet an einen Kontrakt, der mehr Ähnlichkeit mit einer Guillotine als mit einem Stück Papier hat, das ganze Leben ein Kulidienst, die ganze Zukunft umzingelt von Sanktionen und Reparationen, in Wahrheit ein Privat-Versailles; wie es verhüten, daß Geisteswerk und Phantasiegebilde nicht zu Ganna-Pfändern und Zahlungssicherheiten erniedrigt werden?
Endlich war man einig. Der Notar wartete bereits. Heckenast ließ Kognak auftragen, man schüttelte einander feierlich die Hände, und als ich an Hornschuchs Seite die Treppe hinunterging, sagte er: »Ich denke, man kann Ihnen gratulieren.« – »Es ist keineswegs sicher, daß Ganna unterschreibt«, erwiderte ich, dem Glückwunsch ausweichend, aber Hornschuch meinte, Herr Heckenast sähe nicht aus, als ob er mit sich spaßen ließe, und Meister Fingerling brauchte dringend Geld. Auf der Straße ergriff er meine Hand, drückte sie fest und sagte mit seltsamem Schmunzeln, denn er war immerhin stolz auf seinen Sieg: »Tu Geld in deinen Beutel! Viel Geld! Geld für den Fingerling, Geld für den Goldenthal, Geld für Gannas Schulden, Blutgeld, Lösegeld ... Haben Sie so viel? Ich stelle mich Ihnen zur Verfügung.« – »Ich habe alles zusammengescharrt, was aufzutreiben war«, sagte ich.
Dieses Gespräch fand um zwei Uhr nachmittags statt. Um vier Uhr erschien Ganna verabredetermaßen mit ihrem Schwager in Dr. Fingerlings Kanzlei. Der Notar war für ebendiese Stunde bestellt. Man hätte denken sollen, die Formalität des Unterschreibens wäre in fünf Minuten erledigt gewesen. Allein es dauerte fünf Stunden, bis es so weit war, daß Ganna unter Schluchzen und strömenden Tränen ihren Namen unter den Vertrag setzte. »Es war wie eine Amputation«, sagte Dr. Fingerling, als er dem Kollegen Hornschuch den gräßlichen Auftritt beschrieb. Um fünf Uhr hatte Ganna noch schreiend beteuert, sie tue es unter keinen Umständen. Nachdem alle eine Stunde lang in sie hineingeredet hatten, schien es, als werde sie ohnmächtig, und man mußte sie laben. Um sieben Uhr verlangte sie, daß eine Reihe von Verbesserungen in dem Akt angebracht würden. Unmöglich, wurde ihr bedeutet, man habe sich durch Wort und Handschlag als Unterhändler gebunden. Sie schwor beim Leben ihrer Kinder, sie unterschreibe den Akt nicht, der sie zur unglücklichsten Frau der Welt mache. Sie warf dem Schwager vor, er sei von mir und Bettina bestochen. Sie drohte, sich zu vergiften. Sie erklärte, sie sei das Opfer einer Erpressung. Dem Dr. Fingerling stand der Schweiß auf der Stirn. Heckenast verlor zum erstenmal die Selbstbeherrschung, packte sie bei den Schultern und brüllte, wenn sie nicht Vernunft annehme, werde er sie in eine Anstalt sperren lassen. Da wurde sie mäuschenstill. Mit scheu flatterndem Blick und gesenktem Kopf setzte sie sich an den Schreibtisch und unterschrieb. Und als sie unterschrieben hatte, seufzte sie aus tiefstem Herzensgrund auf wie eine Sterbende, warf sich in die Sofaecke und heulte zwanzig Minuten lang mit solchen Tönen, daß die drei Männer einander bleich ins Gesicht starrten und nicht wußten, was sie beginnen sollten.
Am andern Tag, dem Tag der gerichtlichen Scheidung, wurde ich dreiundfünfzig Jahre alt. Im Vorraum des Bezirksgerichts ging Ganna auf mich zu und sagte mit schmelzender Stimme und dem reizend-unschuldigen Lächeln ihrer Mädchenzeit: »Ich schenke dir die Scheidung zu deinem Geburtstag, Alexander.«
Ich blieb stumm, so stumm wie eine Stunde später, als sie mit zitternden Händen die vielen tausend Schilling, die ich auf einen Tisch vor sie hinzählte, in ihrer Ledertasche verstaute. Ich sah gebannt auf die alten, uralten Hände. Hatten sie sich denn nun wirklich geöffnet und mich aus ihrem Griff entlassen? Man wird sehen.
Während sich dies abspielte, saß Bettina in Ebenweiler und wartete. Um nicht ganz allein zu sein, hatte sie Lotte Waldbauer gebeten, zu ihr zu kommen. Mittags um zwölf Uhr meldete ihr Hornschuch telefonisch die vollzogene Scheidung. Als sie wieder zu Lotte ins blaue Zimmer zurückkehrte, eilte diese erschrocken auf die Schwankende zu. Aber Bettina brach schon zusammen. »Es war zu teuer«, stammelte sie, »zu teuer erkauft«, und verlor das Bewußtsein. Nicht auf Geld und Geldeswert bezog sich dieses »zu teuer«; denn von den Verpflichtungen, die mir aufgehalst waren, erfuhr sie erst am nächsten Tag, als ihr Hornschuch den Scheidungspakt brachte.
Sie las das Dokument mit der ihr eigenen Aufmerksamkeit durch. Dann schwieg sie eine Weile, gesenkten Hauptes. Dann sagte sie leise: »Das ist ja entsetzlich.« Hornschuch machte ein enttäuschtes Gesicht. Er glaubte Dank verdient zu haben. Bettina streckte ihm matt die Hand hin. »Sie müssen nicht denken, daß ich Ihre Mühe und Ihren redlichen Willen verkenne«, sagte sie, »aber was nimmt der Mann auf sich! Wie konnte er das unterschreiben! Ein Mann, der von seiner Gehirnarbeit lebt!« Hornschuch blieb die Antwort schuldig. Er war nicht imstande, jetzt nicht und lange nachher nicht, an der Vortrefflichkeit seiner juristischen Konstruktion zu zweifeln. So sind ja die meisten Männer. Das ist das Spielerhafte und Spielerische an ihnen und ihren Berufen. Die begabten und ehrlichen sind geblendet von ihrer Idee, die geringen und brutalen von Erfolg und Gewinn. So regieren sie die Welt. So sah sie Bettina. Außerdem gab sie sich von Anfang an über die Situation keiner Täuschung hin. Sie wußte mit hellseherischer Sicherheit, daß der Strangulierungsvertrag, wie sie ihn nannte, das Gespenst aus unserm Haus nicht verscheucht hatte. Und sie sagte: »Lieber will ich in einer Holzhütte leben als mit dem Gespenst in einem Palast.«
So peinlich und erkältend es ist, muß ich dennoch, wenn auch mit aller gebotenen Kürze, von den Verpflichtungen sprechen, die mir der nun oft genug erwähnte Notariatsakt auferlegte. Da war erstlich die Bezahlung von Gannas seit Jahren aufgelaufenen Schulden. Sodann hatte ich sämtliche Anwaltshonorare zu tragen; es waren, mit der Nota des Dr. Stanger-Goldenthal und den Kosten des Notariatsaktes zusammen, etwa achtundvierzigtausend Schilling. Die regelmäßige Monatsrente für Ganna überstieg wesentlich die Höhe eines Ministergehalts. Dazu kam eine bedeutende Summe, die innerhalb der folgenden drei Jahre zu entrichten war und die als Notfundus für Ganna bezeichnet wurde. Daß ich außerdem für die Erhaltung der Kinder zu sorgen hatte, war gebührlich und hätte in dem Akt nicht als Zwangspflicht erscheinen müssen. Aber Ganna wollte es so, und so wurde ich der Form nach auch zum Tributleister vor meinen Kindern. Ferneres Bedingnis war die Überlassung des von allen Lasten zu befreienden Hauses, das mir vor vierzehn Jahren die Freunde geschenkt hatten und das damit alleiniges Eigentum Gannas wurde. Schön; mit allen diesen Punkten konnte man sich abfinden. Es war eine riesige materielle Bürde; ein Spekulant, ein Bankdirektor, ein Großindustrieller hätten sich vermutlich nicht dagegen aufgelehnt, auch größere Summen hätten sie nicht um den Schlaf gebracht, schließlich, Loskauf ist Loskauf, die bürgerliche Ordnung macht aus der Scheidung ein Geschäft und aus der Freiheit eines Menschen einen Handelsartikel. Schön. Anders verhielt es sich mit den beiden letzten Klauseln: daß Ganna als persönliche Erbin eines Drittels aller Einnahmen aus meinen Schriften und meiner Habe nach meinem Tod eingesetzt und ihr ferner, als Bürgschaft für ihre Bezüge, ein Pfandrecht auf das Bucheggergut im Betrag von hunderttausend Schilling eingeräumt wurde. Die erste dieser Klauseln bedeutete praktisch eine Vermögensentrechtung Bettinas, da ja außer Ganna sich noch vier Kinder in das Erbe teilen mußten; die zweite entwertete den Besitz in Ebenweiler durch die auf ihm haftende Schuld und machte ihn von vornherein unverkäuflich.
Hausschenkung, Pfandrecht und Erbrecht hatten ihre juristische Stütze in dem Ehevertrag, den ich vor fünfundzwanzig Jahren, ihr erinnert euch, willfährig unterschrieben hatte. Jetzt erfuhr ich endlich, was es mit der sogenannten Widerlage auf sich hatte: daß ich nämlich im Fall der Ehetrennung die Mitgift von achtzigtausend Kronen nicht nur einfach zurückzuerstatten hätte, sondern doppelt. Und dieses verdoppelte Kapital belief sich aufgewertet auf zweimalhunderttausend Schilling. Ihr werdet zugeben, daß der Kral seinen Vorteil wahrgenommen hatte. Es war ihm gelungen, den Tölpel, der ihm in strafwürdiger Arglosigkeit ins Garn gelaufen war, nach allen Regeln der Kunst über den Löffel zu balbieren. Achtung und Ehre dem Kral. Eine Kniebeuge vor dem Zeitalter der Sicherheiten. Ganna ist wahrlich nicht zu Schaden gekommen bei ihrem Beutezug in die Gefilde der Literatur und des »höheren Lebens«, und indes Bettina und das Caspar Hauserchen sehen mögen, wo sie bleiben, Bettler in absehbarer Zukunft, wird Ganna auf ihren Sicherheiten friedlich schlummern wie auf einem Kissen von Rosenblättern. Oder nicht? Ich weiß, es ist der Gipfel des Unglaubwürdigen: Aber all diese »Sicherheiten« dienten nur dazu, ihr Leben und damit das meine bis zur gänzlichen Zerfetzung zu verheeren.
Zunächst erging es mir so, daß mich die Geldpeitsche spornte, ohne mir sichtbare Wunden zu schlagen. Meine Arbeitskraft vervielfachte sich. Die Erlebnisse der letzten Jahre hatten mich so grausam mitgenommen, daß sie im Geistigen und Seelischen etwas wie Erneuerung bewirkt und auch mein Weltbild verwandelt hatten. Man braucht ja nur einen einzigen Menschen durch und durch leidend zu erfahren, und er wird die Quelle und der Brennpunkt alles Wissens vom Menschen überhaupt. Was uns innerlich verzehrt, das wird unser Stoff, wenn wir stark genug sind, uns trotzdem zu bewahren. Fast jede Krankheit verfeinert den Organismus. Ich ließ mich nicht mehr von der süßen Willkür des in einer Phantasieferne weilenden Geistes leiten, sondern ergab mich dem Ruf der Gegenwart, der in meine Einsamkeit gebieterischer drang, als wenn ich im Weltgewühl gewesen wäre. Zudem war mir vom Schicksal die Gabe verliehen worden, daß ich mich in den Stunden der Arbeit abriegeln konnte gegen Drangsal und Sorge, um allerdings dann, wenn die Sperrketten fielen, wenn ich sozusagen wieder Mensch unter Menschen wurde, mit einer durch die Abkehr gesteigerten Heftigkeit der Furcht, der Existenzangst, der bösen Ahnung zu erliegen.
Die Scheinruhe, die Bettina und ich in den ersten Zeiten unserer Ehe genossen, täuschte uns über die drückenden Verpflichtungen hinweg, mit denen sie erworben war. Um sie erfüllen, daneben unsere eigene Existenz bestreiten und die Raten an den Niederländer wie auch die an den Freund leisten zu können, der mir zum Erwerb des Bucheggerguts verholfen hatte, von den Steuern zu schweigen, mußte ich jährlich eine ganz gewaltige Summe aufbringen, und obwohl ich in den ersten beiden Jahren durch die außerordentliche Gunst der Umstände und infolge eines wahren Schaffensrausches sogar mehr verdiente, sah ich mich doch alsbald in Bedrängnis und war genötigt, zu wucherischen Zinsen ein beträchtliches Darlehen aufzunehmen.
Da die Einnahmen anfangs mit dem Bedarf Schritt zu halten schienen, geriet ich in die Stimmung eines Glücksspielers, der, seiner Chance vertrauend, immer höhere Einsätze wagt, oder eines Menschen, der so tief verschuldet ist, so viele Wechsel auf die Zukunft ausgestellt hat, daß er in seiner Wirtschaftsgebarung jede Vorsicht vergißt, stumpf wird gegen den wachsenden Verbrauch und jeder inneren Mahnung zur Sparsamkeit mit Trotz begegnet. So verbreiterte ich mein Leben, führte ein Haus, vergrößerte meine Bibliothek, kaufte ein Auto und unternahm mit Bettina weite Reisen. Die bedenkliche Folge davon war, daß Ganna, die von alledem natürlich genaueste Kunde erhielt, sich immer mehr in die Vorstellung hineinlebte, daß ich im Besitz ungemessener Mittel sei, daß man sie darüber gröblich getäuscht und sie durch den Scheidungsvertrag tückischerweise der Möglichkeit beraubt habe, des ihr nach Fug und Recht zukommenden Anteils habhaft zu werden.
Für meine damalige Beziehung zum Gelde ließe sich die paradoxe Formel prägen: selbstsüchtige Gleichgültigkeit. Wie alle aus der Armut Emporgestiegenen hing ich an den Genüssen und Vorteilen, die das Geld verschafft, aber ich liebte es nicht nur nicht, ich verachtete es. Das heißt, ich verachtete es, wenn ich es hatte, und konnte mir dann den Zustand des Nicht-Habens nicht ausmalen. Ich war nie gierig gewesen, aber auch nie sorglos. Ohne daß ich luxuriös veranlagt war, machte mir eine gewisse dumpfe Sinnlichkeit, wo es sich um eingelebte Bedürfnisse handelte, den Verzicht überaus schwer.
Anders Bettina. Sie liebte das Geld weder noch verachtete sie es. Ihrem gesunden Tatsachensinn bedeutete es ein Mittel zur Befriedigung des Notwendigen. In mancher Hinsicht freilich auch des Überflüssigen, insofern es sich als Schönheit kundgab, als jenes Maß in der Einfachheit, das mehr Nachdenken und Aufwand verursacht als aller Prunk. In den Jahren, da ich es unterließ, sie in meine Verhältnisse einzuweihen, und sie, teils um mich nicht noch ärger zu beschweren, teils betört von meiner Schaffenswut, sich der Befragung und Zügelung enthielt, gab sie sich mit heimlichem Trotz, ebenso wie ich, der Illusion einer unversiegbaren Fülle hin. Sie schmückte sich, schmückte ihr Heim, schmückte den Garten und war glücklich, wenn sie sich mit schönen Dingen umgeben konnte, die sie mit Verständnis auswählte, denn sie hat ja die unbestechlichsten Augen von der Welt. Gäste bei sich zu sehen bereitete ihr die größte Freude, und es waren meistens die alten Freunde, die sie bewirtete; an ihnen hing sie mit dankbarer Treue. Nie war sie unbescheiden und vorgreifend im Wunsch oder gar im Haben-Wollen. Das Haben machte ihr gar nichts aus. Wissen, daß es da war, das Schöne, es in sich aufnehmen und reicher werden, nicht sich bereichern damit, das war ihre Art von Besitzen, und im übrigen gehörte sie mit Leib und Seele der Musik und unserm Caspar Hauserchen.
Bis dann alle diese schillernden Träume von Schönheit, Frieden und Kunst zerplatzten und uns die schreckensvolle Wirklichkeit anglotzte wie eine Hyäne, die unter der Bettstatt hervorgekrochen ist.
Und Ganna? Die äußere Zerschneidung des Bandes hatte keineswegs die Folge, daß sie es auch innerlich als gelöst betrachtete. Die Stimmung, in der sie in ihr kahlgewordenes Leben zurückkehrte, war unheilschwanger. Ihr war zumute, wie wenn in einem Festsaal alle Lichter verlöschen und sämtliche Gäste in der Versenkung verschwinden. Auf einmal war es still. Auf einmal war es finster. Auf einmal war sie allein. Ja, da waren die Kinder. Aber außer Doris waren es große Leute, die keine Mutter mehr brauchten, Mutter, wie Ganna das Wort verstand: Näherin, Zärtlerin, Hüterin. Sie lebten in einer eisig fremden Menschenwelt. Sie hatten Meinungen, Erlebnisse, Freunde und unbekannte Bindungen.
Und wie jemand eine alte Wohnung ausräumt, bevor er eine neue bezieht, kramte sie aus Schränken, Truhen und Laden alle Andenken und Erinnerungen an mich hervor, die sie besaß, alte Fotografien, Geschenke aus der Frühzeit unserer Ehe. Sie konnte nicht satt werden, diese Dinge anzuschauen. Sie vergegenwärtigte sich, wie glücklich sie damals gewesen, als sie sie bekommen hatte. In ihrer Einbildung war es ein Glück ohne Maß, wie sie es in der Wirklichkeit nie empfunden hatte. Sie blätterte in ihren Mädchentagebüchern, und es wollte und wollte ihr nicht in den Sinn, daß alles anders geworden war, als sie es einst geträumt. Sie machte die bestürzende Erfahrung, daß Träume lügen. Dies vollzog sich freilich nur in einer Zwischenpause des Bewußtseins, etwa, wie wenn sich ein vordringlicher Lichtstrahl durch einen Ritz im Fensterladen zwängt. Sie beeilte sich, den Ritz zu verhängen.
Ihre Hauptbeschäftigung bildeten die Briefe, die ich ihr in den ersten zehn Jahren geschrieben hatte. Mit ihrem Inhalt saugte sie sich gierig voll. Sie ordnete sie chronologisch und versah sie mit Nummern. Um sie noch stärker zu verlebendigen als durch bloßes Lesen, sie gleichsam in sich hineinzupressen, fing sie an, sie abzuschreiben, einen nach dem andern. Als sie, nach Wochen, damit fertig war, trug sie die Abschriften zu einer Stenotypistin und ließ die ganze Sammlung in mehreren Exemplaren tippen. Eines davon, säuberlich gebunden, schickte sie mir. Ich begriff nicht, was ich damit sollte. Die geheimnisvolle Absicht war wohl, die Nachwelt über die wahre Beziehung zwischen Ganna und Alexander Herzog aufzuklären. Die Nachwelt war für sie eine Art Feuerversicherungsgesellschaft.
Jeder Tag war ihr wie ein löcheriger Vorhang. Durch jedes Loch starrte eine Stück Vergangenheit. Was sollte sie tun, um die fürchterlich öde Zeit zu füllen? Keine Akten, keine Schriftsätze, keine spannenden und aufregenden Verhandlungen mehr. Bisweilen nahm sie die Bücher ihrer Lieblingsdichter und -philosophen vor. Es war eine leere Gebärde. Das richtige sinnfeindliche Als-ob. Es gibt eine Wollust des Als-ob, die den von ihr Ergriffenen nach Perioden der Abgestorbenheit in einen Taumel des Scheindaseins versetzt. Während des Sommers las sie alles, was ich geschrieben hatte, hintereinander durch, und als wir uns dann trafen, stellte sie halb mit heuchlerischer Trauer, halb mit unverhohlener Genugtuung fest, daß die Bücher, die ich verfaßt, als ich noch in Gemeinschaft mit ihr gelebt, unvergleichlich besser seien als diejenigen, die ich seit meiner Verbundenheit mit Bettina veröffentlicht hatte. Es lag ihr auf der Zunge zu sagen: Ich habe es immer gewußt, Gott wird dich strafen, und er hat dich gestraft. Die alte Verhexungsformel. Das Gespräch fand an einem schönen Abend im Garten ihres Hauses statt. Sie war in zahlreiche Decken gehüllt, als ich kam, hatte es sich auf ihrem Liegesessel schwelgerisch bequem gemacht und blickte ins Firmament, wo nach und nach die Sterne aufleuchteten. Ich fragte mich: Was sucht sie dort oben? Sie konnte stundenlang liegen und wie ein gesammelter, fast wie ein frommer Mensch in den Sternenhimmel schauen, während störrische und unzufriedene Gedanken durch ihren Kopf schossen. Was erwartete sie da von den Sternen? Was wünschte, was delirierte sie, überwölbt vom ewigen Dom?
Mit einer Sache konnte sie nicht fertig werden, sie zehrte an ihr wie eine eitrige Wunde. Immer wieder kam sie hadernd darauf zurück, daß ich ihr doch meine Freundschaft versprochen, ihr zugelobt hatte, sie auf Händen zu tragen, wenn sie sich scheiden ließe. Nun wartete sie darauf, von mir auf Händen getragen zu werden. Da ich aber keine Anstalten hierzu traf, kam eine aufbegehrende Enttäuschung über sie. Alle Zeit, die ich ihr widmete, war ihr zu wenig. Von allem möglichen redete ich, fand sie, nur nicht von Freundschaft. Wenn ich aufbrach, fragte sie mich verstörten Blicks, warum ich nicht den Tag mit ihr verbrächte. Wenn ich den Tag mit ihr verbracht hatte, wollte sie Zusicherungen haben, daß ich auch den morgigen Tag für sie freihalten würde. Manchmal ließ ich das Auto vor dem Haus halten. Sie machte mit lächelnder Miene Bemerkungen darüber, die ihre Neidlosigkeit bekunden sollten, die aber deutlich verrieten, daß die Reue an ihr nagte. Sie bereute, daß sie in die Scheidung gewilligt hatte, bereute es Tag und Nacht mit jedem ihrer Gedanken. Manchmal loderte es aus ihr heraus; sie gab mir bitter zu verstehen, daß sie von Hornschuch und Bettina überlistet und überrumpelt worden sei. Die Vorstellung, daß Bettina mit mir im Auto in der Welt herumfuhr, während sie verlassen und verraten, jener zum Hohn, in ihren vier Wänden gefangensaß, brachte sie beinahe um den Verstand.
Ich fragte sie, in welcher Weise sich die verheißene Freundschaft verwirklichen solle, wenn nicht in vorsichtigem Wiederanknüpfen, wie ich es redlich versuchte, dem allmählichen Vergessen und Auslöschen der unseligen Vergangenheit. Unselige Vergangenheit? Sie war wie von Sinnen. »Wie kannst du nur so etwas sagen, Alexander! Eine Gemeinheit von dir!« Lächerlich, daß ich erst von ihr erfahren wollte, wie ich ihr meine Freundschaft beweisen könnte. Nichts einfacher als das: Man geht mitsammen ins Theater, ins Konzert, schon um der Welt zu zeigen, daß eine Scheidung bei zwei Edelmenschen wie ihr und mir nichts besagt und nichts verändert; man wird eine kleine Frühjahrs- oder Herbstreise miteinander machen; ich werde während meines Aufenthalts in der Stadt bei ihr im Hause wohnen; sie wird Teegesellschaften und Abendeinladungen geben, bei denen ich ihre neuen Freunde kennenlernen soll. Darauf harre und harre sie; das sei das Herrliche, das sie einzig entschädigen könne für ihr ungeheures Opfer. Statt dessen werde sie wieder einmal mit Almosen abgespeist; schändlich, schändlich ...
Ich traute meinen Ohren nicht. Da war es also offenbar, das ehrgeizig bohrende Wünschen unter den Sternen. Die Sterne waren ihr verdammt gleichgültig. Sie erhob Anklage und rollte den großen Prozeß des Unrechts auf, das ihr widerfahren war.
Vor vielen Jahren habe ich einmal über sie in eines meiner Merkhefte geschrieben: »Ein Wesen, herzblind, salamanderhaft.« Keine erschöpfende Umschreibung ihres Charakters, nur ein paar Signalworte. In ihrer Herzensblindheit nahm sie niemals wahr, was sie band, nicht, was ihr ziemte, nicht, was sie sollte. In ihrer Salamanderhaftigkeit entschlüpfte sie der Zeit, dem angewiesenen Raum und jeglichem Gebot und Gesetz. Sie glich einer Zahl, die außerhalb der mathematischen Reihe steht: das Undenkbare schlechthin. Aber im Moralischen und Seelischen kann man auch für das Undenkbare immer noch Beleg und Figur finden, denn dem Menschen ist alles möglich.
Ich habe mich im Vorhergehenden immerfort bemüht, eine chaotische Liebe in sie hineinzudichten, die alle Grenzen sprengte und sich vernichtend gegen sie selbst kehrte. Eine psychologische Ausschweifung, weiter nichts. Gehen wir nicht mit dem Begriff Liebe um wie mit einem Diebswerkzeug, das alle Schlösser öffnen soll? Redet mir nicht von Haßliebe und Verfolgungsliebe und ähnlichem, das war es nicht. Wahnliebe, da sind wir eher auf der Spur. Doch Wahn ist ein so gut wie unerforschtes Element, ein unendlich geheimnisvolles, kein Spiegel hat es je ganz aufgefangen, kein Griffel es ohne Rest beschrieben, denn es reicht in die tiefsten Tiefen des Menschengeschlechts hinab.
Es war in Ganna schon alles vorgebildet, was sich von nun an ereignete, Anschlag für Anschlag. Es war kein Plan, kein aussagbarer Wille, aber es war in ihr beschlossen, wie es in einem geheizten Kessel beschlossen ist, daß der Dampf durch die Ventile entweichen wird. Da sie mich körperlich nicht haben konnte, mußte sie mich auf andere Weise haben. Ihr fragt, wie? Mich treffen. In jedem Sinn des Worts. Wo ich am verletzbarsten war, wollte sie mich treffen, sie fühlte sich vom Schicksal hierzu auserwählt. Der Dünkel ist der plebejische Bruder des Wahns. Konnte sie nicht bei mir und mit mir sein, so in mir drin, wenn nicht zu meinem Heil, an dem sie zu bauen fest überzeugt war, dann zu meinem Unheil, an dem sie wirklich baute. Wahn ist allmächtig.
Ich muß achtgeben, daß ich die Zusammenhänge nicht verliere. Es ist eine Mischung von Trivialität und Unwahrscheinlichkeit in den Vorgängen, die es schwer macht, sie in der Erinnerung wiedererstehen zu lassen. Die nüchterne Wahrheit der Tatsachen stößt unmittelbar an den Hexensabbat, den sie erzeugten, wenn das Hirn, das sie gebar, sie mit fanatischer Folgerichtigkeit zu Ende führte.
Es begann damit, daß sie mir eines schönen Tages mitteilte, sie habe die »Schatzgräber von Worms« in Gemeinschaft mit einem befreundeten Journalisten zu einem Filmbuch verarbeitet. Bei dieser Ankündigung berief sie sich auf die schriftliche Erlaubnis, die ich ihr vor acht Jahren hierzu erteilt hatte. Inzwischen hatte ich aber das Buch an eine amerikanische Gesellschaft verkauft. Ich glaubte, ihr dies gesagt oder geschrieben zu haben; sie leugnete es. Immerhin war es möglich, daß ich es in der Überfülle der Geschäfte damals vergessen hatte. Ich warnte sie erschrocken vor dem Vertrieb; man könne doch nicht ein und dieselbe Sache zweimal veräußern. Sie behauptete, ein Anrecht auf den Filmverkauf zu haben. In dem Umstand, daß ich ihn ihr verschwiegen (die Möglichkeit, daß ich es verschwiegen, war also bereits eine Tatsache für sie), erblickte sie den Beweis, daß ich stets versucht hatte, sie über meine Einnahmen zu täuschen. Ich antwortete ihr, nur durch diese Zufallseinnahmen sei ich imstande gewesen, ihre und der Kinder Existenz in den Jahren der Geldentwertung zu sichern. Sie kehrte sich nicht daran. Sie rechnete mir nur meine vermeintlichen Reichtümer vor; daß sie in jedem Fall die Mitgenießerin, ja die Hauptbeteiligte war, würdigte sie keiner Erwägung. Das Filmbuch zurückzuziehen, weigerte sie sich. Sie sagte, ihr Mitarbeiter, mit dem sie einen Vertrag geschlossen, bestehe auf seinem Anteil und drohe mit einem Prozeß. Ich bemerkte erstaunt: Wie kannst du einen Vertrag über eine Sache abschließen, die dir nicht gehört? Sie entgegnete, ihr Anwalt sei darüber anderer Meinung. Dadurch erfuhr ich, daß sie wieder einen Anwalt hatte, einen Doktor Mattern. Sonach blieb mir nichts übrig, als auch meinen Anwalt mit der Ausfechtung der widrigen Angelegenheit zu betrauen. Hornschuch bekam also wieder zu tun. Im letzten Stadium des Zwistes befand ich mich mit Bettina im Ausland. Es wurden mir Zeitungsartikel zugeschickt, in denen der Streit um das Filmbuch mit gehässigen Seitenhieben gegen mich sensationell aufgebauscht war. Zu gleicher Zeit bombardierte mich Ganna mit Wortschwallen von Telegrammen, worin sie wieder einmal Stein und Bein schwor, sie sei an den Presseangriffen unschuldig, diese seien von Leuten ausgegangen, die ihr bei mir schaden wollten. »Woher weiß sie eigentlich immer, wo wir sind?« fragte mich Bettina kopfschüttelnd. Ich mußte zugeben, daß ich sie von unserem Reiseziel unterrichtet hatte. Darauf schwieg Bettina.
Hornschuch brachte einen Vergleich zustande. Ich mußte dem journalistischen Freund Gannas eine erhebliche Summe zahlen, um ihn für eine Arbeit, zu der er weder befugt noch aufgefordert war, zu entschädigen. Ganna selbst verzichtete auf die anfangs verlangte Abstandssumme, obgleich sie durchblicken ließ, ihre Vermögensverhältnisse seien nicht so geartet, daß sie es leichten Herzens tun könne, um meinet- und des Friedens willen gebe sie aber nach. Um diese Zeit sprach sie von schriftstellerischen Plänen, legte mir auch einige ihrer Arbeiten vor und bat mich, ihr bei deren Veröffentlichung behilflich zu sein; sie müsse unbedingt Geld verdienen. Ich begriff die Dringlichkeit des Geldverdienens nicht, da sie doch im Genuß einer Rente war, die auch einem anspruchsvollen Menschen bequem zu leben erlaubte, allein ich tat, was ich konnte, schon um ihr gefällig zu sein, und ich tat es wider mein besseres Gewissen, denn was sie zu Papier gebracht hatte, fand ich weder kurzweilig noch verwertbar. Mein Urteil verhehlte ich ihr, um fruchtlosen Erörterungen zu entgehen und sie nicht bei einer Beschäftigung zu stören, die sie wenigstens von schädlicheren Unternehmungen ablenkte.
Holde Täuschung. Es dauerte nicht lange, so kam sie mit einem neuen Projekt. Um ihr Haus ertragfähig zu machen, beschloß sie, es um einen Stock aufzuhöhen und den unteren Trakt zu vermieten. An sich keine üble Idee; die Durchführung war aber eine kostspielige Sache und nötigte sie, ihre Reserven anzugreifen (wenn sie deren damals noch hatte) und teure Hypotheken aufzunehmen. Ich glaubte, sie warnen zu sollen. Ich machte sie auf die Gefahr der Verschuldung aufmerksam. Mit besserwissender Überlegenheit wies sie meine Bedenken ab. Es war ein verruchter Hang in ihr, daß sie stets etwas, das sie noch nicht besaß, aber zu besitzen entschlossen war, schon im voraus verpfändete und derart belastete, daß ihr dann, errang sie es wirklich, nur der Titel und die Einbildung des Besitzes blieb. Darin glich sie einem Menschen, der schweißtriefend mit seinem eigenen Schatten um die Wette läuft, um ihn zu überholen. Wenn ihr dann die Vergeblichkeit dieses Beginnens dämmerte, schlug sie in blinder Wut auf den Schatten ein und forderte von ihm Ersatz für die gehabte Mühe, die enttäuschte Hoffnung und den Aufwand an Zeit und Geld. Aber der Schatten war nur mein Stellvertreter, und so mußte der lebendige Alexander herhalten, da half kein Sträuben, er hatte zu zahlen, in jedem Fall zu zahlen.
Der Hausumbau hatte sie indes nicht, wie ich geglaubt, am geistigen Schaffen gehindert. Bisweilen hatte sie mir gegenüber mysteriöse Anspielungen auf ein Buch gemacht, an dem sie schrieb und an das sie die stolzesten Erwartungen knüpfte. Soviel ich ihren Worten entnehmen konnte, schwebte ihr ein Rechenschaftsbericht vor, Schilderung ihres Lebens und Leidens, Bekenntnis ihrer unverbrüchlichen Gattinnenliebe und -treue. Sie sprach mehrmals mit großem Augenaufschlag davon, daß sie bei der Konzeption des Werkes vor allem an mich gedacht und ihr nur das eine im Sinn gelegen habe, mich von dem Irrtum, den ich begangen, zu überzeugen; wenn ich das Buch einmal lesen würde, mit Ernst und Aufmerksamkeit, wie sie hinzufügte, unterläge es keinem Zweifel mehr, daß ich, erschüttert von der Wahrheit der Darstellung, ohne Zaudern zu ihr zurückkehren würde. Das alles brachte sie in ihrer Weise vor, drohend, schmeichelnd, anklägerisch, die Weise, auf die sie sich so gut verstand.
In einem früheren Abschnitt dieser Aufzeichnungen habe ich vom Unfug der Literatur gesprochen. Es war eine harmlose und biedere Welt, die ich damit im Auge hatte, schlicht in ihren Lügen, rührend in ihrer Bemühung, Geist und Kunst als Schamtücher für ihre Blößen zu benutzen. Darüber sind drei Jahrzehnte hingegangen. Die schöngeistige Ganna-Welt von damals unterscheidet sich von der aufgeregt-bilderstürmerischen von heute wie eine Kinderpistole von einem Maschinengewehr. Ehedem haben sie in ihren Teegesellschaften mit unschuldigen Waffen gespielt, jetzt schießen sie wirklich, vertraut mit der ganzen Mechanik der Verheerung. Sie zündeln, sie legen Wortminen, sie werfen Wortbomben, sie vergiften die Welt mit Druckerschwärze, jeder unzufriedene Narr, jeder öffentlichkeitslüsterne Querulant knallt seine Rachekomplexe vom Schreibtisch aus auf die Straße hinunter, nach innerem Beruf wird nicht gefragt, nach Wahrheit und Redlichkeit nicht, das Papier ist billig, der Setzer willig, das Wort feil, der Schlachtruf der Epoche heißt schreiben und überheult alles sonstige Elend der Menschheit, die unter einem papierenen Berg langsam verröchelt.
Was Wunder, daß auch Ganna, von der Seuche erfaßt, ihr Heil in der Erzeugung von Druckschriften suchte, war sie doch sozusagen mit der Schreibfeder im Munde geboren, war doch Schreiben von jeher der Inbegriff ihres Daseins gewesen, ihre lebendigste Äußerung, ihre Behauptung, ihre Zuflucht und ihr Trost. Und diese Leidenschaft, die einem Laster so ähnlich sah, wie ein gutes Buch von außen einem schlechten ähnlich sieht, wuchs unaufhaltsam. Ich glaube, sie war die Ursache von all ihrem Unglück, ihrer Verstörung, ihrer Gottlosigkeit, denn sie ersetzte ihr den Spiegel des Herzens, in dem jedes seelenbegabte Geschöpf sich selbst erkennt, sich selbst mit dem Tod hinter der Schulter, wie es auf alten Bildern dargestellt ist. Sie dachte nicht an den Tod, sie wußte nichts von der Gottheit, und über den Spiegel des Herzens hatte sie einen Bogen Papier geklebt, um zu schreiben, zu schreiben, zu schreiben ...
Das schmale Büchlein, ein Roman, führte den blümeranten Titel: Die blutende Psyche. Der Verleger, der sich bereit gefunden, es herauszugeben, hatte sich wohl einen kleinen Skandal davon erhofft. Er kam nicht auf seine Rechnung, es gab nur einen Sturm im Wasserglas. Der Brief, mit dem mir Ganna das Erzeugnis zuschickte, war ein geschriebener Kniefall. Wiederum Beteuerung ihrer Liebe, wiederum der schmähliche Hinweis auf die Notwendigkeit, Geld verdienen zu müssen. Im ganzen das Gestammel des schlechten Gewissens.
Ich blätterte in dem Buch. Ich las Ungeheuerliches. Meine erste instinktive Handlung war, es zu verstecken, damit es nicht Bettina in die Hand geriet. Aber wenn ich allein in meinem Zimmer war, suchte ich es ab und zu aus dem Bücherstoß heraus, darin ich es verkramt hatte, so wie man das Bedürfnis hat, ein widerwärtiges Kuriosum zu betrachten, das man im anfänglichen Abscheu aus dem Weg geräumt hat. Was war denn das, was stand denn da auf greifbarem Papier! Hinter einem Gewölke von Gefühlsduselei und süßlicher Romantik ließ sich ein schmutziges Zerrbild Bettinas erkennen, Ausmalung ihrer vermeintlichen Sünden und tückischen Fädelungen, unter Zutat einer schamlosen Bett- und Ehebruchsszene, in der der betrogene Mann das Mitleid des Lesers erregen sollte. Die blutende Psyche, das war Ganna, der weiße Erzengel Ganna, verfolgt und geschändet von der tribadischen Unholdin Bettina.
Freunde und Bekannte drückten mir gelegentlich ihr Bedauern aus. Von da und dort, aus den Löchern, in denen sich die lauernden Neider und Hasser verkrochen hatten, ließ sich schadenfrohes Geraune hören. Ganna machte Reklame für ihr Machwerk und setzte ihre journalistischen Anhänger in Trab, damit sie es in den Zeitungen rühmten. Auf die Dauer war es nicht zu vermeiden, daß ich mit Bettina über das Buch sprechen mußte, um so weniger, als sie erst von Hornschuch, dann von verschiedenen anderen Seiten Kunde erhalten hatte. Ich habe nie etwas Nobleres erlebt als die Art, wie sie keine Kenntnis von der Besudelung ihrer Person nahm. Gewiß, sie fühlte sich schlimm angerührt, ihr graute vor dem Gerede, ob es nun gutmeinend oder böswillig war, aber das Buch zu lesen oder es nur mit einem Finger anzufassen, hätte keine Macht der Erde sie bewegen können. Für sie war nur eines von Wichtigkeit, und dies wurde mir leider zu spät klar: Nämlich, wie ich mich dazu verhalte, welche Folgerung ich daraus ziehen würde.
Bettina stand im Garten und säuberte die Rosen von den mörderischen Läusen. Bisweilen schimpfte sie ärgerlich vor sich hin, wenn eine Blüte besonders schlimm zugerichtet war. Neben dem Topf mit der läusevertilgenden Mischung stand eine blecherne Wasserwanne, in der eine Spritze schwamm. An der Wanne machte sich singend und plappernd das Knäblein Helmut zu schaffen. Eine schönere Gelegenheit, im Wasser zu planschen, konnte nicht erträumt werden. Auf einmal stieß es ein mächtiges Geschrei aus. Es war in die Wanne gefallen. Ich hatte das jämmerliche Angstgebrüll vernommen und eilte mit gesträubten Haaren herbei. Indessen hatte Bettina den zappelnden Sohn bereits aus dem Wasser gezogen. Seelenruhig stellte sie das ungebärdige Kerlchen in die Sonne, damit es trockne. Und zu mir, der mit unglücklichem Gesicht dabeistand, fürchtend, das vergötterte Wesen habe Schaden gelitten, sagte sie ungerührt, wennschon mit einem zärtlichen Seitenblick auf den triefenden kleinen Mann: »Laß ihn nur, er wird schon noch öfter naß werden.« Und wandte sich wieder ihren Läusen zu.
Ich schrieb an Ganna, daß ich vorerst nichts mehr mit ihr zu schaffen haben wolle. In allen geschäftlichen und häuslichen Angelegenheiten möge sie sich an Hornschuch wenden. Fünf Zeilen. Aber warum bloß »vorerst«? War das nicht schon ein halbes Zurücknehmen und Zurückweichen? Und mußte Ganna, mit ihrer untrüglichen Witterung für meine Schwäche, daraus nicht Mut zu neuem Vollbringen schöpfen? Vorerst! Enträtselt es mir, wenn ihr könnt; ich kann's nicht. Daß ich ein Feind des »Nie, Niemals, Nimmermehr« bin, ich will's nicht leugnen. Vielleicht war es mein Lebensgesetz, untrennbar von einem, der immer das Doppelgesicht der Welt vor sich hat, das Nein und das Ja. Es wirken da geheimnisvolle Beharrlichkeiten, und das Geistige und Geistbestimmte grenzt so eng ans Verräterische wie der Gedanke an das Nicht-Tun.
Ganna erkannte den Bruch nicht an. Ihre Briefe waren eitel Honig. Da ich nicht antwortete, verfaßte sie eine weitläufige Verteidigung ihres literarischen Produkts und ließ sie mir zusammen mit Gutachten namhafter Kritiker durch Dr. Mattern zuschicken. Da ich mich noch immer nicht rührte, beauftragte sie andere Mittelspersonen, ihre Sache bei mir zu verfechten. Ich sagte den Leuten, wenn man Unrat gefressen habe, müsse man sich erst von der Verdauungsstörung kurieren. Eine Weile hüllte sich Ganna in Schweigen, das nur allzubald mit Geldforderungen endete. Ihre Bezüge seien zu gering zur Aufrechterhaltung des Budgets. Für Erziehung und Bekleidung der beiden Töchter verausgabe sie das Mehrfache von dem, was ihr im Notariatsakt zugestanden worden sei. Die »Imprévus« tauchten wieder auf. Beträchtliche »Rückstände« seien angewachsen; sie habe den Dr. Mattern beauftragt, mir die »Belege« für diese »Rückstände« zu senden. Ein Teil der Rückstände stamme noch aus der Zeit vor der Scheidung, somit sei sie durch die Scheidung nicht voll befriedigt worden.
Ich ließ ihr mitteilen, weshalb Siegel und Verbriefung, die für mich eisern galten, für sie nicht und zu keiner Zeit gelten sollten. Ich wies die Forderungen ab, aber das beständige frische Getobe machte mich krank, ich wollte Ruhe haben, endlich Ruhe vor ihr. Die Ärzte hatten mir einen längeren Aufenthalt in Marakesch angeraten, ich hatte dies den Kindern geschrieben, Ganna bat flehentlich um eine Begegnung vor der Abreise, ich ließ mich erweichen, ich ließ mich breitschlagen, ich willigte ein. Bei einem Male blieb es nicht, es kam zu mehreren Zusammenkünften, Ganna, sorgenzerwühlt, bestürmte mich um Geld, das Wirtschaftsbuch erschien, die numerierten Rechnungen wurden vorgewiesen, die »Belege« marschierten auf, ich hätte sagen können: Was geht mich das alles an, ich hab' die Zeche längst bezahlt und überzahlt und zahle jeden Monatsersten aufs neue, adieu. Aber ich wollte Ruhe haben, ich wollte im Rücken kein Geschrei mehr hören, ich hatte in diesem Jahr unerwartete Erfolge gehabt, ich war im Begriff, eine teure Reise anzutreten, und obwohl ich die Absicht gehabt hatte, etwas für Notzeiten zurückzulegen, dachte ich mir: Hol's der Teufel, und erklärte mich bereit, ihr zehntausend Schilling zu schenken, von denen ich ihr vier Fünftel gleich gab. Ein paar Wochen danach veröffentlichte eine Zeitung, in deren Redaktion einer ihrer Vertrauten saß, ein Interview mit ihr, worin zu lesen war, sie müsse mit ihrem geschiedenen Gatten um die Bezüge für ihr jüngstes Kind kämpfen. Stand da zu lesen, schwarz auf weiß. Offenbar hatte sie sich gegen irgendeinen unverantwortlichen Burschen in Raserei geredet, und als sie sah, daß ihr Wortschaum zu Druckerschwärze gefroren war, bekam sie es mit der Angst und feuerte eine Kabeldepesche an mich ab, worin sie, zählt selbst, zum wievielten Mal, ihre Unschuld an der Publikation mit einem himmelhohen Eid beschwor. Ich blieb ganz gleichmütig, aber angesichts dieser Lüge verweigerte ich ihr nun das letzte Fünftel der versprochenen Summe. Mittlerweile hatte sie beliebt zu vergessen, daß ich ihr ein Geschenk gemacht hatte, und forderte den Rest wie eine Schuld ein. Sie hatte nämlich das Geld bereits an eine dritte Person zediert und drohte mir neuerdings mit einem Prozeß. Da sie ohne jedes Anrecht einen so bedeutenden Betrag von mir erhalten hatte, sah sie in meiner Gefügigkeit den Beweis für ihr Anrecht, vor allem beseitigte es in ihr jeden Zweifel an meinem rockefellerhaften Reichtum, an dessen Mitgenuß sie die Unfähigkeit und Schurkenhaftigkeit ihrer Advokaten verhindert hatte. Der Notariatsakt bildete den Gegenstand ihres unaufhörlichen Studiums. Sie trug ihn tagsüber mit sich herum, des Nachts lag er auf dem Tisch neben ihrem Bett. Sie kannte den Wortlaut auswendig, trotzdem vertiefte sie sich darein wie ein frommer Jude in den Talmud. Sie suchte nach einem angreifbaren Punkt. Sie fand ihn alsbald in der Klausel, die die Monatsrente betraf. Ihre Vertreter hatten vor der Scheidung darauf bestanden, daß sie mit einem Drittel an meinen Einkünften beteiligt werden sollte. Dies hatte ich aber mit aller Entschiedenheit abgelehnt, ich kannte ja Ganna und sah voraus, daß eine solche Bestimmung ihr die Möglichkeit zu unablässigen Schnüffeleien und Forderungen nach Rechnungsablegung verschafft hätte. Daraufhin hatte man sich auf eine lebenslängliche Apanage in gleichbleibender Höhe geeinigt, die als Gleichwert für das Drittel bezeichnet wurde.
Und hier hakte sie ihre Unzufriedenheit und ihren Rekurs ein. Sie behauptete wie gewöhnlich, sie sei hintergangen worden. Sie erklärte die Bestimmung für hinfällig und rechtsungültig. Sie forderte das wirkliche Drittel meines Einkommens. Als ihr bemerklich gemacht wurde, mit ihrem Gesicherten fahre sie besser, es könnten Jahre kommen, in denen sie mit dem Drittel das Nachsehen habe, lachte sie ungläubig. Sie konnte ja auch lachen; sie hatte zu allem übrigen noch das Pfandrecht. Brachen die schlechten Zeiten über mich herein, so konnte sie einfach wieder die feste Rente verlangen und, wenn sie die nicht bekam, sich an das Bucheggergut halten. Vorläufig erschien ihr die Beteiligung mit dem Drittel nicht bloß lukrativer, sie konnte sich auch durch die Überprüfung und Überwachung meiner Geldverhältnisse Eintritt in mein Leben erzwingen und sich darin als diktierende Macht befestigen. In dieser Absicht errichtete sie ein weitverästeltes Spionagesystem. Sie unterrichtete sich über meinen Verbrauch, über meine und Bettinas Lebensgewohnheiten, sie wußte jederzeit, wieviel Dienstleute ich beschäftigte, wieviel Gäste ich beherbergte, sie führte Buch über die Zahl meiner Auflagen und die Erträgnisse der Übersetzung in fremde Sprachen, und auf Grund dieses Materials erhob sie ihre dringend formulierten Ansprüche, bei denen sie sich auf die Moral, die Menschlichkeit und die Gerechtigkeit berief. Da ich mich auf keinerlei Verhandlungen einließ, begann wieder der Zustrom von Satzschriften und Advokatenbriefen. Vermutlich war es der Hausumbau, der sie wieder in schwere Bedrängnis gestürzt hatte. Aber um dieser vorzubeugen, hatte sie doch Hypothek auf Hypothek aufgenommen. Die Sache wurde immer dunkler und wüster. Meine einzige Sorge war Doris. Sie war jetzt vierzehn Jahre alt, das für sie ausgesetzte Unterhaltsgeld ging zum großen Teil bei Gannas hoffnungsloser Bemühung, ihre Schulden zu tilgen, mit drauf, und so willigte ich ein, den Erziehungsbeitrag für das Kind um eine bedeutende Summe zu erhöhen, behielt mir jedoch vor, die Vergünstigung zu widerrufen, wenn ein Rechtsanspruch aus ihr gefolgert werden sollte. Der Vorbehalt erboste Ganna. Sie sah einen Mißtrauensbeweis darin. Die Abmachung wurde im März getroffen. Im März hatte ich die erste Zahlung geleistet. Im Oktober fand Ganna, daß ihr auch die Quote für das erste Viertel des Jahres zustehe. Eine Lawine von Briefen. Zwei neue Advokaten erschienen auf der Bildfläche. Bei Hornschuch wuchs der Akt Herzog contra Herzog langsam zu einem Turm. Er schüttelte ratlos den Kopf. Ratlos kam er zu mir, ratlos stand er vor Bettina und sagte: »Kannitverstan.«
Wie ging es nur zu: Ich bemerkte nicht, daß Bettina den Mut verlor, die Hoffnung und, was das Ärgste war, das Vertrauen. Bemerkte nicht, daß sie sich unter Schmerzen von mir abwandte; sich einsam fühlte, enttäuscht, verraten wie noch nie. Bemerkte nicht, daß das Haus sie nicht mehr freute, die Landschaft nicht mehr zu ihr sprach, die Blumen ihr unter der Hand welkten, die schönen Dinge abstarben. Bemerkte nicht, daß sie fror, daß ihre Fingernägel meistens blau vor Kälte waren. Mit weitblickender Achtsamkeit widmete sie sich der Erziehung des kleinen Helmut, wobei ihr Augenmerk vornehmlich darauf gerichtet war, ihm keinen Überschwang zu zeigen, sich vor jeder Gefühlsdarbietung zu hüten, aber daß ich selbst es war, der ihr hierin als abschreckendes Beispiel vorschwebte, bemerkte ich nicht.
War es Ganna gelungen, jetzt schon gelungen, auch dieses zarte und starke Band zu sprengen? Bettina ist kein Frau, die leicht weint. Sie lebt nicht nach dem Wort von Kierkegaard, daß es eine Unehre für den Christenmenschen sei, ohne Tränen zu bleiben. Alles spielt sich in der Tiefe ab und hinter einem lächelnden Gesicht. Sie gleicht der Gänsemagd im Märchen, die vom Königssohn verlangt, daß er sich im Ofen versteckt, ehe sie ihr Leid klagt. Und ich zweifle, ob sie sich im Ofen drin dazu entschlösse. Sie machte mir sonach das Nichtbemerken bequem. Ich erinnere mich, daß ich einmal beinahe aufgewacht wäre; in einem Brief deutete sie mir ganz schüchtern, ganz verhohlen an, es schwirrten ihr oft verwegene Gedanken von Selbständigkeit durch den Kopf, und wenn sie an die Freiheit denke, die sie als junges Mädchen genossen, möchte sie am liebsten alles stehen und liegen lassen, um in die Welt hinaus zu flüchten, einzig auf sich gestellt. Wohl stutzte ich bei dem Geständnis, aber in meiner Dickhäutigkeit hörte ich daran vorbei. Ich kannte sie zuwenig. Nie hätte sie es über sich gebracht, mir zu sagen: Laß uns ein Ende machen, gehn wir auseinander. Weit entfernt, wie die Mehrzahl der Frauen an ihre Unersetzlichkeit zu glauben, ist ihr doch gerade damals bewußt gewesen, daß ich ihre Flucht und Lossage nicht verwunden, nicht einmal verstanden hätte. Selten hat ein Mensch einen andern mit so viel Großmut in Empfindung und Urteil bedacht, wie sie diese mir gegenüber übte. Daß ich sie brauchte, nahm sie an. Nun, sie ließ sich brauchen. Brauchen und verbrauchen. Ich brauchte und verbrauchte ja alles im Leben, alles, was mich schützte, bestätigte und mir Ruhe schuf. So auch sie. Ich weiß, daß sie sich von mir geliebt fühlte. Diese Liebe, sie war ihr nur allzu vertraut, sie wußte, es war ein ganzer Block von Liebe, ein Gebirge von Liebe, aber weglos, unbehauen, unzugänglich, seltsam monströs. Man mußte sich ihrer bemächtigen; man mußte lernen, sie zu pflegen, zu deuten, bisweilen sogar sie zu finden. Aber hatte sie ihrerseits aufgehört, mich zu lieben? Manchmal legte ich mir die Frage vor, wie ein Hypochonder in eingebildeten Qualen sich den Tod ausmalt. Denn daß Bettina ohne Achtung keine Liebe zu vergeben hat, darüber war ich nicht im ungewissen. Die frühe Bewunderung, die ihrem Vater galt, hat ihr Verhältnis zu den Menschen und ihr Leben als Weib bestimmt. Da ihre subtile Sinnlichkeit nur auf einen Phantasiereiz antwortet, kann sie liebend nur in einer gehobenen Seelenregion existieren. Und nicht liebend kann sie überhaupt nicht existieren. Ich hätte also auch wissen müssen, warum sie fremd in ihrem Heim herumging. Sie verrichtete ihre Hausfrauengeschäfte, sie sorgte für Ordnung und Stille, sie bemühte sich um Ferry, Elisabeth und Doris, wenn sie bei mir im Hause waren, sie freute sich an ihren Töchtern, wenn sie in den Ferien kamen, aber das alles geschah wie außerhalb von ihr. Jetzt begreife ich es. Ein Mensch, der seine Pflicht tut, bis zur höchsten Erfüllung immer nur seine Pflicht, mag Vorbild und Ruhm der andern sein, er selber wird sich zur Last und Plage, in den Stunden der Einsamkeit brechen die künstlichen Stützen, und ein Meer von Trauer schlägt über ihm zusammen.
Ich verstehe jetzt auch ihr immer stärker hervortretendes Bedürfnis, dem Hause fern zu sein. Sie wollte sich sammeln, wollte sich zurückgewinnen. Sie wanderte allein auf die Berge; sie fuhr bisweilen nach Wien, um sich bei ihrer Freundin Lotte Waldbauer zu verbergen, dann wieder für ein paar Tage nach Salzburg zu ihrem alten Kompositionslehrer. Sie hatte die Schnelligkeit und Abgesondertheit im Auto gern; oft entschloß sie sich nach einer schlaflosen Nacht zu einer Fahrt und legte einen Zettel auf meinen Schreibtisch. Dann fehlte sie mir, ungefähr wie einem der Hut fehlt, wenn ihn der Sturmwind vom Kopf geblasen hat. Sie ging, sie kehrte zurück, sah »nach dem Rechten«, wie sie es spöttisch nannte, verschwand abermals, plötzlich packte sie draußen die Sehnsucht nach dem Caspar Hauserchen, und wenn sie es dann in Armen hielt, hätte sie es vielleicht weit mit sich fortgenommen, wenn es möglich gewesen wäre. Es war kein Frieden mehr in ihr, sie fühlte sich nicht mehr in der Gnade des Schicksals, sie fühlte sich heimatlos. Ja, sie fehlte mir wie der fortgeblasene Hut. Es ist eine erstaunliche Unwissenheit in den Männern, die sie glauben läßt, man besitze eine Frau, wenn man sie besitzt. Sogar die beseeltesten unter ihnen verfallen dem stumpfsinnigen Irrtum des Körpers. Sogar die geistigsten sind noch Tiere, die den Stall und die Höhle für tabu halten.
Ich habe keine andere Entschuldigung, als daß ich krampfhaft dorthin blicken, dorthin hören mußte, wo die Verfolgerin ihren hexischen Zauber braute. Es war nun so weit, daß mir das Herz bis in die Schläfen hinauf schlug, wenn die Post einen Brief von ihr brachte. Die Vorstellung, sie sehen zu müssen, war mir ein Alb, aber es geschah das Unfaßliche, daß ich bei meinen Aufenthalten in der Stadt zu ihr ging, um zu verhindern, daß sie zu mir kam. Ich lernte die schrecklichste Art des Schlafes kennen, die es gibt, daliegen wie geschändet, mit aufgeschlitzter Brust daliegen, weil man unter der beispiellosen Bosheit des Geschicks bis zur Unerträglichkeit leidet. Und dabei schlafen. Und im Schlaf sich auseinandersetzen mit diesem Geschick. Sich wehren, sich rechtfertigen, nichts erreichen, ins Leere reden, die Kehle verquollen von Bitte und Klage, von Wut und zornigem Staunen, und aufwachen mit zertrümmertem Schädel. Bei der Arbeit saß ich wie ein Mensch, auf den links und rechts ein geladener Revolver gerichtet ist. Wenn ich das Haus verlassen mußte, hatte ich Angst um den Buben. Eine unerforschliche Angst, die Angst vor den Ganna-Dämonen. Ich ging umher und wartete, was sie noch erfinden, wo der nächste Brand aufflammen würde. Jahre dauerte dies nun, und es war kein Absehen. Ich wünschte glühend, die Jahre zurückdrehen zu können, bewirken zu können, daß ich ihr nie begegnet wäre. Welche Befugnis hatte sie, in meinem Leben so zu wüten, von wem den Auftrag? Was für ein Geschöpf war sie, daß sie sich aller menschlichen Übereinkünfte ungestraft entschlagen durfte, um durch eine Welt zu rasen, die sie als ihre Beute betrachtete, eine Wahnwelt mit Wahnverträgen und Wahnschlachten?
Aber mit alledem habe ich ein wenig vorgegriffen.
Durch die tückische Logik, die oft den Ereignissen innewohnt, geschah es in dieser Zeit, daß die Steuerbehörde entdeckte, Ganna habe seit ihrer Scheidung die Rentensteuer zu entrichten verabsäumt, und sie zu schleuniger Nachzahlung aufforderte. Es handelte sich um einen außerordentlich hohen Betrag; er erhöhte sich durch das Strafmandat fast um das Doppelte. Ganna erhob Einspruch, aber gegen die Entschlossenheit des Staates, seine Bürger zu brandschatzen, gibt es keinen Einspruch. Alles, was sie erreichte, war Stundung. Sie lief zu mehreren Advokaten, doch die konnten ihr auch nicht helfen. Sie griffen zu den üblichen Mitteln, den Termin noch weiter hinauszuschieben, wodurch wieder Kosten und Zinsen anschwollen. Hätte sie das Geld noch besessen, das sie nach den Bestimmungen des Scheidungsvertrags als Notfundus hätte anlegen sollen, so wäre ihr nichts Schlimmes passiert, sie hätte es eben drangeben müssen. Aber davon war längst kein Groschen mehr da. Das Haus konnte sie auch nicht stärker belasten, die Hypothekarzinsen verschlangen ohnehin schon einen Teil ihrer Rente, und ihre sonstigen Schulden wuchsen von Monat zu Monat.
In dieser Not wandte sie sich natürlich an mich. Wir hatten eine Zusammenkunft, bei der sie mich beweglich bat, die Steuerschuld zu übernehmen. Sie behauptete, einer ihrer Advokaten habe dies als den einzigen Weg bezeichnet, wie man die eingeforderte Summe auf einen geringfügigen Bruchteil herabmindern könne. In ähnlichem Sinn hatte sie mir bereits vorher geschrieben, ich hatte mich bei Hornschuch erkundigt, dieser schien gesetzwidrige Machenschaften zu fürchten und riet mir ab, mich in die advokatischen Labyrinthe locken zu lassen. Doch wenn es auch gefahrlos gewesen wäre, hätte ich Ganna doch nicht aus der Klemme ziehen können; ich sagte ihr, meine Verhältnisse hätten sich in letzter Zeit dermaßen verschlechtert, daß es mir schon schwerfalle, die bisherigen Verbindlichkeiten zu erfüllen. Sie stieß eine verächtliche Lache aus, nicht anders, als wenn ich mich geweigert hätte, ihr das Mittagessen in einem Gasthaus zu bezahlen. Da warf ich die unvorsichtige Bemerkung hin, vielleicht könne man an eine Hilfeleistung denken, wenn sie das Pfandrecht auf das Bucheggergut aufhebe; ich sei dann in der Lage, den Besitz belehnen zu lassen. Dies hören, mich mit lodernden Augen anstarren und in einen Schreikrampf ausbrechen war für Ganna eins. Sie gebärdete sich, als sei das Pfandrecht ihr teuerstes, am zärtlichsten geliebtes Kind und ich wolle es ihr stehlen. In ihrem hysterischen Koller vernahm ich immer nur das eine artikulierte Wort: Erpressung. Mein Vorschlag bedeutete eine Erpressung. Auf alles sei sie gefaßt gewesen, darauf nicht. Daß ich ihr zumute, auf ihre wichtigste Handhabe zu verzichten, zeige ihr, wessen sie sich von mir zu versehen habe. Ich war einfältig genug, mich zu verteidigen. Sie habe ja neben dem Pfandrecht noch den Notariatsakt, sagte ich und zitierte den Ausspruch eines juristischen Freundes, der einmal geäußert hatte: Ein Notariatsakt ist ein Rasiermesser, du brauchst dich bloß zu rühren und fängst schon an zu bluten. Gewiß, replizierte sie mit mühsam verhehltem Triumph, das Pfandrecht sei aber ein Bestandteil des Notariatsakts, es anzutasten sei ein Attentat. Und wie sie so schäumte und mich der Erpressung zieh, sie mich, nahm ich meinen Hut und ging fort.
Es vergingen mehrere Wochen, in denen sie sich erbärmlich abzappelte. Die Schraube der Steuerbehörde benahm ihr den Atem; Durch kleine Teilzahlungen erwirkte sie immer neue Fristen. Um ihre übrigen Gläubiger zu beschwichtigen, hatte sie das System der Schiebeschuld gewählt. Sie zahlte den einen aus und verpflichtete sich einem zweiten, dritten, vierten zu noch drückenderen Bedingungen. Sie begann für Monate hinaus ihre Rente und den Mietzins, den sie vom Haus bezog, zu verpfänden. Die Advokaten, die sie in ihren Dienst gestellt hatte und die für sie zu den Ämtern liefen und Eingaben machten (es waren um diese Zeit bereits drei oder vier), wollten auch nicht umsonst roboten. Sie vertröstete sie und unterschrieb Schuldscheine. Ich fragte mich und fragte andere, wie das möglich sei; Schuldscheine sind doch kein bares Geld, man kann doch nicht endlos mit ihnen wirtschaften. Bis mich ein Eingeweihter aufklärte und mir sagte: Mit einem Notariatsakt kann einer jahrelang von Anleihe zu Anleihe voltigieren, da der eine Borger ja nichts vom andern zu wissen braucht und, was den speziellen Fall angeht, jeder die Firma Alexander Herzog für ein blühendes Geschäft hält. Aha, dachte ich, ein Notariatsakt ist offenbar nicht nur ein Rasiermesser, sondern auch ein Geldscheißer; gut, daß ich's weiß; was für treffliche Eigenschaften wird er noch außerdem entfalten?
Obgleich es ein elendes, ein schundiges Leben war, das Ganna auf diese Weise lebte, belagert von Forderern, eingeschnürt von Schuldverschreibungen, bedrängt von der Steuerbehörde, hätte sie alle diese Kalamitäten, da sie längst an sie gewöhnt, ja gleichsam ihnen angepaßt war, fatalistisch auf sich genommen, wäre nicht die ernstliche Bedrohung ihres Hausbesitzes gewesen. Wenn es zur Zwangsversteigerung kam, war sie verloren. Wenigstens sagte sie sich das immer wieder vor, und ein zähneklappernder Schrecken packte sie bei dem Gedanken. Ich habe Gelegenheit gehabt, zu beobachten und mehr noch zu erahnen, wie sich das Verhältnis zu den Sachwerten in ihrem Innern allmählich ausgestaltete. Das Haus, das ihr zu eigen war, einerseits und das Pfandrecht auf das Bucheggergut andererseits erzeugten jenes rabiate Besitzgefühl in ihr, von dem geschwellt sie mit unbeirrbarer Zuversicht über die bewegten Wogen ihres Lebens steuerte. So lange sie diese beiden fest in Händen hatte, dünkte sie sich gegen Sturm und Untergang gefeit. Das Haus, das sie bewohnte, und das Gut, das Bettina innehatte (was mich betrifft, so war ich ja in ihren Augen ein da- und dorthin versetzbares Objekt), verhielten sich zueinander wie ein bereits gehobener Schatz zu einem vorläufig nur geträumten, von dem man aber weiß, wo er liegt, und den in Sicherheit zu bringen nur noch die richtige Beschwörungsformel fehlt. Eine unsägliche Seligkeit konnte sich ihrer bemächtigen, wenn sie sich in ihrer kühn spielenden Phantasie ausmalte, daß sie eines Tages die märchenhafte Villa am See beziehen und Zeugin sein würde, wie die räuberische Nebenbuhlerin sich mit ihren Koffern durch eine Hintertür aus dem Staub machte.
Indessen vermehrten sich ihre Drangsale tagtäglich. Nachdem die Herren Doktoren Sperling, Wachtel, Greif und Tauber an der harten steuerlichen Nuß ihre juristischen Zähne probiert hatten, ohne zu einem nennenswerten Ergebnis zu gelangen, wurde der fünfte, den Ganna zu Rate zog, ein Herr Dr. Storch, von einem Genieblitz erleuchtet. Er sagte nämlich im Verlauf einer ausgedehnten Konferenz zu ihr, wenn sie noch in rechtsgültiger Ehe mit mir lebte, wäre die Behörde nicht befugt, von ihr eine Rentensteuer zu fordern. Ganna stimmte leidvoll zu. Es bedurfte keines gelehrten Kommentars, um ihr diese traurige Tatsache in Erinnerung zu bringen. Der Anwalt verband aber mit seiner Bemerkung einen gewissen Hintersinn. Er habe den Fall noch einmal sorgfältig erwogen, äußert er, und beim Studium der Akten sei ihm ein kleiner Formfehler aufgestoßen. Ein Formfehler? Es schwindelt Ganna ordentlich vor Erregung; sie fragt stammelnd, was der Anwalt, der sich vor ihren Augen plötzlich in einen himmlischen Cherub verwandelt, mit seiner geheimnisvollen Andeutung meine. Er setzt es ihr lächelnd auseinander. Allem Anschein nach habe man, wohl in der Eile der Amtshandlungen, vergessen, meine deutsche Staatsbürgerschaft zu berücksichtigen. Die Hand an die Brust pressend, erkundigt sich Ganna atemlos, welche Folgerung sich daraus ziehen lassen. Man könne allenfalls die Scheidung anfechten, erwidert Herr Dr. Storch. Bei diesen Worten erschrickt Ganna denn doch, zwar wollüstig, aber sie erschrickt. Sie gibt dem Cherub zu bedenken, daß ich ja mittlerweile eine neue Ehe geschlossen hätte. Worauf der Cherub sagt, das ändere am Sachverhalt nichts. Worauf Ganna, in demselben wollüstigen Schrecken, aufschreit, das wäre ja dann, um Gottes willen, Bigamie. Worauf der Cherub, ihren Überschwang dämpfend, sie ermahnt, mit solchen Bezeichnungen vorsichtig zu sein. Einstweilen erblicke er in dem interessanten Tatbestand nur ein Mittel, einen gewissen Druck auf die Steuerbehörde auszuüben.
Es hatte mit dem Fund des Herrn Dr. Storch insofern seine Richtigkeit, als meine Scheidung von Ganna nur vor einem österreichischen, nicht aber vor einem deutschen Gericht vollzogen worden war. Da ich seit Jahrzehnten in Österreich lebte, wurde die Scheidung nach österreichischem Recht zunächst als vollgültig erachtet. Allerdings hatte Hornschuch vorausgesehen, daß eines Tages Schwierigkeiten entstehen könnten, und darauf gedrungen, daß Ganna einen Brief zu den Akten legte, in welchem sie sich bereit erklärte, zu jeder Frist, sobald es von ihr verlangt würde, auch die deutsche Scheidung durchführen zu lassen. Aber dies hatte sie längst verschwitzt. Als man später ihrem Gedächtnis nachhalf, berief sie sich auf die Zwangslage, in der sie gewesen sein wollte.
Um jedoch in der Reihe der Geschehnisse zu bleiben: Von der Unterredung mit Herrn Dr. Storch ging Ganna mit hochklopfendem Herzen nach Hause. Das Glück machte sie ganz verwirrt. Die behutsame Eröffnung des Advokaten war für sie bereits ein gewonnener Prozeß. Eine juristische Dunkelheit bedeutete Auslöschung eines lästigen Faktums. Ein Formfehler hieß: Die Scheidung hat nicht stattgefunden, und Ganna ist infolgedessen noch die rechtmäßige Frau Herzog. Mit Verträgen, die sie nicht zu halten gedachte, sprang sie um wie mit Dienstboten, die sie hinauswarf, wenn sie ihr widersprachen. Vor allem dachte sie, als liebende Gattin, an die Gefahr, von der ich bedroht war. In freudigem Grauen überlegte sie, daß ich durch meine zweite Eheschließung ein Verbrechen begangen hatte. Als sie die Storchsche Kanzlei verließ, hatte sie nur eine Schwierigkeit für mich gesehen, allerdings eine sehr peinliche, falls ich unerbittlich blieb; als sie die Trambahn bestieg, sah sie mich schon im Zuchthaus. Am Tag zuvor hatte sie erfahren, daß ich im Sanatorium erwartet wurde, das ich zwei- oder dreimal des Jahres wegen meines organischen Leidens aufsuchen mußte. Sie wußte auch, daß Bettina mich begleiten würde. Um so besser, dachte sie, da wird man das Weib endlich aus dem Sattel werfen können. Mich wollte sie zunächst so viel wie möglich schonen. Sie wollte mir die vernichtende Nachricht unter vier Augen und mit größter Delikatesse beibringen. Zwar mußte sie nach allem Vorhergegangenen darauf gefaßt sein, daß ich mich weigern würde, sie zu empfangen oder zu ihr zu kommen, doch vertraute sie in diesem Fall auf die Gewichtigkeit der Kunde, die meiner harrte, ging es ja, wie sie sagte, um meine Ehre und meinen Ruf. Schon hörte sie meine flehentlichen Bitten; schon sah sie Bettina vor sich auf den Knien ...
An dem Morgen, da ihr meine Ankunft von irgendeinem ihrer Leute, die ihr derlei Dienste leisteten, mitgeteilt wurde, ließ sie mich ans Telefon bitten. Es wurde ihr gesagt, der Arzt habe mir telefonische Gespräche verboten; jegliche Verhandlung überhaupt; mein Zustand erheische die äußerste Rücksicht. Dann müsse sie Frau Bettina sprechen, gab Ganna empört zurück; die Angelegenheit, derentwegen sie anrufe, leide keine Stunde Verzögerung, meine Existenz stehe auf dem Spiel. Dies wurde Bettina ausgerichtet. Damals war Bettina gegen Gannas Künste, Diskussionen zu erzwingen, noch nicht so mit Gleichgültigkeit gewappnet wie später. Sie meinte, hinter dem groben Alarm könne möglicherweise doch etwas stecken, und ging widerwillig an den Apparat. Ganna vermochte nur zu stottern. Sie wollte ihren Kriegsplan nicht verraten, andererseits konnte sie ihren Triumph nicht verbergen, dem sie die Farbe der Besorgnis antünchte. Es sei eine katastrophale Wendung in der Steuersache eingetreten, so ungefähr lautete die Botschaft, die sie Bettina ins Ohr trompetete, man müsse gemeinsam beraten; auch Bettina müsse an den Beratungen teilnehmen; selbstverständlich die Anwälte beider Parteien; Aufschub sei gleichbedeutend mit Selbstmord; angestrengt-artig fragte Bettina, ob sie wissen dürfe, worum es sich handle. Da sprudelte es aus Ganna heraus, man sah förmlich ihre aufgerissenen Augen, die Scheidung sei ungültig, meine Ehe mit Bettina bestünde nicht zu Recht, einer ihrer scharfsinnigsten Advokaten, ein hochstehender Mann zudem, habe ihr die grauenhafte Mitteilung gemacht; man müsse sich also schleunigst an den Verhandlungstisch setzen; drei vornehme Menschen; wenn sich drei vornehme Menschen an den Verhandlungstisch setzten, um ein Unglück zu verhüten, sei an einem befriedigenden Resultat nicht zu zweifeln; der nächste Schritt müsse sein, die schwebende Steuerschuld aus der Welt zu schaffen; über das andere werde man sich loyal und freundschaftlich einigen. Bettina, von dem Wortsturzbach betäubt, sagte: »Ja? Wirklich, Frau Ganna? Danke schön, ich werde es Alexander ausrichten.« Und sie wiederholte mir, halb enerviert, halb erheitert, was Ganna in sie hineingeböllert hatte. Ich zuckte die Achseln. Ich hatte keine Ahnung, was das Ganze bedeuten sollte.
Als ihr liebreicher Friedensruf ohne Echo blieb, goß sie ihre sittliche Entrüstung in einen Brief. »Ich bin außer mir«, schrieb sie. Ich vernahm die hohle Stimme und die anklägerische Betonung der letzten zwei Worte mit einer effektverstärkenden Pause zwischen beiden. Wie, sie rühren sich nicht, die Verblendeten, sagte sie sich fassungslos, sie schlagen die Freundeshand zurück? Hat man so etwas je erlebt, freiwillig ins Verderben zu rennen?
Sie will sich nicht vorwerfen lassen, daß sie nicht das Menschenmögliche versucht habe, das Unglück von meinem und Bettinas Haupt abzuwenden. In diesem Sinne verfaßt sie einen zweiten Brief an mich, eine ihrer meisterlich tartüffischen, juristisch-ethischen Episteln. Ich antworte nicht, obgleich der Bote auf Bescheid wartet. Sie beauftragt den Dr. Storch, mir eine briefliche Rechtsbelehrung zu erteilen. Ich werfe den Brief in den Papierkorb. Unmittelbar darauf verzankt sie sich mit dem Ex-Cherub, den Grund kann ich nicht angeben, und vermählt sich im Geiste mit einem Herrn Dr. Kranich, der mich abermals mit einer Satzschrift überfällt, worin die Steuerangelegenheit und die Scheidungsangelegenheit schlau miteinander verquickt sind. Da Herr Kranich ein ehemaliges Parlamentsmitglied ist, wie sie mir durch einen Mittelsmann sagen läßt, erhofft sie von dieser kaltgewordenen Würde einen besonderen Eindruck auf mich. Ich antworte nicht.
Sie begibt sich ins Sanatorium. Sie wird nicht vorgelassen. Sie schreit mit dem Portier, sie beschimpft die Hausdame, sie beschwert sich beim Chefarzt. Sie wird trotzdem nicht zu mir gelassen. Nun meint sie alles getan zu haben, um das drohende Verhängnis von mir abzuwenden. Ein siebenter Anwalt, Dr. Schwalbe, kein Mensch kann ergründen, warum wieder ein neuer, verständigt Hornschuch von der bevorstehenden Klage auf Ungültigkeit der Scheidung. Hornschuchs augenscheinlicher Gleichmut erregt Gannas Wut. Sie wittert etwas Gefährliches dahinter, der Mann ist ihr im Wege, ihn muß sie vor allem erledigen. Sie verfaßt eine Schrift von zweiundzwanzig Großfolioseiten gegen ihn und reicht sie bei der Advokatenkammer ein. Sie beschuldigt ihn darin der Pflichtverletzung und des eigenmächtigen Handelns; um sie zur Scheidung zu zwingen, habe er ohne meinen Auftrag und mein Wissen die Sperre ihrer Bezüge angeordnet. Schon wieder Erpressung, halloh, halloh, wer dort? Hier Erpressung? Nein, dort Erpressung. Hornschuch ist genötigt, sie wegen Ehrenbeleidigung vor Gericht zu ziehen. Bei der Verhandlung werde ich als Zeuge vernommen und kann natürlich nicht umhin, die Beschuldigung als leichtfertig erfunden zu bezeichnen. Meine Aussage macht Eindruck auf den Richter; es übermannt mich; ich gebe ein Bild der unaufhörlichen Verfolgung, die ich von der Frau erleide; im Grunde mache ich mich zum Ritter von der traurigen Gestalt damit. Ganna wird zu einer erheblichen Geldstrafe verurteilt, das ist alles. Da jegliches Geld, das sie ausgibt, von mir kommt, ihr durch meine Arbeit zufließt, bin genaugenommen ich es, der die Strafe zahlt. Nachdem das Urteil verkündet ist, geht Ganna auf mich zu, holt eine Birne aus ihrer Handtasche, reicht sie mir dar, schüchtern wie eine Autogrammbettlerin, und flüstert bedeutsam: »Eine Alexanderbirne ... deine Lieblingsbirne ...« Wie war es doch damals? »Ich schenke dir die Scheidung zum Geburtstag ...« Immer dasselbe Hineinsterben ins Intervall des Wahns.
In ihrem finsteren Zwangstrieb, sie müsse das vermeintliche Komplott Hornschuch-Bettina enthüllen und zerreißen, erhebt sie durch einen achten Anwalt, Dr. Fischlein, Klage gegen Bettina, die in einer Gesellschaft vor Zeugen sie, Ganna, der Lügenhaftigkeit beziehen habe. Auch wieder aus der Luft gegriffen, Geburt eines Haßtraums, Bettina nennt vor andern Leuten niemals Gannas Namen. Aber Ganna schiert sich nicht um Sachverhalte, jetzt ist großes Aufwaschen, die Advokaten sind die Wäscherinnen, es geht alles in einem. Das unsinnige Paar (ich und Bettina) ist nicht zu überzeugen, daß es verloren ist, redet sie sich vor, gut, sie haben es nicht anders gewollt, mein Gewissen ist rein, und läßt endlich, unter dem Beistand eines neunten Anwalts, Dr. Pelikan, die Hauptmine springen: die gerichtliche Anfechtung der Scheidung, womit zugleich meine Ehe mit Bettina angefochten ist. Hornschuch pariert den Streich durch eine sogenannte Feststellungsklage, die bis zum Verwaltungsgerichtshof geht und Ganna in große Unruhe versetzt, denn alles, was sie ihrerseits gegen Bettina und mich unternimmt, erscheint ihr als zulässig und vor Gott und Menschen wohlgefällig, während alles, was gegen sie unternommen wird, frevelhafter Übergriff ist, den sie der Welt mit schrillem Geschrei verkündet. Doch es hilft nichts, ich muß nach Wien reisen, um Vorkehrungen zu treffen und das Gutachten einer juristischen Kapazität einzuholen, daß sowohl Scheidung wie Wiederverheiratung zu Recht bestehen. Es kostet Zeit, es kostet Geld, es kostet Nerven, es kostet Gedanken. Es zermürbt mich. Ich kann von nichts anderm mehr reden. Freunden, denen ich in der Stadt begegne, erzähle ich verwirrt und zusammenhanglos von den Scheusäligkeiten, in denen ich ersticke. Im Hotel sitze ich stundenlang an einem Tisch und lege Patiencen.
Aber warum erlahmt Ganna auf einmal in ihrem Rachezug, will die Klage gegen gewisse »Erfüllungen« zurückziehen, entschuldigt sich mit ihrer mitleidswürdigen Not? Es hat weiter nichts auf sich; es ist das Intervall der Schwäche, das ängstliche Zögern der Pyromanin, bevor sie das brennende Zündholz in den dürren Heuhaufen wirft. Das Graf-von-Gleichen-Idyll taucht in neuer Fassung auf; sie läßt Bettina den Vorschlag machen, sich in mich zu teilen. (Wie bitte, etwa wie sich zwei Katzen in eine Maus teilen?) Ganna soll die rechtmäßige Wiener Frau sein, Bettina dasselbe Amt in Ebenweiler ausüben; die Kompetenzen können scharf gegeneinander abgegrenzt werden. Da das edle Ansinnen auf verständnisloses Schweigen stößt, wendet sie sich an einen Pastor, den man ihr als Menschenfreund gerühmt, und liegt ihm in den Ohren, er möge sie mit mir versöhnen. Gott mag wissen, was sie ihm alles erzählt hat; der geistliche Herr schreibt mir einen reichlich anmaßenden Brief. Ich denke mir, das Wort eines Priesters kannst du nicht überhören; anstatt mich aber mit zehn Zeilen zu begnügen (siehe Stanger-Goldenthal), fülle ich sieben Seiten mit der Schilderung von Gannas Charakter und meiner unerträglichen Situation.
Die Anwandlung von Zaghaftigkeit oder Ermattung oder was es war von sich schüttelnd, nimmt Ganna den Waffengang mit verdoppeltem Schwung wieder auf. Wer ist der am meisten zu fürchtende Feind? Hornschuch. Den wird sie sich also zunächst vornehmen. Sie macht ihm Vorschläge, die ihn verlocken sollen, mit ihr zu unterhandeln. Sie benimmt sich gegen ihn wie gegen ein Raubtier, dem man von Zeit zu Zeit einen Brocken Fleisch hinwirft, damit es einen nicht beißt. Sie haßt ihn aus Herzensgrund, aber das Phänomen »Advokat« flößt ihr in jeder Form und Gestalt solchen Aberglauben ein, daß sie den Kopf verliert und die verkehrtesten Maßnahmen trifft. Sie führt kostspielige Ferngespräche mit ihm. Mitten in ihren sonstigen Geschäften und Verrichtungen kommt ihr plötzlich der Einfall, nach Ebendorf zu fahren, wo Hornschuch jetzt haust, dem Sitz des Bezirksgerichts, sechs Kilometer von Ebenweiler entfernt. Eine kleine Lustreise. Sieben Stunden in der Eisenbahn zu sitzen, allenfalls auch bei Nacht, macht ihr so wenig aus wie einem andern Menschen eine Kartenpartie. Die Frau hat Nerven wie Turmseile. Der Endzweck dieser Expeditionen ist ein dreifacher. Erstens will sie Hornschuch einwickeln und kleinkriegen; sie schmeichelt sich, ihn von der Gerechtigkeit ihrer Sache überzeugen zu können. Zweitens wirkt die Nähe des Bezirksgerichts wie ein Stimulans auf sie; selbstverständlich hat sie auch schon einen ansässigen Advokaten engagiert, den elften oder zwölften, einen politischen Gegner Hornschuchs, durch den sie den Verhaßten zu Fall zu bringen hofft. Drittens hat sie in der Wirtsstube des Hotels, in dem sie wohnt, nützliche Stammtischbekanntschaften gemacht, allerlei Provinzbonzen und kleinstädtische Honoratioren, denen sie schlau um den Bart geht, wobei sie ihre reaktionäre Gesinnung betont und sich ins Parteienwesen mischt. An gemütlichen Bierabenden erzählt sie den vor Neugier platzenden Lauschern larmoyante Geschichten aus ihrem Ehemartyrium oder wie erbarmungslos sie von einer gewissen Dame oben in Ebenweiler verfolgt werde.
Eines Tages zwischen Weihnachten und Neujahr unternahm sie wieder einmal einen Überfall auf Hornschuch. Sie flehte ihn an, er möge mich zur Zahlung jener Zuwendungen für Doris bewegen, die ich seit Monaten nicht mehr an sie selbst geleistet. Daß ich das Geld bei Heller und Pfennig für das Kind verausgabt hatte, hielt sie für ratsam nicht zu erwähnen. Als Hornschuch es ihr in Erinnerung brachte, antwortete sie mit unlogischer Wut, sie sei die Mutter, und wenn man das Geld nicht ihr gebe, betrachte sie es als nicht gegeben. »Ich verstehe«, gab Hornschuch mit dem Lächeln zurück, das Ganna mephistophelisch nannte, »Ihre Tochter ist der lebendige Schuldschein, den Sie dem Vater vorweisen, wenn es Ihnen an den Kragen geht. Blendende Idee.« – »Nein!« schmetterte Ganna, weiß vor Zorn. »Ich verbitte mir nur, daß Frau Bettina bestimmen soll, wieviel meinem Kind von seinem Vater zugesprochen wird. Es ist eine Schmach.« – »Von Frau Bettina ist hier weit und breit nicht die Rede«, bemerkte Hornschuch kühl. Sie schmälte böse vor sich hin, auf einmal wurde sie weich wie ein Schwamm, den man ins Wasser taucht, fing an zu schluchzen und entwarf ihm ein so unglaubliches Bild ihrer Lage, daß ihm, wie er mir gestand, für eine Weile Hören und Sehen vergingen. Er sagte, möglicherweise ließe sich ein Ausgleich mit ihren Gläubigern treffen; zu diesem Behufe müsse sie jedoch ihre Schulden offen bekennen, das ganze Ausmaß, und vor allen Dingen die Advokaten abschaffen. Da kam er aber schön an. Sie wurde fuchsteufelswild. Bedingungen? O nein, so weit sei sie noch lange nicht. Auf ihre Advokaten verzichten? Das fehlte noch. Damit sie den Verfolgungen der Dame Bettina schutzlos preisgegeben sei? Dafür bedanke sie sich. Das werde man nicht erleben. Habe man doch bereits versucht, sie für unzurechnungsfähig erklären zu lassen, die Intrige sei aber, Gott sei Dank, vorbeigelungen. (Sie stieß ein hartes Gelächter aus und sah Hornschuch durchbohrend an wie ein Kriminalist, der einen Mörder beinahe überführt hat.) Wieso vorbeigelungen? fragte Hornschuch teilnahmsvoll. Ja, sie sei sofort zu einem berühmten Psychiater gegangen, und der habe ihr nach zwanzigminütigem Gespräch ein glänzendes Parere ihrer geistigen Gesundheit ausgestellt; wenn Hornschuch es zu sehen wünsche: Bitte! Und schon durchwühlte sie ihre Aktentasche nach dem Dokument, das sie offenbar mit dem Frohlocken erfüllte wie einen kleinen Unterzauberer das Dienstzeugnis des großen Haupt- und Oberzauberers.
Da die Unterredung mit Hornschuch erfolglos verlaufen war, mietete sie einen Schlitten und kam eine halbe Stunde später aufs Bucheggergut. Unser Mädchen wußte, wen es vor sich hatte, und ließ sie nicht ein. Wir saßen gerade beim Tee, Bettina, ich und Doris, die zu den Weihnachtsferien bei uns zu Besuch war. Wir hörten, wie Ganna draußen vor der Tür tobte und schrie. Bettina trommelte mit den Fingern auf dem Tischtuch und sagte leise: »Geh nicht hinaus. Geh nicht hinaus.« Ich ging aber doch hinaus. Ich mußte doch die Frau wegbringen. Ich herrschte sie an. Was sie wolle? Na, was sollte sie wollen? Geld. Sie stöhnte, heulte, röchelte um Geld. Dazwischen Beschimpfungen und Vorwürfe. Ein paar Meter entfernt stand der Schlitten; der Kutscher auf dem Bock schüttelte fortwährend den Kopf, was mir sonderbarerweise einen tiefen Eindruck machte. Im Hausflur standen erschrocken die Dienstleute. Angesteckt von Gannas Gebrüll, fing ich ebenfalls an zu schreien. Niemand in diesem Haus hatte mich je schreien gehört. Es gibt auch nur einen einzigen Menschen auf der Welt, der mich dazu vermocht hat, zu schreien, und das ist Ganna. Ich weiß nicht mehr, wie ich es endlich fertigbrachte, daß sie wieder in den Schlitten stieg. Ich stand an der Treppe und wartete, bis das schellenbehangene Roß mit dem kopfschüttelnden Kutscher in der Dunkelheit verschwunden war. Ins Haus zurückgekehrt, rief ich nach Bettina. Sie hatte sich in ihrem Zimmer eingesperrt. Doris stand vor dem Teetisch und schaute mich mit großen, bangen, mitleidigen Augen an. Ich ging in mein Schlafzimmer und warf mich ins Bett.
Alles dies waren aber nur Vorpostengefechte Gannas. Kurz darauf errechnete sie, daß ich ihr fünfundzwanzigtausend Schilling schuldete. Wie sie zu dieser hübschen runden Summe kam, kann ich nicht sagen. Es hätte ebensogut eine halbe Million sein können. Ärzterechnungen, Schneiderrechnungen, »Rückstände« von Jahren her, »Imprévus« zu Dutzenden, Auslagen für die Kinder, eine Zahlenkolonne wie bei der Ziehung einer Lotterie. Ich glaube, das bloße Aufschreiben bereitete ihr genausoviel Vergnügen, wie wenn sie das Geld einkassiert hätte. Das Gericht in der Kreishauptstadt wies die Klage mangels beweiskräftiger Stützen ab, obgleich zwei neue tüchtige Anwälte sich dafür ins Zeug gelegt hatten. Ohne einen Augenblick über die Uneinbringlichkeit der Schuld und die Frivolität der Klage nachzudenken, sagte sich Ganna: Wenn ich in diesem Land nicht zu meinem Recht komme, so vielleicht dort, wo ich nach meinem Paß und als Alexander Herzogs Ehefrau zu Hause bin. Fuhr spornstreichs nach Berlin, fand willige Advokaten, gleich drei auf einmal, und reichte mit einem großartig stilisierten Schriftsatz die Klage ein. Aber siehe da, aus den fünfundzwanzigtausend waren mittlerweile neununddreißigtausend geworden, infolge Hinzurechnung des Betrags nämlich, den sie der Steuerbehörde schuldete. Ich stellte mit Befriedigung fest, daß die reizvolle Zahlenbesoffenheit Ganna nicht an einer gewissen kaufmännischen Genauigkeit hinderte. Zugleich machte sie in der Reichshauptstadt, allwo sie jetzt eine Art Amtsfiliale errichtete und, wo man ging und stand, die Advokaten mit Händen zu greifen waren, die Klage auf Anfechtung der Scheidung anhängig. In der Tat war sie damit vor die richtige Schmiede gekommen. Die zwischen den Staaten herrschende Unsicherheit in der Ehegesetzgebung ermöglichte ihr dieses unterhaltende juristische Abenteuer; es war eine der vielen Breschen des Rechts, in die findige Advokaten gern ihr Stemmeisen bohren.
Aber sie hatte auch gesellschaftlichen Erfolg in der deutschen Metropole. Sie lernte eine Unzahl Menschen kennen, denen sie ihr Leid klagen konnte. Da über den wahren Sachverhalt niemand unterrichtet war, fand sie überall Glauben und Mitgefühl. Durch die verschwenderische Austeilung der »blutenden Psyche« befestigte sie ihre Stellung als ideale Vertreterin der Gattinnenliebe, die von einem grausamen Gemahl und seiner Betörerin an den Rand des Hungertodes gestoßen war. Sie besuchte fleißig die Caféhäuser, wo Schriftsteller verkehrten und wo sie Reklame für ihr edles Unglück machen konnte. »Sogar die Wucherer weinen, wenn ich ihnen meine Not schildere«, äußerte sie einmal unter dem verständnisvollen Gemecker einer hochliterarischen Tafelrunde. Vielleicht hatte sie so unrecht nicht. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich die Seele des modernen Wucherers im Gegensatz zu dem Versteinerungsprozeß, dem alle andern Seelen unterlegen sind, seit Balzacs und Dickens Zeit humanisiert hat. Die Folge ihres empfindsamen Ausflugs auf den neudeutschen Olymp war jedenfalls, daß ich mit anonymen Briefen voller Schmähungen und unverschämter Ermahnungen, mich zu bessern, bedacht wurde. Dazu Advokatenbriefe ohne Zahl. Sie kamen mir vor wie Stoßpatrouillen vor der Schlacht, die entschlossenen Herren, die gleichsam mit geballter Faust gegen mich anrückten. Einer schrieb klipp und klar, er werde, wenn ich die neununddreißigtausend nicht bis zu einem bezeichneten Termin zahle, meine Bezüge beim Verleger beschlagnahmen lassen. Ich schmiß den Wisch zu den andern zwei- bis dreihundert von derselben Gattung und Herkunft. Ich mußte lachen. Meine Schluderwirtschaft und der gloriose Notariatsakt hatten mich beim Verleger bereits so dick in die Kreide gesetzt, daß für die gewissen winzigen Greifhände längst nichts mehr zu »beschlagnahmen« war. Wunderbares Wort, beschlagnahmen, eigens gemacht für die winzigen Hände. Aber Ganna redete ihren Advokaten ein, ich hätte mittels einer Schiebung Geld ins Ausland verbracht und das Debet beim Verleger sei künstlich fabriziert. Eine Version, die ihr die Möglichkeit verschaffte, auch den Verleger vor Gericht zu zerren. Zu allem übrigen begann sie jetzt mit der Bigamieklage zu fuchteln. Einige Freunde, die davon gehört hatten, beschworen mich brieflich, ich dürfe es dazu nicht kommen lassen. Aber was sollte ich tun? Um Gnade winseln? Zu Gericht laufen und sagen: Schützt mich vor den Advokaten, sie fressen mich auf bei lebendigem Leibe, nehmt den Teufel in Gewahrsam, sonst ist es aus mit mir? – Unsinn. Die Gerichte hätten mich selber in Gewahrsam genommen.
Eines Tages sagte ich zu Hornschuch: »Erklären Sie mir doch, ich frage wie ein Kind, lachen Sie mich nicht aus, aber alle diese Advokaten, es sind doch Männer, besonnene, erfahrene, zweifellos auch honette Männer, kapieren denn diese Leute nicht, was da vorgeht und wozu sie mißbraucht werden?« Hornschuch ließ mich ruhig ausreden. Er betrachtete mich schweigend, mit sardonischem Schmunzeln. Die Art, wie er es vorzog, nicht zu antworten, war ungemein beredt.
Und damals waren es erst siebzehn oder achtzehn Anwälte, die Ganna besoldete oder zum Teil schon verabschiedet hatte oder auch nicht besoldete und nicht zu verabschieden wagte. Heute ist ihre Zahl auf nahezu vierzig gestiegen, genau läßt es sich nicht sagen, da sich die Namen von einigen in dem Wust der Prozeßhandlungen verloren haben. Diese Leute mußten doch alsbald dahinterkommen, daß der Beistand, den sie der Frau leisteten, nur zur Stachelung, nimmermehr zur Stillung ihrer Triebe führte. Was bestimmte sie also, ihren Geist, ihre Kenntnisse, ihre Arbeitskraft einem Menschen zu widmen, der die starren Paragraphen des Gesetzes in krankhafter Verbohrtheit den eigenen Wünschen gefügig machen wollte? Vermutlich sagten sie sich: Den Gewinn werden wir einstreichen, wenn der andere Teil nicht mehr japsen kann und jeden Preis zahlt, um endlich Ruhe zu bekommen. Damit aber war die herrschende Rechtsunsicherheit überhaupt gebrandmarkt, die Zweideutigkeit der Gesetze, der tödliche Schematismus des Vollzugs, die Lebensfremdheit der Richter, der Dornenweg der Instanzen und über alldem, hilflos und tyrannisch, der Staat, ein Kronos, der seine eigenen Kinder fraß.
Es war nichts getan und nichts erklärt, wenn ich und andere versuchten, Gannas Fall klinisch einzuordnen. Eine Armee von dreieinhalb Dutzend Advokaten ist ein Einzelfall. Der Gedanke an eine geheimnisvolle Bindung drängte sich mir immer stärker auf. Es konnte nicht anders sein, als daß Ganna in der Atmosphäre von Unterredung, Erwartung, Beratung, Angriff, List, Spruch und Widerspruch eine erotische Glücksquelle fand, Ersatz für Vertrautheit mit einem andern Wesen, Ersatz auch für die Qual, die Lust wird, wenn man sie diesem andern Wesen bereiten kann, und nicht minder Lust, wenn man wähnt, sie unverdient zu leiden. Der Aufenthalt in den Kanzleien, Geruch von Tinte, Aktenstaub und Löschpapier hatte zweifellos eine sinnliche Wirkung auf sie. Mit jedem neuen Advokaten schloß sie gewissermaßen eine neue Ehe, eine Qualehe. Wenn sie mit einem von ihnen sprach, vor Gericht, in der Kanzlei, bei sich zu Hause, trat eine eigentümliche, süßliche Koketterie an ihr hervor, eine Willfährigkeit und Dankbarkeit, die freilich jeden Augenblick in Zänkerei und ehestandsähnliche Szenen umschlagen konnte. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, den gerade amtierenden Leibadvokaten Tag für Tag in aller Frühe ans Telefon zu zitieren, um ganz bedeutungslose Fragen zu stellen, gänzlich unnütze Anordnungen zu treffen, so, als wolle sie nur seine Stimme hören, als wolle sie sich vergewissern, ob er ihr nicht über Nacht die Treue gebrochen habe. Da wurde dann auch der elektrische Draht zum Lustspender. Telefon und Telegraf waren Apparate der Zauberei, mittels deren sie sich, unseiend und gegenwartslos, wie sie war, in die Zeit und ins Bewußtsein der ihr verhafteten Menschen versetzte, von denen sie sich Zeit und Bewußtsein borgte, um überhaupt existieren zu können. Wie weit ins Nächtige und Chaotische wird man von einer solchen Seele geführt, wenn man ihr in ihre Abgründe folgt!
Eines Tages mußten Bettina und ich nach München fahren, um uns mit einem dortigen Anwalt wegen der Eheanfechtung zu besprechen. Helmut saß, vor unserer Abreise, mit uns am Frühstückstisch. Er beklagte sich ungehalten. »Warum geht ihr denn schon wieder fort?« – Ich erklärte ihm, es sei notwendig. »Aber warum alle zwei, warum nicht du allein?« trotzte er. Bettina strich ihm mit der Hand über den Scheitel und sagte, ich wünschte, daß sie mitgehe. Er dachte lange nach, dann blitzte er die Mutter aus seinen blauen Augen schelmisch an und stieß heraus: »Ich weiß schon warum.« – »Warum glaubst du, Männlein?« fragte ich ihn. Darauf er, voll Stolz: »Wie bei den Tieren.« Bettina und ich schauten einander verdutzt an. »Wie meinst du das, Helmut?« Und er, wieder mit dem Schalk in den Augen: »Sicherheit.«
Er versank eine Weile in Nachdenken, dann: »Nicht wahr, Mutter, wir drei sind die wirkliche Familie, du, Vater und ich, wir gehören zusammen?« – »Ja, Helmutchen, gewiß.« – »War ich dabei, wie ihr euch kennengelernt habt?« – »Nein, mein Süßer.« – »War der liebe Gott dabei?« – »Der allerdings.« – »Hat er gelacht?« – »Weshalb hätte er lachen sollen?« – »Weil er sich auf mich gefreut hat, vielleicht.« Da sprang die Hauskatze, die mit gestrecktem Schweif um den Tisch geschlichen war, auf des Knaben Schoß. Er blickte sie zärtlich an und fragte, um menschliche Überlegenheit zu markieren, mit gicksender Stimme: »Hast du Augen? Hast du wirklich Augen?«
»Er macht es einem schwer, von ihm wegzugehen«, sagte Bettina nachher zu mir.
Schon vor dem ereignisreichen Januartag, von dem ich jetzt erzählen will, hatte ich gespürt, daß etwas Entscheidendes in Bettina vorging. Ich hatte aber nicht den Mut, sie zu fragen. Seit einiger Zeit lebten wir sonderbar stumm nebeneinander her, fast wie zwei Sträflinge, die zu lange in der gleichen Zelle eingesperrt sind. Es war beängstigend, weil es so ganz und gar wider die Art Bettinas war. An dem erwähnten Tag hatte Hornschuch bereits um neun gemeldet, daß Ganna wieder einmal in Ebendorf weile. Sie sei eilends aus Berlin zu einer Verhandlung gekommen, die vor dem Bezirksgericht stattfinden sollte. Streitgegenstand: Die ihr entzogene Zuwendung für Doris, ferner das Monatsgeld für das Kind für die acht Sommerwochen, während welcher Doris bei mir im Hause gelebt hatte. Nach dem Wortlaut des Notariatsakts war ich in diesem Punkt im Unrecht; nach meinem laienhaften Dafürhalten handelte es sich um eine Doppelleistung, beruhend auf dem Kralsprinzip der »Widerlage«, und meine Verhältnisse erlaubten mir diese Widerlagen nicht mehr.
Um ihren Anspruch zu sichern, hatte Ganna vom Gericht eine einstweilige Verfügung erwirkt, kraft deren mein Konto bei der kleinen Bankfiliale in Ebendorf gesperrt wurde. Es war weiter kein Unglück, ich hatte kein Kapital dort liegen, das für den laufenden Monat eingezahlte Geld reichte für eine bemessene Frist, dann mußte man sehen, wie man wieder neuen Vorschuß bekam. Immerhin war es eine unangenehme Maßregel; sie lieferte bösen Mäulern den Stoff zu abträglichem Gerede, und schließlich brauchte man auch einiges Bargeld für den Betrieb des Hauses.
Um neun Uhr hatte uns Hornschuch von diesen Vorgängen verständigt. Dann ging es Schlag auf Schlag wie im fünften Akt eines Revolverdramas. Um neun Uhr zwanzig kommt der Gerichtsbote mit einer Vorladung. Um neun Uhr fünfundvierzig lädt Gannas Ebendorfer Anwalt mich und Bettina telefonisch zu einer »friedlichen« Besprechung ein. Um zehn Uhr zehn Telegramm eines Berliner Advokaten mit der Aufforderung, am soundsovielten bei einer Tagsitzung zu erscheinen. Um halb elf stürmischer Anruf Gannas: Wenn wir die vorgeschlagene »freundschaftliche« Zusammenkunft verweigerten, garantiere sie für nichts und könne das im Zug befindliche Unheil nicht mehr verhüten. Diese bombastische Sprache kennen wir. Abhängen; Schluß. Elf Uhr drei: Expreßbrief eines Wiener Advokaten, des Inhalts, Frau Ganna Herzog habe ihre Februar- und Märzrate an ihn zediert. Elf Uhr fünfzehn: Bote mit einem Brief Gannas, in welchem sie die telefonische Aufforderung wiederholt, aber nun in einer Form und mit Wendungen, daß es Bettina, die plötzlich in den Verschlagenheiten des Gannaschen Stils hängenbleibt, kalt überläuft. An sie war der Brief gerichtet, sie hat ihn zuerst gelesen. Sie versteht zwar, voll Widerwillen, das messerzückende Entweder-Oder in Gannas Epistel, aber die Krallenfinger sind ihr noch nie so nah gekommen. Sie will Klarheit haben und läutet Hornschuch an. Es sind nicht unbedenkliche Umtriebe, teilt ihr dieser mit; Ganna redet unten im Ort, wo immer sie mit ihren Stammtischfreunden zusammentrifft, nicht nur ungescheut von der Bigamie, in der ich angeblich lebe, sondern auch von einem »erschlichenen« Dispens zu meiner Ehe mit Bettina. Unter dem Dispens war die Heiratsgenehmigung gemeint, die mir auf dem Weg eines abgekürzten Verfahrens vom Konsulat erteilt worden war, ein durchaus legaler Vorgang, der aber in Gannas kriminell verseuchtem Gehirn sich so darstellt, als hätten Bettina und ich uns die Bewilligung durch falsche Angaben und gefälschte Papiere verschafft; herrliche Gelegenheit also, den Fangschuß auf uns abzufeuern. Bettina, die an diesem Morgen nicht im vollen Besitz ihrer Seelenkräfte ist, erschrickt vor den möglichen Folgen: Verleumdungsgeraune, Kampf gegen Neid, Scheelsucht und längst glimmenden Haß. Hornschuch sucht sie zu beruhigen. Sie liest ihm einige besonders aufschlußreiche Sätze aus Gannas geschriebener Petarde am Telefon vor. Als sie seine Antwort vernimmt: »Ausgezeichnet; daraus wird man die Konsequenzen ziehen«, ist sie drauf und dran, den Apparat zu zerschlagen. »Nein«, schreit sie fassungslos in die Muschel, »Sie werden keine Konsequenzen ziehen. Sie vergessen, daß die Frau den Namen Herzog trägt.« Pause. Hierauf Hornschuch, gedehnt: »Gut. Ganz wie Sie wünschen.«
Als ich ins blaue Zimmer trete, liegt sie auf dem Sofa, in Decken gehüllt, blaß, erfroren. An nebligen Tagen ist sie nur ein Schatten ihrer selbst, und dieser Tag wäre rabenschwarz, auch wenn keine Wolke am Himmel stünde. Ich blicke stumm zu ihr nieder, auf einmal sagt sie: »Ich habe mich entschlossen, mit Ganna zu reden.« Ich schaue sie an, als sei sie nicht bei Trost. Sie schnellt mit einem Ruck zum Sitzen auf. »Ich werde sie heraufbitten und mit ihr reden«, wiederholt sie mit der hohen Kopfstimme, die an Helmuts hohes Stimmchen erinnert und die sie immer hat, wenn sie am Ende ihrer Selbstbeherrschung ist. – »Warum? Was soll's?« frag' ich. – »Ich habe einen Fehler begangen«, klirrt die hohe Stimme, »ich kann mir den Vorwurf nicht ersparen ... Ich habe mir eingebildet, ich brauche sie nicht zu bemerken ... Ich war faul, ich war schlecht ... Sie muß doch durch ein Menschenwort zu packen sein ... von Frau zu Frau vielleicht ...« Ich starre sie trüb verwundert an. »Versprichst du dir wirklich was davon? Du weißt doch wie ich ... in all den Jahren ...« Sie unterbricht mich ungeduldig. »Ich muß es wenigstens versucht haben. Ich muß mir sagen können, daß ich es versucht habe.«
Sie schreibt ein paar Zeilen und schickt den Gärtner mit dem Brief nach Ebendorf in den Gasthof, wo Ganna logiert. Ein lustvoller Schauder durchfährt Ganna, als sie die Aufforderung liest, aufs Bucheggergut zu kommen. Endlich! Sind sie zur Einsicht gelangt, die Verirrten? Haben sie ihr Unrecht erkannt? Oder ist es nur die Angst? Sie stürzt ans Telefon, um mit Bettina zu sprechen. Sie ist so fürchterlich aufgeregt, daß man sie kaum versteht. Herzlich gern will sie sich zu einer Unterredung einfinden, flötet sie, aber nicht im Hause, nein, um Gottes willen nicht, an einem neutralen Ort, mit tausend Dank, an einem neutralen Ort, und natürlich in Gegenwart ihres Anwalts. Auf keinem Fall mit dem Anwalt, erwidert Bettina mit ruhiger Entschiedenheit, auf gar keinen Fall; wenn Ganna sich gehemmt fühle, das Haus allein zu betreten, werde sie ihr auf der Straße entgegengehen und sie begleiten. Ganna gibt nach. Sie vereinbaren die Zeit. Als Bettina eine Stunde später, es ist mittlerweile dreiviertel eins geworden, Ganna auf der hochbeschneiten Dorfstraße wider die Abmachung in Gesellschaft des Advokaten erblickt, bleibt sie wortlos stehen. In ihrer Haltung liegt eine solche Unnahbarkeit, daß der Herr es vorzieht, sich mit einer Verbeugung zu verabschieden. Nicht ohne eine abgeschmackte Floskel. Da er zu dem Dutzend Advokaten zählt, die mit Gannas Anfechtungsklage befaßt sind, glaubt er sich, den Hut in der Hand, zu einer Entschuldigung bemüßigt: »Ich hoffe, gnädige Frau, Sie nehmen nicht an, daß ich das Glück Ihrer Ehe antasten will.« Worauf Bettina zu einem lästigen Etwas in die Luft hinauf spricht: »Das Glück meiner Ehe bitte ich gefälligst aus dem Spiel zu lassen«, und Ganna durch eine Geste zum Weitergehen auffordert.
Ihres Rechtsbeistandes und damit ihrer Rasanz beraubt, ist Ganna auf einmal ganz kleinlaut. Schweigend stapft sie neben der beschwingt schreitenden Bettina her. Sie trägt ein schwarzes, verknittertes Topfhütchen und eine getigerte Pelzjacke. In der Hand hält sie die dickbauchige Ledertasche, ohne die sie keinen Schritt tut. Es sind alle Akten und Dokumente darin verstaut, deren sie genauso bedarf wie ein Reisender seiner Muster und seiner Preislisten. Jedem halbwegs Bekannten, dem sie irgendwo begegnet, erzählt sie mit wasserfallartiger Geschwätzigkeit vom Stand ihrer Prozesse, zieht den Notariatsakt heraus, ihre Klageschriften, die verschiedenen Rechtsgutachten, die amtlichen Schätzungen des Bucheggerguts, die Trostbriefe ihrer Anhänger und ereifert sich dermaßen, daß sie schließlich nicht mehr weiß, wo sie ist, woher sie kommt, wohin sie geht und mit wem sie spricht.
Bettina, leicht plaudernd, obwohl ihr nichts weniger als leicht zu Sinn ist, streift sie bisweilen mit einem Seitenblick. Seit dreizehn Jahren hat sie Ganna nicht mehr gesehen; seit jener Teestunde, häßlichen Angedenkens. Was liegt nicht alles dazwischen! Ein Leben. Schönes, Hohes, Reines, unsägliche Freuden, das Caspar Hauserchen, wer hätte damals an es gedacht, aber auch Ungutes, Schweres, Bitteres und ein unwiederbringlicher Verlust. Ob die Frau neben ihr etwas davon ahnt? Sicher nicht; sie ist keine Ahnerin, die Frau, sie ist eine Greiferin, solche sind stockblind. Sogar ihr Gang ähnelt dem einer Blinden. Wie armselig sie aussieht. Wenn man ihr nur helfen könnte. Es muß nicht gut sein, so zu sein, wie sie ist. Unnahbar ist so ein Mensch, eisern steckt er in sich selber drin ...
Während sie mit Ganna ins Haus geht, der Erregten aus der Jacke hilft, sie ins Zimmer führt und ihr eine kleine Mahlzeit auftischen läßt, die Ganna heißhungrig und mit dankbaren kleinen Ausrufen hinunterschlingt, betrachtet sie sie immer wieder. Mit dem Helm ihres gelbrot gefärbten Haares, unter dem wie unter einer Perücke graue Strähnen schimmern, sieht sie aus wie ein fremdartiges Götzenbild. Man merkt ihr kaum an, daß sie über Fünfzig ist. Ihre Gestalt ist gedrungen, nur wenig verfettet, ihr Mienenspiel und ihre Bewegungen vibrieren von einer unheimlichen Willenskraft. Der Blick hat durch seine Heftigkeit etwas Erschreckendes. Eine schrankenlose Herrschsucht verkündet sich in ihm.
Allmählich kommt Bettina mit ihr ins Gespräch. Und auf einmal packt sie Gannas Hand, packt die winzige, sommersprossige, uralte Hand wirklich, so, wie sie es vor vielen Jahren gewollt, packt sie und sagt: »Frau! Frau! Was machen Sie denn! Sie schlagen ja alles um sich her in Trümmer! Haben Sie doch Erbarmen mit sich selber!« Da schaut Ganna tief bestürzt zu ihr hinüber, um ihren Mund zuckt es, die Lider zucken, sie weint. Sie nickt pagodenhaft vor sich hin und weint, weint, weint. »Ich muß doch«, stammelt sie, »ich muß doch.« Sie muß! Und wieder denkt Bettina: Eine arme, bettelarme Haut, warum fürchtet man sich denn vor ihr? Sie hat plötzlich so viel Mut und Zuversicht, ihr ist, als könne sie von Ganna alles erreichen, was sie will. Sie wählt die vorsichtigsten Worte, die nicht weh tun können. Sie ist zart, bedächtig, schwesterlich, obgleich sie in ihrem Innern fortwährend mit einem Gefühl des Grauens und einer leisen Übelkeit kämpft; aber dem darf ich nicht nachgeben, sagt sie sich, es geht um alles. Sie sagt sich auch, etwas muß doch noch an ihr sein, in ihr sein, was es erklärt, daß dieser Mann neunzehn Jahre lang mit ihr gelebt hat. Dieses Etwas will sie finden und ausgraben und darauf pochen und zu ihr sprechen: Da ist es, Frau, da ist es, was Sie ihm schulden: Anstand, Würde, Billigkeit, Dank, ja, auch ein wenig Dank, da ist es, nehmen Sie's wahr, halten Sie's fest. Und sie macht Ganna in einer zugleich kindlichen und überlegenen Weise den Hof, wie es eine ältere, erfahrene Freundin tun könnte. Aber da wird Ganna sofort mißtrauisch, und als Bettina von Nachgeben redet, bockt sie mit der gewohnten Formel auf: »Warum soll gerade ich nachgeben? Mein ganzes Leben lang hab' ich nachgegeben.« Und als Bettina von meinen Existenzsorgen spricht, die wie Wetterwolken über ihr und mir hängen, nimmt Ganna diese Mitteilung wie einen schlechten Scherz zur Kenntnis und erwidert mit ihrem schlauen Besserwisserlächeln, sie habe die bestimmtesten Nachrichten, daß ich ein großes Vermögen in ausländischen Banken liegen habe. Bettina schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, sie muß lachen, sie kann nicht anders, da wird Ganna denn doch stutzig und fängt an zu stottern; etwas Undefinierbares in Blick und Miene der jüngeren Frau leuchtet ihr auf als Wahrheit, ganz trüb nur, ganz Verblasen und schon zum Wiedervergessen bereit, denn mit einer so unbequemen Wahrheit kann sie nicht leben. Es ist ja möglich, überlegt sie mit einem rätselhaften Schmollen im Gesicht, wie wenn sie durch die Berührung mit Wahrheit beleidigt worden wäre, möglich, daß auch er nicht auf Rosen gebettet ist, und murmelt ein paar verwundert teilnahmsvolle Phrasen. Doch als ihr Bettina die Schmählichkeit der Scheidungs- und Eheanfechtung vorhält und daß sie sich damit in den Augen aller anständigen Menschen unheilbar geschadet, erbost sie sich: »Was fällt Ihnen ein, Frau Bettina, da sind Sie gewaltig im Irrtum«, und ratscht zwanzig Namen von Freunden und Freundinnen herunter, die auf ihrer Seite stünden und mit ihr durch dick und dünn gingen. Bettina fällt ihr leidenschaftlich ins Wort, strenge Richterin plötzlich, schlank aufgereckt, auf die sittliche Ordnung verweisend, das natürliche Vertrauen, ohne das die gesamte lebende Welt zerbreche. Da erschrickt Ganna, schluchzt erbärmlich und sagt, sie habe nicht anders gekonnt, die Menschen seien so gemein gegen sie, jeder einzelne Tag beginne und ende mit Verzweiflung, niemand habe besseren Willen als sie, liebe das Gute und Edle so wie sie, sie sehne sich so schrecklich nach Verständnis und Ruhe und ein bißchen Behagen und ein bißchen Achtung: Was solle sie denn tun? Ja, wenn sie es so herrlich hätte wie Bettina, das ganze Jahr an der Seite des geliebten Mannes und in einer so wundervollen Einsamkeit; das habe sie aber nie erreicht, obschon sie sich solche Mühe gegeben; was solle sie denn tun? Was verlange denn Bettina von ihr? Abblasen, sagt Bettina, die Waffen nieder! Und sie nimmt die Schluchzende in die Arme, wie schwer es ihr auch fällt, sie spürt die drahtigen Haare, die ungeheuer fremde Haut, den peinlich fremden Geruch, Geruch der Kleider, die im Koffer gelegen sind, Geruch von schlechtem Puder und schlechtem Parfüm, von Eisenbahnfahrt und unaufgeräumtem Gasthauszimmer; sie nimmt sie in die Arme und redet ihr gütig zu: »Mit alledem reiten Sie sich doch nur selber ins Unglück. Alles, was Sie verhindern wollen, geschieht, weil Sie es verhindern wollen. Es zerrinnt Ihnen doch in der Hand, und wenn Sie danach greifen, kehrt es sich gegen Sie, wissen Sie denn das nicht?« Ganna, in Tränen aufgelöst, sagt zerknirscht, ja, sie glaube es selbst, sie sehe es ein und wisse jetzt auch, was ich an Bettina hätte, und sehe, welche Fehler sie begangen habe. Das sagt sie laut und vernehmlich, es ist das erstemal, seit sie denkt und existiert, daß sie zugibt, Fehler begangen zu haben. Bettina horcht hoch auf, sie begreift, was da vor sich geht, sie meint, es sei etwas Wirkliches geschehen, sie läßt sie nicht und läßt sie nicht, sieben Stunden ist sie mit ihr eingeschlossen, von ein Uhr mittags bis acht Uhr abends, dann kommen sie zu einer Art Vereinbarung, die sogleich schriftlich niedergelegt und von beiden unterfertigt wird: Man wird ihr einen Teil der Summen, die sie eingeklagt hat und deren Anforderung nicht gänzlich auf Willkür beruht, ratenweise bezahlen (Bettina bezeichnet diese Summen ausdrücklich); man wird ihr den Zuschuß für Doris wieder ausfolgen; ich werde ihr die Hand zur Versöhnung reichen, und man wird ihr mit Rat und Tat beistehen und aufhören, sie zu meiden. Dagegen verpflichtet sie sich ihrerseits, sämtliche anhängigen Klagen zurückzuziehen, Sperre und gerichtliche Pfändungen aufzuheben und innerhalb kurzer Frist die deutsche Scheidung durchzuführen.
Nachdem dieser Friedenspakt geschlossen ist, ruft mich Bettina ins Zimmer. Ganna geht mit ausgestreckten Händen auf mich zu und sagt jammernd: »Wie schlecht du aussiehst, Alexander, was ist denn mit dir!« Ich überhöre es, schiele aber im Vorbeigehen zerstreut in den Spiegel. »Wir haben inzwischen etwas Ersprießliches zustande gebracht«, teilt mir Bettina mit und weist auf das Blatt Papier mit den Unterschriften, das auf ihrem Schreibtisch liegt. Ich schaue Bettina an, schaue Ganna an, schweige. Da rückt Ganna mit einer Bitte heraus. Sie möchte ein wenig Geld haben. Sie gesteht bekümmert, daß sie nicht einmal ihre Gasthausrechnung bezahlen kann. Bettina schüttelt den Kopf. »Erst müssen Sie tun, was Sie versprochen haben, Frau Ganna«, sagt sie mit einer Bewegung des Kinns gegen das Papier auf dem Schreibtisch. Derweil habe ich, ohne auf ihren durchdringenden Warnerblick zu achten, die Brieftasche herausgezogen und reiche Ganna drei Geldscheine, das volle Drittel der Summe, die sie erst nach Erfüllung der Vertragspunkte als Anzahlung hätte bekommen sollen. Mit einem Ausdruck der Hoffnungslosigkeit wendet sich Bettina ab. Sie hat den blödsinnigen Mißgriff sogleich erfaßt. Ich hätte wissen können: Wenn Ganna Geld in der Hand hat, vergißt sie Abmachung, Unterschrift, Versprechen, Schwur, alles. Bettina hat ja meine Gebärde verstanden, was verstünde sie an mir nicht, dieses: Fort, fort, fort; fort mit dem Geld, fort mit der Frau; aber, so fragt sie sich: Darf man so leichtfertig, so gedankenlos, so sinnvernichtend mit der Nervenkraft und der seelischen Arbeit des andern verfahren?
Ich begleitete Ganna zur Tür. An der Schwelle bleibt sie stehen und schaut mich groß an, voll Vorwurf und Klage. Ich verbeuge mich, nehme ihre Hand und drücke meine Lippen darauf. Bettina kann ihr Erstaunen kaum verbergen. Was tut er da, denkt sie, warum küßt er ihre Hand? Nun, diesmal kapiert sie doch nicht. Es ist wieder das »fort, fort, fort«. Es ist eine fast komödiantische Ehrerbietigkeitserweisung, durch die Ganna für immer zu einer Fremden für mich wird, fremd in diesem Hause, fremd in meiner Welt. Eine Instinkthandlung in Form einer leeren Zeremonie, die nichts anderes bedeutet als den letzten inneren Bruch mit Ganna.
Auf diese ganze turbulente Veranstaltung erfolgte schlechtweg nichts. Sperre und Pfändung wurden nicht aufgehoben. Die Klagen wurden nicht zurückgezogen. Von der deutschen Scheidung war keine Rede. Aber ihr glaubt doch nicht, daß Ganna die geringste Schuld an dem Vertragsbruch hatte? Bewahre. Sie wusch ihre Hände so emsig in Unschuld, daß der Schaum nur so spritzte. Hat sie nicht ihrem Anwalt in Ebendorf »entsprechende Weisungen« erteilt? Hat der Eigenmächtige sich nicht aus »prozeßtechnischen Gründen« geweigert, ihre Aufträge auszuführen? Will man leugnen, daß Hornschuch heimtückischerweise »passiven Widerstand« geleistet hat? Wieso denn Hornschuch? Welchen denn? Das wird nicht gesagt. Behauptung ist identisch mit Beweis. Dann, in einem scholastischen Schriftsatz an Bettina: »Jedermann weiß, daß ich in meinen Handlungen korrekt bis zur Pedanterie bin, somit weise ich den gegen mich erhobenen Vorwurf, ich hätte mich nicht an die Vereinbarungen gehalten, mit Entrüstung zurück, kann es doch keinem Zweifel unterliegen, daß in diesem wie in allen früheren Fällen die Gegenpartei es ist, die sich den Vertragspflichten entzogen hat.« Dixit, Ganna. Und zuletzt, als neueste Sanktion, ein wahrer Purzelbaum des Dünkels: Zur deutschen Scheidung kann sie sich erst nach einem Probejahr entschließen, wenn sie nämlich die Überzeugung gewonnen hat, daß ich es mit meinem Friedenswillen ernst meine. Der Dachs schlüpft aus dem Bau, legt ein Häufchen Unrat und grinst sich eins, wenn die Hunde hinter ihm her bellen.
Bettina aber war es zumute wie jemand, der einen Menschen mit Todesverachtung und unter Aufbietung aller Kräfte aus einem brennenden Haus getragen hat und nachher von ihm angespuckt wird. Sie konnte es nicht verwinden. Es war ein seltsam bettinahafter Zusammenbruch, den sie erlitt, ganz leise, ganz still, doch so schlimm wie eine schwere Krankheit.
Ich notiere: Vierzehn Gerichtsbeschlüsse; zweiundzwanzig Zahlungsbefehle; elf Exekutionsführungen; drei amtliche Schätzungen des Bucheggergutes; vier Ehrenbeleidigungsklagen; zwei Klagen bei der Vormundschaftsbehörde; fünf einstweilige Verfügungen; Pfändung des Autos; Versteigerung meines Schreibtisches; siebenundfünfzig Advokatenbriefe innerhalb von sechs Wochen; Sperre meines Kontos beim Verleger, da ich Ganna die Monatsrate nicht mehr zahlen kann und meine Einnahmen auf einen Pappenstiel zusammengeschrumpft sind; Prozeß Gannas gegen den Verleger; Ganna in Berlin, Ganna in München, Ganna in der Kreisstadt, Ganna in Ebendorf, immer unerwartet da und dort, als ließe sie sich nur mit Flugzeug befördern; immer mit gezücktem Schwert, immer unter Wuchererfäusten verröchelnd; Vermittlungsanträge; Sanierungsvorschläge; Gebrüll, man habe sich mit ihr zu versöhnen, sonst wehe ...
Es bleibt sozusagen kein Stein auf dem andern.
Gannas Schulden bei ihren Advokaten allein belaufen sich auf ein Vermögen. Bedenke ich, daß diese Unsummen dazu dienen sollen, die Söldner zu bezahlen, die in ihrem Auftrag gegen mich Krieg führen, daß das Geld, das ich Monat für Monat mit Müh' und Not zusammenscharre, der Verwüsterin für die Armierungskosten ihrer juristischen Soldateska zufließt, so wird die ganze Welt zu einem gruseligen Possentheater, einem Totentanz unter Mitwirkung von vierzig Rechtsanwaltskanzleien und ihrem gesamten Personal an Schreibern und Schreiberinnen, Konzipienten und Substituten. Als ich mich an Ferry wende und ihm nahelege, seine Mutter zur Vernunft zu bringen, ehe es zu spät ist, fährt er von Mailand, wo er in einer Autofabrik als Ingenieur arbeitet, zu ihr und beschwört sie himmelhoch, von ihrem Wahnsinn abzulassen. Sie tobt. Sie bezichtigt ihn, ihren Sohn, er sei von Bettina bestochen und bezahlt. Als es mir zu Ohren kommt, ist mir zumute, als schüttle mir der Teufel mit Hohngeschrei die lebendige Seele aus dem Leib.
Aber es hat sich auch etwas Wunderbares seitdem ereignet. Von einem gewissen Gesichtspunkt aus betrachtet, war es ein großes Erlebnis für mich. Es begann damit, daß Bettina eines Tages sagte: »Du bist dem Kampf nicht gewachsen. Du gehst dabei vor die Hunde. Schau dich doch an! Von heute ab nehme ich die Sache in die Hand.« Solche Entschließungen waren bei ihr die Folge langer und reiflicher Überlegung. Bei bloßen Worten blieb es dann niemals. Hatte sie einmal einen Vorsatz gefaßt, so führte sie ihn mit unerbittlicher Konsequenz durch. Ihre Willenskraft hat etwas Strahlendes und unbedingt Bezwingendes. Durch und durch tätige Natur, flößt ihr nur die Tat Respekt ein, im Grunde ihrer Seele hat sie was gegen die Träumer, und oft habe ich zu meiner Überraschung bemerkt, daß sie, wenn sie zu träumen schien, in Wirklichkeit dachte, und zwar nicht, was man obenhin so heißt, sondern gründlich, mit philosophischem Ernst und in streng gegliederter Kette. Plötzlich hatte sie das Gefühl übermannt, als ob sie wider ihr besseres Ich in jahrelanger lauer Bequemlichkeit ein Prinzessinnenleben, ein Zuschauerleben geführt habe; dabei wurde ihr siedendheiß vor Scham. Sie wandelte sich sozusagen zwischen zwei Augenblicken. Das war ihre Begnadung, das war von jeher das Wunder an ihr, vor dem ich unbegreifend stand. Wer ausschließlich in der Betrachtung lebt, für den ist der wandelbare Bewegte das Unbegreifliche schlechthin. Auf einmal ließ sie alles andere stehen und liegen, als ob es nie gewesen wäre, ihre musikalischen Studien, ihre Geige, ihre Bücher, ihre Korrespondenz mit den Freunden, ihre schönen Dinge, alles, was ihr das Leben in der Gebirgswildnis, wie sie es oft in jähem Unmut nannte, erträglich gemacht hatte, ja sogar das Caspar Hauserchen mußte zusehen, wie es mit sich selber fertig wurde, und widmete sich ohne Abzug, ohne Einschmuggelung von Freuden und Zerstreuungen nur diesem einen. Und sie ging radikal zu Werk. Sie studierte die Akten, die Verträge, die Dokumente, die einschlägigen Gesetze und Verordnungen. Sie hatte stundenlange, tagelange Beratungen mit Hornschuch. Sie beantwortete die Klageschriften und die Advokatenbriefe, verkehrte mit den Gerichten, mit den Steuerbehörden, überwachte die Geldgebarung und reformierte unsere ganze Wirtschaft, über deren Verlotterung ihr endlich die Augen geöffnet waren, mit der Strenge eines Ersparungskommissars. Tag und Nacht war sie auf dem Posten, mich vor Überfällen zu schützen. Jeden Angriff Gannas parierte sie mit einer Geschicklichkeit und Umsicht, als ob sie zehn Jahre Jurisprudenz getrieben hätte. Ihr klarer Verstand, ihre intuitive Kenntnis des praktischen Lebens zeigten ihr immer den einzig gangbaren Weg. Sie fürchtete keine Gefahr, sie scheute keine Anstrengung, sie geizte nicht mit ihrer Zeit, mit ihrem Schlaf, mit ihrer Gesundheit; der moralische Mut, von dem sie bis in die Fingerspitzen erfüllt war, verlieh ihr manchmal eine Art knabenhafter Freude am Raufen. Sie fuhr nach Wien, um mit einflußreichen Personen zu verhandeln, deren Unterstützung wichtig war, nach Berlin, um einen Anwalt aufzunehmen und meinem Verleger reinen Wein über die Verhältnisse einzuschenken, und so schnell und geistesgegenwärtig sie auch ihre Entschlüsse faßte, versäumte sie doch nie, mich von ihnen zu unterrichten und meine Zustimmung zu erbitten, damit ihr nicht von den plötzlich sehr beunruhigten Ganna-Leuten der Vorwurf gemacht werden konnte, sie betreibe meine Geschäfte auf eigene Faust und hinter meinem Rücken. Alles erwog sie, den geringsten Vorteil erspähte sie, mit nervöser Wachsamkeit legte sie es darauf an, dem Feinde den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die ganze Frau war Kampf und Flamme. Es war ein Schauspiel, wie ich es nie erlebt hatte noch zu erleben hatte hoffen dürfen.
Es hatte aber auch eine erschreckende, ja unheimliche Seite. Bettina war mir doch in anderem Geist verbunden als dem der Ganna-Welt. Im Geist der Anti-Ganna kann ich wohl sagen. Sie war ja der absolut wahnlose Mensch. Der Mensch, den mir das Schicksal gegeben und zugesellt hatte, damit ich der Wahrheit und der Wirklichkeit teilhaftig würde, statt in Lüge und Schein zu verkommen. Das war doch der Sinn von allem Erlittenen und Erfahrenen gewesen, wenn anders ein Dasein wie das meine überhaupt von einem Sinn gekrönt werden konnte. Und nun, war es Tücke der Fügung, war es höhere Erprobung, deren Endziel vorläufig nicht zu durchschauen war, nun wurde die Gegen-Ganna in Gannas Bahn gedrängt, wurde wider ihr innerstes Wesen genötigt, mit Gannas Waffen zu kämpfen, sich ihr zu stellen, ihr als Schatten in ihre Dickichte und Finsternisse zu folgen; konnte das zum Guten führen? War es gut an sich? »So wie Diana, zärtlich hingerissen« hatte ich einst von Bettina geschrieben; aber wurde ich nicht jetzt mittelbar zum Mörder der zärtlichen Göttin? Gewiß, Diana ist auch eine Jägerin, jedoch ihr Revier ist nicht das Gespensterreich, sie geht nicht auf die Jagd nach Schwarzalben, sie läßt sich ihren Weg nicht von den Ganna-Dämonen vorschreiben –, oder sie wird selber zum gehetzten Wild.
Und als ob die Geschehnisse nur darauf warteten, diesen grenzenlos bangen Gedanken Wirklichkeit zu verleihen, sah ich alsbald, daß Bettina körperlich langsam verfiel. Sie wurde anfällig, im höchsten Grad reizbar, fliegende Fieber stellten sich ein, sie verlor an Gewicht, bisweilen machte sie den Eindruck einer von einem unbekannten Gift Vergifteten. Ihr Phantasieleben war gebrochen. In meinem Dienst. Durch meine Schuld. Von fernher durch meine Schuld. Also war Ganna doch die Stärkere. Der Schwarzalb hatte Diana auf ihrem Jagdzug verhext und gelähmt. Von da an, es ist jetzt drei Wochen her, seit ich dieses mit Schrecken erkannt, hatte ich nur die eine Sorge, wie ich Bettina dem verruchten Bezirk wieder entziehen konnte. Aber wenn ich davon sprach, lachte sie mich aus. Der Mut, der sie beseelte, war wie eine gläserne Glocke, melodisch tönend, ohne Trübung.
Gestern, den 26. Juni, erhielt ich zum viertenmal den Gerichtsbefehl zur Ableistung des Offenbarungseides, den von mir zu erzwingen Ganna sich vorgesetzt hatte. Ich verzeichne die einfache Tatsache. Es handelte sich um das angeblich beiseite geschaffte und versteckte Vermögen, das ich besitzen sollte. Die früheren Male hatte ich Einspruch gegen den Eid erhoben. Einmal war ich auf Bettinas Rat abgereist, einmal hatte ich ein ärztliches Zeugnis beigebracht. Ich hatte noch nie im Leben einen Eid geschworen. Es schien mir ungeheuerlich, gegen die Ehre, gegen allen Verstand, gegen alles menschliche Empfinden, daß ich einer Ganna unter Berufung auf den Namen Gottes schwören sollte, ich besäße die Schätze nicht, die sie mir, nunmehr im wörtlichsten Sinn, aus der Seele pressen wollte. Ich gestehe offen, daß ich unvernünftig genug war, mich davor zu fürchten wie vor einem Mordanschlag. Bettina schüttelte den Kopf über mich. Sie sagte: »Was willst du, was ist dir daran so schrecklich? Du hast ja nichts zu verheimlichen. Es ist eine leere Formalität.« Ich erwiderte ihr, es sei für mich weit mehr als eine Formalität; es sei ein Akt der Verbindlichkeit, bei dem das ausgesagte Wort zu einem unauslöschlichen Faktum werde; einem Menschen wie Ganna überliefere man sich dadurch wehrlos; sie werde nie aufhören, Inzichten zu sammeln, jeder gelebte Tag, jeder verausgabte Geldschein werde von ihr und ihren Spießgesellen beschnuppert werden; sie werde mich auf den geschworenen Eid genauso festnageln wie auf die Unterschrift unter den Ehevertrag vor dreißig Jahren. Bettina sagte: »Du magst Recht haben. Dann bleibt nichts anderes übrig, als daß du fortgehst. Geh fort.«
Doch wohin sollte ich gehen? Wieder ins Gebirge hinauf wie neulich, ehe dieser Professor Kerkhoven kam? Nein; es war ein mißglücktes Abenteuer. Mich dünkt, ich habe mich vor mir selbst und jenem Mann ein wenig lächerlich damit gemacht. Wenn ein solcher Weg nicht in den Tod führt oder in ein gänzlich umgestaltetes Leben, dann war es eine Farce. Nach dem Gespräch mit Bettina bin ich den ganzen Nachmittag im Haus und im Garten herumgewandert, konnte nicht lesen, nicht arbeiten, nicht denken, kaum richtig schauen. Es ist im Grunde nicht dieser bodenlos unsinnige Eid, vor dem ich Angst habe, es ist all das Vergebliche, das bodenlos unsinnige Vergebliche. Woran geht denn meine Existenz in die Brüche? Da habe ich nun den Rat des merkwürdigen Mannes befolgt und die Hüllen von meinem Leben gerissen, habe mit all der Wahrheit, deren ich fähig bin, dem Schicksal, durch das ich gegangen, Gesicht und Gestalt zu geben versucht, aber was habe ich am Ende erreicht? Nicht zu leugnen, bisweilen hatte ich das Gefühl der Erlösung, die schonungslose Aufrichtigkeit des Bekenntnisses war wie eine Absolution, die mir von meinem gnädigen Wesen erteilt wurde; insofern hatte sich der freundliche Rater nicht getäuscht ...
Aber es ist ja doch wieder nur Papier, ist ja doch wieder nur Geschriebenes, wendig, zweideutig und vor einem höchsten Forum vielleicht anfechtbar. Es bleibt ein unbewältigter Rest, ein Bodensatz von Zwiespalt und menschlicher Hinfälligkeit. Ich sagte neulich zu Bettina, das ganze Beginnen mute mich an, wie wenn man mit einem Hammer, der der Hand nicht gehorcht, einen Nagel in einen Nagel schlägt; vom untern bricht der Kopf, vom obern bricht die Spitze ab.
Was fehlt also? Es fehlt der Arm, der mir hinüberhilft über ein Hindernis, dessen Beschaffenheit ich noch nicht zu erkennen vermag. Es fehlt der Odem eines Menschen, der mir den Geist des wahren Begreifens einhaucht. Wie ein die Finsternis gewaltig durchflammender Blitz müßte mich dies erleuchten. Und der Teufel, der über die Ruinen meines Lebens reitet, würde sich mit Wehgeschrei in die Schlünde seiner Hölle verkriechen.
Ein etwas überspanntes Bild. Aber ich habe ja mein Maß verloren. Als jener merkwürdige Mann zu mir sagte: In sechs Wochen werden Sie bei mir sein, lächelte ich ungläubig. Heute ist schon die achte Woche vorüber. Ich wollte seine Voraussage Lügen strafen. Und doch liegt mir sein Wort wie ein unüberhörbarer Befehl in den Ohren. In manchen Stunden erscheint er mir wie ein Richter, von dessen Spruch mein ganzes ferneres Leben abhängt. Ich glaube, ich werde nicht länger meinen Stolz darein setzen, den Widerspenstigen zu spielen.