Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Erstes Buch

Das biologische Gewissen

1

Als Joseph Kerkhoven an dem tragischen Frühherbsttag des Jahres 1929 hilflos zusammenbrach, weil er entdeckt hatte, daß die Frau, die er liebte, ihn mit dem jungen Freund und Schüler Etzel Andergast, dem er ungemessenes Vertrauen geschenkt, hintergangen hatte, daß also die beiden teuersten Menschen der Welt zu Betrügern an ihm geworden waren, sah er zunächst keine Möglichkeit, das gewohnte Leben weiterzuführen.

Was ihn so grausam hinwarf, war der unerwartete Überfall auf seine Person, die er seit einer Reihe von Jahren den Angriffen des Schicksals entzogen wähnte. Tagtäglich bedrängt von unendlicher Menschennot, hatte er seiner selbst nach und nach vergessen. Daß es auch ihn einmal packen und niederschlagen könne, war im Programm nicht vorgesehen. Das Schicksal war ihm zu einem Kollektivbegriff geworden. Damit war eine starre und, wie er jetzt zu spät erfuhr, trügerische Sicherheit über ihn gekommen, wie wenn privates Unglück, persönliches Leiden, individueller Schmerz für ihn nicht mehr existierten. Für andere Menschen wirkend und ihnen ausschließlich hingegeben, hatte er sich so weit von sich entfernt, daß der Mann und Mensch Kerkhoven zuletzt nur noch vom äußerlichen Mechanismus des Daseins bewegt wurde. Er hatte so lange über den Geschicken gelebt und sie regiert, daß er nicht mehr wußte, wie es ist, wenn man selber unter die Räder kommt. Er hatte nun Gelegenheit, über den Unterschied nachzudenken, der zwischen einer Wunde besteht, die man als Arzt behandelt, und einer, an der man verblutet.

2

Es klingt unglaubhaft, dennoch war es so: Erst im Augenblick der Katastrophe erkannte er, daß das, was ihn mit Marie verband, an die Wurzeln seiner Existenz ging. So, als ob Marie und das Verhältnis zu ihr mit seinem vorzeitlichen Sein zu tun und er ahnungslos darüber hinweggelebt habe. Aber ist dies nicht eine der gewöhnlichsten Unterlassungen, deren sich die Menschen schuldig machen? Sollte man sich deswegen schon als Missetäter fühlen? Man muß sich mit den Umständen vertragen und die Geschehnisse als Folgeerscheinungen des eigenen Charakters betrachten.

Desungeachtet hätte es vielleicht ein schlimmes Ende mit ihm genommen, wäre er in den Tagen des ersten Schocks allein gewesen. Nicht als hätte er Hand an sich gelegt, dazu waren sein Selbsterhaltungsinstinkt, seine Gabe, Werte gegeneinander abzuwägen, zu groß; jedoch eine innere Zersetzung, etwas wie Fäulnis des Lebensmarks, wäre sicherlich eingetreten. Aber die Frage: wie soll man weiterleben, wie soll man es überleben, solchen Verrat, solchen Einsturz alles Vertrauens, diese Frage führte ihn unmittelbar zu Marie zurück. Es war, wie wenn man bei einer Wanderung den Genossen verloren hat und erschrocken umkehrt, ihn zu suchen, auch wenn man bemerkt, daß einen dieser in einen Hinterhalt gelockt hat. Zudem: man war Arzt; man hatte, ohne Rücksicht auf sich selbst, an Hilfeleistung zu denken. Denn das Bild, das ihm Marie darbot, war das der vollkommenen Zerrüttung.

3

Er wollte nicht richten, er wollte wissen. Zunächst erfüllte ihn nur die qualvolle Begierde, zu erfahren, wie und wann sie sich verloren hatte. Diese Auffassung des Sichverlorenhabens wirft ein bezeichnendes Licht auf die Gemütslage eines Mannes, der unter anderen Umständen nicht daran gedacht hätte, sich moralisch aufzulehnen. Sie war der Beginn eines verhängnisvollen inneren Konflikts. Und Marie, verwirrt in Herz und Seele, empfand die Geständnisse, zu denen er sie fanatisch drängte, als Erleichterung und als Vergeltung.

Es muß aus ihr heraus, sonst vergeht sie in Scham, Bitterkeit, Zerknirschung und Verzweiflung. Und in Sehnsucht, das ist das Schreckliche, in Sehnsucht nach dem, der sie verlassen hat und geflüchtet ist, man weiß nicht wohin. Nicht dem Gatten erschließt sie sich mit der Schonungslosigkeit der Selbstzüchtigerin, dem Freund wirft sie sich hin, dem einzigen Menschen auf der Welt, der das Geschehene begreifen muß. Das verlangt sie von ihm mit der Naivität, die allen Seelenkranken eigen ist: Daß er nicht mit ihr rechte, daß er sich selbst und seinen Schmerz hintanstelle, daß sie zu ihm aufsehen und sich alles vom Herzen reden kann, was sie peinigt und bedrückt. Sie ist schuldig, maßlos schuldig, aber sie kann es nur zugeben, wenn er sie nicht für schuldig erklärt.

Es ist nicht mehr die Marie, die er kennt oder zu kennen geglaubt hat. Es ist eine Frau, die ihr einmaliges, unwiderrufliches Sinnen- und Blutserlebnis gehabt hat, und dieses gibt sie nicht preis. Ihre Person gibt sie preis; gut, du kannst mit mir machen, was du willst, scheint sie zu sagen, jag mich auf und davon, nimm mir die Kinder weg, nenn mich Betrügerin und Lügnerin: ja, ja, ja: das Erlebte gibt sie hingegen nicht preis.

Kerkhoven steht vor einem Rätsel. Er meint doch einigen Einblick zu haben in die Dämonien der Seele, aber was hier vorgeht, kann er nicht ergründen. Es ist wohl die Gebundenheit an sie, die Liebesnähe, die unsichtbare Nabelschnur zwischen ihr und ihm, die ihn so ratlos machen. Sie ist zu tief hinuntergestürzt, denkt er, ich kann sie nicht erreichen. Den eigenen Sturz nimmt er plötzlich nicht mehr wahr oder vergißt ihn, weil es ihn tröstet, daß er die Haltung dessen vortäuschen kann, der sich hinabbeugt. Und sie läßt sich auf das Spiel ein und fleht mit gefalteten Händen zu ihm empor, er möge sie hinaufziehen. Er hat nicht die Kraft. Noch nicht. Er will wissen. Zuerst muß er alles wissen. Im Wissen steckt eine erlösende Mitverschuldung.

4

Auch jetzt verschmäht Marie alles, was nach Sündenbekenntnis aussieht.

Hat er nicht bemerkt, wie sie in ihrer Ehe vereinsamt ist, wie ihr das Gefühl abhanden kam, einen Gefährten zu haben? Wie sie neben ihm gegangen ist, hinter ihm, um ihn herum, immer in der Hoffnung, er werde sich ihr wieder zuwenden? Wie sie sich von einem Monat auf den andern vertröstet hat, von einem Jahr aufs andere, und wie das ungestillte Bedürfnis nach und nach ihr Gemüt in Aufruhr gebracht hat? Hat er es wirklich nicht geahnt? Wo ist er denn um Gottes willen gewesen? Tausendmal hat sie sich gefragt, wo er denn sei, hat sich Unbescheidenheit und Selbstsucht vorgeworfen, hat sich seiner großen Aufgaben erinnert, des Helferberufs, der ihn aufgefressen, so daß nichts mehr von ihm übrig war als ein Name und eine Funktion, ein Logiergast im Hause, für dessen Mahlzeiten und gemachtes Bett man sorgen muß und der allem Leben Einlaß in sein Inneres gewährt, dem unwertesten noch, nur dem einen nicht, das dicht neben ihm verkümmert. Wie war das möglich?

Kerkhoven kann nicht leugnen, daß es so gewesen ist. Er war ihrer zu sicher. Die Sicherheit hat bewirkt, daß ihm Marie zu einem lebendigen Hausrat geworden war, der unverrückbar an seinem Platz verbleibt und keiner besonderen Mühewaltung mehr bedarf. Die Anklage besteht zu Recht. Es wird ihm klar, daß es in jedem wahrhaften menschlichen Bund die Todsünde ist, sich sicher zu fühlen und mit der Sicherheit zu beruhigen. Immerhin glaubt er Anspruch auf Milderungsgründe zu haben. Seinen Pflichten und Erfüllungen war eine Grenze gesetzt. Ein strenges Leben. Die Gewalt der Tatsachen hat den Gatten wie auch den Vater daraus verdrängt. Unseliger Irrtum, daß er sich eingebildet hat, von Marie gebilligt und gestützt zu sein. Daß er sie willens geglaubt, auf Privatleben und Privatglück zu verzichten.

5

Das ist die Gegenanklage. Sie enthält Bitterkeit genug, obgleich sie schonend verhüllt ist. Was nützt aber die Verhüllung, wenn jedes Wort bedeutet: Du hast mich verraten ...? Das trifft Marie schwer. Wenn es wahr wäre, könnte sie sich nie mehr entsühnen. Es ist nicht wahr. Bis zum letzten Augenblick hat sie sich mit aller Kraft gegen diese Leidenschaft gewehrt. »Verrat! Joseph! Wenn du wüßtest!« – »Wenn ich was wüßte?« – »Es hat nichts mit dir und mir zu tun. Hat nie mit meiner Liebe zu dir zu tun gehabt.« – »Das sagst du dir vor. Es erscheint dir jetzt so.« – »Nein. Du warst unser Schutzgeist, meiner und seiner, von Anfang an, auf Schritt und Tritt.« – »Ich weiß, ich weiß. Es hat ihm beliebt, eine Heiligenfigur aus mir zu machen, um sich aus seinen menschlichen Verpflichtungen herauszuschwindeln. So wie manche Einbrecher beten, bevor sie einbrechen. Aber du, Marie, du!«

Sie vermag zunächst nicht zu antworten. Es dünkt ihr zu töricht, was er sagt. Es ist so entgegen seinem Sinn und seiner Art, daß sie ihn erstaunt anschaut. Dann erinnert sie ihn schüchtern daran, wie sie auf ihn gewartet hat. Wie sie ihm Zeichen gegeben und er nichts gesehen hat. Wie sie ihn gerufen und er nicht gehört hat. Nicht nur nicht gehört, ihn hat er geschickt, eben diesen Etzel, statt selber zu kommen – »hast du es vergessen?« – hat er den Brief vergessen, worin sie ihm schrieb, sie wolle nicht mehr allein sein, sie wolle den Mann haben, den ihr das Schicksal zugedacht, nicht den Arzt, nicht sein Werk, nicht seinen Ruhm, nicht seine abgegeizten Viertelstunden, nicht seine umwölkte Stirn und seine anderswo weilenden Augen, ihn, ihn ganz, mit Haut und Haar und Herz und Atem. »Joseph, Joseph, hast du's denn vergessen, war's nicht deutlich genug, daß ich dir schrieb, es ist was in mir, das verzehrt mich, ich streck' die Arme aus, zu fassen, zu halten, an mich zu drücken, ich verdurste, ich verbrenne ... ? Verzeih, wenn man es laut wiederholt, klingt es vielleicht geschraubt, aber so hab' ich's gefühlt, und es war eine Krise. Und was hast du getan? Nicht vom Fleck hast du dich gerührt. Und als dann dein Beauftragter kam, dein Jünger, um mich – ja, was sollte er – auf andere Gedanken sollte er mich wahrscheinlich bringen. – Ja, Mann, Mensch, hab' ich da nicht glauben müssen, du wolltest Ruhe haben vor mir und meiner Liebe? Hast du mich denn nicht mit aller Gewalt hineingestoßen? War's ein Verbrechen, zu denken, du wünschtest dir, was weder er noch ich zu denken gewagt hatten?«

Sie zittert am ganzen Körper. Ihre Beredsamkeit ist entschieden krankhaft. Sie kämpft um ihn und kämpft um sich. Das Gesicht zwischen den Händen, sieht sie ihn verstört an. Kerkhoven versucht, den harten Griff ihrer Hände zu lockern, die Finger von den Wangen abzulösen. »Ich dachte, du hättest die Kinder«, bringt er mühselig heraus; »du bist doch Mutter. Ich hielt dich für eine richtige Mutter ...« Ihr Aufschluchzen erschreckt ihn. »Daß man Mutter ist, kann nicht für alles herhalten«, erwidert sie mit verzweifeltem Halblachen; »du weißt so gut wie ich, daß daraus der Zwinger wird, in den man eine Frau steckt, um sie unschädlich zu machen. Mutter, Hausfrau, Wirtschafterin, was du willst, aber man kann doch nicht als Witwe leben mit siebenunddreißig Jahren und einem Mann aus Fleisch und Blut. Das mußt du doch verstehen.«

Er versteht nur allzu gut, obschon er eine so hemmungslose Offenheit nie von ihr erwartet hat. Er ist wie vor den Kopf geschlagen. Was hätte es genützt, zu sagen: Hundert Leidende haben mir den Weg zu dir verrammelt, die Nöte, die sie mir ins Ohr schrien, haben deine Stimme übertönt ...? Und wären es tausend, wären's Millionen gewesen, da lag der eine Mensch zertrümmert vor ihm, der ihn vergeblich gerufen hatte und der auf der Waage der Geschicke auf einmal schwerer wog als eine Welt.

6

Hauptsächlich muß er ihr die Überzeugung einflößen, daß er Zeit für sie hat, unbeschränkt viel Zeit. Er sagt seine Ordinationen ab, läßt mitteilen, er sei krank, läßt Arbeit Arbeit sein, antwortet widerwillig auf Telegramme und Telefonalarm, kurz, was ihm noch vor wenigen Tagen als undurchführbar erschienen wäre, ist selbstverständlich geworden: Er hat für nichts und niemand mehr Interesse als für Marie; wenn er sich in einem dringenden Fall entschließt, einem Ruf zu folgen und nach Berlin zu fahren, ist er nach zwei Stunden wieder zurück.

Vom Morgen bis in die Nacht ist er bei ihr. Verläßt er das Zimmer so bekommt sie Anfälle von Schwindel, Übelkeit und Frost, und zwar in einem Grad, daß ihr die Zähne im Mund klappern wie Steine in einer Schachtel und die Eingeweide sich winden wie Würmer. Nur nicht allein sein; laß mich nicht allein, bettelt sie mit aufgehobenen Händen, und folgt ihm in sein Schlafzimmer, sein Bücherzimmer, in den Garten, obwohl sich beim Gehen alles um sie dreht. Wenn er sie beschwört, zu Bett zu gehen, tut sie es erst, nachdem er versprochen hat, bei ihr zu bleiben. Auch des Nachts will sie nicht allein sein. Sie läßt sein Bett neben ihres stellen. Sie hängt mit den Blicken an ihm. Ihr ist, als dürfe sie ihn nicht eine Sekunde lang aus den Augen verlieren. Nur so lange sie ihn im Auge behält, dünkt ihr, kann er nicht etwas tun oder denken oder empfinden, was ihn von ihr entfernt. Am meisten bangt ihr vor seinen heimlichen Gedanken.

Ohne Schlafmittel kann sie nicht schlafen. Der Schrecken der Schrecken ist das Erwachen am Morgen. Mit dem Erwachen kommt die Angst. Angst ist ein Wort, das den Menschen locker auf der Zunge sitzt, aber wenige kennen sie wirklich. Man muß zu grellen Bildern greifen, um sie zu malen. Der Leib wird von Krötenfüßen bekrochen, aus der Haut schwitzen schleimige Bänder, die sich ins Gehirn schlingen, das Herz ist ein wild hinrasendes Tier, der Magen ein quälender Fremdkörper, der Kopf eine gallertige, verkrampfte Masse, Licht tut weh, Riechen und Schmecken sind ein Abscheu, das liebkosende Flüstern und Fragen der Kinder eine Marter, und wenn eines Menschen Fußspitze an den Pfosten des Bettes stößt, möchte man aufschreien vor Schmerz.

Kerkhoven weiß, was es mit dieser Angst auf sich hat. Sie ist sein spezielles Studium gewesen, und er hat ihr viele Namen in allen ihren Abstufungen verliehen. Die Erfahrungen, die er gewonnen, hier sind sie kein Behelf, sie lähmen ihn. Sie lassen ihn etwas erkennen, was er nicht in sein Bewußtsein aufnehmen möchte und doch aufnehmen muß: sinnliche Verstrickungen und Bindungen, Abgründe sinnlicher Aufgelöstheit, von denen die erschöpften Nerven Kunde geben, denn in ihnen wohnt noch die Erinnerung, wie in einem künstlich zum Schlagen gebrachten Herzen auf dem Seziertisch die Erinnerung an das ehemalige Leben. Es ist der Pendelausschlag nach der andern Seite, die Zuckungen der Glut rückwirkend in die Kälte, das Grauen als Metamorphose der Lust. Diese ärztlich-analytische Einsicht wird für ihn zum zentralen Unheil. Sie treibt seine Phantasie in die Richtung der Selbstzerfleischung. Sie erzeugt zwanghaft jene Folge von Bildern, die ihn besessen machen von dem Wunsch, zu morden, dem Menschen das Messer in die Brust zu stoßen, den er nicht mehr anders sehen und denken kann als in der Umarmung mit Marie. Nur das eine könnte ihn befreien und ihm die innere Ruhe wiedergeben: wenn er den Menschen morden könnte. Bestialische Anwandlung; verächtlicher Trieb; aber was soll er dagegen tun? Es ist ein Gefühl wie Heißhunger, er kann nicht Herr darüber werden, es macht ihn verrückt, er wird zu einer mitleidswürdigen Kreatur.

Und Marie schickt sich darein, ihm in allem Rede zu stehen, was er zu wissen begehrt. Es ist das nie versagende Mittel, ihn in ihrer Nähe zu halten. So lange er bei ihr ist, kommt die Angst nicht ganz an sie heran. Deshalb nimmt sie die Pein auf sich, die ihr die unablässige Inquisition bereitet. Auch ist in der Pein ein tiefer verhohlener Reiz. Sie spürt instinktiv, daß er nicht geschont sein will, folglich schont sie ihn auch nicht. Wenn sie sich genügend mit Worten gezüchtigt hat, irren ihre Träume und ihr Verlangen hinüber in den Bereich des gewesenen Glücks, und sie spricht davon mit den Zeichen der Euphorie und Trunkenheit. Ihre verworrenen Erzählungen bewegen sich in Fieberkurven. Bald schildert sie ihre moralischen und seelischen Leiden unter dem Zwang zur Lüge und Verstellung und unter der tyrannischen Herrschsucht ihres Geliebten, bald will sie von keiner Schuld und Verfehlung hören und verficht trotzig die sogenannten Rechte der Persönlichkeit. Hat sie eben noch Haß und Bitterkeit auf den Namen des Menschen gehäuft, dem sie sich in unbändiger Verschwendung geschenkt, und damit dem beklommen lauschenden Kerkhoven die Seele noch tiefer zerwühlt, so redet sie einen Atemzug später mit einer geradezu schaurigen Zärtlichkeit von ihm wie von einem vergötterten Toten.

Es ist eine völlig fremde Marie. Es ist nicht mehr die Frau, die ihm zwei Kinder geboren und ihn auf seinem schweren Weg als Kamerad begleitet hat. Er entsinnt sich, vor sechzehn Jahren hat sich etwas Ähnliches zugetragen, damals, als er sie kennengelernt, als sie sich, ihres Körper- und Seelengesetzes nicht achtend, an einen gewissenlosen Abenteurer hingegeben hatte. Aber damals hatte er begriffen, denn er hatte eben angefangen, sich selbst zu begreifen und zu erleben. Jetzt steht ein Mensch mit einem unzugänglichen Geheimnis vor ihm. Und vor dem Geheimnis hängt ein schwarzer Vorhang, die Angst. Und er, Kerkhoven, soll der Wächter des schwarzen Vorhangs sein. Während ihn die Begierde verbrennt, zu erfahren, was dahinter ist, soll er um jeden Preis verhüten, daß der Vorhang sich hebe und das Geheimnis enthülle. Dabei soll er so tun, als kenne er es, denn es hat ja immerfort den Anschein, als erschließe ihm Marie die verborgensten Winkel ihres Innern.

Eine unmögliche Situation. Er ist nicht mehr Arzt, nicht mehr Heiler, nicht mehr Beichtiger, nicht mehr Retter. Die Ungeduld, den Vorhang zu zerreißen, macht ihn seinem Wächteramt abspenstig. Er wird zum Unarzt, zum Widerarzt, zum Wundenaufreißer. Das Geschlecht in ihm ist beleidigt, der Mann ist gedemütigt, das Männchen wehrt sich und tobt. Eine Stufe der Erniedrigung, auf der er Gestalt und Wesen einbüßt. Man kann sich also nicht wundern, daß er mit Marie gemeinsam in die Tiefe stürzt. War Etzel Andergast der Verführer oder der Verführte? Diese Frage scheint dem Manne Kerkhoven vor allem der Klärung bedürftig. Marie will sich darauf nicht einlassen. Die Unterscheidung bedeutet ihr nichts. Es war ja einer über ihnen, der sie zueinander getrieben hat, der Meister. Der Meister weiß es, der Meister billigt es, das war die Losung und die Schuldaufhebung. Kerkhoven, dem zornige Regungen ungewohnt sind, würgt seinen Grimm hinunter. Schöner Meister, der nun dasteht als Hopf. Schöne Großmut, mit der man zum Hahnrei gemacht wird.

Marie ist entsetzt: Was für Worte, was für Begriffe! Sind Geistesfreiheit und ärztliches Verstehen nur Larven, die man außer Haus trägt? Bedenk doch, wer du bist, Joseph! Verführt oder nicht verführt, sie wünscht, er möge verstehen, wodurch sie so hingerissen worden ist, daß alle Schranken in ihr fielen. Die Aufmerksamkeit ist es gewesen, die zarteste, ritterlichste, die ihr je begegnet, von deren Umstrickungsgewalt sie so wenig geahnt, daß sie erst gespürt, wie sehr sie sie entbehrt hatte, als sie ihr erlegen war. Und mit der fieberhaften Erregung, die sie jedesmal ergreift, wenn sie von Andergast spricht, verbreitet sie sich über das Wesen dieser Aufmerksamkeit. Kerkhoven hat dabei eine Empfindung wie ein Mensch, hinter dessen Rücken etwas Gespenstisches vorgeht. Das Immer-Dasein, Immer-Zeit-Haben, Keinen-Schlaf-Kennen, Keine-Mühe-Scheuen, das unvergleichliche Erraten von Stimmungen, Wünschen, Gedanken ... Dazu das berückende Gefühl einer Frau, die erfährt, daß sie die erste ist, das erste große Erlebnis, die Erweckerin ...

Kerkhoven nickt. Das alles könne er ohne weiteres begreifen, aber dem widerspreche doch, was sie über die Härte und Rücksichtslosigkeit des jungen Menschen gesagt, seine anmaßende Tyrannei. Welchem ihrer Geständnisse solle er Glauben schenken, wo sei das wahre Gesicht? Marie antwortet hastig, die Tollheit habe ihn erst befallen, als sich das Verhängnis über ihnen beiden zusammengezogen habe; vom bösen Gewissen gejagt, von krankhaften, fast unverständlichen Rivalitätsgefühlen gegen seinen Meister wie behext, habe er sie zur Flucht und zur Heirat überreden wollen; anfangs sei ihr dies vollkommen wahnsinnig erschienen, und sie habe ihn ausgelacht, aber da habe er sie bis aufs Blut gepeinigt und sie auf raffinierte Manier eifersüchtig gemacht und mit Worten mißhandelt, ja geradezu mißhandelt; schließlich sei es zu dem gekommen, was sie ihr »In-die-Knie-Brechen« nannte, die bedingungslose Kapitulation. Das war das letzte, da sei dann Joseph endlich, endlich erschienen ...

»Wieso in die Knie gebrochen?« fragt Kerkhoven verblüfft. »Was nennst du Kapitulation?« – »Ich wollte ihm den Willen tun. Ich wollte mit ihm fliehen. Ich wollte ihn wirklich heiraten. Ich war ja selber wahnsinnig ...«

8

Marie in die Knie gebrochen vor einem halben Knaben, die stolze Marie, seine Marie, das Bild wird Kerkhoven nicht los; es verfolgt ihn und schraubt sich ihm ins Hirn. Wie konnte sich dies ereignen, was für eine Bezauberung war da am Werk, er muß es wissen, sie muß ihm Rede stehen, schon beim nächsten Gespräch fragt er sie danach. Es ist spät am Abend, sie sind im Wohnzimmer, alles schläft im Hause, Marie sitzt im Lehnsessel, er kauert auf einem Schemel vor ihr und hält ihre eiskalte Hand in seiner, sie blickt lange stumm in sein Gesicht, dann kommt wieder die schreckliche euphorische Trunkenheit über sie, die ihre Züge so verändert, als spiele sie eine eingelernte Rolle, und sie sagt: »Verstehst du denn nicht? Die Kraft ... die Unberührtheit, die Anmut in allem ... man kann's nicht beschreiben ... hauptsächlich die Anmut ... in der Liebe ist das ja so selten ... bei einem Mann ... versteh doch ... wenn einer so ... so intakt ist ...«

Schwer zu ergründen, warum ihn gerade der Ausdruck »intakt« so verletzt und erschreckt, wenn auch zugegeben werden muß, daß ihn jeder andere genauso empfindlich getroffen hätte. Es hängt wohl mit den eingerosteten Vorstellungen zusammen, die wir vom Charakter eines Menschen haben, daß gewisse unerwartete Äußerungen zu aufgerissenen Fenstern werden können, durch die ein blendendes Licht auf Dinge fällt, die wir ein Leben lang übersehen haben. Plötzlich wird etwas Anschauung, was wir vorher nur dumpf gewußt haben. Der Mann, der die aufbauende Macht der Phantasie verkündet und sie als wesentliche Hilfe in seine Heilmethode einzubeziehen getrachtet hat, muß jetzt ihre Unlenkbarkeit und Willkür am eigenen Leib erfahren, da sie ihm Szenen ausmalt, an denen er leidet wie an einem unauslöschlichen Schimpf. Er muß sehen, sehen, ohne die geringste Möglichkeit, die Bilder vom inneren Auge wegzutun, ohne vergessen zu können. Er muß sehen, wie sie einander in die Arme stürzen; wie sie mit begehrlichen Blicken einander betrachten; wie sie der Liebkosungen nicht satt werden; wie sie die verabredeten heimlichen Wege gehen ... aber das sind nur die Vorspiele. In einer seltsamen Art umgekehrter Lust und Lüsternheit weiß er, sieht er zu, wie sie die Kleider vom Leib streifen, wie sie einander umschlingen, erlebt das Nach und Nach ihrer Entflammung, Gipfel und Mattigkeit, Anklammerung und wollüstigen Krampf; ein gehässiges, häßliches Wort bietet sich ihm dafür an: hecken, sie hecken; sie wühlen sich ins ehebrecherische Nest und hecken. Alle diese Gesichte, einzeln und zusammen, umlagern, verhöhnen, vergiften, erdrosseln ihn; sein Geist, sein Herz, was an ihm nur irgend lebt, saugt sich mit einer rasenden Eifersucht voll, die sich vom Vergangenen nährt, die ihn ruhelos macht wie einen Verrückten und den Geist mit Finsternis schlägt.

9

Der Ernst dieses Zustands blieb Marie nicht verborgen. Sie erriet, was in dem Mann vorging. Sie kannte ihn besser, als er selbst sich kannte. Sie wußte seine entlegensten Gefühle zu deuten, mit visionärer Sicherheit oft. Sich an ihm aufrichten zu können, war der einzige Hoffnungsstrahl in ihrer Verzweiflung gewesen. In mystischer Zuversicht hatte sie der Kraft seiner Natur vertraut, der felsenhaften Unerschütterlichkeit, die er so häufig und unter den schwierigsten Lebensumständen bewiesen hatte. Nun, da sie ihn wanken und einem Phantom nachjagen sah, haltsuchend bei ihr, die selber keinen Halt mehr hatte, waren ihre Betrübnis und Enttäuschung grenzenlos.

Statt Hilfe zu empfangen, hatte sie Hilfe zu spenden. Welche Hilfe? Naturgemäß eine, die das Leiden aufhob in seinem Kern. Sie spürte, wonach er begehrte. Der weibliche Instinkt in ihr war so entwickelt, daß sie trotz der Erschöpfung ihrer Sinne, dem tödlichen Schweigen jedes erotischen Verlangens den Aufruhr in seinem Innern rhythmisch mitempfand, diese bohrende Sucht, sich als Mann zu bewähren, die, wenn sie nicht gestillt wird, zu einer Erkrankung des Selbstbewußtseins führt und das Geschlechtswesen in seinen Wurzeln angreift. Ihr war es nicht um körperliche Liebe zu tun; ihr Blut war unbewegt wie das Wasser in einem Schacht; nur dienen konnte sie dem Freund und Gefährten, sich ihm hingeben wie einem Freund eben, mit dem man alles zu teilen vermag, und ihn so, mit List und Selbstopferung, aus der verderblichen Spannung lösen. Das bißchen Verstellung, das sie hierzu anwenden mußte, kostete keine große Mühe; als Frau beherrscht man das Spiel, und sich davon nicht betrügen zu lassen, sind nur wenige Männer imstande.

Der heroische Entschluß war aber nicht bloß vergeblich, sondern steigerte das Unheil noch. Es geschah, was dem verblendeten Willen immer geschieht, wenn er sich eine Fähigkeit zutraut, die ihm der Körper verweigert. Der Reiz überwog die Kraft. Der Zweck lähmte die Funktion. Die Folge war Niederlage auf Niederlage. Die ganze Schmach war nun offenbar. Jetzt war er als Mann endgültig geschlagen. Doch wollte er sich nicht für geschlagen erklären, und das gab seiner Ohnmacht einen Zug ins Selbstmörderische. Er glich einem Ringer, der sich mit hohem Fieber zum Zweikampf anschickt und das Fieber für einen besonderen Beweis seiner Unbesiegbarkeit hält. Das Schauerliche war, daß er das Gefühl nicht los wurde, sich mit einem Gegner messen zu müssen, von dem er sich wie von einem Spion beobachtet wähnte und von dessen Stärke er, durch Maries Andeutungen aufs höchste irritiert, förmliche Wahnvorstellungen hegte. Er, der Neunundvierzigjährige, wollte den Dreiundzwanzigjährigen herausfordern und es ihm gleichtun, dem spurlos von der Bildfläche verschwundenen, feig geflüchteten Rivalen; denn so sah er ihn, so dachte er über ihn. Aber das Bestreben, seinen Charakter zu verkleinern und zu verzerren, half nicht dazu, seiner Herr zu werden und ihn aus dem Gedächtnis und aus dem Blut Maries zu tilgen. Das war die zugrunde liegende fixe Idee; als ob es erreicht werden könnte, daß Marie von dem Tausch nichts bemerkte, als ob das leidenschaftliche Erlebnis ihrer Sinne einfach mit ihm, dem Gatten, fortgesetzt werden könnte, wie man eine Kartenpartie mit einem neuen Partner fortsetzt und Marie nicht nur dazu bereit wäre, sondern auch sich nichts Besseres wünsche. Ein Irrtum immer kläglicher als der andere.

Es war eine unsägliche Folter für Marie. Sie nahm sie auf sich. Während sie die zärtlich Liebende vorzutäuschen hatte, war sie Samariterin. Wenn alle Kunst ihrer Liebkosungen erfolglos geblieben war, tröstete sie ihn. Sein verstörtes Erstaunen zerschnitt ihr das Herz. Sein jagender Puls erfüllte sie mit banger Sorge. Sie schlang die Arme um ihn und flüsterte ihm zu: »Laß doch, sei doch ruhig, hab Geduld, dein Körper ist weiser als du ...« Sie hatte einen Knaben im Arm, einen unglücklichen Sohn, ein törichtes, beschämtes, schluchzendes Kind.

Tiefer konnte man nicht sinken. Es war ihm nichts mehr verblieben von seinem inneren Besitz, von seiner Person und Würde, von seinem Wissen und Wirken, von der Schätzung der Welt. Leer. Fertig. Ausgeplündert. Eines Abends nahm er im Laboratorium im Stadthaus eine Tube mit schnellwirkendem Gift aus einem Behälter und steckte sie in die Westentasche. Als er dann nach Lindow zurückkam, fand er eine Depesche vom holländischen Kolonialministerium vor. Sie enthielt die Anfrage, ob es ihm möglich sei, sechs Monate nach Java zu gehen, um eine endemische Gehirnkrankheit zu studieren, die unter den Eingeborenen wütete. Ein Fingerzeig? Weisung der höheren Mächte? Er zuckte die Achseln. Eine halbe Stunde später trat er zum offenen Kaminfeuer, warf die Tube hinein und sah trüben Blickes zu, wie sie in der Flamme mit lautem Knall zerplatzte.

10

Zwei Menschen, die sich krampfhaft aneinander festhalten in der Hoffnung, daß sie vereint dem saugenden Strudel eher entkommen werden als jeder für sich: das ist der Vorgang. Marie läßt sieben gerade sein; der Haushalt auf Gut Lindow verwahrlost ein wenig. Ihr graut vor dem Winter. Jeder werdende Tag schiebt eine Ödnis vor sich her. Jede einzelne Stunde der Nacht hat ihr besonderes Schreckensgesicht. Warum kann man nicht verlöschen wie eine niedergebrannte Kerze? fragt sie sich. So zu leben ist ein Verbrechen an der Natur. Wenn das seltsame, alles Augenscheinliche umlügende Delirium über sie kommt, flackern die Blutgeister empor, und das Verrückteste hat einen Schimmer von Möglichkeit, daß er plötzlich an der Tür steht, der geliebte Flüchtling, und um Einlaß bittet; daß das Telefon läutet und sie hingeht und seine Stimme hört; daß Joseph ihn ruft, vielleicht nur, um mit ihm abzurechnen, ihn gewissermaßen vor Gericht zu laden und sie ihn einmal noch, ein einziges Mal, sehen kann. Darein mischen sich, wenn es wieder finster in ihr wird, aufregende Rachegelüste. Sehnsucht schlägt um in Haß. So durfte er sie nicht sich selber überlassen. So durfte er nicht seinem Meister entlaufen, dem Mann, der ihn geformt, ihn erst richtig auf zwei Beine gestellt, ihm den Begriff gegeben hat, was eine menschliche Seele ist.

Eines Nachts, sie sind in der Philharmonie gewesen, wo der Donkosakenchor gesungen hat, sagt sie: »Ein Brief von dir, Joseph ... wenn du ihm ein paar Zeilen schreiben würdest ... es wäre eine Erleichterung ... für dich, für ihn, für mich ...« – Kerkhoven verfärbt sich. Er starrt düster auf seinen Teller. »Schreiben? Ihm?« stößt er mit brüchiger Stimme hervor. »Komische Idee. Was versprichst du dir davon? Was für eine Erleichterung meinst du?« – Marie greift über den Tisch mit beiden Händen nach seiner Rechten. »Daß du ihm verzeihst«, sagt sie kaum hörbar und sieht ihm inständig flehend ins Gesicht; »es wäre das einzige, was uns retten könnte.« Sie sagt »uns«, sie wollte sagen »dich«; der Gedanke ist ihr während des Konzerts gekommen, und im selben Moment hatte sie aufgeatmet als wäre ihr ein Block von der Brust gefallen. Sie muß diesen Mann dem Leben wieder zurückgeben. Sie muß ihn zu sich selbst zurückführen und ihre ganze Macht einsetzen, damit er sich aus der Verstörung erhebe. Es ist ihre Pflicht, ist ihre dringlichste Schuldigkeit, und der Weg, der sich ihr beim Anhören der ergreifenden Gesänge gezeigt, erscheint ihr als der einzig gangbare. »Ich sehe in der Tat nicht, wie es sonst mit dir oder mit mir wieder aufwärts gehen soll«, sagt sie. – Kerkhoven ist aufgestanden und marschiert wie ein Automat um den runden Tisch herum. »Wie soll ich ihm denn schreiben, da ich gar nicht weiß, wo er ist?« murrt er unwillig. »Niemand weiß es. Niemand.« Widerstrebend spürt er, wie er dem Einfluß von Maries Worten und Wesen erliegt; es ist bereits eine vollendete Form der Hörigkeit, denkt er unzufrieden. – »Du warst doch einmal mit seiner Mutter in Verbindung«, tastet sich Marie zaghaft vor. – »Als ich ihr zuletzt schrieb, wohnte sie in Baden-Baden«, antwortet er. Dann: »Es ist sinnlos, Marie. Es geht gegen den Stolz. Ich kann das nicht. Man vergibt sich zuviel.« – »Wirklich? Vergibt man sich etwas, wenn man vergibt? Du überschätzt alle diese Dinge. Du bist nicht mehr du. Wärst du's noch, alles wäre anders.« – In einem sonderbaren Anfall von Bewußtlosigkeit redet Kerkhoven vor sich hin: »Eines könnt' ich tun ... müßt' ich tun ... ihn suchen ... Schließlich müßte man ja erfahren können, wo ...« Seine Züge verzerren sich, er ballt die Faust. – »Schau mich doch an«, bittet Marie mit gefalteten Händen. Sie sitzt in der Ecke, in einem blausamtenen Schlafrock vor der purpurrot tapezierten Wand, ihr Gesicht mit den geschlossenen Augen ist so weiß wie gefrorene Milch. – »Auch ich sehe keinen Schritt weiter, Marie«, sagt Kerkhoven hart, und seine tiefe Stimme tönt wie in einer Kirche; »ich stehe vor dem Nichts.«

Plötzlich tritt er dicht an sie heran und legt seine mächtige Hand auf ihren Scheitel. Ihre Haare sind wunderbar warm, wie Heu in der Sonne. Sie blickt matt lächelnd zu ihm empor, schüchterne Erwartung in ihren Augen, den »blassen Blumen«. Und da sagt er das Wort, das wie der erste Strahl eines neuen Tages ist: »Du bist im Element getroffen worden, Marie. Soviel weiß ich jetzt. Dort, wo die allerdunkelsten Kräfte wohnen. In der Urnacht könnte man sagen. Das geschieht selten. Die meisten Menschen bleiben davor bewahrt. Wir müssen trachten ... man muß die lichten Kräfte versammeln, damit sich die Einbruchstelle wieder schließt. Wie eine Wunde sich schließt. Denn mit ihr weiterleben können wir nicht.«

Dies hören und aufspringen und die Arme ausbreiten und mit einem Schrei des Dankes den Mann an sich pressen ist für Marie das Tun zweier Sekunden. »Joseph«, seufzt sie und drückt das zuckende Gesicht an seine Schulter.

11

Immerhin ist es eine Brandstätte. Man muß den Schutt wegräumen und sehen, was sich von den Trümmern für den Neuaufbau verwenden läßt. Eine Generalrevision. Die Gespräche, die sie führen, bewegen sich nicht mehr in den Abgrund hinunter, sie nehmen allmählich die Richtung nach oben. Der unterste Punkt scheint überwunden, obwohl sich ringsum noch überall die Weglosigkeit des Nachtbezirks ausbreitet.

Sie sind schier unzertrennlich. Nie haben sie in so herzlicher Vereinigung gelebt. Es ist, als lernten sie einander erst kennen. Sie machen die lehrreiche Erfahrung, daß ihre Ehe ein zehnjähriger Entfremdungsprozeß war. Sie werden einander neu. Das schafft eine neue Fremdheit, aber eine fruchtbare. Es gelingt Marie, ihn zu Entschlüssen zu bekehren, bei denen er die Illusion hat, als habe er sie aus eigener Kraft gefaßt. Er bezwingt die selbstzerstörenden und Marie zerstörenden Begierden. Ohne den Frieden der Nerven und der Sinne sind alle Rettungsversuche kindisches Bemühen. Der Frevel, den er begangen hat, wird ihm bewußt. Das Gebot der Entsagung formt sich als erste Stufe des Aufstiegs. Marie geht nicht von ihrer Überzeugung ab, daß man eine Frau, die man liebt, vor allem einmal freigeben muß. Er denkt lange darüber nach und gibt es endlich zu. Er fragt, ob es, in seinem und ihrem Fall, nicht zu spät sei. Nein, dazu ist es nie zu spät. Er ist also willens, es zu tun. Sie soll so frei sein, daß kein Gedanke von ihm, kein Wunsch sie mehr bindet und verpflichtet. Als wenn er selber unsichtbar wäre, nur noch als Schutzgeist vorhanden. Schwer. Aber gibt es wahrhafte Entsagung, die leicht ist?

So könnte er möglicherweise die Überlegenheit wiedergewinnen, um sie aus der Verstrickung zu lösen. Könnte die Angst von ihr nehmen. Könnte die Leidenschaftserinnerungen vermauern. Es müßte freilich mit äußerster Behutsamkeit geschehen. Sie dürfte die Absicht nicht merken. Es wäre ein Anfang. Dann müßte er ihr allerdings frische Lebensspeise geben, etwas, wovon sie sich seelisch nähren und sättigen könnte, eine Spannung, eine tragende Bewegung, denn so weit ist er ja nun in der Kenntnis ihrer Natur gelangt, daß er in diesem Liebeserlebnis nicht mehr etwas Zufälliges und Gesetzloses sieht, den leichtfertigen Treubruch einer ihm zugehörigen Frau, sondern einen Akt der Herzensnot, eine dämonische Entfaltung. Das muß man wissen, sagt er sich, sonst kann man einen solchen Menschen nicht verstehen.

Aber Marie, deren Inneres alle seine Regungen seismographisch registriert, findet, daß er dabei nach der entgegengesetzten Seite übers Ziel schießt. Warum es denn so schwer nehmen, fragt sie, warum es mit Zentnergewichten beladen? Er möge sich doch, unbeeinflußt von seinem persönlichen Anteil, vorstellen, was tatsächlich und wirklich passiert sei. Nichts, nichts, nichts. Ihm nämlich nicht: der sich aufführe wie ein Mann, dem das bitterste Unrecht widerfahren ist. Er solle es doch natürlich und vernünftig betrachten, Joseph-Kerkhovenisch, nicht mit dem Pathos eines Leidtragenden, der seine Liebe bestatten muß, denn gerade diese Liebe sei in keiner Weise in Mitleidenschaft gezogen. Das alles sei nicht mehr wahr, es sei sogar ein wenig mauvais genre, sehe er das nicht ein?

Immer wieder kommt sie darauf zurück, und obwohl ihr durchaus nicht scherzhaft zumute ist, bemüht sie sich, um ihn heller und leichter zu machen und weil sie nur aufzuatmen vermag, wenn er nicht wie die verkörperte Düsternis durchs Haus wandelt, sein Verhalten ins Komische zu ziehen, und manchmal lacht sie ihn direkt aus. Sie hat so viel Humor, und wo es eine Gelegenheit zu spotten gibt, läßt sie sie schwerlich vorübergehen, auch wenn sie zwei Minuten vorher nicht gewußt hat, wie sie sich aus ihrem Jammer retten soll. Bisweilen lächelt Kerkhoven auch wirklich; es erscheint ihm nicht ausgeschlossen, daß er sich mit der Zeit in die souveräne Haltung würde hineinleben können, die Marie mit der Ungeduld einer nervös Ermüdeten von ihm fordert. Jedoch es ist der Körper, der Widerstand leistet, der dumpfe, plumpe, schwunglose Mannsleib, dem seit Jahrhunderten und Generationen die unerschütterliche Vorstellung vom garantierten Besitz einer Frau innewohnt, so daß er es als Mneme in sich trägt und sich grimmig wehrt gegen Raub und Entehrung. Das liegt im Blut, keine Wandlung der Sitte und der Zeiten macht es alt und überlebt. Eine Frau ist kein Versatzobjekt und kann nicht ausgeliehen werden und nicht dem ersten besten Wegelagerer als vorübergehendes Eigentum zufallen, das verwüstet die Ordnung, greift ein in heilige Form, entzieht der Familie und wahren Ehegemeinschaft den Boden; und die angenehm temperierte Gewohnheit der Sinnenliebe, Palliativ gegen alle Gelüste und Abenteuer, einem wohlbehüteten Herdfeuer zu vergleichen, wird zum fragwürdigen und umstrittenen Recht. Das ist nicht erlaubt, das darf nicht sein, es ist eine mißverstandene Freiheit.

Marie schüttelt trostlos den Kopf. Dieses ewige Bohren im Vergangenen – zum Verzweifeln! Sie reden tagelang, nächtelang; kein Fertigwerden, man dreht sich im Kreis. Doch umgibt er sie dabei mit einer unvergleichlich zarten Sorgfalt. Er findet Mittel, sie abzulenken, die äußerlich scheinen, aber auf listige Weise ins Innere wirken. Sie unternehmen gemeinsame Fahrten in die Landschaft, Wanderungen durch die Wälder. Kerkhoven läßt seltene Früchte, seltene Blumen aus der Stadt kommen, alte Stiche, alte Drucke, die Marie liebt. Er, dem es immer ein Mißbehagen verursacht hat, an die Überflüssigkeit des Lebens zu denken, das Schmückende und Verschönende, erkennt auf einmal ihre Bedeutung an und ist unermüdlich in der Herbeischaffung. Es macht manchmal den Eindruck, als wolle er sich in der Obsorge betäuben. Aber es liegt eine tiefere Absicht dahinter. Er hat erfahren müssen (bei einem ganz bestimmten Fall, wir werden gleich davon zu sprechen haben), daß die geschlechtliche Ohnmacht auf das ganze geistige und seelische Gebiet übergegriffen hat, und er sieht in dem inneren Wiederaufbau, den er an Marie vornimmt, die einzige Möglichkeit, wie er wieder Arzt werden kann. Von der Liebe aus. Von einer Halluzination des Herzens aus. Sonst geht es auf keine Weise mehr, alle andern Wege hat er bis zum Ende abgeschritten.

12

An einem dieser Tage war ein Mann zu ihm gekommen, der bereits in der Stadtwohnung mehrmals dringend nach ihm gefragt, sodann einen seitenlangen, höchst verworrenen Brief geschrieben hatte, worin er bat, ihn in Lindow besuchen zu dürfen, die Unterredung sei seine letzte Hoffnung. Obschon Kerkhoven den Ton kannte, Hunderte sprachen und schrieben so, hatte er nicht den Mut, den Mann abzuweisen, und so erschien er eines Vormittags zur bezeichneten Stunde.

Er hieß Karl Buschmann und war ein schmächtiger, phthisisch aussehender Mensch von achtundzwanzig Jahren. Er war vor ein paar Wochen aus dem Zuchthaus entlassen worden, wo er sechs Jahre wegen Hochverrats verbüßt hatte. Er und sein jüngerer Bruder Erich hatten einer staatsfeindlichen Organisation angehört, beide waren am selben Tag verurteilt worden. Es schien, daß ein Falscheid dabei eine Rolle gespielt hatte. Der Bruder war nach anderthalb Jahren in der Strafanstalt gestorben. Karl hatte außer ihm keinen Menschen auf der Welt gehabt und auch keinen geliebt. Beide waren wie eine einzige Person gewesen, das Leben hatte sie zu einer Art von Identität verschweißt. Sie stammten aus guter Familie, der Vater war Hüttendirektor und im Krieg gefallen, sie hatten dieselben Schulen besucht, Gymnasium und Technikum; schon mit siebzehn Jahren waren sie Mitglieder einer radikalen politischen Gruppe geworden und hatten sich an den Spartakuskämpfen beteiligt. Sie hatten dieselben Anschauungen und Ziele, lasen dieselben Bücher, schliefen im selben Bett, nichts unterschied sie voneinander als der Taufname. Als Karl den Tod des Bruders erfuhr, lag er vierzehn Tage lang starr auf seiner Pritsche, erbrach alle Nahrung und war vorübergehend blind. Tatsächlich, nicht bloß eingebildet. Nachher verlor er das Zeitgefühl, litt an Zählmanie und schweren Nervenkrisen. Einmal wurde er von einem Zellengenossen körperlich mißbraucht, und als er es anzeigte, wurde er in einer Nacht halbtot geprügelt. Aber alles das war nicht der Grund seines Kommens. Sondern was sich seit seiner Entlassung mit ihm ereignet hatte. Er könne es nicht anders bezeichnen denn als eine völlige Verkümmerung seiner Sinne und Organe. Die Speisen blieben ihm im Schlund stecken, Verdauung habe er fast keine, vor Wasser graue ihm genau wie vor Alkohol, Farben sehe er nicht, die Haut sei wie ertaubt, Geräusche könne er nicht differenzieren, die Stimmen der Menschen klängen ihm wie Trompetengeschmetter, Papierrascheln wie Klirren von Glas, eine ungeheure, gräßliche Angst vor der Welt habe sich seiner bemächtigt, und diese Angst weiche nur von ihm, wenn er ein Weib in den Armen halte; davon allerdings könne er nie genug bekommen, es sei das einzige Gefühl und die einzige Kraft, die ihm geblieben, es sei damit rein zum Tollwerden und quäle ihn wie ein ununterbrochener brennender Durst; die Frauenzimmer schienen es zu wittern, sie würfen sich alle nur so hin an ihn, aber lange könne er es nicht mehr machen, auch da drohe bereits das Grausen, und wenn man so ohne jede Beziehung zu sich selber lebe, ohne die Spur von höherem Trieb und Interesse, nur mit einer ungefähren Erinnerung an das, was früher war, daß man einmal ein ganzer Mensch gewesen und jetzt nur ein halber, seit sie den Erich umgebracht ... was solle man denn noch, man versteht ja nichts mehr von dieser Schweinewelt, die so bedreckt sei wie ein Stiefel im Schlamm. Herrgott, Herrgott, könne ihm der Herr Professor nichts geben, was ihm helfen könne?

Kerkhoven schaute den Mann still prüfend an. Er hatte eigentlich immer darauf gewartet, daß ihm die Zeit eines Tages einen richtigen Golem vor Augen führen würde. Da war einer. Jedenfalls ein golemnaher Mensch, Erzeugnis gott- und schöpfungswidriger Mächte. Es mußte so kommen. Was sollte man da sagen und raten? Dieses Extremste mußte eintreten, um ihm die endliche Gewißheit seiner Impotenz zu geben, ihn erkennen zu lassen, daß er mit den bequem gewordenen Methoden in Gefahr war, zum Betrüger und Selbstbetrüger zu werden. Es war falsch, es vereitelte den Heilzweck in einem höheren Sinn als dem individuellen, wenn man einem Menschen sein Schicksal abnahm und auf sich nahm; damit stürzte man ihn nur in den Wahn, als ob eine mechanische und äußerliche Hilfe möglich wäre, als ob er ohne sein Zutun und den härtesten, sittlich-physischen Kampf gerettet werden könne, ohne den Kampf jedes Organs, jedes Nervenstrangs, jeder Hirnzelle um eine wahrere Existenz. Hineinstellen mußte man ihn in sein Geschick, hineinpressen, ihm die Verantwortungen grausam eröffnen, den Willen schulen, zu Selbstentscheidungen über das Nein und Ja erziehen, zu denen die Todesneigung oder die Erneuerungsbereitschaft der eigenen Natur ihn nötigten.

Das war ein Umsturz des Systems. Aber vorläufig konnte man noch nichts damit anfangen. Es fehlten die Grundlagen und die Erfahrung, die ohne geduldige Arbeit und Selbstverwandlung nicht zu erreichen waren. Und ohne Entsagung nicht, auch hier. Als sein forschender Blick den glitzernden Augen des Mannes begegnete, sagte er sich: Es liegt eine Pupillenstörung vor. Aber was es auch sein mochte, es kam nicht in Betracht. Er fragte dies und jenes, befühlte den Puls, maß den Blutdruck, prüfte die Reflexe, dann verschrieb er ein Mittel, eine Drüsenmischung, es hätte ebensogut ein anderes Mittel sein können, er sah nichts, er empfand nichts, er wußte nichts, er entließ den keineswegs Beruhigten mit üblichen Redensarten, und als er ihn zur Tür begleitete und seinen schwankenden Gang wahrnahm, dünkte ihn eine Sekunde lang, als gehe sein Doppelgänger von ihm weg, ein gestorbener anderer Kerkhoven, der Golem. Er blieb den Tag über abgekehrt und schweigsam.

13

Der letzte Oktobertag. Sie hatten den Nachmittag im Freien verbracht, am Abend, nach dem Essen, sagte Kerkhoven: »Ich muß über etwas Bestimmtes mit dir sprechen.« – Marie sah ihn erwartungsvoll an. – »Du hast dich wahrscheinlich gewundert, daß ich meine ganze gewohnte Arbeit aufgesteckt habe«, sagte er und korrigierte sich, als Marie den Kopf schüttelte, »na vielleicht nicht, vielleicht warst du froh darüber, aber du hättest dich doch wundern müssen.« – »Schön, nimm an, ich hätte mich gewundert.« – Er schaute blinzelnd in die Höhe, den Kopf schräg, wie ein Vogel. »Es wäre eben in keinem Fall länger gegangen. Das Stück war abgespielt. Ich habe immer deutlicher gespürt, daß ich in den Leerlauf gerate.« – »Was nennst du Leerlauf? Man hört das Wort jetzt so oft, aber was war es bei dir?« – »Das Mißverhältnis zwischen dem Wirkungsfeld und der inneren Dynamik.« – Marie wurde immer aufmerksamer. »Ich verstehe ... innere Dynamik ... du meinst, was im Widerspruch zum Praktischen steht, zu den praktischen Aufgaben?« – »Ja, zum Betrieb ganz einfach. Man verfällt der Wiederholung des Gleichartigen. Eine unendliche Reihe ohne Summe. Selbstwiederholung. Jede Handfertigkeit, jede Geistfertigkeit läuft auf Selbstwiederholung hinaus.« – »Gut, aber anders kann man doch nicht in die Breite wirken, und du willst doch in die Breite wirken.« – »Ich weiß nicht. Früher vielleicht wollte ich es. In die Breite wirken heißt darauf verzichten, in die Höhe und in die Tiefe zu wirken. Es ist das große Problem heute. Wir kämpfen sozusagen um eine neue Dimension. Beim Ausbau der alten haben wir das Edelmetall des Lebens zugesetzt und nichts dafür hereinbekommen als wertlose Schlacken.« – »Was willst du aber tun?« – »Schluß machen. Von vorn anfangen. Umkehren und den Punkt suchen, wo man in die falsche Bahn eingebogen ist.« Er sagte das alles scharf betont und auffallend hastig. – »Ich kann mir noch nichts Greifbares darunter vorstellen«, gestand Marie zögernd. – »Paß auf und erschrick nicht über das, was ich dir jetzt sage, Marie«, er nahm ihre Hand zwischen seine beiden; »man muß die Praxis für eine Weile an den Nagel hängen. Mit allem Bisherigen brechen. Man darf nicht vom Beruf leben wollen, wenn man nicht mehr die Überzeugung hat, daß man ihn so restlos ausfüllt wie ein Körper seine Haut. Man muß der Herr des Metiers sein, nicht sein Knecht, nicht sein Hund. Das ist alles so einfach, wie wenn du guten Tag sagst; sieht man näher zu, so ist es eine Frage auf Leben und Tod.« – Marie blickte so heftig interessiert in sein Gesicht, als wolle sie eine Geheimschrift entziffern. »Es wäre ja nicht das erstemal, daß du alles über den Haufen wirfst«, bemerkte sie nachdenklich; »schon vor fünfzehn Jahren hast du es getan. Nicht zu deinem Schaden. Es ist offenbar dein Gesetz.« – Er nickte. »Auch damals ist es im Zusammenhang mit dir geschehen. Das gibt zu denken ... Machst du dir auch klar, was ein solcher Entschluß von uns fordert?« – »Ich glaube, ja.« – »Wir haben in den letzten Jahren gelebt wie Börsenspekulanten.« – »Ich bin zu allem bereit, Joseph. Ich bin keine Henne, die um den Brutplatz zittert.« – »Das sagt sich so leicht ... Überlege einen Augenblick ... Du hast gewisse Neigungen ... Liebst es, dich elegant zu kleiden, hast dich an die Sorglosigkeit im Geldausgeben gewöhnt.« – »Ich bin nicht davon abhängig, Joseph. Ich kann mich jeden Tag umstellen. Es muß nur etwas da sein, wofür ich es tue, und offengestanden: ich warte darauf.« – »Schön. Wir müssen Lindow verkaufen. Das Haus in Berlin verkaufen. Die Anstalt abgeben. Was vom Erlös bleibt, nach Tilgung aller Verpflichtungen, muß erstens verwendet werden, um dich und die Kinder vor Mangel zu schützen; ich selber bringe mich durch, wie, das gehört in einen anderen Teil unserer Unterhaltung, und zweitens schwebt mir seit langer Zeit ein Projekt vor, über das ich aber jetzt nicht reden möchte. Nur damit du ungefähr im Bild bist ... Es handelt sich um die Errichtung einer Heilstätte, wie ich sie mir träume, im kleinsten Stil vorläufig, irgendwo im deutschen Süden ... Aber bis dahin hat es jedenfalls gute Wege.« – »Warum?« fragte Marie. »Warum es aufschieben?» – »Weil, ...« er stockte; »ich habe eine weitläufige Arbeit vor. Ich habe dir davon erzählt. Ein Buch über den Wahn.« – Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Das ist nicht der wirkliche Grund, Joseph. Du verbirgst etwas.« – »Stimmt. Aber ich weiß nicht, Marie, weiß nicht, ob du ... es ist das Schwerste von allem, was ich dir zu sagen habe.«

Ein leichter Schauer lief über Maries Schultern. Sie ahnte es. Sie mochte ihn aber nicht bedrängen. Sie ließ kein Auge von ihm. Seine Haltung, der leicht zurückgelehnte Oberkörper, das mächtige Haupt ruhig dem Licht zugekehrt, das machte plötzlich einen großen Eindruck auf sie. Prachtvoll sieht er aus, mußte sie denken. Keine innere Besetztheit, keine andersgerichtete Beschäftigung konnte sie daran hindern, das Sinnfällige wahrzunehmen und vom Standpunkt der Schönheit aus zu beurteilen. Diejenigen, die sie nicht genau kannten, nahmen bisweilen sogar Anstoß daran und nannten sie eine hoffnungslose Ästhetin.

14

Aus tiefem Schweigen heraus sagte sie: »Auch ich ... du begreifst, ich kann nicht zuschauen, bis mir die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. In all den Jahren hab' ich nicht viel Ersprießliches geleistet. Ja, das Gut ... Aber wenn man bloß zu befehlen braucht ... Nicht einmal um meine Kinder hab' ich mich richtig gekümmert. Es ist so, glaub' mir. Ich hab' sie wachsen lassen, das war alles. Wie lang wird's dauern, und man muß sie hinausschicken. Sie sind nicht vorbereitet für das, was kommt. Eines Tages werden sie einem vor die Hunde gehen, und man hat sie in der Watte aufgezogen.« – »Du hast nicht unrecht. Es kommt eine finstere Zeit. Seit einem Jahrtausend war keine ähnliche.« – »Und ich selber«, fuhr Marie fort, »ich hab' gelebt wie eine Prinzessin. Es gibt Aufgaben. Schön, was du vom Wiederanfangen gesagt hast, Joseph. Es gilt auch für mich. Was ich tun will ... ich weiß noch nicht genau. Ich hab' nur ein dunkles Bild davon. Darf ich dir erzählen, was mir letzte Nacht geträumt hat? Ich bin geflogen. Immer höher und höher. Dabei war mir angst und bang, weil ich das Gefühl hatte, ich sollte dich nie wiedersehen. Auf einmal war ich so hoch oben, daß ich wußte, jetzt bin ich nah bei Gott. Und ich hatte nur die einzige Sehnsucht, daß mich sein Blick treffen sollte. Es erschien mir wichtiger als das Leben, daß er mich sah, und ich wechselte immerfort den Platz, um seinen Blick zu erhaschen, es war aber umsonst, und in meinem Kummer darüber fing ich entsetzlich zu weinen an. Im selben Moment fiel ich wieder herunter, ganz langsam, und darüber war ich selig, ich fühlte, Gottes Blick hielt mich jetzt, sonst hätte ich nicht so langsam fallen können. Je näher ich der Erde kam, desto glücklicher wurde ich; und dann wachte ich auf ... wie in einem Rausch von Glück, immer noch mit dem Gefühl: sein Blick hält mich jetzt. Sonderbarer Traum, nicht?« »Ja, sonderbar«, sagte Kerkhoven kopfschüttelnd.

Nach einer Weile begann Marie wieder: »Jetzt mußt du mir auch gestehen ... Was ist denn das Schwere, was du mir zu sagen hast? Du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich werde nicht feig sein.« – Kerkhoven beugte sich so weit vor, daß die zwischen den Schenkeln gefalteten Hände fast den Teppich streiften; es war die Haltung, die er oft bei entscheidenden Mitteilungen annahm. »Es ist allerdings schwer«, gab er zu, »sehr schwer. Doch ist es das einzige Mittel um ... Wenn du mir nicht mit allen deinen Kräften dabei hilfst, Marie, geht es wohl kaum ... Ich dachte es mir ziemlich einfach, es dir zu sagen ... indessen ...« Mit einem Ruck warf er den Kopf hoch, sein Gesicht war fahl geworden. »Wir müssen uns trennen, Marie. Und zwar für lange Zeit.« – Marie, ebenfalls blaß, schaute ihn stumm an. – »Wenn du mich nach den Gründen fragst«, führ er fort, »kann ich dir keinen einzigen nennen, der vollauf zureichend wäre. Es ist ein Entschluß, zu dem du nur ja oder nein sagen kannst.« – Auf den Ellbogen gestützt, schaute ihn Marie regungslos an. Nur die Haut des Halses bebte wie von krampfhaftem Schlucken. – »Wir haben etwas mitsammen durchgelebt, Marie ... Na, erspar mir den Kommentar. Ich kann nicht als Ruine eines Mannes bei dir bleiben. Dazu bist du mir zu viel. Diese Liebe ... Ich habe sie ja erst jetzt entdeckt. Sie war natürlich da, aber von ihrem Ausmaß hatte ich keinen Begriff. Das muß vorausgeschickt werden, damit du besser überblickst, worum es sich handelt. Nicht bloß um unsere Beziehung ... obgleich ... in ihr liegt der Schlüssel. Es hilft nichts, es zu verhehlen ... Ich bin ein Entmannter auch als Arzt. Weiterschustern würde das Übel irreparabel machen. Da heißt es: Abstinenz. Alle Bindungen müssen für eine Weile zerschnitten werden. Ein Mensch wie ich kann sich kaum mehr vorstellen, was das praktisch bedeutet. Möglich, daß ich diesen Andergast suche. Erschrick nicht, Liebste, es ist vielleicht eine Wahnidee. Ich habe zuviel seelisches Kapital in den Menschen gesteckt. Damit ist er durchgegangen wie ein Defraudant. Kann sein, ich brauche ihm nur drei Sekunden in die Augen zu sehen, und ich hab' ihn, wo ich ihn haben will.« – »Nein«, rief Marie mit einer kalten, wehen Stimme, »denk nicht mehr daran!«

Kerkhoven erhob sich und ging mit großen Schritten zwischen Wand und Wand auf und ab. »Gut, gut, gut«, sagte er vor sich hin, »das sind Velleitäten. Aber ich habe nicht die Absicht, etwas zu unterlassen, was mir den Rücken frei macht. Es geht ums Ganze. Um die Probe auf Blut und Nieren. Wenn man seinen Impulsen stets ausgewichen ist, lohnt sich sogar mal eine Dummheit. Als Namenloser kann ich mir das unter Umständen leisten. Verstehst du, was ich will? Namenlos werden, hauslos. Wo hab' ich das Wort her, das mir beständig durch den Kopf geht, vom Gang in die Wüste? Erinnerst du dich noch an die Flucht des achtzigjährigen Tolstoi? Wie er in einer kleinen Bahnstation in der Steppe starb? Du warst schon ein erwachsener Mensch damals, du mußt dich erinnern. Grandiose Sache. Ein Memento. Gelebte Prophetie. Na ... sterben werd' ich nicht gerade. Nein, will ich gar nicht. Man hat ein untrügliches Gefühl vom Sinn dessen in sich, was mit einem geschieht. Die biologische Sicherheit; fundamental. Nur fordert es vom andern unbedingtes Vertrauen; in diesem Fall von dir. Hast du das Vertrauen, so erschaffst du mit, was aus mir wird.«

Er hatte ziemlich erregt gesprochen, und auf Maries scheue Frage »Ich werde also nicht wissen, wo du bist?« antwortete er, die Hand an die Stirn pressend: »Ich kann's noch nicht sagen. Das Schlimmste sind Halbheiten. Zunächst will ich mich treiben lassen. Ohne Programm. Vor ein paar Tagen hab' ich einen Antrag der holländischen Regierung bekommen. Ich soll einer Studienkommission beitreten, die nach Java geht. Ich überlege noch. Ich habe vier Wochen Zeit, mich zu entscheiden, und viereinhalb Monate bis zur Reise. Es garantiert wenigstens die äußere Existenz. Aber du darfst mir nicht nachforschen, was immer passiert. Es ist hart, aber es muß sein. Es muß ganzer unabänderlicher Ernst sein, Marie. Eines Tages werde ich dir schreiben. Bist du dann so bereit wie ich, dann steht kein Hindernis mehr zwischen uns.«

15

Von der Stehuhr im Nebenzimmer schlug es eins. Marie stand auf, trat ans Fenster, schob den Vorhang beiseite und sah in die Nacht hinaus. Ihr Gefühl war heillos verwirrt. Das Vernommene dünkte sie so abenteuerlich, so drohend und finster überraschend, daß sie Mühe hatte, an die Worte zu glauben. Der Mann, der hinter ihr noch immer in gleichmäßigem Rhythmus auf und ab ging, erschien ihr als ein anderer denn der, den sie kannte. Einer, der nie brüderlich und liebend ihr Leben geteilt, der so fremd, so streng, so ungeahnt entschlossen war, daß sie auf einmal schmerzliche Sehnsucht nach ihm verspürte, wie wenn er bereits Abschied genommen und unerreichbar weit weg wäre. Konnte sie ertragen, was er ihr auferlegen wollte? Das war die Frage. Und wenn sie der Prüfung nicht standhielt und zerbrach? Wenn die innere Aufgabe, die sie auch ihrerseits sich gestellt und die sie bis jetzt nur in allgemeinen Umrissen sah, bloß ein Wunschtraum war? Wenn sie gar nicht fähig war, als Frau allein ihr Leben zu gestalten? Wenn die schmeichelhaften Stimmen, die ihr eine Eigenentfaltung versprachen, selbstverliebte Täuschung waren? Wenn sie die Kraft, die sie sich zugetraut, gar nicht besaß, auch nicht die Kraft, zu warten? Und wo war die Gewähr dafür, daß er nicht stürzte und an sich und seinem Ziel endgültig verzweifelte? Konnte sie wissen, ob er je zu ihr zurückkehrte? Wissen, wohin es ihn verschlug? Eine ungeheure Natur, ja, ein Baum, aber gerade solche werden oft jäh gefällt, und was dann?

Während sie die Stirn an die kühle Scheibe drückte, irrte ihr Blick zur Höhe, und sie sah einen Stern fallen. Es war wie das Aufblitzen einer feurigen Lanze. Sie fuhr zusammen. Sie dachte an ihren Traum. Sie neigte den Kopf: War das Gottes Blick? Da spürte sie Kerkhovens Hände auf ihren Schultern. Sie lehnte sich gegen ihn zurück. Sie tastete nach seinen Händen, und als er ihre Gelenke umgriff, sagte sie leise, im Ton der Gelobung: »Ja, Joseph, ja.«

16

Die Ordnung seiner Angelegenheiten nahm ihn zwei Wochen in Anspruch. Er hatte mit den Behörden zu tun, mit der Ärztekammer, hatte lange Besprechungen mit seinen Assistenten, die Forderungen mußten beglichen, die Außenstände eingetrieben werden. Die Auflösung beider Haushalte besorgte Marie. Für den Verkauf von Lindow wurde ein Sachwalter bestellt. Sie hatte das Gut in den letzten Jahren ausgezeichnet bewirtschaftet, es meldeten sich auch alsbald mehrere Interessenten. Nach Kerkhovens Abreise wollte sie mit den Kindern eine kleine Wohnung in Berlin beziehen, aber nur für ein halbes Jahr, später gedachte sie an den Bodensee zu übersiedeln, wo sie für Johann, ihren älteren Knaben, eine passende Lehranstalt ausfindig machen wollte. Das war auch der Wunsch Kerkhovens, der nicht nach Berlin zurückkehren wollte.

Nicht ein einziges Mal, weder mit Mienen noch mit Andeutungen, versuchte sie seinen Entschluß zu erschüttern. Sie fragte ihn nicht aus, sie verriet keine Schwäche, sie ließ den Kopf nicht hängen, und das stille Einverständnis, das sie ihm zeigte, täuschte ihn über die nagende Sorge hinweg, gegen die sie nur wehrlos wurde, wenn sie allein war.

Ein Handkoffer und eine Ledertasche waren sein ganzes Gepäck. An jedes Stück, das er einpackte, knüpfte er die Überlegung, ob er es wirklich brauche oder ob er sich nur einbilde, es zu brauchen. »Der viele Plunder, den man durchs Leben schleppt, nimmt einem innerlich Platz weg«, sagte er; »besitzen heißt besetzt sein.« – »Ich will mir's merken«, sagte Marie und verkaufte ein paar Tage später den größten Teil ihres Schmucks.

Über den Abschied wollen wir nicht viel Worte verlieren. Marie, im Vorsatz, es ihm leicht zu machen, zwang sich sogar zur Heiterkeit. Bis fünf Minuten vor der Trennung. Da mußte sie sich Gewalt antun, um nicht laut herauszuweinen. Plötzlich erschien ihr sein Unternehmen als frevelhafte Herausforderung des Schicksals. Ist es denn wirklich nötig? wollte sie aufschreien, aber er ließ es nicht zu; in seinem Blick lag eine so ruhige Bejahung, daß sie die Zähne aufeinanderbiß und sich mit zitternder Kinnlade zu den Kindern wandte, die den Vater traurig und neugierig anschauten. »Gib acht auf sie, gib acht auf dich«, war sein letztes Wort.

17

Die Verhandlungen mit Holland zogen sich wochenlang hin. Er mußte zweimal nach Amsterdam fahren, und Mitte Dezember traf er mit einem Vertreter des Ministeriums in Düsseldorf zusammen. Endlich wurde vereinbart, daß er und drei andere Herren der Kommission am 20. April mit dem Dampfer »Wilhelmine« nach Batavia in See gehen sollten. Er teilte es Marie mit.

Bevor dies verabredet war und nachher, verlor er sich ziemlich spurlos in vielen Städten. Um die Jahreswende hielt er sich in der kleinen Universitätsstadt auf, in der er als junger Arzt praktiziert hatte. Er lebte zu seinem Anfang zurück und ging die Wege Irlens und der achtzehnjährigen Marie. Er mied jeden Verkehr. Er wählte meist ein Quartier, wo er sicher sein konnte, daß sein Name unbekannt war. Dauernd beschäftigte ihn das Buch, für das er seit Jahren Material gesammelt; das Dutzend Notizhefte hatte er mitgenommen. Der vollständige Titel lautete: Pathologie der Wahnvorstellungen und ihr Einfluß auf Religion, Gesellschaftsform und Gesetzgebung. Wenn er zu Wissenszwecken, um eine Bibliothek, eine Anstalt, eine Klinik zu besuchen, Beziehungen anknüpfte, bediente er sich eines Decknamens und einer Empfehlung, die ihm ein Berliner Kollege auf diesen Namen ausgestellt hatte. Erst als er in Zürich arbeitete, wohin ihn der Ruf eines großen Gehirnanatomen gezogen hatte, verzichtete er auf die Maske, die ihm lästige Erklärungen erspart hatte, ihm aber hinderlich gewesen wäre, wenn er, wie es sein Plan war, von Übersee aus wieder hierher zurückkam, um die begonnenen Studien fortzusetzen. Denn das Gehirn, sein Bau und seine Funktionen, trat nunmehr in den Vordergrund seines Interesses.

Er hatte nie so mitten in der Wirklichkeit und zugleich so außerhalb der Wirklichkeit gelebt. Es war die gewünschte Endkettung auf der einen und eine neue Verschmiedung auf der andern Seite. Seine Sinnesorgane betätigten sich mit unvergleichlich größerer Schärfe und Genauigkeit. Er arbeitete vierzehn Stunden des Tages ohne die Spur von Ermüdung. Wenn er einen mehrstündigen Marsch gemacht hatte, genügten vier Stunden Schlaf und ein kaltes Bad, und er war wieder frisch und gespannt. Um seinen Körper in jeder Weise an die veränderten Bedingungen zu gewöhnen, lebte er ausschließlich von Gemüse, Obst und Milch. Er nahm fünfzehn Pfund ab und fühlte sich um fünfzig leichter. Die Säfte gesundeten. Die Nerven waren empfindlicher und folgsamer. Er verlegte sich auf das Studium seiner Atmung, seines Herzschlags, seines Bewegungsrhythmus, ganz sachlich und unpersönlich. Von den schulmäßigen Anschauungen, den von Halbdilettanten gepredigten asiatischen Disziplinen hatte er nie viel gehalten, da seine Überzeugung von der individuellen Verschiedenheit der Rasse, der er angehörte, unbeirrbar war und er an eine spezifische Verwüstung des europäischen Lebens und Lebensvorrats glaubte, die in ihren Anfängen Jahrhunderte zurückreichte, weshalb ein allgemeines Gesetz wirksam zu machen, konnte es selbst formuliert werden, auch wieder generationenlang dauern mußte. Aber wenn man, als Arzt seiner selbst, den Instinkt für den eigenen Körper systematisch verfeinerte, wenn es gelang, Gesicht und Gehör nach innen zu richten und sie zur höchsten Aufmerksamkeit und Erfahrungsbereitschaft zu erziehen, dann durfte man auch ungewöhnliche Leistungen von dem so verwandelten und in Zucht gehaltenen Organismus erwarten. Es ging da nicht um Schmerzvermeidung oder Krankheitsverhütung, überhaupt nicht um egoistische Ängste, sondern prinzipiell darum, diesen kurzlebigen Kloß, das ungeheure Protoplasma Mensch über seine von außen her verkürzten Maße zu treiben und bisher unbekannte helfende oder beispielgebende Fähigkeiten in ihm zu entwickeln.

18

Eines war aber dawider. Eine folternde Unruhe wich nicht von ihm. Sie war das stärkste Hindernis für den Reinigungsprozeß. Bemüht, das Wesen der Wahnvorstellungen zu erforschen und sie tiefer zu fassen, als es bis jetzt geschehen war, stieß er auf eine verderbliche, an der sein eigenes Gehirn erkrankt war. Sie versetzte ihn bald in die Stimmung grauer Mutlosigkeit, bald quälte sie ihn als unbezähmbares Vergeltungsgelüst. Bisweilen schwebte ihm etwas wie ein Duell vor, natürlich keins auf Pistolen, kein handgreifliches, sondern eine geistige Auseinandersetzung, eine letzte Abrechnung, ein Sühneakt. Zu ungeheuerlich war die ihm widerfahrene Beleidigung, zu schmählich der Undank; er konnte es nicht verwinden und vergessen. Er lechzte nach Genugtuung in irgendeiner Form, als Reue, als Abbitte, als Erklärung, als Bekenntnis, als Beichte eines seit dem begangenen Verbrechen unerträglichen Lebenszustandes. Schon dies wäre Entsühnung gewesen. Aber nicht zu wissen, was der Verrat im Verräter bewirkt hatte, sein Sich-aller-Verantwortung-Entziehen mit dem schweigenden Hohn gegen Gericht und Urteil, damit konnte man sich nicht abfinden. Vernunftgründe waren ohnmächtig. So weit war er damals noch nicht, daß er sich kraft eigener Seelendiätetik von dem Druck eines Erlebnisses hätte befreien können, das mit demselben Gewicht auf ihm lastete wie ein öffentlich erlittenes Unrecht oder eine schandvolle Anprangerung. Und wenn er sich mit Maries Worten vorsagte, daß er in einer verstorbenen Begriffswelt lebe, mit unwürdigen Ressentiments und lächerlichen Schemen von Mannesehre, so erstickte dies nicht für einen Augenblick sein Bedürfnis nach gerechtem Ausgleich.

Man muß eben bedenken, was Etzel Andergast ihm gewesen war. Die Sohngestalt im Überleiblichen. Der geistige Erbe. Auf solche Sohnschaft ist der schöpferische Mensch stärker angewiesen als auf die blutmäßige. In Etzels Person hatte er die Jugend als Nachfolge gewonnen. Die bedingungslose Anhänglichkeit des Jüngers und Schülers hatte ihn beglückt. Sie war von dem unabhängigsten Charakter dargebracht worden, der ihm je begegnet war. Sie beruhte auf einem Erfahrungsreichtum, wie ihn nur ein außergewöhnliches Schicksal und eine keimträchtige Zeit in einem jungen Menschen aufspeichern konnten. Er hatte etwas wie einen Helden in diesem Andergast gesehen, einen jungen Herakles, einen künftigen Führer, und seine Liebe und Verehrung hatten ihm wohlgetan, waren ihm Bestätigung und Ansporn gewesen. War es möglich, war es denkbar, daß ein so aufrichtig ergebenes Herz vorsätzlichen Verrat geübt, zu gemeiner Heuchelei seine Zuflucht genommen hatte? Was für Rechtfertigungen hatte er vorzubringen? Es konnte ja ein Mißverständnis obwalten, das unaufgedeckt geblieben war, von dem sogar Marie nichts ahnte. In Maries Geheimnis war er eingedrungen, in das des Mitschuldigen nicht. Marie war geläutert aus der Untersuchung hervorgegangen, der Mitschuldige hatte sich noch nicht einmal gestellt. Somit war der Fall nicht zum Austrag gelangt. Somit war die Ordnung in Kerkhovens innerer Welt noch gestört.

Vielleicht hätte es den ungestillten Aufruhr seines Gemüts schon besänftigt, das war der Sinn der Andeutung, die er gegen Marie hatte fallenlassen, wenn der Treubrecher stumm vor ihm gestanden wäre und er in seinen Mienen das Verlangen nach Absolution gelesen hätte. Aber er fragte sich unzufrieden, ob darin nicht eine verwerflichere Rachsucht steckte als die banale, die einen Feind vor die Mündung einer Schußwaffe fordert. Er litt jedoch. Die Wunde vernarbte nicht. Und so, mehr getrieben als wollend, begab er sich auf die Suche nach dem »Feind«.

19

Er hatte keinen andern Anhaltspunkt als den Wohnsitz Sophias von Andergast, mit der er vor Jahren einige Briefe gewechselt. Wenn er sich ihrer Briefe erinnerte, sah er das Bild einer Frau und Mutter, die unter schweren Kämpfen den inneren Frieden gefunden hatte. Ihr gegenüberzutreten war ein Wagnis. Seine Gedanken schreckten davor zurück. Konnte er ihr nicht als der Beschützer und Lehrer des Sohnes nahen, der er einst in ihren Augen gewesen, so kam er in eine üble Situation.

Aus Baden-Baden war sie schon vor anderthalb Jahren verzogen. In der Villa am Hebelweg, in der sie ein Geschoß innegehabt, empfing ihn eine würdig aussehende alte Dame, die sich anfangs mißtrauisch verhielt, sich aber alsbald schwärmerisch über die einstige Hausgenossin äußerte. Obgleich es sich um einen unerheblichen Fall handelte, nahm Kerkhoven zu seiner Beruhigung wahr, daß seine Gabe, Menschen aufzuschließen und ihnen in scheinbar beiläufigem Gespräch Verschwiegenes zu entlocken, neu erstarkt war. Das konnte er spüren, wie ein Rechner es spürt, wenn er schärfer und schneller denkt.

Sie hatte Nachrichten von Sophia, die bis zum Sommer des vergangenen Jahres reichten. Im letzten Brief war der Plan erwähnt, ein Haus im Fex zu mieten. »Dort wohnt sie auch oder hat dort gewohnt«, sagte die alte Dame, »ich weiß es von meiner Tochter, die oben in Zuoz von ihr gehört hat.« Kerkhoven bat, sich einen der Briefe ansehen zu dürfen, die geordnet in einer Schatulle lagen. Er war von der Handschrift frappiert. Es waren enge, saubere, minutiöse Züge mit großen Zwischenräumen zwischen den Zeilen und einem breiten seitlichen Rand, wodurch ein klares Schriftbild entstand. »Ich besitze Briefe von Frau von Andergast«, sagte Kerkhoven, »aber in denen weist die Schrift einen total verschiedenen Duktus auf, groß, locker und flüchtig. Wie kann sich eine Handschrift so verändern, und welche Einflüsse waren da bestimmend?« »Sie haben recht«, gab die alte Dame zu, »es hat mich auch gewundert, ich habe ihr sogar einmal darüber geschrieben.« – Kerkhoven bemerkte nachdenklich: »Die Ursache kann nur in einer Gemüts- oder Sinnesumstellung liegen, und zwar in einer, die sich bis in die automatischen Lebensäußerungen auswirkt. Es sind alle Zeichen einer bewußten Konzentration vorhanden.« – »Das wird wohl so sein«, erwiderte die alte Dame etwas zurückhaltender, »aber leider kann ich Ihnen darüber keine Auskunft geben.« Als Kerkhoven dann scheinbar absichtslos von Etzel zu sprechen anfing, schüttelte sie nur betrübt den Kopf und seufzte.

Drei Tage später, um die Mittagszeit, stieg er in Sils-Maria aus dem Engadiner Omnibus und wanderte ins Fextal hinauf. Er hatte schon die Höhe erklommen, als ihm einfiel, daß er sich im Ort hätte erkundigen sollen; er wußte eigentlich kein Ziel. Doch mochte er nicht umkehren. Die Talsohle war noch mit Schnee bedeckt, die Atmosphäre war berückend rein, der Himmel zeigte ein rosig durchglühtes Blau. Bisweilen pfiff ein verfrühtes Murmeltier. Die Höhe und das Emporklimmen auf dem steilen Pfad hatten ihn angestrengt, in der Nähe eines Gehöftes, das einer alten Burg glich, blieb er stehen, starrte erst auf den schimmernden Gletscher und schloß dann wie geblendet die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er unweit von sich, an den Torbord des Gehöfts gelehnt, einen hochgewachsenen Menschen, die Hände in den Taschen, eine englische Pfeife im Mund, den in sich versunkenen Fremden ironisch musternd. Kerkhoven grüßte, der andere grüßte zurück. Er sah wie ein ansässiger Bauer aus, es erwies sich aber, als sie sich später miteinander bekannt machten, daß er ein Maler aus dem Prätigau war, der hier oben seine Wohnstätte und sein Atelier hatte.

Als Kerkhoven den Namen Andergast nannte, leuchtete es in dem wettergebräunten Gesicht des Schweizers verständnisvoll auf. Er deutete mit der Pfeife gegen ein mäßig großes Haus am benachbarten Hang. Alle Fenster waren mit Läden vermacht; kein Zweifel, daß es unbewohnt war. »Sie ist also fort?« fragte Kerkhoven. – »Sie und er«, antwortete der Maler in seinem freundlichen Lakonismus. – Kerkhoven gab sich Mühe, gleichmütig zu scheinen. »Er? War denn ein Mann bei ihr?« – »Der Sohn. Den ganzen Winter über.« – »Kannten Sie ihn?« – »Das nicht.« – »Gesehen?« – »Ja. Oft.« – »War wohl nicht umgänglich?« – »Nein. Hat nicht ausgeschaut wie einer, der gern mit Leuten zu schaffen hat.« – »Und wo sind die beiden jetzt?« – »Könnt ich Ihnen genau nicht sagen.« – »Vielleicht ungenau ...« – »Was so herumgesprochen worden ist.« – »Und was ist gesprochen worden?« – »Sie sind wohl besonders interessiert?« – »Allerdings.« – »Die Frau soll drunten in Chur leben. Auf der Post in Sils können Sie es erfragen.« – »Und der Sohn?« – »Er sei nach Rußland gegangen, heißt es.« – »Nach Rußland? Woher will man das wissen?« rief Kerkhoven mit einem heftigen Ruck des Kopfes. – »Ist's ein Verwandter von Ihnen? Ich meine nur ... weil Sie so erschrecken.« – »Nein, kein Verwandter. Aber doch ...« – »Brauchen es nicht zu erklären. Ja, nach Rußland. Die Dame hat, wie er weg war, noch den halben März in Sils gewohnt und hat Briefe von ihm aus Moskau bekommen.« – »Und das ist sicher?« – »In einem kleinen Ort erfährt man so was.«

Kerkhoven blickte grüblerisch vor sich hin. Vergeblich, alles vergeblich. – »Wollen Sie nicht ein wenig eintreten?« fragte der Mann, der ihn teilnehmend betrachtete. Kerkhoven folgte ihm mechanisch in das geräumige, helle Atelier, trank einen Kirsch, verfiel aber alsbald in hölzerne Stummheit und nahm nach einer Viertelstunde eilig Abschied. In Sils wurde ihm mitgeteilt, Frau von Andergast wohne in der Weißkreuzgasse in Chur, im sogenannten Domherrenhaus. Am Abend des folgenden Tages traf er in Chur ein und nahm ein Zimmer in einem Gasthof. Er kam sich wie der Detektiv in einer Kriminalgeschichte vor.

20

Seltsame Irrfahrten; Jagd nach einem Schatten. Was wollte er noch? Daß ihm die Mutter sagte: Er ist vor dir bis ans Ende der Welt geflohen? Was außerdem voraussetzte, daß sie wußte, wie es um ihn stand. Wohin sollte das alles führen? Es war wie seelischer Starrkrampf. Noch einen Schritt weiter, und er konnte das Kreuz über sich machen. Aber vor diesem Schritt bewahrte ihn sein guter Genius.

Er hatte wenig geschlafen; schon um sechs Uhr morgens verließ er das Haus. Die altertümlichen Gassen lagen noch im Dunst des Sonnenaufgangs. Ziellos schlenderte er herum. An einen Besuch ließ sich natürlich noch nicht denken. Er wollte zunächst das Haus ausfindig machen. Er fragte ein paar Passanten. Alsbald stand er vor einem schönen Gebäude; er begab sich auf die gegenüberliegende Straßenseite und blickte versonnen auf die schmale Fassade. Die Fenster waren mit steinernen Blumengewinden verziert.

Er mochte zehn Minuten so gestanden sein, als sich drüben die Haustür öffnete und eine Frau heraustrat, schwarz gekleidet, einen schwarzen Schal um den Kopf, in geschult straffer Haltung, das Gesicht lang und blaß, die Augen gesenkt. Bei ihrem Anblick wich er unwillkürlich einen Schritt zurück, obgleich ihn die Breite der Straße von ihr trennte. Sie war es ohne Zweifel, die er gesucht. In der Gestalt, etwas Undefinierbares von Ausdruck, Gang, Gebärde, war der Sohn enthalten; die Ähnlichkeit war unmöglich zu verkennen. Es hätte die ältere Schwester sein können. Ohne aufzuschauen, ohne sich umzuschauen eilte sie die Gasse entlang und die Höhe gegen den St. Lucius-Dom hinauf. Er folgte ihr in einer Entfernung von etwa zwanzig Schritten. Einen Augenblick hob sich die dunkle Figur wie schwebend gegen den metallisch glänzenden Himmel ab, dann verschwand sie durch ein Seitenportal der Kirche.

Er zögerte. Er überlegte, ob er warten, ob er ihr weiter folgen, ob er sie anreden solle. Unter welchem Vorwand? Ernstlich erwogen gab es keinen einzigen, den sie gelten lassen würde, wenn er sie und ihr gegenwärtiges Leben richtig beurteilte. Indessen trieb es ihn unwiderstehlich in ihre Nähe. Er betrat die Kirche durch denselben Eingang wie sie. Der jähe Wechsel von Licht zu Dunkelheit verringerte seine Sehkraft. Nur die brennenden Kerzen auf dem Altar zeigten ihm den Weg. Er blieb stehen, bis sich die Augen an die Dämmerung gewöhnt hatten, dann schritt er langsam gegen den Altar hin. Auf den Stufen davor kniete Sophia. So hingenommen, ja hinversunken, daß er sein Zuschauen wie sträfliche Neugier empfand. Wenn man von einem verkörperten Gebet sprechen könnte, das war es. Zwiesprache mit einem unbekannten Wesen im Unendlichen. In der Nackenbeuge, der Senkung der Schultern, der Gelöstheit der Glieder, dem Fall des Kopftuchs sogar drückte sich etwas aus, was Kerkhoven wie die Kunde aus einer andern Welt berührte. Es lenkte sein ganzes Denken und Fühlen mit einem Schlag in eine neue Richtung. Wenn es das gibt, dachte er bestürzt, dann weiß ich vom Leben nicht mehr als ein Elementarschüler. Gewiß, viele knien und beten, doch im Vergleich zu dieser waren sie hohle Schemen. Diese war in einem Sinne wirklich, wie nur die Tat und der Leib wirklich sind. Ohne Frage war die an Zerrüttung grenzende Seelenverfassung Kerkhovens die Ursache, daß er in weit höherem Maße als je zuvor für ein Erlebnis empfänglich war, das außerhalb seiner Wirkungssphäre, seines Denkkreises, ja seines Begreifens lag. Er konnte nur hinahnen, es ahnend in Zukünftiges einbeziehen. Er stand gleichsam an der untersten Windung einer Spirale, deren Aufwärtsbewegung bis ins Unsichtbare hinauf ihn fesselte wie ein architektonischer Traum.

Als er sich von der Knienden abwandte und auf Fußspitzen die Kirche verließ, trat er an der Schwelle in den Sonnenschein wie in ein lichteres, größeres Dasein. Der aufreizende Schatten war entwichen. Die kniende Mutter hatte ihn entsühnt. Auch dies Gefühl war für Kerkhoven neu: daß er Absolution gewährt hatte. Gnadenspende – Gnadenempfang. Er lächelte. Es war das erstemal seit langem, daß er wieder lächelte.

21

Er hatte noch vier Tage Zeit bis zur Abfahrt des Schiffes. Im badischen Freiburg unterbrach er die Reise nach Rotterdam, um einen Jugendfreund zu treffen, der an der Universität habilitiert war. Er aß zu Mittag in einer Weinstube mit ihm, dann verabredeten sie sich noch für den späten Abend. Als er zu seinem Hotel ging, las er auf einer Litfaßsäule die Ankündigung eines Vortrags von Alexander Herzog, einem Schriftsteller, der ihn seit Jahren interessierte und dessen Bücher er zum großen Teil kannte. Da die Veranstaltung am selben Abend stattfand und er Zeit hatte, ging er hin. Vorspiel einer Begegnung, die von weittragenden Folgen sein sollte.

Es war keine Rede über ein bestimmtes Thema, wie er erwartet hatte, sondern die beinahe freie Rezitation einer Geschichte, wobei die erzählerische Illusion dadurch verstärkt wurde, daß sie im Ichton gehalten war. Ein Bauer bezichtigt sich des Mordes an seinem einzigen, spätgeborenen Sohn und begründet die Tat mit seiner unabänderlich gewordenen Einsicht in die Mißratenheit des Erben seines Namens und Besitzes. Im Verlauf eines dramatisch erregten Verhörs bringt ihn der Untersuchungsrichter, der zugleich der Erzähler der Begebenheit ist, zu dem Geständnis, daß die Selbstbeschuldigung falsch war, daß der Sohn sich aus eigenem Entschluß umgebracht hat, gänzlich vernichtet vom Leben an der Seite des starr-unnahbaren Vaters, und daß der Bauer die Schuld auf sich genommen, weil er sich nach der letzten Aussprache mit dem Sohn, die ihm die Augen geöffnet, als seinen seelischen Mörder betrachten muß.

Kerkhoven lauschte gespannt. Das Problem schlug in die Gedankenwege, auf denen er sich in der letzten Zeit tastend bewegt hatte. Recht auf Leben und Tod des andern. Befugnis, unwertes Leben auszuscheiden, wenn seine Schädlichkeit erwiesen, der sittliche Endzweck des Richtenden über jeden Verdacht erhaben ist. Revolutionäre Umwälzung der geltenden Gesetze und Anschauungen vor allem für den Arzt, denn sie betraf die Heiltätigkeit am Gesamtleib der Gesellschaft und hatte wenig mehr zu tun mit gewissen gängigen Theorien von Eugenik und Sterilisation. Höchst gefährliches Experiment freilich, wollte man es ausführen, verbrecherisch geradezu ohne die Sicherstellung selbstloser Läuterungsabsicht. Und wo blieb dann der paracelsische Arzt der Barmherzigkeit? Versunkenes Ideal; wenn es wieder auferstehen sollte, mußte eine mildere Zeit anbrechen, eine, in der die Menschen wieder knien und beten konnten. Offensichtlich ging es in der Herzogschen Erzählung um Wert und Rang des Einzellebens, denn der Sohn verübte ja nur deshalb Selbstmord, weil der Vater es durch seine übermächtige Persönlichkeit verstanden hatte, das Bewußtsein seines Unwerts und damit den Todeswillen in ihm zu erzeugen. Das wäre immerhin ein Fingerzeig, dachte Kerkhoven, es scheint, die Dichter sind unsere Schrittmacher.

Noch stärkeren Eindruck als das Werk machte auf ihn der Autor selbst. Alexander Herzog war ein Mann von mittlerer Größe und einer angenehm sonoren Stimme. Er hatte schwere, dunkle Augen und verhaltene Gesten. Er war nahe an die Sechzig, sah aber aus, als wäre er kaum Fünfzig. Das Auffallendste an seinem Gesicht war die Stirn. Sie war so hoch und beherrschend, daß sie im Vergleich mit den übrigen Teilen wie ein künstlicher Aufbau wirkte. Die Züge waren durchtränkt von einer schmerzlichen Melancholie. Dadurch bekamen sie den Ausdruck ununterbrochener, von innen her regierter Bewegung, und es entstand das Bild eines geistig leidenden und sinnlich verstrickten Menschen, der in der Welt ebenso gefangen war wie in sich selber, jedoch augenscheinlich immer wieder Fluchtmöglichkeiten fand, um einem Dämon zu entrinnen, der ihn gezeichnet hatte, sichtbar für jeden, der sehen konnte. Dieses Bild wurde je eindringlicher, je länger Kerkhoven dem Manne zuhörte und unter dem Bann seiner Rede stand. Es grub sich so tief in sein Gedächtnis, daß er es nicht mehr vergessen konnte. Es begleitete ihn übers Meer, es tauchte bisweilen während seiner Fahrten und Wanderungen auf Java mit erstaunlicher Lebendigkeit vor ihm auf, und wir werden erfahren, daß darin etwas wie vorbestimmte Verkettung lag.

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Die Versetzung auf die tropische Insel bewirkte ziemlich genau das, was Kerkhoven erwartet hatte, einen seelischen Stoff- oder Substanzwechsel, der anfangs wie Selbstverlust wirkte, indem er die Erinnerungen an das frühere Leben fast gänzlich verwischte. Die Frage blieb natürlich offen, ob ein Mann, der an der Schwelle der Fünfzig steht, so vergessen darf, wenn er nicht seine moralischen und geistigen Verantwortungen aufheben will, und welchen Mächten er sich an deren Stelle unterwirft.

Er hatte nichts vom Meer gewußt. Während der Fahrt trat zuweilen eine sonderbare Illusionsverschiebung ein; er wähnte sich im vertikalen Sinn fortbewegt; das senkrecht strömende Licht hob in seiner verwirrenden Fülle die Entfernungen in der Horizontale auf. Auch von der Sonne hatte er nichts gewußt. Sie war ein neues Element. Sie glühte gestocktes Blut und gestockte Gefühle aus. Für die Dauer von Stunden lebte man ohne Schwere.

Andere Menschengesichter, Wolkengesichter, Blumengesichter. Die Natur gigantisch und maßlos, die Vegetation wie unter dem Einfluß keimtreibender Gifte wuchernd, die Wetter urweltliche Entladungen, Klima und Atmosphäre gefährlich aufrüttelnd in den Höhen, tödlich erschlaffend in den Niederungen. Achtunddreißig Vulkane, wie unheimliche Schmiedewerkstätten, rasselten im Bauch der Erde.

Überwältigender noch die Farben. Das Auge des nordischen Menschen, wohltätige Mattheit und schwimmende Übergänge gewöhnt, erfuhr schmerzhafte Blendungen durch die Intensität jedes Farbenfeldes und die Schärfe seiner Grenzen. Alle Dinge flammten, belebte und unbelebte, mit rotierendem Leuchtkern und aus violetter Schwärze herausgeschnittener Kontur. Das Rot, Grün, Blau, Gelb von Blumen, Stoffen, Lufterscheinungen, Insekten war die Eruption aus einem verborgenen Farbenkrater und schlug in die Netzhaut hinein wie ein Hieb.

Sosehr dies einerseits Steigerung des Lebens und der Sinneseindrücke war, so verwandt war es andererseits dem Tod. Er mußte sich gestehen, daß er das Todeserlebnis noch nie mit solcher Heftigkeit erfahren hatte wie in dieser Zeit der hohen Nervenspannungen. Er hatte den Tod nur beobachtet, nur festgestellt, nur bekämpft, nie als im eigenen Körper ansässige Macht empfunden. Insofern war er wahrscheinlich als Arzt unzulänglich. Der europäische Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts ist in sein Ich hineinerstarrt wie die Spinne in den Bernstein. Es bedarf eines Schmelzprozesses, um ihn herauszulösen. Er begriff etwas Neues: den Tod im Intervall; Sterben in fortgesetzten kleinsten Zeiträumen, bis der Leib seinen Endtod aus sich selbst erzeugt hat. Das bedeutete, daß Krankheit und Krankwerden wie auch Verbrechen und Wahn auf unreifem Tod beruhen.

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Die wissenschaftlichen Untersuchungen und Forschungen führten ihn und seine Kollegen häufig ins Innere der Insel. Die spezifische Form der Enzephalitis, die in weit auseinanderliegenden Gebieten zahlreiche Opfer forderte, war kurz nach dem großen Kommunistenaufstand ausgebrochen, dauerte sonach schon über fünf Jahre. Eine verbreitete Laienannahme wollte die Ursache in dem Biß einer bestimmten Giftschlange sehen. Eine andere Hypothese bezeichnete ein von Chinesen eingeschlepptes und in den Handel gebrachtes Rauschgift als solche, während manche europäische Ärzte von komatöser Malaria sprachen. Einige Gehirnsektionen, die Kerkhoven vornahm, überzeugten ihn von der organisch-lokalen Pathogenese. Da der Verdacht einer infektiösen Einwirkung von Boden und Wasser in ihm entstand und durch eine Reihe von Beobachtungen zu annähernder Gewißheit wurde, schlug er der Regierung in einer Denkschrift die zeitweilige Verpflanzung der Bewohner aus den verseuchten Distrikten in verschonte vor. Die Maßregel wäre zu kostspielig gewesen und stieß deshalb auf Widerstand, zumal sie von der Kommission nicht einstimmig empfohlen wurde. Es gelangen ihm mehrere Heilungen, deren allgemein therapeutischen Wert er jedoch selbst skeptisch beurteilte. Sie verschafften ihm aber großen Ruf, so daß eines Tages ein malaiischer Arzt aus Buitenzorg bei ihm erschien und sich mit rührender Demut als Schüler antrug. Er wehrte lächelnd ab: Es sei nicht so weit her mit seiner Kunst, wie es den Anschein habe.

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Er glaubte sich in einer Traumwelt zu bewegen, wenn er mit seinen Gefährten oder nur mit einem Diener über die weitgedehnten Terrassenfarmen ritt, an überwachsenen Stadt- und Tempelruinen vorbei, an denen die Vollendung und Schönheit des Mauergefüges auffiel. Wenn er vor den Steinbildern der uralten Hindugottheiten verweilte, der achtarmigen Lora jonggrang, die auf dem Rücken eines knienden Stiers stand, den Kolossalfiguren der »Tausend Tempel« von Ghandi Sewa, dem siebenfach ummauerten Tempel von Borobodo mit seinen vierhundert Statuen, die wie Werke von Riesen aussahen. Das gespenstische Geschrei der wilden Pfauen begleitete seinen Weg, und bei ihrem schrägen Flug warfen sie mit den herrlich irisierenden Schweifen lange, dunkelblaue Schatten.

Daneben wirkte europäische Zivilisation kläglich. Die Lebensformen und Regierungsmethoden Europas, übertragen auf die Art und Form der angestammten Bevölkerung, ließen sich mit dem Bemühen eines unglücklichen und schwerkranken Menschen vergleichen, einen gesunden und glücklichen von der Vortrefflichkeit und Wünschbarkeit seines Zustands zu überzeugen und ihn ebenso krank und unglücklich zu machen, wenn nicht im Guten, so mit Gewalt. Gleichwohl hatte er den Eindruck, daß das System im ganzen, was Milde und Verständigkeit betraf, sich von den sonst geltenden kolonialen Gepflogenheiten zu seinem Vorteil unterschied. Da er es aber in jedem Fall vermeiden wollte, durch Kritik Anstoß zu erregen, schränkte er den Verkehr mit den ansässigen Europäern, reichen Pflanzern und hohen Beamten, so viel wie möglich ein. Nur mit einem jungen Ehepaar freundete er sich mit der Zeit lebhaft an, einem englischen Konsularbeamten William Hardy und seiner Frau. Die Frau war schön; sie hieß Mabel.

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Unerschöpflichen Stoff zum Nachdenken und zur Prüfung ihres tieferen Gehalts boten ihm die kultischen Bräuche der Eingeborenen, das, was der Europäer in seinem Dünkel und seiner Unwissenheit als Aberglauben bezeichnet. Für das Vorhandensein unbekannter Kräfte im Menschen und in der Natur brauchte er nicht eigens Belege und Beweisführungen, er so wenig wie jeder Forscher, der nicht in der rohen Materie erstickt ist. Aber es war oft nicht leicht zu unterscheiden zwischen dem äußerlich Gewohnheitsmäßigen und dem, was geheimnisvoll und ehrwürdig von Religion und Mythos herkam. Er legte seine Beobachtungen in zahlreichen Notizen nieder, die er dann in seinem Buch über den Wahn verarbeitete.

Wenn der Beginn der Regenzeit sich verzögerte, konnte es vorkommen, daß zwei Männer einander mit Ruten den nackten Leib blutig peitschten. Das Blut, das sie sahen und an sich rinnen fühlten, gab ihnen die Gewißheit des nahen Regens. Sie hielten die Seele für einen Vogel, daher steckte eine Mutter ihr Kind, wenn es die ersten Gehversuche machte, in einen Hühnerkorb und lockte es mit dem Ruf Kluck-Kluck. Erde und Himmel und Menschenleib dünkten ihnen verschwistert, weshalb sich nach der Aussaat der Bauer und sein Weib des Nachts auf dem Felde ehelich vereinigten, um die Fruchtbarkeit des Ackers zu sichern. In einer Familie ereignete sich ein Unglücksfall, da wurde ein Kessel mit Wasser und vielen Kräutern aufs Feuer gestellt, die Frau hielt den Kopf dicht über das Gebräu, atmete die betäubenden Dämpfe ein, und während sie in Verzückung und Krämpfe verfiel, trieb sie mit irren Worten und Gebärden den bösen Geist aus dem Hause. Es gibt einen Tag der Dämonenvertreibung, den Tag des schwarzen Mondes. An einem Kreuzweg werden Speisen hingestellt, Früchte und Fleisch. Ein Horn ruft die Dämonen zur Mahlzeit. Die Männer zünden ihre Fackeln an der heiligen Lampe an und ziehen nach allen Richtungen in die Dunkelheit, die daheimgebliebenen Frauen, Greise und Kinder erzeugen durch Klappern auf Balken und Reisblöcken einen ohrenbetäubenden Lärm. Da flüchten die Dämonen zum Kreuzweg, und wenn der letzte angelangt ist, folgt dem Aufruhr ein Todesschweigen, das bis zum Morgen dauert. An die Türen werden Dornenkränze gehängt, um Freunde zu warnen; die Kranken werden aus den Verstecken geholt, wohin man sie gebracht hat, damit die Dämonen nicht zu ihnen zurückkehren, denn jede Krankheit hat ihren eigenen Dämon. Der Reis, der sie nährt, ist ein Gott, mit höchster Verehrung sprechen sie von ihm. Die Erntefeier besteht in einem Hochzeitsfest, bei dem sich der Reisbräutigam und die Reisbraut vermählen. Sie werden als Garben in eine geschmückte Scheune gebracht, und vierzig Tage lang darf niemand die Scheune betreten, um das junge Paar nicht zu stören.

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Da ihn seine wissenschaftlichen Arbeiten täglich mit den Eingeborenen in Berührung brachten und seine Sympathie ihm half, sie zu verstehen, setzte er ihrer Bilder- und Vorstellungswelt nicht den vorurteilsvollen Widerstand entgegen, den der Europäer sich in solchen Fällen schuldig zu sein glaubt.

Die bedeutsamste Erfahrung war für ihn die Ruhe ihrer Seelen und daß die Seelen von allen wie eine einzige waren und daß Erschütterung des Geistes und Krankheit des Leibes wie Schuld empfunden wurden. Versündigung an der Gemeinschaft. Verrat an der Gottheit. Ein Mann, der an einer Splenomegalie litt, schmerzhafter Milzvergrößerung, trat eines Tages nackt vor die versammelte Gemeinde und forderte die Ältesten und die Priester auf, ihn zu töten, da er, siech und von den Göttern verworfen, nicht mehr würdig sei, unter ihnen zu weilen.

War es nicht das Irlen-Erlebnis, das ihm, entscheidender als vor fünfzehn Jahren, wiederum den Weg vorschrieb? Und sah er nicht durch unerwartete Fügung, die wie Freundlichkeit des Schicksals wirkte, das Gesetz vom biologischen Gewissen unmittelbar bestätigt, der Syneidesis, das der große Forscher in Zürich gefunden und verkündigt hatte? Er dachte oft an den Abend, da er dem gewaltigen Mann gegenübergesessen war, der fünfundsiebzigjährig, auch körperlich ein Riese, von dem Thron seiner Weisheit auf das Menschengewimmel, Leben und Sterben, mit dem verwunderten Lächeln herabsah, das das unbestreitbare Vorrecht der Genien ist.

Er sagte zu Mabel Hardy, mit der er in der letzten Zeit seines Aufenthalts fast täglich beisammen war: »Wenn ich meine Existenz hier in einer Formel ausdrücken müßte, würde ich sagen, sie erscheint mir als Vorbereitung für eine künftige andere, deren Umrisse nur allmählich sichtbar werden. Ich meine damit nichts Übernatürliches, wie Sie vielleicht denken, sondern eine reale, irdische Fortsetzung. Ich habe das schon einmal erlebt. Klar: So wie man hineingegangen ist in den Glühofen, kommt man nicht wieder heraus.«

Solche Äußerungen machten auf Mabel Eindruck, da sie mit allen ihren Träumen an jener Überwelt hing, von der er sich soeben mit einiger Vorsicht distanziert hatte. Aber sie nahm seine Worte nicht für bare Münze. Sie hielt ihn für einen Erleuchteten, und in ihrem inbrünstigen Glauben an ihn redete sie sich ein, daß er sich über die ihm verliehenen Gaben und Kräfte täusche, zum Schaden derer, an denen sie sich fruchtbar erweisen sollten. Sie hatte an schweren nervösen Depressionen gelitten, und er hatte sie davon geheilt; ohne besondere Künste oder Mittel, ohne daß sie es recht merkte, natürlich nur auf dem Weg freundschaftlichen Übereinkommens, zu praktizieren war er ja nicht befugt. Seitdem stand er in ihrer Meinung so hoch wie kein anderer Mensch sonst. Sie blickte mit ungemessenem Vertrauen zu ihm auf, das kindlich und unschuldig war, wie auch ihr Anspruch auf seine Person der Unschuld eines siebzehnjährigen Mädchens entsprach, nicht einer reifen Frau von sechsundzwanzig Jahren. »Daß ich Sie gefunden habe, betrachte ich nicht als Glücksfall«, pflegte sie zu sagen (sie hatte lange in Deutschland gelebt und beherrschte die deutsche Sprache vollkommen), »es mußte sein. Ich habe darauf gewartet.« Dabei liebte sie ihren Mann, der jung, gescheit und ein nobler Charakter war.

Kerkhoven verstrickte sich und wurde unruhig. Die Frau ließ etwas in ihm erblühen, worauf er in seinen Jahren nicht mehr gefaßt war.

27

Das Ehepaar Hardy wollte im Oktober nach England zurückkehren; sie fuhren mit demselben Schiff wie Kerkhoven und die anderen Herren der Kommission. Während der Seereise befestigte sich das zarte Verhältnis immer mehr. Mabels »Schönheit« war vielleicht nur eine besondere Art von hübschem Gesicht, mit edlen Formen, sehr englisch. Und dieses Gesicht erregte bei den meisten Menschen, nicht bloß Männern, eine gewisse Verblüffung hauptsächlich durch die Reinheit der Züge und ihren weichen sanften Ausdruck. Manchmal, wenn Kerkhoven neben ihr saß oder stand, hatte er das Gefühl, noch nie einer so lieblichen Frauenerscheinung begegnet zu sein, so still in sich ruhend, mit einem Lachen und Lächeln, daß man ihr gleich gut sein mußte wie einem Kind. Aber es ist anzunehmen, daß ihn der Zustand von Bezauberung, in dem er sich befand, mit innerem Unbehagen oft, zu Übertreibungen verführte. Auch davon sprach er mit ihr, wenn sie auf den Deckstühlen nebeneinanderlagen oder die üblichen Promenaden entlang Reling machten. »Hätte ich eine erwachsene Tochter, was leicht sein könnte, ich wäre Ihnen gegenüber wohl gelassener«, sagte er. – »Fehlt es Ihnen denn an Gelassenheit?« fragte sie erstaunt. »Das ist mir entgangen.« – »Doch, ich habe mich in etwas hineinphantasiert, was sich für meine Jahre nicht schickt.« – »Reden Sie doch nicht immer von Ihren Jahren«, versetzte sie; »warum soll ich mir eine Zahl vorsagen, wenn mir die Zahl nichts bedeutet?« – »Aber ich fühle ihr Gewicht.« – »Mit Unrecht. Waren Sie vor zehn Jahren leichter, vor zwanzig? Sehen Sie. Und kommt es zwischen uns auf die Jahre an? Sagen Sie doch ... Sie wissen es ja selbst.« Ihre großen, schokoladebraunen Augen ruhten mit inständiger Bitte auf ihm. Was war es, um das sie bat? Immer das eine: Nicht zu zagen, nicht zu zweifeln, an sich nicht, an ihr nicht, das erkannte sie als seine Gefahr, und das machte ihre Sorge aus.

Solange er sich einseitig als Ziel ihrer Verehrung gefühlt hatte, war seine Gemütsruhe wenig erschüttert worden; es war nur schmeichelhaft, im Brennpunkt der Aufmerksamkeit einer solchen Frau zu stehen; als er sich aber an der eigentümlich kühlen Flamme versengt und seine gütige Passivität sich in zaghafte Anbetung verwandelt hatte, zaghaft, weil er sich das Liebesrecht gründlich und illusionslos absprach, geriet er in diesen Zwiespalt, den Mabel fürchtete und bedauerte. Sie war arglos bis in den Grund ihrer Seele.

Mit Begierde hörte sie ihm zu, wenn er von seinen Plänen und Ideen erzählte. Dann war ihr ganzes Wesen Anfeuerung, Glaube, Erwartung. Es steckte etwas von einem Missionar in ihr, von einer Menschheitsbeglückerin. In streng christlichen Anschauungen erzogen, hatte sie sich zu einem gemütsbestimmten Christentum durchgerungen, das ohne kirchliche und ohne sektiererische Neigungen war, aber sich leicht ins Schwärmerische verlor: namentlich in allem, was die Gestalt Jesu betraf. Auch von seinem vergangenen Leben sprach er mit ihr, seinem Anfangsweg, seiner ersten Ehe, dem schweren Ringen um Durchbruch, der Freundschaft mit Irlen, von seinen zwei kleinen Söhnen. Und von Marie, immer wieder von Marie, ihrem großen Charakter, ihrem moralischen Mut, ihrem graziösen Geist, ihrer Liebenswürdigkeit und Seelenkraft und der Tiefe und Unerschütterlichkeit ihrer gegenseitigen Beziehung. Mabel sagte sinnend: »Das habe ich alles gewußt. Schon bevor ich Sie kannte. Sonderbar, nicht? Ich bewundere Ihre Frau. Unsinnig bewundere ich Sie. Es muß schwer sein für sie ... Ich möchte ihre Freundin sein. Wir könnten uns viel geben.«

Kerkhoven stand seiner eigenen Vergangenheit mit dem Gefühl gegenüber, das man für eine Mietwohnung hat, aus der man längst ausgezogen ist. Er hatte, seit vielen Jahren, so sehr verlernt, über sich und seine privaten Verhältnisse zu reden, daß es ihm dieselbe Schwierigkeit bereitete, als sollte er Vorgänge aus einem früheren Jahrhundert berichten, die er von ungefähr aus Geschichtsbüchern kannte. Nur Mabels glühende Teilnahme lockte Stück um Stück aus ihm hervor. Und er schaute sie dabei nie an. Er schaute weg, als schäme er sich. Als ginge es gegen die Scham, von sich zu sprechen. Aber es war gut, daß er es tat. Jede Frau, die man liebt, ist eine wiederauferstandene Mutter: Erlöserin.

Sie verabredeten, miteinander in Briefwechsel zu bleiben. Im Frühjahr wollte Mabel mit ihrem Mann auf den Kontinent reisen. Sie besaßen am Genfer See ein kleines Gut. Beim Abschied schenkte sie ihm ihr Bild. Als sie ihm zum letztenmal die Hand drückte, wandte sie sich eilig ab, um ihre Tränen zu verbergen. Und er verkroch sich drei Tage in ein Hotelzimmer in Genua, ehe er sich entschloß, Marie zu telegrafieren und weiterzureisen.

28

An einem der letzten Novembertage des Jahres 1929, Marie hatte eine Woche zuvor ihre Dreizimmerwohnung in der Niebuhrstraße bezogen, hatte der kleine Robert heftiges Fieber. Sie telefonierte der Ärztin Ellen Ritter, einer alten Freundin des Hauses. Sie war Vorsteherin der Aufnahmestelle im Kinderhospital am Prenzlauer Berg. Sonst nicht eben mitteilsam, war sie an diesem Tag infolge eines traurigen Vorkommnisses ziemlich erregt und konnte sich nicht enthalten, mit Marie darüber zu sprechen. Ein achtjähriges Mädchen, das alle Ärzte und Schwestern gern gehabt hatten, war mit einem zu spät erkannten Gehirntumor eingeliefert worden und während der Operation gestorben. Die Schilderung der häuslichen Verhältnisse, in denen das Kind gelebt hatte, wirkte auf Marie alarmierend. »Ist denn das menschenmöglich!« rief sie aus und drückte schaudernd die Schultern zusammen. »Gibt es denn das?« Ellen Ritter verzog die Stirn, als wollte sie sagen: Da könnte ich noch mit ganz anderem aufwarten. »Wenn Sie sich mal den Luxus gestatten würden, für eine Stunde auf meine Station zu kommen, würden Sie allerlei erleben, Verehrteste«, antwortete sie in ihrer schnauzischen Manier. – »Ja? Darf ich? Ich komme gern«, sagte Marie rasch, aber die andere nahm es nicht ernst und wechselte das Thema.

Am zweitfolgenden Tag, um zehn Uhr morgens, erschien Marie im Aufnahmeraum und saß zweieinhalb Stunden wie versteint auf dem Platz, den ihr Ellen Ritter angewiesen hatte. Danach faßte sie ihren Entschluß.

Von Stunde an ertrug sie es nicht mehr, am Rande des Entsetzens zu leben und nur vom Hörensagen davon zu wissen. Auswendig, so wie man weiß: in China verhungern jährlich zwei Millionen Menschen. Schön, China ist weit; zwei Millionen, wer stellt sich das vor. Könnte man's, man würde wahrscheinlich sofort tot umfallen. Aber hier! Rings herum! Im Bereich ihrer Hände und ihrer Augen! Wo hatte sie sich denn eingemauert?

Die Frage war: Was beginnen? Wie es beginnen? Wahllos etwas so Ungeheures auf sich nehmen, wie es Menschendienst ist, wirklicher, nicht angeblicher, das lag ihr nicht, das vermochte sie nicht. Beamtung, Vorschrift, Auftrag, das waren Umwege, die den Schwung in ihr gelähmt hätten. Sie hätte das Gefühl gehabt, als sollte sie erst beim Magistrat um die Bewilligung zum Feuerlöschen nachsuchen, während die Stadt in Flammen stand.

Doch das Massenhafte erschreckte sie. Es stellte ihr die Aussichtslosigkeit des Einzeltuns zu kraß vor Augen. »Wie soll man's machen, wenn man die Sklavin seiner Sympathien ist«, klagte sie gegen Ellen Ritter, »muß man das persönliche Gefühl unter allen Umständen ausschalten?« – »Bis zu einem gewissen Grad, ja. Ich möchte sogar sagen, ganz und gar.« – »Aber ich bin eine hoffnungslose Individualistin, Ellen. Alle sozialen Grundsätze können mir gestohlen werden, wenn sich's um den Menschen handelt, der vor mir steht. Ich muß lieben können, wenn ich helfen soll. Ich weiß, Sie finden das altmodisch und schädlich, aber was soll man dagegen tun?« – »Sie müssen vom hohen Roß herunter! Mit der Liebe werden Sie nicht weit kommen«, sagte die Ärztin kalt; »keinem von uns wird eine Extrawurst gebraten. Was wollen Sie eigentlich?« – »Ich meine, in solchen Dingen kommt es auf das Beispiel an. Wenn ich zehn oder fünf oder drei dieser Geschöpfe wirklich rette, habe ich mehr erreicht, als wenn ich mich mit Hunderten plage, denen ich schließlich doch nicht helfen kann, weil ja die Einrichtungen versagen. Dächte jeder so, dann wäre das ganze Elend nicht. Man muß die Menschen zwingen, so zu denken.« – »Optimistin«, erwiderte Ellen Ritter achselzuckend, »die Menschen kann man nur durch das Schießgewehr zwingen, nicht durch das Beispiel. Schaun Sie mal im Kalender nach, ich fürchte, Sie leben noch im neunzehnten Jahrhundert, meine Gute.«

Marie hatte aber bereits ihren Plan.

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Sie mietete zu den drei Zimmern, die sie innehatte, drei hinzu, die auf demselben Trakt zufällig frei waren. Indes die Räume mit den sparsamsten Mitteln eingerichtet wurden, hielt sie Umschau. Auf der Station, wohin sie anfangs fast täglich ging, wurden neunzig Prozent der zur Prüfung eingebrachten Kinder in Spitalspflege übernommen. Tuberkulose, schwere Hautkrankheiten, Hungerödeme bildeten die Mehrzahl der Fälle. War der Befund unverdächtig, so wurden sie für die Fürsorge vorgemerkt. Meistens zeigten sich aber dann psychische Defekte von so bedenklicher Art, daß eine sachkundige Behandlung geboten war. Um nicht müßig herumzustehen, besorgte Marie die telefonischen Anrufe, informierte die Fürsorgeämter oder beaufsichtigte einen Transport. Die Entlassenen bedurften zunächst keiner Hilfe, da sie in halbwegs guter Verfassung waren. Doch unter dem aufgehäuften Schriftenmaterial befanden sich unzählige Bittgesuche von Eltern und Vormündern und grauenerregende Schilderungen der Fürsorger und Fürsorgerinnen. Es war wie ein Meer. – Eines Tages, als Marie vor einem Stoß solcher Papiere saß, fragte sie Ellen, ob sie sich einige Adressen aufschreiben und sich von dem Notstand der Betreffenden selbst überzeugen dürfe. »Nur zu, nur Mut«, sagte die Ärztin mit ihrem schroffen Lachen, »Unterstützung jederzeit willkommen, mit den öffentlichen Geldern sieht's ohnehin schon windig aus bei uns, was, lieber Hansen, Aussterbeetat heißt die Losung.« Der Angeredete war ein junger Arzt, der Ellen Ritter zur Assistenz beigegeben war. Zu ihren Mißbehagen hatte Marie bemerkt, daß er ein unziemliches Interesse an ihr nahm. Manchmal stand er stocksteif da und starrte sie durch die Gläser seiner Hornbrille an, als sei er über irgend etwas an ihrer Person vollkommen hoffnungslos. Wie lästig, dachte sie dann, wie peinlich ...

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Sie machte sich auf den Weg. Mit einem Ausweis versehen, begab sie sich in die verschiedenen Quartiere. Sie erblickte Dinge, Menschen, Zustände, die ihr das Herz im Leibe auseinanderrissen. Nie wird man wieder lachen können, nie wird man sich wieder freuen können, war ihr steter Gedanke. Da waren Kinder, die sie mit verwilderten Augen anglotzten wie den bösen Feind. Weil die Fürsorge überall gefürchtet und gehaßt war, hatte man ihnen die dümmsten Lügen eingebleut, die sie angstvoll und trotzig herplapperten. Manche standen vor ihr wie galvanisierte kleine Leichname; die verblödeten Mienen erregten den Verdacht, als verständen sie die menschliche Sprache nicht. Mit dem Mißtrauen waren sie auf die Welt gekommen, alle. Hunger, Schmutz, Roheit, Hoffnungslosigkeit waren ihre natürlichen Lebensbedingungen, von andern ahnten sie nicht einmal etwas. Auch in den Augen der Aufgeweckten wohnte meist eine unergründliche tierische Traurigkeit. Sie hausten in übelriechenden Löchern, gepfercht wie Schafe. Ihre Haut war graugelb, wie die Haut mancher Pilze. Wenn sie die Lippen öffneten, sah man farbloses Zahnfleisch.

Zum Weinen ist keine Zeit, sagte sich Marie, wenn ihr der Atem stockte und die Hände kalt wurden, zum Weinen haben wir kein Recht, wir, die mit verschränkten Armen dasitzen wie freche Götzen; wie stellen es nur diese Leute an, die aus der sogenannten Hilfsaktion einen Beruf machen? Wie kommt es, daß sie ruhig in ihren Häusern wohnen, daß sie essen und schlafen können. Wie sollen wir nach dem, was Tag für Tag geschieht, vor unseren Kindern bestehen? Was sollen sie von uns denken, wenn ihnen später einmal klar wird, daß wir sie mit Phrasen und Unwahrheiten gefüttert und ihnen eine Welt voll Grausamkeit und Irrsinn hinterlassen haben?

Sie hatte fünf oder sechs Kindern Unterkunft geben wollen, aber als sie es einmal begonnen hatte, war es schwer, die Grenze zu ziehen. Sie durfte vor allem ihre Mittel nicht überschreiten, sonst war der Anfang auch schon das Ende. Sie brauchte freiwillige Helferinnen für die Pflege. Die fanden sich. Ellen Ritter empfahl ihr mehrere, unter denen sie wählen konnte. Sie entschied sich für zwei junge Mädchen, Fräulein Bertvani, Tochter eines Studienrats, und Grete Kohl, ein rothaariges, etwas vertrocknetes, aber gutherziges Geschöpf. Eine Zeitlang hatte Marie auch an Aleid gedacht, ihre Tochter aus erster Ehe; sie war in dem Alter, daß sie der Mutter hätte beistehen können. Marie hatte ihr geschrieben, jedoch eine ausweichende Antwort bekommen; die Großmutter wolle sie nicht fortlassen; sie könne sich jetzt nicht gut von Dresden trennen, gewisse Beziehungen hielten sie fest und dergleichen mehr. Sie wußte längst, daß sie Aleid verloren hatte. Man verliert eben Kinder, auch wenn man sich noch so sehr um sie bemüht hat.

Manches Kopfzerbrechen bereitete ihr die Frage, wie sie die veränderte Haushalts- und Lebensform Robert und Johann, ihren zwei Knaben, begreiflich machen sollte. Fünf- und neunjährige Buben sind Autokraten, die Mutter erscheint ihnen als ihr ausschließliches Eigentum. Zudem hatte sich Marie seit der Abreise ihres Vaters auf das innigste mit ihnen befaßt. Die Zumutung, ihre Mutter mit einer Anzahl wildfremder Jungen und Mädel zu teilen, konnte das neugeschaffene Verhältnis ernstlich gefährden. Am ehesten waren sie durch List für die Sache zu gewinnen, durch Hinweis auf Spiel und Unterhaltung. Sie fand sie zugänglicher, als sie erwartet hatte. Besonders Johann war Feuer und Flamme. Die Beschützer- und Helferrolle, die sie ihm zugedacht hatte, schmeichelte ihm. Der kleine Robert schwankte zwischen Neugier und Eifersucht, faßte aber das ganze schließlich doch als Abenteuer auf. Blieb immer noch das Problem der Zeiteinteilung. Sie hatte bis jetzt viele Stunden täglich mit den beiden verbracht. Fühlten sie sich vernachlässigt, gerieten sie in Trotz gegen sie (die schwersten Verluste erleidet man durch Trotz), so büßte sie auf der einen Seite ein, im Bereich des Bluts sozusagen, was sie auf der andern, im Bereich des Dienstes, gewann.

Aber was gewann sie denn? Sie hatte sich alles viel einfacher, natürlicher und leichter vorgestellt, als es war. Sie hatte nur mit sich, mit der Kraft ihres Wollens, mit der Erfülltheit ihres Herzens gerechnet, nicht aber mit den Menschen, mit denen sie zusammenstieß.

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Wenn sie es nicht als Seelenwerk betrachten konnte, fehlte von vornherein der Antrieb. Die Leidenschaftlichkeit, die ihr eigen war, verlieh ihrem Unternehmen schon mit dem ersten Schritt einen andern Charakter als den einer philantropischen Fleißaufgabe. Lauheit und Halbheit waren ihr so zuwider, daß ihre Nerven nur dann in Schwingung kamen, Körper und Geist nur dann gehorchten, wenn sie restlos, ja mit einer gewissen Trunkenheit in einer Idee, einer Tat, einer Liebe, einem Menschen aufgehen konnte. Und sie gehörte zu der Gattung Frauen, die seelisch hinwelken, wenn ihnen das Leben solchen Rausch versagt. Dazu kam die ruhelose Wißbegier, die bei ihr der unterste Grad aller Sympathie-Entzündung war. Packen, aufschließen, hineinschlüpfen, bewegen, bewegt werden, danach regelten sich ihre Beziehungen zu Menschen überhaupt, und in diesem Fall besonders. Daher war es nicht immer der unmittelbare Druck einer schlimmen Situation, der sie zum Einschreiten veranlaßte, sondern ihr fast unbewußt das Auge, der Blick, die Stimme des betreffenden Kindes, ein Etwas von Persönlichkeit, von Differenziertheit, und das war von Übel, es schuf Konflikte und trübte ihr Urteil.

Zudem mußte sie sich überzeugen, daß die körperliche Versorgung allein weder für sie befriedigend noch für ihre Schützlinge, wenigstens für den Durchschnitt, förderlich war. Es war nicht viel geleistet, wenn man sie von Schmutz und Ungeziefer befreit, sie in reinliche Kleider und reinliche Betten gesteckt und die hungrigen Mäuler mit anständiger Nahrung gestopft hatte. Auch damit nicht, daß man ihnen Zerstreuungen bot, Geschichten vorlas, sie zu Spielen anregte und in Kindergärten schickte. Es waren Kunstgriffe. Genaugenommen Erleichterungen für die Obsorger. Ein Sichherumdrücken war das Eigentliche. Es blieben immer zwei Bezirke, die keine Berührung miteinander hatten. Das eisig Trennende war nicht zu überbrücken. Es lag nicht an den Jahren oder an den Kastenunterschieden oder den eingefleischten Vorurteilen oder an der Bequemlichkeit hier und der geschlechterlangen Unterdrückung und Entbehrung dort; es lag tiefer. Marie kam nicht dahinter. Sie dachte sich das Hirn wund und kam nicht dahinter, woran es lag.

32

Der erste, dessen sie sich annahm, war ein achtjähriger Junge, Heinz Binder. Er und seine vier jüngeren Geschwister waren in einer einfenstrigen Kammer untergebracht, in der außerdem noch die Eltern und drei Arbeitslose schliefen. Der Vater war Gewohnheitstrinker; er hatte nie für die Familie gesorgt. Da er in seinen Trunkenheitsexzessen eine Gefahr für das Leben der Frau und der Kinder wurde, erreichte man seine Internierung in einer Entziehungsanstalt. Die Frau blieb mit den fünf Kindern allein, konnte sie aber nur kümmerlich ernähren, da sie immer schwerer und seltener Beschäftigung fand. Eines Tages, als sie wieder einmal von vergeblicher Arbeitssuche zurückkehrte, entschloß sie sich zu sterben. Die vier jüngeren Kinder waren bei einer Nachbarin, Heinz war in der Schule. Als er zu Mittag nach Hause kam, fand er die Mutter am Fensterkreuz, an einem Strick hängend. Sie röchelte noch. Geistesgegenwärtig holte er eine Schere aus der Tischlade, schnitt den Strick durch und rief die Nachbarn herbei. Die Frau konnte noch rechtzeitig in die Klinik gebracht werden. Marie besuchte sie dort, um wegen Heinz mit ihr zu sprechen. Sie war erst neunundzwanzig Jahre alt. Marie traute ihren Augen nicht, als sie es erfuhr. Gesicht und Figur waren die einer Fünfzigerin. Zwei von den Kindern mußten ins Spital transportiert werden; das eine hatte eine Rückgratsverkrümmung, das andere litt an hochgradiger Anämie. Zwei andere nahm eine Chauffeursfrau zu sich, die im Hause wohnte. Heinz wollte nicht mit Marie gehen. Er musterte sie mit finster erstaunten Blicken; sie trug einen Pelzmantel und Handschuhe. Er wußte nicht, was die Erscheinung einer solchen Frau in seinem Leben bedeuten sollte. Als sie ihn dann bei der Hand nahm und zu ihm sprach, und zwar aus einem richtigen Instinkt heraus mit leiser Stimme, begann er vor sich hin zu lächeln. In diesem Lächeln war alles mögliche enthalten: Verachtung, Unglauben, Bestürzung, Bewunderung, äußerstes Mißtrauen. Er zog die Brauen in die Stirn und tippte vorsichtig mit dem Zeigefinger auf das Zifferblatt von Maries goldener Armbanduhr. Dann ließ er sich widerspruchslos wegführen ...

Ähnlich erging es ihr mit der zehnjährigen Sabine Sämisch, von der man ihr berichtet hatte, daß sie seit einer Woche bei einem Kohlenhändler in dessen stockfinsterer Kellerwohnung lebe. Sie war zwei Monate lang in der psychiatrischen Klinik gewesen, weil sie einen Selbstmordversuch gemacht hatte. Angeblich als geheilt entlassen, weigerte sie sich standhaft, nach Hause zurückzukehren. Sie hatte sieben Geschwister im Alter zwischen zwei und vierzehn Jahren. Die Mutter befand sich seit dem Sommer in der Irrenanstalt. Dadurch gerieten der Haushalt und die Kinder in die ärgste Verwahrlosung. Der Vater war Möbelpacker und wurde stellenlos. Das hinderte ihn nicht, jede Nacht ein Frauenzimmer heimzubringen, fünf oder sechs im Laufe der Zeit. Sie blieben oft auch tagsüber da und mißhandelten die Kinder. Das alles hätte Sabine noch ertragen, wenn nicht die wüsten Auftritte in der Nacht gewesen wären. Entweder prügelte der Vater die Weiber, daß ihr Geschrei durchs ganze Haus gellte, oder, was noch ärger war, die Kinder mußten Zeugen seiner Ausschweifungen sein. Da setzte Sabine eines Tages ihr Bett mit Petroleum in Brand. Im letzten Augenblick zog man sie aus den Flammen ...

Was konnte man diesem verstörten Wesen sagen, das nicht abgestanden und hölzern klang? Man hätte ein Gott sein müssen, um einen Freudenschimmer auf seine Stirn zu zaubern. Dennoch versuchte es Marie. Und als Sabine immerfort auf die Stiefelspitzen der schönangezogenen Dame starrte, hatte die schönangezogene Dame Herzweh ... Und ließ am anderen Tage ihren Pelz zu Hause und hüllte sich in einen unscheinbaren Stoffmantel. Auch wieder Regiekünste. Umlernen in einem grausigen Spiel. Anpassungsversuche mit fragwürdigem Erfolg. Eines Tages gab man ihr die Adresse eines Buttergeschäftes in der Köhlerstraße. Dort war ein vierjähriger Bub aufgegriffen worden, von dem man nach unendlichem Befragen nur erfuhr, daß er Chaim heiße. Ein Ostjudenkind. Gänzlich abgerissen und verhungert. Er war offenbar von zu Hause entlaufen und hatte sich Tage lang, Gott weiß, wo herumgetrieben. Die polizeilichen Aufrufe und Nachforschungen hatten kein Ergebnis. Die mitleidige Frau des Händlers hatte das Kind zu sich genommen, aber sie konnte es nicht behalten, sie hatte selber einen Haufen Kinder und war arm. Es war das scheueste Geschöpf, das Marie bis jetzt gesehen hatte. Wenn sie es an der Hand nahm, riß es sich los, kroch unters Bett und begann zu schluchzen. Aber ganz plötzlich faßte es Zutrauen. Es hatte herrliche, sammetglänzende, große Augen. Als es Marie zu sich in ihre Wohnung brachte, blieb es in freudigem Schrecken über die Räume, die ihm märchenhaft schön erschienen, vollkommen stumm und erstarrt. Marie hatte gleich eine tiefe Sympathie für den kleinen Jungen, und er wurde ihr nur noch lieber, als sie bald darauf um ihn kämpfen mußte, fast wie um ein eigenes Kind.

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Eine Woche später meldete sich nämlich die Mutter; sie kam zu Marie und forderte das Bübchen barsch zurück. Sie hieß Marie Papier, hatte noch ein halbes Dutzend anderer Kinder, mit denen sie in einem Scheunenraum in der Rückertstraße wohnte. Das Recht, den Knaben zu verlangen, konnte man ihr nicht abstreiten; seinen Aufenthalt hatte sie nach endlosen Laufereien und Erkundigungen ausfindig gemacht; allein der kleine Chaim sträubte sich mit Händen und Füßen dagegen, ihr ausgeliefert zu werden. Als sie ins Zimmer trat, verzerrte sich sein blasses Gesichtchen krampfig, er lief zu Marie und klammerte sich fest an ihren Rock. Marie wunderte sich; für ein Judenkind war ein solches Verhalten ungewöhnlich, da doch bei Juden, wie sie wußte, zwischen Eltern und Kindern ein wahrer Kultus der Zusammengehörigkeit herrschte. Es erschütterte sie nicht weniger, als sie später den Grund dieser unerklärlichen Aufsässigkeit erfuhr. Der Knabe war von den christlichen Kindern der Nachbarwohnungen wegen seines jüdischen Namens und Aussehens Tag für Tag beschimpft und verprügelt worden; zum Schluß hatte sich eine derartige Angst und Verzweiflung seiner bemächtigt, daß er eines Abends einfach weggelaufen, einfach in die Welt hinausgelaufen war. Und jetzt kam zu alledem noch dazu, daß er eine seltsame, halb rührende, halb phantasievolle Leidenschaft für Marie gefaßt hatte. Die fremde Frau, die wie ein Engel in sein düsteres Leben getreten war, erschien ihm überirdisch gut und schön, so daß der Gedanke, sie verlassen zu sollen, von ihr fortgenommen zu werden, ihm das größte Unglück dünkte, das ihm widerfahren konnte. Marie, die, wie gesagt, sein heftiges Sträuben zunächst nicht begriff, es war immerhin die Mutter, die ihn zurückbegehrte, dem Äußeren nach eine rechtschaffene und gutmütige Frau, hatte Erbarmen mit seinem Zustand und erlangte durch diplomatisches Zureden von Frau Papier eine achttägige Frist, während welcher sie das widerspenstige Kind gefügig zu machen versprach. Die Frau schien damit zufrieden und entfernte sich.

Am andern Tag mußte Marie in ein Haus in der Memeler Straße, weit draußen an der Frankfurter Allee. Sie war schon eine Woche zuvor dort gewesen. Es handelte sich um zwei Kinder eines Schuhmachers, zehn- und elfjährige Mädchen, von denen ihr besonders die jüngere, Hede mit Namen, am Herzen lag und Sorgen einflößte. Die Behausung der Familie war eher ein Stall als eine menschliche Zufluchtsstätte, der Mann verdiente nichts und soff (neunzig Prozent aller dieser Männer und Väter waren unheilbare Alkoholiker), die Frau lag seit Weihnachten krank darnieder. Es war zwischen acht und neun Uhr abends, als Marie hinkam; sie war in der Station bei Ellen Ritter aufgehalten worden, dann hatte sie den Doktor Hansen nicht loswerden können, der trotz ihrer Ablehnung dabei beharrt hatte, sie ein Stück Wegs zu begleiten. Auf der Stiege vernahm sie entsetzlichen Lärm. Leute rannten schreiend auf und ab, riefen nach der Schupo, nach dem Rettungswagen, auf dem Treppenabsatz vor der Wohnung des Schusters war ein Gedränge von Männern und Weibern; ein Frauenzimmer, das unter einem grellroten Schal nur ein Hemd anhatte, berichtete Marie in kaum verständlichem Berlinerisch und mit aufgeregter Hast, was vorgefallen war: Sie hatte vom Nebenraum aus alles mit angehört. Vor einer halben Stunde war der Mann sternhagelvoll heimgekommen. Die Frau lag ächzend vor Schmerzen im Finstern, die zwei Mädchen hatten sich auch schon niedergelegt, der besoffene Kerl brüllte und tobte, weil er die Kerze nicht finden konnte. Bei seinem Suchen schmiß er Gläser, Teller und Flaschen auf die Erde, daß die Scherben den ganzen Fußboden bedeckten, endlich entdeckte er einen Kerzenstumpf und zündete ihn an. Da sich die Frau nicht rührte, um ihm zu helfen, überhäufte er sie mit greulichen Flüchen, und als sie ihn um Gotteswillen bat, still zu sein, sie halte es nicht mehr aus, fiel er mit der Schusterahle über sie her, stach blindlings auf sie los und verletzte sie schwer an Brust und Hals. Die Mädchen sprangen aus ihrem Bett, die älteste lief auf den Flur und schrie. Hede stellte sich schützend vor ihre Mutter, doch konnte das schmächtige und kraftlose Kind gegen den Wüterich nichts ausrichten, er stach auch auf sie los, so daß sie blutüberströmt zusammenbrach. Da erhob sich die kranke Frau mit einem dumpfen Wehelaut von ihrem Lager, schleppte sich mit letzter Kraft zum Fenster, riß es auf und stürzte sich, vier Stock hoch, in den Hof hinunter, gerade in dem Augenblick, als die Nachbarn in die Stube drangen, um den Unhold zu bändigen.

Es war wie ein Angsttraum. Das Durcheinander von Stimmen, das Gewühl der Leiber, die Gerüche von Schweiß, Blut, Schnaps, der Krankendunst und Pfeifenrauch umnebelten Maries Sinne. Sie wollte zu dem kleinen Mädchen hinein. Während sie sich gegen die Tür drängte, sagte jemand auf der Stiege, die Frau sei tot, ein anderer widersprach und behauptete, sie atme noch, aber es gehe mit ihr zu Ende. Als die Helme einiger Schupoleute auftauchten, war Marie schon in der Stube drinnen. Vier Männer hielten den tobsüchtigen Schuhmacher fest. Marie konnte später nicht sagen, wie es zugegangen war, daß der Mensch sich losgerissen hatte, während sie vor dem bewußtlosen Kind kniete und ihm das Blut von Mund und Augen wischte; ob er sie oder die Ohnmächtige schlagen gewollt, ließ sich natürlich auch nicht mehr ermitteln; jedenfalls taumelte er in kochender Wut, geifernd und röchelnd, auf sie zu, und ehe sie dem Schlag ausweichen konnte, traf sie seine steinharte Faust an der Schläfe. Als sie wieder zur Besinnung kam, lag sie im Rettungsauto; auf ihre geflüsterte Bitte schaffte man sie in ihre Wohnung, die erschrockene Grete Kohl kleidete sie aus und brachte sie zu Bett, indes Anna Bertram nach der Doktorin Ritter telefonierte. Diese stellte einen Nervenschock mit achtunddreißig Grad Fieber fest. »Ich glaube, wir müssen unsern wilden Eifer dämpfen«, sagte die Ärztin mißbilligend. Marie antwortete mit leichtem Frösteln: »Den Eifer kann man dämpfen, Ellen, aber man weiß doch jetzt – man weiß doch ...«

34

Am andern Tag, gegen Abend, ließ sich zu ihrem Befremden Doktor Hansen bei ihr melden. Sie wollte ihn nicht im Bett liegend empfangen und ließ sagen, sie danke ihm für den Besuch, es gehe ihr wesentlich besser. Er aber hatte sich draußen an den kleinen Johann herangemacht und es zu bewerkstelligen gewußt, daß dieser ihn ins Zimmer der Mutter zog. Verlegene Entschuldigungen stammelnd, stand er an der Tür. »Geh, Johann, geh hinaus«, sagte Marie hart. Der Bub gehorchte betroffen, Doktor Hansen rührte sich nicht von der Stelle. Er sagte kaum hörbar: »Erlauben Sie mir, fünf Minuten bei Ihnen zu sein. Nur fünf Minuten. Ich war krank vor Sorge. Ich hielt es nicht aus. Ich mußte Sie sehen.« – »Was soll das alles, Herr Doktor?« fragte Marie unwillig und wies mit schwacher Bewegung auf einen Stuhl. »Ich verstehe Sie nicht. Ist es Ihr Ehrgeiz, aufdringlich zu sein?« – Hansen beachtete die karge Aufforderung zum Sitzen nicht. »Kann ich mir denken, daß Sie mich nicht verstehen«, stieß er mit gesenktem Kopf hervor; »versteh' ich mich doch selber nicht. Ich bin verrückt. Ich bin verrückt. Ich ... ich will ja nichts. Nur Sie anschauen, Ihre Stimme hören. Nichts weiter.« Marie betrachtete ihn kalt. Er hatte ein mageres, glattes Gesicht mit vorstehendem Kinn und einem Ausdruck des Verzehrtseins, Verbranntseins, der sie abstieß. Sie war ratlos und unglücklich, denn daraus konnte nur Verdruß entstehen. Last, Bedrängnis, Mühsal; nur Ungutes und Bitteres. Es widerstrebte ihrer redlichen Natur, Dinge zu sagen, die eine Frau in dieser Situation vorzubringen pflegt, mahnende, belehrende, vernünftig scheinende, selbstgerechte oder auch dem andern gerechte: Nein, sie war ernstlich verwirrt, sie wußte nicht aus und ein, und schließlich wandte sie den Blick von dem stumm mit ineinandergekrampften Händen dastehenden Mann ab und heftete ihn auf die Karte, auf der der Name Eugen Hansen stand; feindselige, häßliche Zeichen, wie ihr dünkte.

Er machte Anstalten zu gehen. Mit einer mutlosen Geste strich er über seine Stirn und wandte sich zur Tür. Da hörte man von draußen eine zeternde Weiberstimme: ein fettes, gutturales, vulgäres Organ. Es war Frau Papier, die trotz der Vereinbarung ihren Sohn holen wollte. Alles war Marie plötzlich leid, die Zuversicht verließ sie, der Glaube an ihre Kraft. »Tun Sie mir den Gefallen, Doktor, und bringen Sie das Weib zur Ruhe«, sagte sie, »sie will ihr Kind wiederhaben, der Bub möchte so gern dableiben, vorgestern hat sie versprochen, ihn mir noch zu lassen.« Hansen verbeugte sich, alsbald hörte sie ihn im Flur mit Malke Papier parlamentieren, auch Grete Kohl und die Bertram redeten auf sie ein, derweil ging leise die Tür zu den Kinderzimmern auf, und durch den Spalt schob sich zaghaft der kleine Chaim. Er trippelte in die Mitte des Raums, weiter schien er sich nicht zu trauen, und hob flehentlich die gefalteten Händchen gegen Marie. Sie winkte ihn zu sich her, legte den Arm um seine Schulter und flüsterte ihm zu: »Du bleibst schon da, Bübchen, fürcht' dich nicht, du darfst dableiben.« Der Junge schaute sie mit glühender Dankbarkeit an und sagte stolz: »Ich will auch beten für dich. Ich kann ein Gebet.« Das bewegte sie, sie küßte ihn auf die Stirn, und da es draußen wieder ruhig geworden war, gebot sie ihm freundlich, zuden anderen Kindern zurückzukehren. Als er das Zimmer in eiligem Gehorsam verlassen hatte, verspürte sie große Schwäche und brach in Tränen aus.

35

Es nützte nichts. Malke Papier kam erst täglich, dann jeden Tag drei-, viermal und forderte mit jammerndem Geschrei ihr Kind. Sie überschüttete Marie in ihrem gurgelnden Jiddisch mit Verdächtigungen und Beschimpfungen, drohte mit der Polizei und ließ durchblicken, daß das Kind um sein Seelenheil komme, wenn es noch länger in einem Christenhaus leben müsse. Man versteckte den Buben vor ihr. Man ersuchte das Fürsorgeamt um einen Schiedsspruch, da man nachweisen konnte, daß das Kind zu Hause ohne Aufsicht war. Marie bot der Frau Geld, sie nahm es, blieb drei Tage unsichtbar, dann begannen die widerlichen Auftritte von neuem. Es nützte nichts, man mußte ihr das Kind ausliefern. Chaim war wie verdonnert, als es so weit war; Marie versprach ihm hoch und heilig, ihn so oft wie möglich zu besuchen. Kaum war er bei der Mutter und den Seinen, da erkrankte er an Scharlach in der virulentesten Form und schwebte tagelang zwischen Tod und Leben. In der vierten Woche trat eine Lymphdrüsenschwellung mit Vereiterung ein. Er lag in Ellen Ritters Spital, Doktor Hansen behandelte ihn und unterrichtete Marie regelmäßig über das Befinden des Kindes.

So formbar und schmiegsam fand sie keines der Kinder mehr, denen sie ein Asyl bereitete; die meisten setzten ihrem Werben eine unbesiegliche Störrigkeit entgegen. Es war nicht der einzelne, an dem sie sich vergeblich abmühte, es war immer seine ganze Welt. Und diese Welt lernte sie mehr und mehr fürchten, sie flößte ihr die Bangigkeit ein, die der gestaltete Mensch vor der amorphen Masse empfindet, und wenn sie noch dazu an Josephs Wort von den »Kommenden« dachte, verzweifelte sie an der Möglichkeit, ihre Träume vor ihr zu schützen. Immer war sie die Angeklagte vor diesen unerbittlichen Kinderaugen, das kalte Grauen blieb nie hinter ihr, sie rang sich nicht hindurch, es lag vor ihr, hüllte sie ein und hatte kein Ende, so, wie der Tod kein Ende zu haben scheint. Ihre Waffen waren armselig, die Hilfsmittel armselig, die Worte armselig, sie hatte nichts zu bieten, sie war selber armselig.

Eines Abends vor dem Schlafengehen kam sie mit einem Korb Äpfel in die Kinderstube, wo sich alle vor der Bettzeit zu versammeln pflegten. Jedes erhielt seinen Apfel, alsbald hörte man sie nur noch beißen und knabbern. Da fiel ihr Blick auf einen Jungen, der abseits in einem Winkel stand, als bocke er. Es war ein Sechsjähriger, hieß Kurt Muchler, Kind eines Buchbinders, der nach Argentinien ausgewandert war und die Familie mittellos zurückgelassen hatte. Marie trat auf ihn zu, den letzten Apfel in der Hand, und fragte: »Na, Kurt, was ist dir denn über die Leber gekrochen?« Der Kleine ruckte mit den Schultern, wollte nicht mit der Sprache heraus, dann deutete er mit dem Daumen auf einen andern um ein Jahr älteren Jungen, der sich mit verschmitztem Lachen an seinem Bett zu schaffen machte, und stieß beleidigt hervor: »Der Walter Gieseke sagt, es gibt keinen lieben Gott. Auch einen Jesus gibt's nicht, sagt er. Det is allens Mumpitz, sagt er.«

Marie schaute betroffen drein. Sie setzte sich auf einen Schemel, rief die dreizehn Kinder, auch ihre eigenen waren dabei, zu sich her, nahm den befangen sich sträubenden Walter bei den Armen und fragte: »Woher willst du denn das wissen, Walter?« Der Junge machte ein überlegenes Gesicht: So eben, das wisse man eben; wenn's anders wäre, war' doch alles anders. Er blickte sie herausfordernd an. Schön, räumte Marie etwas kleinlaut ein, es sei aber möglich, daß Gott trotzdem dasei und sich nur nicht allen Menschen so kundgebe, wie sie es erwarteten. Der Knabe lächelte ungläubig. Ja, schon, antwortete er schlau, darin gerade stecke ja der Mumpitz. Er hatte zuviel gesehen mit seinen sieben Jahren, er wußte zuviel ...

Marie betrachtete der Reihe nach die ihr zugewandten jungen, ach so jungen Gesichter und die winzigen Gestalten, die in uniformen Schlafanzügen aus billigem blaugestreiftem Kattun steckten. Und dreizehn Paar Augen waren mit der nämlichen stummen Frage und mit jener kühlen Skepsis gespannt auf sie geheftet, die die ewige Scheidewand zwischen der kindlichen Welt und der der Erwachsenen bildet. Aus ihrer vorgewußten Erfahrung heraus rufen sie diesen plumpen, lügenhaften großen Leuten ihr unbeugsames Nein entgegen, das, wortwörtlich, wie die Stimme des Jüngsten Gerichtes ist. Nein, sagen sie, wir billigen euch nicht, wir trauen euch nicht, wir glauben euch nicht, nein und nein.

Marie begriff. Zum erstenmal begriff sie es. Sie zog den kleinen Gottesleugner auf ihre Knie, und indes sie mit der Hand über seine Haare strich, sagte sie: »Eigentlich hast du recht, Walter. Wir wissen beide nichts Genaues darüber. Aber siehst du, bevor wir uns kennengelernt haben, du und ich, haben wir auch nichts voneinander gewußt. Ich hätte ruhig sagen können, den Walter Gieseke, i wo, den gibt's ja gar nicht; und doch bist du da, und man kann dich anfassen, und wer's nicht glaubt, den lachst du aus.« Ein kicherndes Gelächter entstand. Walter machte ein begossenes Gesicht. Er fühlte sich ein wenig übers Ohr gehauen, der logische Trugschluß in Maries Exegese entging ihm nicht, aber er konnte ihn nicht widerlegen und war verärgert. Auch Marie war verärgert. Sie spürte, daß sie sich über eine Schwierigkeit mit einem Trick hinweggeholfen hatte, sogar einem nicht ganz einwandfreien. Jetzt schämte sie sich dessen, erhob sich ziemlich abrupt, führte den verschlossen dreinschauenden Walter in die Mitte seiner Kameraden und Kameradinnen, und da fiel ihr ein Vers ein, der ihr aus alten Zeiten im Gedächtnis geblieben war, und mit eigentümlich feierlicher Stimme sagte sie ihn den Kindern vor:

»Ich bin in der finstern Welt
eine unentzundene Kerz,
sei still, streitsüchtig Herz,
ich weiß ja, wer mich hält.«

Sie sahen zu ihr auf, baß verwundert. Aber das war auch alles. Nein, es nützte nichts. So ging es nicht ...

36

Und es nützte auch nichts, daß sie dem Doktor Hansen auswich, wo sie nur konnte. Und daß sie ihm, wenn er sie dennoch zu Begegnungen und Erörterungen zwang, das Törichte, Verwegene, Aussichtslose seines Beginnens vorhielt. Er hörte ihr zu, zerknirscht, gierig, andächtig, und ließ nicht ab. Er verfolgte sie auf Schritt und Tritt. Auf rätselhafte Weise wußte er immer, wo sie war. Er telefonierte, um ihr irgendwelche, manchmal ganz belanglose Nachrichten zu übermitteln. Er schickte ihr Blumen, die sie zurückwies. Er schrieb ihr Briefe, deren Adresse mit der Maschine geschrieben war, damit sie sie öffnete. Es waren Liebesbriefe, in einer maßlosen Sprache, einem überspannten Ton abgefaßt, ohne daß die Grenze des Respekts, ja der ehrfürchtigen Bewunderung überschritten war. Doch aus seiner verbissenen Entschlossenheit, sie zu gewinnen, machte er kein Hehl: »Und wenn ich Ihnen bis nach Grönland folgen müßte und wenn zehn Jahre Zuchthaus darauf stünden.« Ein Wahnsinniger, dachte sie und wußte nicht, wie sie sich seiner erwehren sollte. Eines Sonntagnachmittags, als er sie wieder einmal telefonisch um eine Unterredung gebettelt hatte, ließ sie ihn kommen. Sie hatte Angst vor der Begegnung, aber sie vertraute der natürlichen Überlegenheit, die ihr ein klarer Kopf über einen Besessenen gab. Wider Erwarten betrug er sich ruhig und gelassen. Nur in seinen Augen loderte bisweilen die unheimliche Flamme auf. Anderthalb Stunden redete er ausschließlich von sich, von seiner Jugend in einer herabgekommenen, innerlich verfaulten Bürgerfamilie, von seiner Einsamkeit, seinem verödeten Leben, seinem Unglauben an Menschheit, Welt und Gott und Wissenschaft und daß ihm als einzige Rettung aus diesem Zustand, immer am Rand des Selbstmords, diese unselige Leidenschaft in die Brust geworfen worden sei. »Sie werden sagen, es ist ein typisches Schicksal für einen typischen Menschen«, fuhr er fort, ohne sie einen Augenblick zu Wort kommen zu lassen, »gut, aber ich versuche wenigstens mein Letztes, Frau Marie ... Nein, zucken Sie nicht zusammen, erlauben Sie mir den Namen auszusprechen ... Selbstverständlich, Sie können mich zertreten wie eine Laus, was bin ich denn wert ... Aber bedenken Sie, daß ein Mensch wie ich ohnehin erstickt unter dem Fluch seiner Gewöhnlichkeit oder, wenn Sie wollen, Typischkeit, unter dem Fluch des Berufs ...« – »Fluch des Berufs«, warf Marie erstaunt ein. – Er lächelte kränklich. »Ja, Fluch des Berufs. Ich weiß, ich rede zu Joseph Kerkhovens Frau. Aber was bedeutet ein Schiller gegen einen kleinen Zeilenschinder? Was haben wir Nichtse von den Schillers? Und schließlich ist jeder Schiller ein unheilbarer Phantast, wenn nicht ein Scharlatan, der den Leuten Sand in die Augen streut. Charakter, ja; wer hat Charakter? Wer sich ihn leisten kann. Kleinzeug wird zermalmt. Und wenn Kleinzeug sich mal aufrafft und nach einem Stern langt, na, dann sieht es eben aus, wie ich aussehe.«

Die offensichtliche Wollust der Selbsterniedrigung und Selbstzerfleischung wirkte wie eine persönliche Schmähung auf Marie. Sie konnte ihm in ihrem Innern nicht unrecht geben, wenn er seine Existenz als trostlos, sich selbst als hoffnungslosen Fall bezeichnete. Aber sie hatte mit einem Menschen dieser Art noch nie zu tun gehabt. Sie wußte keinerlei Zuspruch. Jedes Argument erschien ihr so verlogen, wie wenn sie einem Krüppel hätte sagen sollen: Du brauchst dich nur zu recken und bist kein Krüppel mehr. Und ihre Neigung, Krüppel pädagogisch zu behandeln, war gering. Dem Mitleid konnte sie sich nicht verschließen. Aber Mitleid ist eine Form der Verachtung, und das war der einzige Punkt, wo Eugen Hansen die Beherrschung verlor. Was ihn außerdem rabiat machte, war ihr Wohlfahrtswerk. Sie setze ihren Adel, ihre Freiheit, ihre weibliche Persönlichkeit aufs Spiel, kurz alles, was sie über diese Schand- und Schundwelt erhebe; er habe neulich von einem kostbaren Juwel geträumt, das in einer Schachtel voll Kot lag; die psychoanalytische Anwendung liege auf der Hand. Dann schwieg er und sah sie mit dem bohrenden Mannsblick an, der ihr eiskalt machte und die Schamröte in die Wangen trieb.

Alles blieb stumm und kritisch in ihr. Sie brachte ihn nicht über die Verfinsterung und Verzweiflung hinaus. Sie konnte ihm nicht helfen. Sie war zu armselig, auch hier.

37

Da fragte sie sich, woran fehlt es mir? Was macht mich so schwach, unzulänglich und zauberlos? In den Nächten ihres einsamen Grübelns verspürte sie eine Leere in sich, einen Hohlraum. Sie hatte die Empfindung, daß dort, wo Wachstum und Fruchtbarkeit hätten sein sollen, steinige Dürre war. Wenn sie nachforschte, seit wann es so war, konnte sie keine Zeit in ihrem Leben finden, da es anders gewesen wäre. Kein Zweifel, das Leben, das sie gelebt, war allmählich unter ihr verkohlt, und die verkohlte Masse hatte die Keime getötet. Wohl hatten der Seelen- und Sinnenaufruhr der letzten Jahre und die entscheidende Auseinandersetzung mit Joseph auflockernd gewirkt und sie aus der selbstsüchtigen Leidensversenkung herausgeführt. Ein Gefühl der Befreiung war da; es war, als hätte sie einen Raum verlassen, dessen Wände, Decke und Fußboden aus Spiegeln bestanden. Doch hatte sie nicht die Gesetzlosigkeit dafür eingetauscht, die Willkür eines Lebens, dem sie gestattet hatte, ihr nah zu rücken? Das geht, man kann das Leben hautnah an sich herankommen lassen, man soll es vielleicht, aber dann muß man den Mut haben, der vor nichts zurückschreckt, vor keiner Bedrohung und vor keiner Demütigung. Statt dessen hatte sie gegen Zweifel und Angst anzukämpfen und konnte den Sinn des Neuen nicht in sich finden, der sie geschützt hätte wie eine Festung. Ihr bangte nach der leitenden Hand, unter der sie sich zu bergen gewohnt war. Aber bei ernstlicher Prüfung erkannte sie, daß sich diese Sehnsucht nicht auf den abwesenden Kerkhoven bezog; sie ging vielmehr auf halberloschene Erinnerungen zurück, auf vergessene Träume, unterdrückte Regungen von Jugend auf, unbeantwortet gebliebene Fragen, einst leuchtend gewesene und dann verblaßte Bilder, eine Herzensnot, ein verwehtes Bild, ein in Schatten gesunkenes Gesicht.

Manchmal verspürte sie eine fremdartige Glut in sich. Es war ein Gefühl wie Verliebtheit in einen Unbekannten und setzte sie in Verwirrung. Sie mußte sich gestehen, daß nach und nach alles versagt hatte, worauf sie sich hoffend und gläubig gestützt, die Hingabe an Menschen, die kleine Werktätigkeit im Hause, die Liebe zur Kunst, die Bücher, sogar die Natur, mit der sie so lange in vertrautem Umgang gelebt. Aber nicht aus persönlicher Enttäuschung, nicht weil sie resignierte und sich fallen ließ, suchte sie einen Zugang in einen neuen Bezirk, der ihr vorläufig so verschlossen war wie eine Landschaft auf dem Mond. Es geschah in ihr. Es setzte sich gewissermaßen gegen sie selber durch. Es vollzog sich im Auftrag der Zeit und beschwert von deren grenzenloser Not. Unter den Menschen, die um uns leben, gibt es welche, die sind wie Uhrzeiger. Sie melden die geistige Stunde. In aller Stille sammelt sich in ihnen, was als Wunsch und Entbehrung unergründet in der Brust von Zahllosen wohnt. Wie diese hatte sie gedankenlos darüber hinweggelebt, jetzt hingegen litt sie bis zu körperlicher Qual an der Aufblicklosigkeit ihrer Welt, ihrem kahlen Zweckdienst, ihrer Verwilderung, ihrem Haß, ihrer Blutgier und ihren Lügen. Schon im Zusammenleben mit Joseph hatte sie manchmal diese würgende Weltangst empfunden, trotz der Reinheit seines Wollens, trotz seiner Opferbereitschaft und Geistesmacht. Wohin, Mann? hätte sie ihm zurufen mögen. Du bist ja behext, hast ja keinen Himmel über dir, keinen Anhalt außer dir, keine Mitte in dir! Sie hatte Erbarmen mit ihm gehabt. In einem Brief, den sie ihm zu Anfang des Sommers schrieb, kam die Stelle vor: »Es ist zu wenig los mit dem irdischen Dasein, es ist zu wenig los mit der Menschheit. Bei nur einigem Nachdenken stößt man auf allen Seiten auf die Frage: Wo geht es weiter? Wo ist der Sinn, wo die Erfüllung? Damit, wie es ist, kann es unmöglich sein Bewenden haben, es wäre ein zu stümperhaftes, zu unseliges Werk.«

Was sie so drängend gegen das Unaussprechliche hinauftrieb, gegen ein oberes Herrschendes, dunkel Gewußtes, war durch und durch chaotisch, getragen allein von einem Enthusiasmus, der als uferlose Flut in ihr strömte. Sie hatte keinen Namen dafür, vielmehr sie wagte nicht, ihm einen zu geben. Nannte sie es Gott, was war damit gesagt? Ein Hilfswort, von Jahrtausenden zerlaugt, zerdacht, entzaubert; Gesicht und Gestalt bekam es dadurch nicht, es blieb ein geisterhafter Strahl, ein Sternenblick. Dieses Zurückweichen vor der Wesenserfassung lähmte wieder das Verlangen in ihr, die widerstrebende Kreatur neben sich, alle diese verlorenen Väter, Mütter und Kinder, in die Arme zu schließen und emporzutragen, wenn nicht zu Gott, der war ja nirgends anzutreffen, außer vielleicht in der unvorstellbarsten Versenkung, so doch in das göttliche Vorreich. Denn dieser Begriff, »das Göttliche«, war nicht so schaurig fern, grenzte nicht so ans Unerdenkliche wie das Bild von Gott, das zu schauen dem Menschen nicht die Fähigkeit verliehen war.

Man kann sich leicht den kühnsten religiösen Spekulationen überlassen, wenn sie nicht durch Pflicht und Zwang des Alltags, des stetig wiederkehrenden Lebenskampfes auf ihre Echtheit und ihren wahren Gehalt erprobt werden. Da gerät man in die Schwärmerei, und Schwärmerei war Marie bis in den Tod verhaßt. Und da sie gerade in diesem Punkt streng mit sich ins Gericht ging, blieb ihr auch auf die Dauer nicht verborgen, woran es lag, daß sie die Seelen der Kinder nicht gewinnen, nicht über den trennenden Abgrund zu sich herüberziehen konnte. Höchstens zum Schein, nicht in Wirklichkeit. Obwohl ihr jedes Kind, dem sie ein Asyl bot, Anlaß zu besonderer Herzensleistung wurde. Schicksal, Herkunft, Familie, Vergangenheit, alles bezog sie mit ein. Und sie glaubte nicht an einen hoffnungslosen Fall, nicht an Unverbesserlichkeit, nicht an angeborenes Laster. Sie hielt nicht die menschliche Natur im allgemeinen, aber die kindliche für verwandelbar. Was sie als Möglichkeit berückte, ohne daß es vielleicht mehr war als eine traumhafte Formel, war eine pädagogische Provinz der Liebe. Und das, eben das erwies sich als nicht verwirklichbar. Warum? Sie schob es zuerst auf die Stadt. Gewiß, auch die Stadt war schuld, dieser ungeheure Wabenstock, dieser von der Erde ausgespiene Riesenklumpen, in dem alle Wurzelfasern bis zur Unkenntlichkeit verdorrt waren; dieses Mastodontengehirn im Präpariertiegel mit bloßgelegten Windungen und Blutadern; dieses schreckliche Scheinbild des Organischen, das organisierter Tod war. Wer etwas Reines und Gutes wollte, wurde nicht damit an- und aufgenommen, er machte bestenfalls von sich reden und spielte auf einer Schaubühne vor einem mäßig interessierten Publikum. Sie wünschte sich fort; sie mußte weg, und zwar bald, wenn noch was aus ihr und mit ihr werden sollte.

Aber nicht nur darum gelang es nicht. Sondern weil ihr die Gnade fehlte. Die wahrhaftige, große, begnadete Demut. Die sich vor aller Erscheinung ehrfürchtig beugt, sei es Aussatz oder Wahnsinn, Bosheit oder Mord. Die von keiner Ungeduld mehr weiß, von keiner Nervenqual, fast von keiner Sorge mehr. Die nichts ist als Gefäß, auffangender Krug in einer unsichtbaren Hand. Sie wußte es genau. Eines Tages stand das Bild mit unerbittlicher Schärfe vor ihr. Und ebenso genau wußte sie, daß sie von der Erfüllung so weit entfernt war wie von der gewissen Landschaft auf dem Mond. Sie hätte erst den Schlüssel haben müssen, um die Tür aufzusperren, hinter der sie als die anscheinend unabänderlich geprägte Person Marie Kerkhoven gefangen saß. Sie hätte das Gehäuse Marie Kerkhoven sprengen müssen. Und an dieser Aufgabe verzweifelte sie: aus Anhänglichkeit an ihre Form, aus Furcht vor dem damit verbundenen Leiden, aus Liebe zu sich selbst.

Was war zu tun? Wo gab es einen Menschen, dessen Tat oder Sein oder Schicksal ihr zur Überwindung helfen konnte? Denn ohne einen lebendigen Menschen, einen irdischen und sinnlich greifbaren, war es nicht möglich. Sie sollte ihn finden, diesen Menschen.

38

Den Entschluß, Berlin zu verlassen, faßte sie ganz plötzlich; den Anstoß gab Eugen Hansen. Eines Abends kam sie von einem Gang in die Apotheke nach Hause. Es war ziemlich spät, der warme Juniabend hatte sie noch in den nahen Park gelockt, in der Wohnung war schon Schlafensruhe. Als sie ihr Zimmer betrat und das Licht aufdrehte, fuhr sie zurück: Hansen saß auf einem Stuhl am Fenster, stumm und steif, als ob er ihr Kommen nicht bemerkt hätte. »Was soll das heißen ...? Wer hat Sie hereingelassen?« stammelte sie. Er kehrte ihr langsam, mit einem verzerrten Grinsen, das Gesicht zu. »Kleine Verschwörung«, murmelte er, »regen Sie sich nicht auf, Frau Marie.« Nachher stellte es sich heraus, daß er dem Mädchen vorgelogen hatte, er habe der gnädigen Frau etwas Wichtiges mitzuteilen und müsse unbedingt auf sie warten. »Das geht zu weit«, sagte Marie zornig; »ist man wehrlos gegen Überfälle?« Er erhob sich und schritt auf sie zu. »Sie wollen Ihre Leute herbeiklingeln«, sagte er mit unheimlicher Ruhe, als sie eine Bewegung nach der elektrischen Klingel machte; »aber bis die kommen, wird alles vorüber sein.« Damit zog er einen Revolver aus der Rocktasche und entsicherte ihn.

Einen Augenblick lang lief es Marie kalt über den Rücken. Daß der Mann keinen Spaß machte, daran war nicht zu zweifeln, das spürte sie. Sein Benehmen war gänzlich untheatralisch, die Haltung salopp, die Miene finster und gleichgültig. »Fürchten Sie nichts für sich«, begann er wieder mit dürrer Stimme und sonderbar grellem Lächeln; »obwohl ... es wäre eine nette Sensation ... Mord und Selbstmord in der Niebuhrstraße ... Was meinen Sie, was das für ein Fressen für die Zeitungen wäre ... Frau des berühmten Joseph Kerkhoven Opfer eines unglücklich Verliebten und so weiter ... Aber davon ist nicht die Rede. Der Plan war eigentlich ... ich wollte mich hier erledigen, bevor Sie zurückkamen. Sie sollten sehen, was Sie aus mir gemacht haben. Bißchen rachsüchtig, ich geb's zu. Indessen ... es ging nicht ... Wollte Sie noch einmal ... mit dem letzten Blick auf Ihr wunderbares Gesicht, Marie ... Ihr Leben ist kostbarer als meins; das beste, was ich dafür tun kann, ist, es Ihnen vor die Füße zu werfen ... Man demonstriert eben, wenn man sonst keinen Ausweg sieht ...«

Er umfaßte den Griff des Revolvers, legte den Finger an den Hahn und hob den Blick langsam bis zu Maries Mund. Trotz der unerträglichen Spannung des Moments hatte sie dieselbe peinliche Empfindung, die sie stets überkam, seit ihren Mädchenjahren, wenn ihr ein Mann auf den Mund schaute. Sie wich ein wenig zurück, gegen die Wand, um sich zu stützen. Nicht aus Schwäche oder Angst, keineswegs. Die Hände flach an die Mauer gedrückt, den Kopf in den Nacken werfend, sagte sie: »Also los! Schießen Sie! Wozu das Geschwätz? Es ist nicht schade um so einen. Los!«

Zehn Sekunden Schweigen. Der Ausdruck in Hansens Gesicht erinnerte an den eines Hundes, der in einem Anfall von Raserei durch das befehlende Wort seines Herrn stutzig wird und ihn betroffen anstarrt. Der Arm mit der Waffe sank schlaff herunter. Der ganze Mensch schwankte unmerklich. Marie ging mit etwas schleppenden Schritten zum Sofa, setzte sich hin, deutete mit der Hand auf den danebenstehenden Stuhl und sagte: »Wollen Sie mich einen Augenblick anhören? Nehmen Sie, bitte, Platz.« Er gehorchte zögernd, immer noch mit dem Ausdruck verstörter Unschlüssigkeit. Die Haare hingen ihm schweißnaß in die Stirn. Marie fuhr fort: »Wenn Sie glauben, Sie können mich durch Erpressung willfährig machen, sind Sie im Irrtum. Schweigen Sie, es ist eine Erpressung. Ich will Ihnen was sagen: Ich gehöre nicht zu denen, die sich prinzipiell entsetzen, wenn ein Mann von ihnen verlangt, daß sie mit ihm schlafen sollen. Das liegt mir nicht. Aber mich dazu vergewaltigen lassen? Nein. Erst hätten Sie mir beweisen müssen, daß Sie wer sind. Wenn Sie sich eine Kugel in den Kopf jagen, läßt mich das genauso kalt, wie wenn Sie mir eine Tausendmarknote auf den Tisch legen als Preis für eine Nacht. Es geht mich nichts an. Es rührt mich nicht. Ich kenne Sie ja kaum. Was soll mich für Sie einnehmen? Von Rücksicht oder Zartheit oder Männlichkeit haben Sie mir bis jetzt nichts gezeigt. Bloß weil Sie sich's in den Kopf gesetzt haben, soll ich mich fügen, weil Sie daherkommen wie ein Wegelagerer, der rauben will, was man ihm nicht schenkt? Nein, lieber Freund, so tun wir nicht. So nicht.« Sie schüttelte verächtlich den Kopf.

Hansen hatte den Arm auf die Lehne des Sessels, das Kinn in die Hand gestützt und hörte zu, vernichtet. »Was Sie sagen, ist fürchterlich wahr«, sprach er dumpf vor sich hin, »aber es bringt mich keinen Schritt weiter. Ich frage Sie jetzt, wie man einen ... wie ich Joseph Kerkhoven fragen würde, wenn er vor mir stünde: Was soll ich machen? Wie soll ich wieder zu einer Art Seelenruhe kommen?« – »Unsinn«, entgegnete Marie lebhaft, »niemand kann Ihnen raten und helfen außer Sie selber. Der Wille ist ein Herr.« – »Verzeihen Sie, das sind philosophische Küchenabfälle.« – »So, finden Sie? Ach, ich weiß, alles, was ein Mensch dem andern sagt, kann zum Schlechten mißbraucht werden.« – »Ich habe Verwandte in Schweden. Die würden mich aufnehmen. Ich könnte mich um das Rockefeller-Stipendium bewerben ...« – »Ja, ja, also«, rief Marie. – »Wenn ich mir vorstellen könnte, Frau Marie, daß Sie nur mit einem Funken Ihres Herzens an mich glauben, daß ich nicht bloß ein Dreck in Ihren Augen bin ...« – »Unsinn Nummer zwei, Doktor Hansen. Der leiseste Versuch, aus der Tollheit herauszukommen, rettet Sie für mich. Daß ich achten kann, ist meine Lebensgrundlage. Wenn ich nicht mehr achten kann, bin ich verloren. Ich, nicht der andere.« – »Ist das wahr?« – »Es ist wahr. Und sehen Sie, auch ich würde Ihnen gesagt haben: Gehen Sie weg, nach Schweden, in die Südsee, wohin Sie wollen, bauen Sie sich ein Schicksal, stellen Sie sich eine Aufgabe, machen Sie Schluß mit dem Selbsthaß und dem Welthaß, aber ich bin selber im Auf-* bruch, selber auf der Flucht, meine Existenz brennt an allen Ecken und Enden. Hätten Sie das nur bemerkt, die Gedanken nach mir wären Ihnen vergangen.«

Hansen schaute eine Weile schweigend zu Boden. Dann stand er auf und sagte in verändertem Ton: »Ich werde Sie zu vergessen suchen, Frau Marie. Nicht Ihr Bild, das kann ich nicht, aber das andere ... den Irrtum. Klingt es nicht abgedroschen, wenn man sagt: Sie haben einen neuen Menschen aus mir gemacht? Gibt es das überhaupt? Jedenfalls gibt es so jemand wie Sie auf der Welt. Das genügt.« Marie schüttelte wehmütig abwehrend den Kopf, doch er wiederholte: »Das genügt. Das genügt.«

Als er fort war, ließ sich Marie in die Kissen des Sofas fallen und lag regungslos bis über Mitternacht. Sie war unsäglich müde. Warum denn, warum denn so müde? rief sie sich verzweifelt zu. Wo sollen denn da die Kräfte herkommen, mit denen ich von vorn anfangen? Und immer wieder hörte sie die erschütternde Frage des jungen Arztes: Einen neuen Menschen, gibt es das überhaupt?

39

Vierzehn Tage später befand sie sich mit ihren Söhnen in Dürrwangen, einem Nest an der fränkisch-schwäbischen Grenze. Dort wollte sie bis zum Ende des Sommers bleiben und dann weiter nach Süden ziehen. Die Schwester ihrer Freundin Tina Andenrieth, eine warmherzige junge Frau, die mit dem Automobilfabrikanten De Ruyters verheiratet war, hatte ihr vom Herbst ab ein Landhaus in der Nähe von Mersburg samt einem kleinen Betriebskapital zur Verfügung gestellt, damit sie es als Heim für verwahrloste und obdachlose Kinder einrichte. Sie hatte sich noch nicht endgültig entschieden. Sie fühlte sich der Aufgabe noch nicht gewachsen. Sie brauchte Sammlung. Sie war auch Josephs wegen unruhig. Seit Ende Mai war sie ohne Nachricht. Zuweilen verspürte sie heftige körperliche Sehnsucht nach ihm. In ihren Träumen sah sie ihn in Gefahr. Mit ungerechter Bitterkeit sagte sie sich, ein Mann mute einer Frau zuviel zu, wenn er sie ohne zwingende Not zu so langer Witwenschaft verurteile. An gewissen Tagen erinnerte sie sich nicht mehr an sein Gesicht. An andern wieder hörte sie seine tiefe Stimme so deutlich, als ob er neben ihr stünde und zärtlich zu ihr rede. Die Kinder fragten ungeduldig, ja unwillig nach dem Vater. Sie betrachteten seine Abwesenheit als etwas für sie Schimpfliches und glaubten der Mutter nicht ganz, wenn sie ihnen Bewundernswertes von seiner Person und seinem Leben erzählte. Marie liebte es, von ihm zu erzählen. Dadurch wurde ihr der Mensch, der Mann, der Freund, der Gatte wie nie zuvor Besitz. Es beglückte sie zu erfahren, wie unendlich viel er ihr war und bedeutete. Noch vier Monate, dachte sie im August, noch drei im September, nicht auszuhalten, wie schneckenlahm die Zeit ist. Sie war noch so jung mit ihren achtunddreißig Jahren, daß sie die Zeit hassen konnte, weil sie nicht schneller verging. Dabei war es noch immer so, daß ihre Existenz »an allen Ecken und Enden brannte«, wie sie zu Eugen Hansen gesagt hatte. Mehr noch ihr Herz als die Existenz.

40

Zwei Gründe hatten sie bewogen, den weltverlorenen Ort als Aufenthalt zu wählen. Kindheitserinnerungen verbanden sie mit ihm und der Landschaft. Die Großeltern väterlicherseits hatten da gelebt; sie war oft bei ihnen zu Besuch gewesen. Das alte Fachwerkhaus unfern der Stadtmauer stand noch wie damals. Jetzt wohnten fremde Leute drin. Es tat wohl, mitten in diesem zerwühlten, aufgepeitschten Reich und Volk auf einem Stück friedlicher deutscher Erde zu weilen, wo frühe Zeit von später Zeit umschleiert war, wie eine Ruine von Efeu.

Was sie außerdem hergelockt hatte, war der Umstand, daß ihr alter Lehrer Kaspar Neidhardt seit zwanzig Jahren hier lebte. Er war ein Freund ihres Großvaters gewesen; nach seiner Pensionierung hatte sich der Reichsgerichtsrat Martersteig nach Dürrwangen, das seine Heimat war, zurückgezogen und hatte Neidhardt mitgenommen und ihm ein Häuschen geschenkt, damit er sich für den Rest seines Lebens seinen philosophischen und musikalischen Neigungen widmen könne. Marie hatte dem Mann viel zu verdanken. Er war der Bildner ihrer Jugend gewesen, ein Humanist von der Art, die jetzt ausgestorben ist. Bis in das Jahr 1925 war sie mit ihm in Briefwechsel gestanden, danach war die Beziehung abgebrochen, sie hatte ihn nahezu vergessen, erst in den allerletzten Tagen in Berlin hatte sie sich seiner wie eines vorwurfsvollen Mahners erinnert. Da hatte sie sich entschlossen, ihn aufzusuchen.

Es war zu spät. Er lebte zwar noch, aber dieses Leben war ein verlöschendes Flämmchen. Kaum daß er sie erkannte. Kaum daß er noch wußte, wer sie war. Seine Fragen waren kindisch, sein Benehmen verlegen. Den größten Teil des Tages kramte er mit seniler Geschäftigkeit in vergilbten Papieren oder saß stundenlang mit halbgeschlossenen Augen am Bett seiner Enkelin. Er war einmal ein berühmter Organist gewesen; es schien, als habe die Last der Jahre auch die Musik in ihm begraben; viele Wochen hindurch berührte er das Instrument nicht, aber eines Tages konnte es geschehen, daß er an zwei Stöcken in die gegenüberliegende Kirche humpelte, sich in den Chor hinauftragen ließ und, als wäre er nicht vierundsiebzig, sondern fünfzig, mit einem Feuer und einer Kraft zu spielen begann, daß die wenigen Zuhörer, die sich dann immer einfanden, nachher davon sprachen wie von einem Ereignis. Man hatte es Marie erzählt. Sie wünschte ihn zu hören. Sie erinnerte sich eines gewaltigen Kindheitseindrucks: Wie er an einem Karfreitag in der Schloßkirche gespielt und sie das Gefühl gehabt hatte, sie müsse sterben; wenn sie weiterlebte, begehe sie ein Todsünde. Die Leute in Dürrwangen berichteten, im vergangenen Jahr habe er nur zweimal gespielt; jede Aufforderung oder Bitte finde ihn taub, man müsse warten, bis der Geist über ihn käme. Es fügte sich, daß Marie ihn hören durfte, aber da hatte ein anderes Erlebnis derart von ihr Besitz ergriffen, daß ihr die Musik, sogar die heiligste, wie unerlaubte Schwelgerei erschien.

41

Es handelte sich um Neidhardts Enkelin. Sie war als Sechzehnjährige bei einem übermütigen Spiel mit Freundinnen von einer Leiter gestürzt. Seitdem, seit sechseinhalb Jahren, lag Johanna gelähmt im Bett, sie konnte kein Glied rühren. Sie lag auf dem Rücken, den Blick nach oben gerichtet, Tag und Nacht, denn sie schlief nur wenig, auch nahm sie nur flüssige Nahrung zu sich, ein halbes Glas Milch am Tag, manchmal etwas verdünnten Honig. Die Ärzte konnten den Sitz des Leidens nicht erkennen. Es wurde eine sogenannte Motilitätsstörung angenommen.

Es gab Zeiten, wo sie frei von Schmerzen war. In einer solchen Periode, die schon wochenlang dauerte, lernte Marie sie kennen. Als sie sie zum erstenmal auf dem schmalen Lager sah, die zu Skeletten abgemagerten, förmlich ausgedörrten weißen Hände über der Brust gefaltet, den schönen, großen, geduldigen Blick auf sich ruhen fühlte, war sie tief bewegt. Sie konnte aber damals noch nicht wissen, welche Kräfte in dem Mädchen schlummerten. Krankheit, Siechtum, langsames Hinsterben und der Heroismus, mit dem der Geist es auf sich nimmt, das war schließlich nichts Außerordentliches; hier kam noch etwas anderes hinzu.

In der zweiten Septemberwoche traten wieder die Schmerzen auf. Sie waren so furchtbar, daß die Kranke zeitweilig ohne Besinnung schien. Die Arme verdrehten sich unter Konvulsionen, der Nacken wurde steif, das Gesicht grau wie Asche. Medikamente zu nehmen, hatte sie sich seit jeher geweigert; der Großvater hatte ihr feierlich versprechen müssen, daß er sie niemals durch irgendwelche Mittel betäuben lassen werde. Sie klagte nicht, auch bei unerträglicher Qual nicht. Im Gegenteil, eine seltsame Heiterkeit verbreitete sich dann über ihre Züge. Am ersten Tag ließ man Marie nicht zu ihr; der alte Mann ging fortwährend im Hause herum und murmelte Gebete. Erst am Abend des zweiten Tages durfte sie zu Johanna ins Zimmer. Die Petroleumlampe war mit einem Tuch verhängt. In der Ecke saß eine Klosterschwester, regungslos wie eine Wachsfigur. Kaspar Neidhardt stand in der geöffneten Tür und sprach das Vaterunser. Zwei Schritte vor Johannas Bett verharrte Marie wie an den Boden gewurzelt. Ein inbrünstiges Lächeln belebte die Züge des Mädchens. Jedes Anwachsen des Schmerzes, und man spürte es wie durch Übertragung, wenn dies der Fall war, verstärkte die Glut dieses Lächelns. Es hatte etwas Unirdisches. Unirdisch: Noch nie war Marie der abgebrauchte Begriff so sinnfällig geworden.

Ähnliche Erscheinungen sind bekannt. Wir wissen von Steigerungen angeblich krankhafter oder abnormer Seelenzustände an der Grenze des Mystischen, die für die Wissenschaft so wenig zugänglich sind wie für die gewöhnliche Erfahrung. Bei Johanna war es noch nicht dieses Äußerste, Weltgelöste, wo der Mensch durch das Leiden in eine neue Form hinübergeführt wird. Sie hatte bis jetzt die Bindung an ihre Umgebung keineswegs verloren. Sie war weder entrückt, noch ereigneten sich irgendwelche Wunder mit ihr. Das Lächeln jedoch, das die übermäßigen Qualen auf ihr Gesicht zauberten, stammte immerhin aus einer fremden Region. Es war von einer Beschaffenheit, daß sich Maries Vorstellung von dem, was ein Mensch innerlich über sich vermag, grundlegend änderte. Nicht als wäre sie plötzlich andern Sinnes und andern Strebens geworden; so gehen ja diese Dinge nicht vor sich. Es vollzieht sich eine leise Ablenkung, ein Einbiegen in einen neuen Weg, der scheinbar noch die Richtung des früheren hat und sich nur sehr allmählich wendet. Marie war noch zu nah ihren Bedrängnissen, zu nah der Angst, als daß es mehr hätte sein können denn ein kleiner Schritt gegen das Geheimnis hin, das noch tief in ihrer Ahnung und in ihrem Gewissen ruhte.

Das eben zeigte sich am folgenden Morgen, als sie in der Kirche saß, während der alte Neidhardt im Chor spielte. Er war die ganze Nacht über wach gewesen. Marie war um elf Uhr abends nach Hause gegangen, seitdem war er nicht mehr von Johannas Bett gewichen. Am Vormittag sprach er davon, daß er in die Kirche gehen wolle. Was das bedeutete, wußten seine Leute. Wahrscheinlich bestand ein Zusammenhang zwischen den Schmerzparoxismen der Gelähmten und diesem spontanen Bedürfnis, sich in der Musik von seiner Herzensnot zu befreien. Marie saß mit ihren Kindern gerade beim Frühstück, als die Klänge der Orgel in das Zimmer des kleinen Gasthauses drangen, in dem sie wohnte, fünf Minuten Wegs von der Kirche entfernt. Sie erhob sich hastig und eilte hinüber.

Und da geschah es, daß sie sich wehrte und verschloß gegen die Wirkung der Musik, als sei es eine unzulässige Verführung und Betörung; als sei sie nicht fähig, in den überweltlichen Sinn der Töne zu dringen, und als sei der weltliche nur genießerisches Mißverstehen; als dürfe kein sinnlicher Rausch, keine wollüstige Harmonie an die Entfaltung des zarten Keims rühren, von dem sie noch nicht wußte, welchen Raum, welche Wurzeltiefe er in ihrem Innern brauchte. Man muß aufmerksam sein, war ihr Gefühl, man darf sich nicht dort hingeben, wo das eingelullte Herz sich sein Tun abschmeicheln läßt; Standhaftigkeit ist nötig, Gegenwart ist nötig, Unrührbarkeit gegen das, was lockt und schwächt und aufweicht.

Sich diesem Gebot zu unterwerfen, fiel ihr schwer; sie war ja eine lyrische Natur, abhängig von Träumen. Sie liebte nicht nur die Musik, sie verstand auch etwas davon, hatte sich nie leer schwärmend von einem Tongewoge tragen lassen. Schönheit war ihr ein Lebenselement gewesen; ohne die Kunst war ihr die Welt blütenlos erschienen; wenn sie eine Zeitlang den Anblick schöner Bilder und Plastiken hatte entbehren müssen, wie in den Jahren auf Lindow, oder nicht die Muße, die Kraft gefunden hatte, sich in eine Dichtung zu versenken, war ein quälender seelischer Hunger über sie gekommen. Die Schranke, die sich nun in ihrem Innern dagegen aufrichtete, überraschte sie selbst. Es war der Ruf nach Bewahrung. Sie hatte es oft genug an sich erlebt, daß die ausschweifende Hingabe an das Schöne von den Menschenverpflichtungen entbindet und auf Gewissenseinschläferung hinausläuft.

Nachher war sie schlechter Verfassung. Ihre Nerven waren so gespannt, daß sie das Geplauder der Kinder nicht ertrug. Es ist die Sehnsucht, dachte sie, es kann nichts anderes sein. Aber wenn sie sich genauer prüfte, lag unterhalb der Sehnsucht das dunklere Gefühl, eine drückende Ungewißheit und Unsicherheit, als ob sie einen schweren Verlust erlitten hätte und es noch nicht wüßte. Gegen Abend trat sie an Johannas Bett; am liebsten wäre sie hingekniet, um von der Siechen Trost zu erflehen. Das Mädchen lag noch immer in schmerztrunkener Verlorenheit, doch hatten die Krämpfe nachgelassen. Auf einmal heftete sie den geisterhaft strahlenden Blick auf Marie. Es war ein tiefer Mitleidsblick, schwesterlich, seherisch, und da wußte Marie, daß sie in einer bestimmten Gefahr schwebte, daß mit Joseph etwas geschah oder geschehen war, was unheilvoll in ihrer beider Leben eingriff. Von Sorge verdüstert, schickte sie eine Kabeldepesche an ihn. Es war sonst nicht ihre Gewohnheit, den telegrafischen Apparat zu bemühen. Drei unerträgliche Tage vergingen, bis seine beruhigende Antwort kam. Ihre Bangigkeit verminderte sich dadurch nicht. Fast mit Schrecken erkannte sie die Leidenschaftlichkeit ihres neuerwachten Gefühls. Wieder wehrte sie sich, wollte sich retten vor dem Süßen und Betäubenden, aber diesmal umsonst.

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Ein Mensch allein kann die Herrschaft über sich behalten und für sich einstehen; ein vom Schicksal zusammengefügtes Paar unterliegt anderen Gesetzen; das Doppelwesen stellt eine Verklammerung dar, derzufolge die Wege, die sie als einzelne genommen, schon rein physikalisch, wie durch den Einfluß der Schwerkraft, verändert werden. Dies spürte Marie am ersten Tag der Wiedervereinigung mit Joseph Kerkhoven. Darin lag etwas von dem Magischen jeder blutbedingten Ehe. Die Freude des Wiedersehens, Einander-wieder-Habens war ein Sturm; niederreißende Gewalt. Nichts mehr von Schwäche bei ihm; kein Erloschener; in ihr keine Angst mehr, kein räuberisches Bild eines andern. Nur durch Ruhe, durch meisternde Überlegenheit war sie in der Umarmung zu gewinnen, und jetzt besaß er sie, die Ruhe, die Marie berauschte und in der Lust untergehen ließ. Es gab Augenblicke, in denen sie vor Glück schluchzend an seinem Hals hing und alles vergaß, was in den Monaten der Einsamkeit an ihr genagt hatte, das tiefe Ungenügen innen, die Bitternis und Finsternis der Schicksale außen. Ja, sie vergaß es, für eine Weile wenigstens; das Blut in ihr vergaß, das Weib in ihr vergaß. »Dürfen wir denn so jung sein, so verrückt?« fragte sie verwundert. »Es kommt mir fast gottlos vor.« – Kerkhoven antwortete: »Nur die Furcht vor dem Altwerden macht alt. Wir sind, was wir uns scheinen. Gottlos? Aber Marie! Für diese eine Nacht habe ich ein Jahr meines Lebens geopfert.« Marie stutzte. Es klang nicht ganz aufrichtig. Es war eine kaum merkbare Übertriebenheit im Ausdruck, die sie betroffen machte.

Sie war ihm bis Mailand entgegengefahren. Die Kinder hatte sie bei Freunden in Stuttgart gelassen. Von Mailand fuhren sie ins Tessin und blieben ein paar Tage in einem stillen Ort zwischen Weinbergen. Sie gingen viel in der Landschaft herum; Kerkhoven erzählte und Marie erzählte. Doch es war immer, als verhehle jeder dem andern das Eigentliche und Wesentliche, das, woran jeder fortwährend dachte und was ihn zutiefst beschäftigte. Der Unterschied war nur der, daß Marie mit ihrem Spürsinn alsbald dahinterkam und Kerkhoven nicht. Sie fand nicht die Möglichkeit, nicht die Worte, vielleicht auch wegen dessen, was er vor ihr verbarg, nicht das Vertrauen, von dem schweren inneren Erlebnis zu sprechen, das sie in eine Krise gestürzt hatte und das jetzt von neuem, da das Leben wieder sein Alltagsgesicht bekam, in ihr zu wühlen anfing; und er, nun, er fragte nicht. Er war noch um einen Grad versponnener und in sich gekehrter, als sie ihn gekannt. Mochte sein, daß er sich nach dem langen Müßiggang, zu dem ihn die Reise verurteilt hatte, nach der Arbeit sehnte. Er hatte ja von vorn zu beginnen, wußte aber noch nicht recht, wo und wie; er besprach allerlei Projekte mit ihr, aber dahinter war eben noch das andere, und Marie spähte und suchte; manchmal durchforschte ihr heimlicher Blick mit geschärftester Aufmerksamkeit sein sonnverbranntes Gesicht, die von wechselnden Schatten und Lichtern belebte Stirn, die sinnenden Augen unter den halbgesenkten Lidern. Was hat der Mann? fragte sie sich. Was geht mit dem Mann vor?

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Es fiel ihr auf, daß er ziemlich regelmäßig Briefe aus England erhielt. Daß er sie ebenso regelmäßig beantwortete, darüber blieb sie nicht lange im Zweifel. Er hatte ihr erzählt, daß er sich drüben mit einem jungen Ehepaar angefreundet, in einem Ton von gemachtem Gleichmut, der nicht erraten lassen sollte, daß das Interesse an der Frau das an dem Mann überwog. Als er zum erstenmal den Namen Mabel nannte, glaubte Marie ein verdächtiges Vibrieren seiner Stimme zu vernehmen. Es gehörten allerdings ihre Ohren dazu, um eine Nuance aufzuspüren, die jeder andern entgangen wäre. Sie war ungeheuer listig in Fragen. Es ergötzte sie, wenn er rot wurde wie ein kleiner Junge. »Na, rück schon heraus«, sagte sie eines Tages lächelnd, »gesteh doch, daß du dich verliebt hast.« – »Ach was, verliebt«, entgegnete er ärgerlich, »mutest du mir Dummheiten zu?« – »Es scheint aber so«, neckte Marie, »du bist leider ein schlechter Heuchler, du dauerst einen, wenn du lügst.« – »Und du, Marie, siehst das Unsichtbare, das ist dein alter Fehler.« – »In diesem Fall könntest du mich von dem Fehler heilen«, versetzte Marie schlagfertig; »sicher hat sie dir ihr Bild geschenkt, deine Mabel.« – »Meine Mabel? Aber Marie!« Marie lachte laut heraus. »Siehst du! Wenn du ein guter Kamerad wärst, müßt' ich dich nicht erst danach fragen.«

Ein wenig beschämt kramte er die Fotografie aus seinem Koffer hervor. Marie hielt das Bild eine Minute lang vor sich hin, sah es an, schwieg, verfärbte sich leicht, und als sie es ihm zurückgab, sagte sie: »Schöne Person.« Weiter nichts. Und von diesem Tag an erwähnte sie die Sache überhaupt nicht mehr, schien auch ihr stilles Graben und Beobachten eingestellt zu haben. Vier Wochen später, Kerkhoven hatte um diese Zeit bereits ein Anwesen in der Nähe von Steckborn am Bodensee gekauft und war in voller Tätigkeit, das Hauptgebäude seinen bescheidenen Plänen anzupassen, während Marie mit einem Teil des Geldes, das ihr Frau de Ruyters zur Verfügung gehalten, einen geräumigen Gartenpavillon für ihre Kinderhilfe einrichtete, erschien unvermutet Mabel Hardy; das heißt, sie befand sich auf der Durchreise nach Genf im Inselhotel in Konstanz, allein, ohne ihren Mann. Sie telefonierte Kerkhoven, daß sie da sei und ihn erwarte. Sie wollte eine Woche bleiben.

Diese Woche wurde für Marie zu einer Folter, dergleichen sie bis jetzt noch nicht gekannt hatte.

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Kerkhoven fuhr täglich zu Mabel hinüber. Immer war er zeitbedrängt, aber so groß war die Bedrängnis nie, daß er nicht die zwei oder drei Stunden für diese Frau übrig hatte. Und wenn er von ihr kam, war er befeuert, beflügelt, um zehn Jahre verjüngt. »Ich finde, es geht dir ausgezeichnet«, sagte Marie anscheinend erfreut, »so eine amouröse Kür wirkt offenbar riesig erfrischend.« – »Du mußt sie unbedingt kennenlernen«, sagte Kerkhoven. – Marie antwortete spitz: »Ich sehe nicht, was sie hindern sollte, uns zu besuchen.« Sie unterstrich das »uns«. Am andern Tag brachte er sie mit. Marie war durch das Bild auf eine ungewöhnliche Erscheinung vorbereitet, aber die Wirklichkeit übertraf ihre Erwartung. Sie war verblüfft. Für nichts war sie empfänglicher als für weiblichen Scharm, nichts bewunderte sie so sehr wie die Schönheit einer andern Frau. In dieser Hinsicht war sie so neidlos, als wäre sie die Mutter aller schönen und anmutigen Frauen auf der Welt, obgleich es ihr selbst an jugendlicher Anmut nicht gebrach. Die freie Natürlichkeit und arglose Offenheit, mit der ihr Mabel entgegenkam, wie sie sich ihr mit dem ersten Wort gleichsam unterordnete und ihr auf undefinierbare Weise zu verstehen gab, daß sie ihre Grenzen so genau kenne wie Maries Rechte, das gewann ihr die Sympathie Maries vollends, obschon sich zur selben Zeit Zorn und Abneigung in ihr regten. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß jene in aller Gutmütigkeit und Ahnungslosigkeit auf Einbruch ausging. Eben war der neue Bund zwischen ihr und Joseph geschlossen und befestigt, man war mit der Vergangenheit endgültig fertig geworden, alles war Verheißung, alles schien leichter in der neuen Vereinigung, da kam diese Fremde, strahlend unwissend, mit einem romantischen Ideal von Freundschaft im Kopf, und zertrat das junge Wachstum, verstellte die Wege!

Marie gab sich die äußerste Mühe, ihre freundliche Haltung zu bewahren. Sie nahm sich vor, kaltblütig zu bleiben. Wenn sie nicht klug und voraussehend handelte, war Zerwürfnis und Bruch unvermeidlich. Doch was nützt solcher Vorsatz, wenn das Gefühl der Würde verletzt wird, wenn etwas wie heimliche Verabredung vorzuliegen scheint, wenn man eine Beziehung spürt, die einen zum störenden Dritten macht. Das geht gegen den Stolz, und in diesem Punkt war Marie verwundbar. Im weiteren Verlauf des Zusammenseins kam sie sich wie ausgestoßen vor, wie die Teilnehmerin an einem Komplott, das man ihr verschwieg. Zweifellos steigerte sie sich in diese Empfindung selbstquälerisch hinein, aber so viel war sicher, daß sie Joseph noch nie so gesprächig, so heiter, so angeregt gesehen hatte; es schmerzte sie wie ein Biß. Für eine Weile verließ sie das Zimmer; als sie zurückkam, saßen sie nah beieinander; es machte den Eindruck, als wären sie Hand in Hand gesessen und hätten einander erschrocken losgelassen. Marie lächelte unbefangen, aber in ihr trübte sich alles. Kerkhovens umstricktes, erregtes, werbendes Wesen empörte, beleidigte sie. Sie fand ihn überaus töricht. Sie genierte sich für ihn. Schließlich wußte sie auch nicht mehr, was sie von der guten Mabel denken sollte. War sie blind? War sie dumm? Hatte sie wirklich keine Ahnung, was sie anstellte? Unverzeihlich, daß eine Frau so instinktlos war. Als das Mietauto gemeldet wurde, das Mabel ins Hotel zurückbringen sollte, hielt Kerkhoven es für selbstverständlich, sie zu begleiten. »Sie kommen doch mit«, wandte sich Mabel an Marie, und als diese den Kopf schüttelte und Geschäfte vorschützte, bat sie so beweglich, so kindlich unschuldig, Marie möge ihr den Wunsch nicht abschlagen, daß sie sich bestimmen ließ, ja sogar angesichts dieser entwaffnenden Herzlichkeit ihren Groll vergaß.

Sie saßen zu dritt im Fond des Wagens, Kerkhoven zwischen den beiden Frauen. Während der Fahrt wurde es Abend, das Gespräch war ins Stocken geraten. Es ging durch eine andere Übermittlung als durch die Augen vor sich, daß Marie die Gewißheit erhielt, Mabel habe ihren Arm unter den Kerkhovens geschoben. Es war zu dunkel, als daß sie es hätte sehen können, auch wenn sie sich vorgebeugt hätte. Sie spürte es aber wie durch eine elektrische Leitung, und indem sie schweigend vor sich hinblickte, war ihr zumute, als müsse sie aus dem fahrenden Wagen springen, so unsäglich peinvoll war ihr die sinnliche Schwülnis, die, wie sie sich einbildete, von dem Mann an ihrer Seite ausströmte. Ja, sie bildete sich's vielleicht nur ein, jedoch ihr Kummer war keine Einbildung. Zuletzt waren für ihr Gefühl und Urteil immer Geschmacksfragen entscheidend. Schwülnis war ihr, geschmacksmäßig, das Ärgste auf der Welt. Aber durfte sie sich auch nur eine Regung der Mißachtung gegen den Mann gestatten, von dessen Menschenwert und -macht sie den höchsten Begriff hatte, da doch niemand, keiner seiner Patienten, seiner Freunde oder Schüler, stärkere Beweise dafür besaß als sie? Obwohl ihr Intellekt schneller war als seiner, ihr Temperament beweglicher, ihre Beobachtungsgabe verläßlicher, ihre Menschenkenntnis unbestechlicher und obwohl sie dies wußte, hatte sie sich außer bei scherzhaften Anlässen, seinen komischen Zerstreutheiten und Inkonsequenzen, mit ihrer Kritik niemals an ihn herangewagt, denn er war das Absolute in ihrem Leben, das allein Gültige, der dauernde Halt. Man konnte sich über ihn ärgern, wenn er in kleinen Dingen versagte, er konnte einen ungeduldig machen durch seine Dumpfheit und Schwere, aber da war alles aus einem Guß, da war Gestalt und Format und deshalb dies unheimliche Sich-selber-treu-Sein in Fehlern und Vorzügen, der unbeirrbare Gang eines Schlafwandlers oder Verzauberten. Um dies so klar sehen und ermessen zu können, bedurfte es jener glücklichen Mischung von Phantasie und Verstand, die Marie eigen war. Jede andere Frau wäre an der Aufgabe, die ihr ein solcher Mann stellte, gescheitert.

Das alles ging ihr durch den Kopf, während das Auto in der Lichtbahn der Scheinwerfer durch die schwachbeschneite Landschaft glitt. Und auch dies, daß er sich, seit sie ihn kannte, noch niemals erotisch verstrickt hatte. Die schönsten, verführerischsten Frauen waren Luft für ihn gewesen, und wenn ihm eine gar zu auffallend entgegenkam, hatte er sich gutmütig über sie mokiert. Marie hatte es bei seiner entschieden sinnlichen Veranlagung nie recht begriffen. Es schmeichelte ihr keineswegs. Sie schrieb es nicht ihrer körperlichen Anziehungskraft zu, sondern seinem Beharrungswillen, der eingefleischten Abneigung gegen Abenteuer, die in seiner Bequemlichkeit wurzelte, und seinem fanatischen Werkfleiß. Was hatte diese Einbrecherin mitgebracht, das ihn aus der Bahn riß? Was für Eigenschaften waren es, die ihn in einen liebeglühenden Knaben verwandelten? Oder war es nur der sogenannte Johannistrieb? Unsinn. Der Mann stand im Mittag seines Lebens, der vergab sich nicht, weil er nichts mehr zu vergeben hatte.

Aber es tat weh. Wie sollte man darüber hinwegkommen? Wie handelte man am klügsten? Es großmütig geschehen lassen, mit dem Lächeln einer, die am Ende doch die Siegerin bleibt? Es war was Schmähliches drin. Solche Klugheit schlägt sich oft selber. Szenen machen, auf seine Rechte pochen? Vulgär. Jedenfalls aufmerken, sich keinen Überraschungen aussetzen, sich in der Gewalt behalten.

Richtig gedacht, aber Programme und Vorsätze zerbrechen an brutalen Tatsachen. Als der Wagen vor dem Hotel angelangt war, sprang Kerkhoven zuerst hinaus, reichte Mabel ritterlich die Hand (Marie erinnerte sich nicht, ihn je ihr gegenüber so artig gesehen zu haben) und sagte dreimal nacheinander: »Leben Sie wohl, Mabel.« Und wieder und wieder: »Leben Sie wohl.« Dabei wußte Marie bereits, er hatte sich kurz vorher unvorsichtig verraten, daß sie einander duzten. Und die zärtliche Stimme, die aufleuchtenden Augen! Das Herz schnürte sich ihr zusammen. War es am Ende doch nur die blöde, gemeine Eifersucht?

Während der Rückfahrt blieb sie stumm, unheilvoll stumm. Auch Kerkhoven schwieg, aber in anderer Art, wie ein Mensch, den freudige Bilder umgeben. Es schien, als wäre Marie nicht mehr vorhanden. Und sie blieb stumm, als sie zu Hause waren, stumm, als sie bei Tisch saßen, sie war für ihn noch immer nicht vorhanden. Sie begab sich früher in ihr Zimmer, als es ihre Gepflogenheit war. Doch als er sich niedergelegt hatte, nach Mitternacht, er hatte noch an seinem Buch gearbeitet, und eben das Licht auslöschen wollte, kam sie im Schlafanzug herein und setzte sich an sein Bett. Er schaute sie erstaunt an, denn er merkte auch jetzt noch nicht, wie aufgewühlt sie war.

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»Was hast du eigentlich im Sinn, Joseph?« fragte sie hart, härter, als sie wollte; und als er fortfuhr, sie anzustarren: »Ich meine, was du dir bei alledem denkst. Das möchte ich wissen. Du bildest dir doch nicht ein, daß ich euch hier den wohlwollenden Zuschauer abgebe.« – Kerkhoven erschrak sichtlich. »Ich verstehe keine Silbe, Marie«, stammelte er. – »Du mußt dir klarwerden«, sagte Marie mit der klirrenden, hohen Stimme, die sie hatte, wenn sie erregt war und sich mit aller Kraft beherrschte; »entweder ist es bloß ein Spiel, dann mach Schluß, und zwar sofort. Oder es ist Ernst, dann geh' ich.« – »Marie! Was redest du! Ich beschwöre dich ... Ich hatte keine Ahnung, daß du ... Spiel, Ernst ... Eines kommt so wenig in Frage wie das andere ...« – »Ich weiß, daß du keine Ahnung hast«, bemerkte Marie bitter, »um so notwendiger, daß ich dir sage, wie die Dinge stehen.« – »Welche Dinge? Was meinst du denn?« – Marie sah ihm in die Augen wie einem Kind, das aus Bestürzung lügt. »Es ist dir nicht angenehm, überrumpelt zu werden, kann ich mir lebhaft denken«, spottete sie; »es war dir immer lästig, wenn man dich gestellt hat. Aber siehst du, Joseph, ich vertrage nicht, daß etwas mit mir geschieht, wobei ich das Opfer einer ... na, sagen wir einer Gedankenlosigkeit bin. Ich vertrage die kleinen Schwindeleien und Mogeleien nicht, die sich ein Mann mit einer Frau erlaubt, um sie dummschlau hinters Licht zu führen. Da mußt du früher aufstehn, wenn du damit Erfolg haben willst.« – Kerkhoven war ehrlich entsetzt. Er war ein wenig in der Lage eines Mannes, der sich mit der Angelrute vergnügt an ein Ufer setzt, um zu fischen, und sich sehr verwundert, wenn er erfährt, daß das Fischen in diesem Wasser strafbar ist. An eine solche Möglichkeit hatte er gar nicht gedacht. Daß Marie Einspruch erheben könne, war ihm nicht in den Sinn gekommen. Sie hatte nicht die mindeste Ursache, wollte ihm dünken. Und hierin betrog er nicht sie, er betrog sich selbst. Zwar hatte er ihrer nicht geachtet, aber so, wie man zuweilen des Kostbarsten, das man besitzt, nicht achtet, weil es ja da ist, verwahrt und versperrt.

Er sagte mit großem Ernst: »Deine Voraussetzung ist falsch, Marie. Nicht einfach, dir alles zu erklären. Zwischen Mabel und mir ist nichts, was dich beunruhigen könnte. Es ist ... ja, es ist fast etwas Märchenhaftes. Sogar die Bezeichnung Freundschaft trifft daneben ... Mabel ist das ungewöhnlichste Geschöpf, dem ich je begegnet bin ...« – »Mann! Mann!« rief Marie fassungslos. – »Ich meine, in einer gewissen Art, in ihrer Einstellung zur Liebe«, verbesserte er sich erschrocken; »das Pflanzenhafte, Schlummernde, Sanfte ... und ... fünfundzwanzig Jahre ... Ich kann nicht leugnen ... dazu dieses Gesicht ... Willst du mir nicht den unschuldigen kurzen Traum lassen, Marie?« – Marie hatte die Finger ineinandergekrampft und das Kinn auf die verschränkten Hände gelegt. »Ich will dir einmal was sagen«, begann sie leise, bemüht, ihre Verzweiflung zu verbergen; »kurzer Traum oder wie du es sonst nennst, das konzedier' ich nicht. Hab ein Verhältnis mit ihr, schön; nimm sie zu dir ins Bett, wenn sie nicht zu tugendhaft oder zu bürgerlich dazu ist; konzedier' ich ohne weiteres. Warum auch nicht? Aber dieses Schmachten und Anbeten, das verschwärmte Getue mit dem Hintergrund von Begehrlichkeit, der Überwertung des Verzichts auf das, worum es schließlich doch geht, das, verzeih, das ertrag' ich nicht, davor widert's mich, davor graut mir.« – »Du läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig«, sagte Kerkhoven verletzt. – »Das war die Absicht. Nun kannst du dich danach richten. Wie benimmst du dich denn! Leben Sie wohl, leben Sie wohl ... flötest wie ein Tenor ... Natürlich, du wirst sagen: Diese Marie, was erlaubt sie sich, sie hat ja Butter auf dem Kopf, macht den Aufpasser ... Aber siehst du: Ich passe eben auf ...« Sie erhob sich, doch Kerkhoven legte seine beiden Hände schwer auf ihre Schultern. »Einen Augenblick, Marie. Geh nicht so weg. Du mußt wissen ... brauch' ich's denn erst zu sagen ... was uns verbindet, hat mit dieser Sache nichts, aber auch nichts zu schaffen. Ohne dich bestünde sie gar nicht. Du bist in meinem Leben das oberste Prinzip ... der oberste Mensch ...« – »Ich glaube dir nicht, es ist nicht wahr, ich glaub' dir nicht mehr, Joseph!« schrie Marie auf, warf sich vornüber auf das Bett und weinte, als wollte ihr das Herz brechen. Ein halb gütiges und weises, halb schuldbewußtes Lächeln trat auf Kerkhovens Lippen. Er beugte sich über sie. Er streichelte ihre Arme und ihre Haare. Er sprach zärüiche, beschwichtigende Worte. Er zog sie langsam an seine Brust. Sie hörte auf zu weinen. Sie umklammerte ihn. Sie hielt sich an ihm fest, immer stärker, wie wenn sie fürchtete, tief hinunterzufallen, sobald sie ihn losließ. Ihr Mund suchte seinen. Ihr Körper flog und brannte. Er löschte das Licht aus.

So hatte er sie nie in den Armen gehalten, auch in der Nacht der Wiedervereinigung nicht. Sein Erstaunen wurde zur Erschütterung. Das war nicht mehr Hingabe, es war ein neuer Zustand, eine in der Glut zerschmolzene Form. Von der kühlen, sich selbst bewachenden, schwer erringbaren Marie war nichts mehr übrig. Frauen können sich in der Liebe entscheidender verwandeln, als der liebendste Mann zu begreifen vermag. Es war Marie in ihrem purpurnen Rausch und Jubel noch bewußt, daß sie ein Bild in dem Gatten auszulöschen hatte, und er, wer weiß, ob er nicht dieses Bild mitumarmte, als er mit Marie eines Leibes wurde, inniger denn je. Unglaublich, daß man fünfzig Jahre alt werden muß, um das zu erleben, ging es Kerkhoven durch den Kopf; vor dem allmächtigen Schicksal sind wir alle wie kleine Kinder und werden niemals älter ...

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Am andern Tag hatte er mit Mabel ein Gespräch, dessen Leitmotiv war: Wir müssen voneinander lassen, auch nicht das lockerste Band kann bestehen bleiben. Was sich zwischen ihm und Marie ereignet hatte, verschwieg er. Sie bedurfte der Erklärung nicht. Sie erriet. Sie verstand. Sie senkte den Kopf, ihre Lippen zitterten, sie legte ihre Hände in seine. »Du weißt, ich habe nichts gewollt«, flüsterte sie, »ich halte mich für genauso gebunden wie du. Es war mir genug, zu wissen, daß du auf der Welt bist, und wird mir auch weiterhin genug sein.« – Er antwortete: »Meine Existenz ist dort verankert ... bei ihr. Mit ihr steh' und falle ich. Du, Mabel, du warst, du bist ... Womit soll ich's vergleichen? Es gibt Begegnungen, die einen andern Menschen aus einem machen. Aber jedes Wort ist zuviel, sonst vergeh' ich mich an ihr ... Begreifst du es, Mabel? Es ist so schwer, man müßte eine Geistersprache dafür haben ...« – »Ja, eine Geistersprache«, hauchte Mabel, »das ist es. Und lieben, als ob man keine Gegenwart und keinen Körper brauchte. Und leben, als ob es keinen Tod gäbe ...« Sie beugte sich rasch nieder und küßte seine Hand. Sie war ein phantastisches großes Kind, ohne Heimat in der Wirklichkeit. Kerkhoven wußte es längst, so wie er wußte, daß sie sofort zerbräche, wenn er mit dem Anspruch seiner Wirklichkeit zu ihr käme. Von ihr träumen und um sie trauern, mehr blieb nicht; und auf seinem und ihrem Mund der stumme Dank, mit dem sie auseinandergingen. Am nächsten Morgen fragte Marie: »Ist sie fort?« – »Ja, sie ist fort. Ganz und gar fort.« Einige Sekunden sahen sie sich fest in die Augen. Dann trat Marie auf ihn zu, und es geschah weiter nichts, als daß sie langsam das Haupt niederbog.

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Damit verlassen wir einstweilen den inneren Bereich des Kerkhovenschen Lebens und treten in den äußeren, der sich uns stufenweise erschließen wird bis zu dem entscheidenden Zusammentreffen mit Alexander Herzog.

Es waren zwei bedeutsame Tatsachenkomplexe, die den allmählichen Übergang bildeten. Obwohl er in beide fast gleichzeitig hineingezogen wurde, standen sie untereinander in keiner Verbindung. Doch erwies sich jeder einzelne als weitgreifend in den Ursachen wie in den Folgen und stellte ihn gebieterisch vor die Lösung von Fragen, mit denen er seit Jahr und Tag in seinem Innern gerungen hatte. Daher hatte er ein Gefühl wie beim Glockenschlag der bestimmenden Stunde.

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Eines Tages Ende Dezember erhielt er folgendes Telegramm aus Lugano: »Mein Vater Martin Mordann hat schweren Nervenzusammenbruch erlitten. Erbitte Drahtbescheid, ob Sie ihn in Anstaltsbehandlung nehmen wollen. Agnes Mordann.«

Während er die Depesche mehrere Male mechanisch las, überlegte er. Auch einer von den Gestrandeten der alten Ära, dachte er stirnrunzelnd; was will er bei mir, was soll ich mit ihm? Ein solches Geschick läßt sich nicht aufhalten; es ist morsch und zum Untergang reif, daran rühren heißt Flickschusterei treiben, und gerade das hab' ich mir doch verschworen ...

Hier scheint uns ein kurzer Kommentar notwendig. Vor zwanzig, vor fünfzehn Jahren noch war der Name Martin Mordann das Banner einer großen Partei von Unzufriedenen gewesen, der lärmendste journalistische Ruhm der Kaiserzeit. Sein Aufstieg hatte um die Wende des Jahrhunderts begonnen. In ihm verkörperte sich der Geist der rücksichtslosen Opposition, der leidenschaftlichen Verneinung. Unleugbar hatte er eine gewisse Verwandtschaft mit Rochefort, dem Mann der Pariser »Lanterne«; die ihm schmeicheln wollten, nannten ihn auch den nordischen Aretin. Das Verdienst konnte ihm nicht abgesprochen werden, daß er mit oft bewundernswerter Furchtlosigkeit grobe politische und gesellschaftliche Mißstände aufgedeckt hatte; andererseits war seine Zeitung der geometrische Ort der meisten Skandale, die innerhalb dreier Jahrzehnte die deutsche Welt erregt und beunruhigt hatten. Wenn man von einem giftigen Feuer sprechen könnte, so entfachte er es mit seiner Feder. In den Artikeln, die er schrieb, paarte sich Geschmeidigkeit des Stils mit einer geradezu furiosen, hohnvollen Erbitterung. Seine Feinde waren deshalb Legion. Besonders in gewissen vaterländischen Gruppen war sein Name verfemt, der Haß gegen ihn unauslöschlich. Jetzt erinnerte sich Kerkhoven auch, daß er vor ein paar Wochen von einem nächtlichen Überfall gelesen hatte, der in Berlin gegen ihn verübt worden war. Der in dem Telegramm erwähnte Nervenzusammenbruch war vermutlich die Folge davon.

Nach einigem Zögern entschloß sich Kerkhoven zu einer zusagenden Antwort. Für ihn als Arzt gab es keinen triftigen Grund, seine Hilfe zu verweigern. Zwei Tage darauf traf Mordann mit seiner Tochter im Haus Seeblick ein; so hieß die Kerkhovensche Heilstätte.

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Ein fetter, gedunsener Mann mit bartlosem Eunuchengesicht und lodernden Augen, die tief in dicken Wülsten lagen. Sechziger. Obgleich er schwerfällig aussah wie ein Nilpferd, war er von akrobatenhafter Beweglichkeit. Dies wirkte unheimlich, als spotte er der eigenen Natur. Alles an ihm schien darauf berechnet, einen gewünschten Eindruck hervorzurufen, zu überraschen, zu blenden, zu imponieren. Sogar die Stimme hatte etwas Verblüffendes, da nicht zu erwarten war, daß aus einem so verfetteten Körper ein so hellkrähendes Organ dringen würde. Er hatte durchaus den Habitus des Flüchtlings, typische Krankenfigur im Nachkriegseuropa, schien sich aber in der Rolle des Märtyrers zu gefallen. Aber aus diesen ersten Wahrnehmungen wollte Kerkhoven noch keine Schlüsse ziehen.

Die Tochter war eine hagere, verblühte, verbittert aussehende Person, Doktorin der Philosophie. Offensichtlich trieb sie eine Art Abgötterei mit dem Vater. Er war wohl der einzige Mensch auf Erden, an den sie glaubte. Sie hielt ihn für einen nationalen Heros und Wahrheitsapostel, Opfer seiner Sendung und Überzeugung. Sie war in Sorge um ihn. In den letzten Tagen, so berichtete sie Kerkhoven, hatten sich Anzeichen von Verfolgungswahn bemerkbar gemacht. Er litt an Schlaflosigkeit. Tag und Nacht schrieb er an alle möglichen Leute endlose Briefe zu seiner Rechtfertigung. In jedem Zimmer, in dem er weilte, sperrte er die Türen ab und saß da, horchend, zitternd, von kaltem Schweiß überströmt. Schon vor dem Attentat war er schwer irritiert gewesen, jahrelang. Nachher hatte er sich drei Wochen in der Klinik aufgehalten, und nach der Entlassung hatte sich sein Zustand wieder verschlimmert. Die Ärzte hatten ihr geraten, mit ihm so schnell wie möglich in den Süden zu reisen.

Sie befanden sich im Sprechzimmer. Es war Abend, vom See herüber klang das Tuten eines Dampfers. Agnes Mordann saß mit übereinandergeschlagenen Beinen und rauchte ununterbrochen Zigaretten. »Hatte der Anschlag ein bestimmtes Motiv, oder war er nur allgemein politischer Natur?« erkundigte sich Kerkhoven. – Das Fräulein zögerte mit der Antwort. »Ist es nötig, darüber zu sprechen?« fragte sie finster. – »Ich muß es wissen.« – »Zwei Tage vorher, nachts um drei, fand ein Einbruch in unserer Villa statt. Am Schreibtisch des Vaters wurden alle Laden und Fächer aufgesprengt, die ganze Bibliothek durchwühlt. Die Diebe fanden aber nicht, was sie suchten.« – »Und was suchten sie?« – »Briefe.« – »Was für Briefe?« – »Familienbriefe.« – »Darf ich Sie bitten, etwas deutlicher zu sein? Ich frage ja nicht aus Neugier.« – »Es handelt sich um die Briefe, die der verstorbene Graf Brederode an seine Mätresse geschrieben hat.« – »Und wie ist Herr Mordann in ihren Besitz gelangt?« – »Man hat sie ihm zum Kauf angeboten.« – »Kompromittierenden Inhalts also?« – »Ja.« – »Politisch kompromittierend?« – »Auch.« – »Darf ich erfahren, in welcher Hinsicht?« – »Ich weiß nicht, ob ich dazu befugt bin.« – »Je besser Sie mich informieren können, je leichter wird meine Aufgabe.« – »Der alte Graf war in die Separatistenverschwörung verwickelt. Die Unterzeichnung des Versailler Vertrags hatte ihn zum glühenden Feind des herrschenden Regimes gemacht. Er verhandelte auch mit Frankreich. Es ist einer der vielen Fälle, wo ein Mann aus Vaterlandsliebe zum Hochverräter wird. Das ganze Trachten des jungen Grafen ging darauf aus, die Briefe wiederzubekommen.« – »Und aus welchem Grund konnte das nicht geschehen? Sie verzeihen, aber das sind Dinge, die die Gemütshaltung des Patienten beleuchten.« – Nicht ohne Schärfe erwiderte Agnes Mordann: »Es gehört zu den Prinzipien meines Vaters, nichts aus der Hand zu geben, nicht den kleinsten Fetzen Papier, der ihm als Material dienen kann.« – »Material wofür? Was nennen Sie Material?« – »Dasselbe, was für einen Anwalt und einen Richter die Akten sind. Martin Mordann ist der Anwalt und der Richter der Zeit. Er braucht Zeugen und Zeugnisse.« – »Das bedingt allerdings eine ungeheure Aufhäufung von ... von Material ...« – »Gewiß.« – »Diese Akten umfassen also den ganzen Kreis seines Wirkens, das heißt alle Persönlichkeiten, die im öffentlichen Leben stehen oder standen?« – »Ja.« – »Wie läßt sich das praktisch realisieren?« – Das Fräulein lächelte nachsichtig. »Haben Sie nie von dem berühmten Zettelkasten meines Vaters gehört? Er enthält mehr als achtzehntausend Namen mit chiffrierten Angaben.« – Kerkhoven erhob sich und schritt hastig auf und ab. Er war auf einmal merkwürdig angeregt. »Zettelkasten, aha«, sagte er vor sich hin, »höchst interessant. Eine gefährliche Sache, wenn man bedenkt ...« – »Es ist alles in sicherem Gewahrsam«, unterbrach ihn Agnes Mordann hochmütig. – »Sie mißverstehen mich. Das meine ich nicht. Ich meine, ein solcher Apparat bildet auf die Dauer eine erdrückende Bewußtseinsbelastung. Oder sagen wir lieber Phantasiebelastung. Es ist, wie wenn ein Mensch jahrelang Kisten voll Sprengstoff in seinem Haus aufbewahrt. Er muß jeden Augenblick das Gefühl haben, daß er im nächsten zum Mörder einer ganzen Stadt werden kann. Offenbar liegt hier der Schlüssel. Offenbar. Sehr interessant ...« – Das Fräulein verfolgte ihn bei seinem Aufundabgehen mit erstaunten Augen. Sie begriff kein Wort von dem, was er sagte. – »Gut, man wird sehen«, beendigte er die Unterhaltung; »zunächst müssen wir für zwei, drei Nächte ruhigen Schlaf sorgen. Dann ... man wird sehen ...«

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Die Geschichte mit dem Zettelkasten wollte ihm nicht aus dem Kopf. Es war, als hätte man ihm von den Lebensgewohnheiten eines unentdeckten, äußerst seltsamen Insekts Kunde gegeben. Je tiefer er dem Phänomen auf den Grund ging, je anhaltender beschäftigte es ihn. Welch eigentümlich gebautes Gehirn, was für eine fanatische Sammlerseele! Ein Aktuar in Überlebensgröße, der siebzehn Stunden täglich am Schreibtisch sitzt, um ein moralisches Schuldenregister von ungezählten Tausenden seiner Nebenmenschen anzulegen; ein gigantischer Detektiv, der imstande ist, jede öffentliche Person in ihren Handlungen zu lähmen und unter Verdacht zu setzen, weil er sich für alle Fälle und lange vorher mit belastenden Indizien versehen hat; denn wer ist dagegen gefeit, wessen Leben so rein, wessen Charakter so fleckenlos, daß es keinen dunklen Punkt, keine verschwiegene Verirrung darin gäbe? Großsiegelbewahrer aller Geheimnisse von halb Europa; Sittenwächter und allmächtiger Gendarm, gestützt auf ein System raffinierter Spionage und mit Ameisenfleiß zusammengetragener Tatsachen, die im einzelnen vielleicht nicht viel besagen, aber in ihrer Gesamtheit, durch richtige Verwendung, halbe Deutlichkeit, halbe Giftigkeit, zur tödlichen Waffe werden: beispielloser Vorgang. Einen solchen Mann mußte man von seinen Fundamenten her verstehen. Von der Macht her, die er ausgeübt, von dem Machtgefühl, das er in sich aufgehäuft und das ihn zum Meinungsdiktator einer vierzigjährigen Geschichtsepoche hatte werden lassen, ob zu Recht oder zu Unrecht, zur Ehre oder zur Schande der Zeit, war nicht zu untersuchen. Da er nunmehr von ihr ausgestoßen war und mit seinem ganzen Tun und Sinn und Sein so gut wie verspielt hatte, war nur noch die Maske von ihm vorhanden, das Gespenst von ihm, das geheilt werden wollte – fragte sich nur: wozu? Das blieb zu entscheiden. Es liefen schon so viele lebende Gespenster herum, daß man nachgerade fürchten mußte, die Erde werde ihre Bewohnbarkeit durch sie einbüßen.

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Am zweitfolgenden Tag ließ ihn Mordann zu sich holen. Die kleine Assistentin, die Kerkhoven aufgenommen hatte, Fräulein Wys-Wiggers, kam mit bestürztem Gesicht und meldete, der Patient beschwere sich tobend, weil der Professor noch nicht bei ihm gewesen sei. »Ungebärdig?« sagte Kerkhoven leichthin. »Nun, wir werden ihn zur Ruhe bringen. Ist seine Tochter bei ihm? Sagen Sie ihr, ich möchte mit ihm allein sein.«

Mordann bewohnte das größte Zimmer des Hauses, ein Eckzimmer mit der Aussicht auf Garten und See. Beim Eintritt fielen Kerkhoven die zahlreichen Flaschen und Dosen auf dem Toilettentisch auf. Alle möglichen Wässer und Salben standen da beieinander, für das Haar, für den Mund, für die Zähne, für die Haut, für die Nägel, außerdem Bürsten und Bürstchen, Feilen, Scheren, Messer, Puderquasten, Parfümspritzen; man hätte glauben können, im Ankleideraum einer Schauspielerin zu sein. Dabei herrschte die peinlichste Ordnung und Sauberkeit. Den Tag zuvor hatte Kerkhoven einen Blick in das nebenan gelegene Zimmer der Tochter geworfen; dort sah es aus wie in einer Studentenbude; überall lagen Kleider, Bücher und Hefte herum. Der Gegensatz gab zu denken.

Nach der ersten mürrischen Begrüßung, wobei er kaum die Hände aus den Hosentaschen nahm, sagte Mordann bissig: »Man kann Ihnen nicht den Vorwurf machen, daß Sie Ihre Pfleglinge belästigen, geschätzter Professor. Bin ja nicht zu meinem Vergnügen hier. Schon in Berlin, vor Jahren, hat man mir von Ihren souveränen Manieren erzählt. Na, damit werden Sie bei mir kein Glück haben. Weiß nicht, warum meine Tochter gerade auf Sie versessen war. Habe mich mit euch Quacksalbern nie verstanden. Schweninger, ja. War der einzige. Kannten Sie Schweninger? Ein Genie. Hielt nichts von der ganzen Nerventherapie, der Mann, kann ich Ihnen im Vertrauen mitteilen. Wo ihn die Natur nicht stützte, ließ er die Hände weg. Na, und was werden Sie mit mir beginnen, Professor, falls Sie die Gnade haben, sich mit meinem Fall zu befassen?«

Manische Redesucht, notierte Kerkhoven im stillen. Laut sagte er: »Sie irren, wenn Sie sich von mir vernachlässigt glauben. Es gibt auch eine mittelbare Obsorge und Beobachtung. Sie ist oft wichtiger als die direkte.« – »Ach was, medizinisches Larifari.« – »Sie sind nicht sehr höflich. Ich will mich nicht an Ihrer reichen Erfahrung messen, Herr Mordann. Wie steht es denn mit der Kopfverletzung? Verspüren Sie Nachwirkungen?« – »Ja. Bei feuchtem Wetter besonders. Der Schmerz zieht sich dann bis über die Augen. Kann nicht lesen, kann nicht schreiben. Gräßlich.« – »Es war wohl eine Fraktur?« – »Ich habe manchmal Angst, das Gehirn ist in Mitleidenschaft gezogen.« – »Dafür scheint mir kein Anzeichen vorzuliegen.« – »Können Sie das so schnell erkennen?« – »Ich denke.« – »Ein Blick, ein Nein? Zauberer? Gratuliere.« – »Darf ich sehen, wie die Wunde verheilt ist?« – Mordann setzte sich seufzend auf einen Stuhl, und Kerkhoven, vor ihm stehend, befühlte den von wolligen grauen Locken bedeckten Schädel. Seine Fingerspitzen liefen über eine feuerrote Narbe, die sich wie eine Schnur von der Kranznaht bis zur Lambdanaht zog. »Komische Hände haben Sie aber«, sagte Mordann und blickte unbehaglich an Kerkhoven empor. – »Wieso komisch? Was meinen Sie?« – »Weil einem so sonderbar wird ... ja, ganz komisch ...« Er duckte den Kopf, um sich der Berührung zu entziehen, und sprang vom Stuhl auf. »Ein bißchen Zauberer scheinen Sie ja doch zu sein ... Es wird einem kalt, wenn Sie einen anrühren ... Ich liebe das nicht ... hab' kein Talent zum Kaninchen ... Wenn Sie das wieder machen, pack' ich meine Koffer.« – »Es ist mir nicht erinnerlich, daß ich mich um Ihren Besuch beworben habe«, sagte Kerkhoven kühl; »Sie müssen mir mitteilen, was Sie von mir erwarten, Nachsicht mit einem ungeduldigen Hausgast oder Behandlung eines Leidenden. Danach können Sie sich entschließen, ob Sie bleiben oder nicht.« – Mordann zuckte die Achseln. Plötzlich lachte er meckernd und hielt dabei den fetten Handrücken vor den Mund, eine Gewohnheitsgeste, durch die er seine kariösen Zähne verbarg. »Sie haben Recht«, sagte er, »ich bin ein Greuel. Nichts für ungut, Professor, mir wurde gar zu übel mitgespielt. Also legen Sie los. Wahrscheinlich wollen Sie doch verschiedenes wissen. Übrigens kann ich nicht leugnen, daß Sie mir imponieren. Was wollen Sie wissen?« – »Erzählen Sie mir, wie der Überfall vor sich ging. Wurden Sie gewarnt? Waren Ihnen die Leute oder einer von den Leuten bekannt?« – »Nein. Es war Nacht. Eine Regennacht. Halb drei. Ich war im Presseklub. Fuhr mit einem Taxi bis Halensee und wollte dann zu Fuß nach Hause. Pflegte das seit dreißig Jahren zu tun, wenn ich abends ausging. Die einzige Leibesbewegung, die ich mir gestattete. Was wollen Sie, ein Sklave der Feder, mitleidswerte Kreatur. Gewarnt? Ja doch. Freunde warnten mich. Erhielt auch anonyme Drohungen. Glaubte es verachten zu sollen. Hybris. War nie feig in meinem Leben. Ich ging also unter meinem Regenschirm, rasch, wie es meine Art ist, da, zwischen Herbert- und Lynarstraße, standen auf einmal vier Kerle um mich herum, alle in gelben Windjacken, vier, merken Sie wohl, derlei Burschen wagen nur was, wenn sie nichts wagen; die Gesichter könnt' ich nicht ausmachen, eh ich noch einen Gedanken fassen oder um Hilfe rufen konnte, hatt' ich schon eins überm Kopf, daß ich alle Engel im Himmel jubilieren hörte. Dann lag ich wie ein Haufen Kleider auf dem Pflaster. Sie dachten wohl, es sei aus mit mir, die Meuchler. O die Meuchler, die Schandbuben, das Mordgesindel! Und glauben Sie etwa, man hätte sich bemüht, sie dingfest zu machen? Alle Recherchen – Spiegelfechterei. Man wollte die Sache vertuschen und im Sand verlaufen lassen. So sieht der Dank Deutschlands aus gegen den Mann, der achtunddreißig Jahre lang seine Augiasställe gesäubert hat. Dessen verrückte Leidenschaft es war, den Drohnen, Sykophanten und Blutsaugern das dunkle Handwerk zu legen und mit der Pechfackel in die Kamarillen hineinzuleuchten, von denen eine die andere ablöste wie die Eitergeschwüre, in der Monarchie wie in der Republik, im Frieden wie im Krieg. Das ist der Dank. Das ist der Dank!«

Die Stimme überschlug sich. Ihr tonloses Krähen hatte nichts Menschliches mehr. Das Gesicht war fahlgelb. Heller Schweiß perlte auf der gebuckelten Stirn. Kerkhoven sah nicht klar: War die Empörung echt oder gefiel sich der Mann in der Raserei? Schwer zu unterscheiden. Manches sprach für die Annahme, daß da ein unheimlich großartiger Komödiant eine meisterhafte Szene spielte. Aber zu welchem Ende? Für welches Publikum? Nur um den Arzt zu täuschen oder zu verwirren, der zudem in seiner Meinung gewiß nicht sonderlich hoch stand? Hier war ein Rätsel, das zu lösen verführerisch war. Eine neue Figur, eine noch unerforschte Seelenverfassung.

Offen zutage lag die Angst. Das Attentat, abgesehen von dem physischen Schaden, mußte einen fürchterlichen Eindruck auf ihn gemacht haben. Es hatte vor allem einen unheilbaren Bruch des Selbstbewußtseins zur Folge gehabt. Aber bei diesem Gedanken stieß Kerkhoven auf eine Schwierigkeit. War dieses Selbstbewußtsein nicht schon in der Anlage verzerrt, und handelte es sich nicht vielmehr um eine der Formen von pathologischer Eitelkeit, die das moralische Wesen austilgt, um es in ein spinnenhaftes, frevlerisch autonomes Geistwesen zu verwandeln? Deshalb auch die völlige Abwesenheit jeden Schuldgefühls, der tolle Wahn des Literaten, der das Bild der Welt in Händen zu haben vermeint, wenn er heimlich ihren Spiegel zertrümmert hat. Erleuchtung über Erleuchtung für den Arzt Kerkhoven ...

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Mordann hockte auf dem Rand seines Bettes. Er war in einen schäbigen Schlafrock gehüllt. Kerkhoven stand am Fenster. »Wenn ich recht berichtet bin, hing aber doch das Attentat mit gewissen Briefen zusammen«, sagte er möglichst unbefangen, »Sie mußten, kommt mir vor, auf Gewaltmaßnahmen gefaßt sein.« – Mordanns Kopf schnellte hoch. »Hat Agnes aus der Schule geschwatzt?« belferte die Eunuchenstimme erbost. – »Ich kann nichts für Sie tun, wenn Sie nicht aufrichtig mit mir verfahren«, erklärte Kerkhoven mit einer Schärfe, die er absichtlich übertrieb. Mordann machte eine Geste wie eine Katze, der man den Topf mit Milch wegnimmt. Er entschloß sich einzulenken. »Schon gut«, knurrte er, »schon gut.« Und dann: »Sie sollten mal mein Herz untersuchen, Professor. Wäre wichtiger, als daß Sie sich um meine Privatangelegenheit kümmern. Fürchte, ich habe einen Klaps weg.« – »Diese Privatangelegenheit gibt mir notwendige Richtlinien. Ich kann über Ihr Herz nichts aussagen, wenn ich nicht Ihr Leben kenne.« – »So? Putzig. Was wollen Sie denn wissen?« – »Ich will wissen, warum Sie dem jungen Brederode die Briefe nicht zurückgegeben haben. Die Familie hat doch wahrscheinlich ein sehr begreifliches Pietätsinteresse daran.« – »Gewiß, gewiß«, quiekte Mordann und zog leise kichernd die Beine zum Türkensitz auf das Bett, was bei seiner schwerfälligen Gestalt grotesk aussah. – »Man hat sie auch wohl nicht ohne Entschädigung von Ihnen verlangt?« – »Nö, nö ... zwanzigtausend Mark wollten sie zahlen.« – »Ich frage mich, welchen Vorteil Ihnen der Besitz der Briefe sicherte. Ihre Zeitung hatte seit einem Jahr aufgehört zu erscheinen. Daß Sie Ihre frühere Tätigkeit wieder ausüben könnten, damit hatten Sie wohl damals schon nicht gerechnet, und heute stehen die Aussichten nicht besser.« – Mordann hatte beide Hände um die Fußknöchel geschlungen und starrte Kerkhoven feindselig-bestürzt an. »Sie meinen, weil man mich zum Invaliden gebleut hat? Steht es so? Bin ich etwa ein Todeskandidat in Ihren Augen? Heraus mit der Sprache! Sie brauchen mir nichts zu verhehlen.« Hysterische Angst war in seinen Mienen. Der Mund öffnete sich zu einem schwarzen Loch, das eingerahmt war von den schadhaften Zähnen. – »Ich bin kein Fernheiler, stelle keine auswendigen Diagnosen, Herr Mordann. Aber Ihnen, der auf allen Gebieten beschlagen ist, brauche ich doch nicht auseinanderzusetzen, daß es einen Rhythmusablauf gibt. Wir alle bekommen es zu spüren, und wenn er eintritt, sagt der eine: Die Zeit ist nicht mehr für mich, der andere: Die Umstände haben sich geändert. Sie hätten sich nicht von außen zwingen lassen sollen, die Maschine zu stoppen. Der freiwillige Entschluß hätte einen wesentlichen Unterschied in Ihrer Gemütslage bedeutet.« – »Das sagen Sie so. Ich bin aber der Mann nicht, der freiwillig abdankt. Ich hasse Fontainebleau.« – »Eben. Das ist die Gefahrenquelle. Ich halte mich an Ihr Gleichnis: Was nützen Ihnen die Briefe auf Sankt Helena?« – »Herr, ich lasse mich nicht geistig vergewaltigen. Man kann mir den Schädel einschlagen, bon. Aber vor Erpressern kuschen? Ausgeschlossen! Lieber krepier' ich.« – »Bevor es zu dem Attentat kam, hat man aber doch verhandelt?« – »Hat man, jawoll. Nur ... es sind unersetzliche Dokumente. Den Jungs, die nach dem Krieg das Heft in die Hand bekamen, den heimlichen Drahtziehern überall, hat es beliebt, meinen Namen mit Dreck zu beschmieren und mich zum Verräter und Brandstifter zu stempeln. Ich werde der Welt zeigen, wo die wirklichen Verräter und Brandstifter zu suchen sind. Wenn einmal die authentische Geschichte dieser Zeit geschrieben wird, ist dafür gesorgt, von mir gesorgt, daß diesen Volksbetrügern, diesen meineidigen Privilegienjägern die Heuchlermaske vom Gesicht gerissen werden kann. Hat man mir auch mein gutes Schwert entwunden, die Gewißheit bleibt mir, daß ich einem meiner Diadochen die Mittel liefere, es wieder zu schleifen. So verhält sich das, mein verehrter Herr.«

Kerkhoven konnte nicht umhin, die Fanfare zu bewundern. Er sah das wahre Gesicht des Tribunen, der allgewaltig ist im Wort, den erst die Leidenschaft des Wortes hinreißt zur Leidenschaft der Tat, einer im tieferen Sinn ohnmächtigen Tat. Während ihn Mordann herausfordernd fixierte, dachte Kerkhoven nach. Die Verschanzung, die der Mann um sich gebaut hatte, war schier undurchbrechbar, denn sie bestand nicht aus festem Stoff, sondern war tückisch und nachgiebig wie Sumpf. Verzweifelte Sache, sich so einem zu nähern und ihn aus seinen Sicherheiten zu locken, zu ringen mit ihm, damit man erfuhr, von welcher Beschaffenheit er war, von welcher Gefährlichkeit, wieweit man ihn zu fürchten, wieweit man ihn zu schonen hatte. »Wir können nicht erwarten, daß Ihr Aufenthalt hier im Hause verborgen bleibt, Herr Mordann«, sagte er trocken; »bei Ihrem Ruhm ... Es wird sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Der Versuch, der einmal mißlungen ist, wird sich wiederholen. Ich weiß nicht, ob ich Sie nachhaltig schützen kann ...« – »Wie ...? Sie glauben im Ernst, man würde es wagen?« stammelte Mordann erschrocken. »Befinden wir uns nicht auf Schweizer Boden?« – »Davon dürfen Sie sich nicht zuviel versprechen. Man hat Beispiele ...« – Mit einem Satz sprang Mordann vom Bett und schoß schnaufend durch das Zimmer. Im Vorübergehen griff er nach einer Flasche auf dem Toilettentisch, die mit einem Zerstäuber versehen war, und bespritzte sich das Gesicht mit Kölnischwasser. Dabei drang immerfort das eigentümliche Schnaufen aus seinem Mund, und schließlich gähnte er vor Aufregung. Kerkhoven betrachtete ihn mit einer Art von Sachneugier. Diese Angst eines gejagten Huhns bildete einen halb lächerlichen, halb tragischen Kontrast zu dem stolzen »lieber krepier' ich« von vorhin und enthüllte die unheimliche Zwitternatur des Mannes. Aber darauf hatte es Kerkhoven angelegt. Er wußte nun schon ziemlich viel. Nach einer Weile trat er auf ihn zu, packte ihn beim Arm und sagte freundlich: »Einen Augenblick ... bleiben Sie ruhig stehen.« Er schlug Mordanns Schlafrock auseinander, streifte das Hemd zur Seite und legte das Ohr an die von einem zottigen grauen Pelz überwachsene Brust. Indes er mit herabgebeugtem Gesicht horchte und immer länger horchte, faltete sich seine Stirn bedenklich. Das sieht allerdings böse aus, sagte er sich, und horchte und horchte. Sehr lauter erster Ton an der Spitze; diastolisches Schwirren; Insuffizienz der Klappen ... böse. Er richtete sich auf, und dem gespannten Blick Mordanns begegnend, sagte er lächelnd: »Alles in schönster Ordnung.« – Mordann seufzte erleichtert. – »Ja ... und um für diesmal abzuschließen«, sagte Kerkhoven mit unveränderter Heiterkeit, »komme ich noch mit einer Verordnung, Herr Mordann.« – »Und die wäre?« – »Die Briefe müssen ausgeliefert werden.« – Mordann stieß einen Tierlaut aus, halb Kreischen, halb Röcheln. Seine Augen wurden grün. »Nanu, Sie haben woll 'n Druckfehler im Kopf, verehrter Herr«, schrie er. – »Sie werden die Briefe ausliefern«, wiederholte Kerkhoven ruhig; »ich lasse Ihnen Zeit, überlegen Sie es, Sie können mir auch alle Ihre Einwände sagen, aber die Briefe werden zurückgegeben.« Damit nickte er dem Sprachlosen liebenswürdig zu und ging.

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Eine halbe Stunde lang tobte Mordann. Er brüllte nach seiner Tochter. Als sie kam, verlangte er, man müsse sofort abreisen, dieser Professor sei ein unmöglicher Mensch, vollkommen verdreht, und überschreite in unverschämter Manier seine Kompetenzen. »Abreisen? Gut, aber wohin?« fragte Agnes bedrückt und wollte wissen, was vorgefallen war. Sonderbarerweise schwieg sich Mordann darüber aus. Plötzlich klagte er über Beklemmungen und rang nach Atem. Agnes rief die Assistentin, und sie brachten ihn zu Bett. Den Eisbeutel schleuderte er zornig zu Boden und schrie krähend nach dem Professor, als wolle er diesem zeigen, was er angerichtet, als wolle er sich rächen durch den Anblick seines Zustands. Viele Herzkranke sind auf ähnliche Art rachsüchtig. Kerkhoven war nach Friedrichshafen gefahren, um eine Patientin zu holen, eine gewisse Frau Thirriot aus Kolmar, die sich im Friedrichshafener Spital befand und die in Behandlung zu nehmen ihn der dortige Kollege ersucht hatte. Es war ein außerordentlich merkwürdiger Fall von sogenannter gekreuzter Neurose.

Als er dann kam, war Mordanns Betragen geradezu unterwürfig. Er bat, Kerkhoven möge ihm die Hand auf die Brust legen. »Bei Ihnen wird man tatsächlich zu einem abergläubischen alten Weib«, murmelte er und wollte immer wieder hören, daß das Herz gesund und nur nervös irritiert sei. Schließlich forderte er eine Röntgenaufnahme, die auch am Nachmittag vorgenommen wurde. Die meisten Laien haben ein ehrfürchtiges Vertrauen zu den wissenschaftlichen Apparaten. Der Körper des Mannes war übrigens schwer vergiftet. Er rauchte fünfzehn Havannazigarren täglich und trank unendliche Mengen starken schwarzen Kaffees. Als Kerkhoven diesen Konsum einschränkte, wehrte er sich erbittert. Leute wie er sind gleichzeitig lieblos gegen ihren Organismus und verliebt in ihren Leib. Sie muten der Natur das Äußerste zu, und wenn sie sie im Stich läßt, tun sie, als wären sie von ihr verraten worden. Es war alles so bodenlos und so kurzsinnig in einem solchen Menschengebilde; nirgends war Halt und Bestand, nirgends Grenze. Wie alle Nur-Geistigen fing Mordann erst in der Nacht zu leben an. Da er mit seinen zerstörten Nerven nicht zu arbeiten, das heißt zu schreiben, fähig war, füllte er die leeren Stunden mit exaltierten Projekten, zwang seine Tochter, bis um drei, vier Uhr morgens bei ihm zu sitzen, und besprach mit ihr die Niederschrift seiner Lebenserinnerungen, die er ihr diktieren wollte, sobald er wieder hergestellt war, und in deren Veröffentlichung er ein historisches Ereignis sah, auf das die Welt mit angehaltenem Atem wartete.

Doch seit Kerkhoven die Sache mit den Brederodeschen Briefen zur Sprache gebracht hatte, war er so beunruhigt und gereizt, daß für keinen andern Gedanken in seinem Kopf mehr Platz war. Person und Wesen des Arztes hatten ihn fasziniert. Dies gestand er sich jedoch nicht zu, teils aus jener rätselhaften Eifersucht, die für derartige Charaktere bezeichnend ist, teils aus allgemeiner Skepsis gegen menschliche Wirkung überhaupt, sofern es nicht seine eigene war. Er riet herum und grübelte, welchen Beweggrund der Mann haben mochte. Dergleichen war ihm noch nicht vorgekommen. Es regte ihn geradezu auf. Er konnte es nicht aushalten, darüber im Ungewissen zu bleiben. Geborener Polemiker, der er war, Polemiker aus unstillbarem Ehrgeiz, aus dem krankhaften Bedürfnis nach Macht und Einfluß, aus leidenschaftlicher Geltungssucht, hatte er keine Rast und Ruhe mehr, bevor das nicht bereinigt war, was Kerkhoven mit so befremdender Entschiedenheit von ihm gefordert hatte, und schon in der gleichen Nacht ließ er Kerkhoven unter dem Vorgeben eines Kollapses zu sich bitten. Und das geschah auch in den folgenden Nächten. Er verbiß sich. Dabei spielten Wahn- und Angstvorstellungen mit. Vielleicht bin ich einem Spitzel in die Hände gefallen, sagte er sich. Vielleicht ist er von meinen Gegnern besoldet und will mich unschädlich machen. Mittel und Wege hierzu gibt es genug. Man belauert mich. Man hat mich in eine Falle gelockt, und wenn ich den geringsten Versuch unternehme, zu fliehen, bin ich verloren. Ob nicht Agnes schon alles weiß? Ob sie nicht mit im Komplott ist? Dieser irrsinnige Verdacht quälte ihn besonders, weil sich am wenigsten Anhaltspunkte dafür fanden. Agnes war in den letzten Jahren seine Sekretärin und einzige Vertraute gewesen, sie war in alle seine Geschäfte, in alle Heimlichkeiten seines Lebens eingeweiht; das gab zu denken. Allein die blinde Vergötterung, die sie ihm zollte, ließ ihm andererseits jeden Argwohn als Verrücktheit erscheinen, und daß er dieser Verrücktheit anheimfallen könnte, nährte wieder seine Angst.

Es entstand ein erbitterter düsterer Kampf zwischen den beiden Männern, in welchem Kerkhoven allmählich notgedrungen alle Reserve aufgeben und sich zu grausamer Offenheit entschließen mußte. Zum Entsetzen von Agnes, die nur die Wirkungen zu spüren bekam. Eines Tages stellte sie ihn und zischte ihm die Worte zu: »Was treiben Sie? Sie morden ihn ja. Sehen Sie nicht, daß er verfällt? Ist das Ihre Absicht? Ist das Ihre Kur?« – »Warten wir das Resultat ab«, antwortete Kerkhoven. Er war aber nicht so sicher, wie er sich gab. Das Experiment war gefährlich.

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Er weigerte sich, Kerkhoven als moralische Instanz anzuerkennen: Auf diese Formel legte sich Mordann fest. Kerkhoven entgegnete, von einem moralischen Eingriff oder Urteil sei nicht die Rede; es gehe lediglich um die Aufhebung eines psychischen Drucks, etwas wie operative Entfernung eines Fremdkörpers. Mordann kreischte höhnisch. »Inwiefern denn, Herr Zauberer? Medizin mit Seelsorge fress' ich nicht. Brauch' ich einen Theologen, bin ich um Adressen nicht verlegen. Aber Martin Mordann und die Theologie sind lächerliche Unvereinbarkeiten, das können Sie sich an den Fingern abzählen.« – »Ich weiß es. Immerhin, Seelsorge ist ein weiter Begriff. Wir stecken da noch in den Anfangsstadien. Sie ist, wenn Sie schon die Theologie hereinziehen, noch so weit von Gott entfernt wie ... na, wie die Staatskunst vom Völkerfrieden. Erlauben Sie mir, auf meine Weise Arzt zu sein.« – »Habe nichts dagegen. Nur ... mit welchem Fug vergreifen Sie sich an meiner Lebensidee? Was Sie fordern, ist nicht mehr und nicht weniger, als daß ich zum Verräter an ihr werde.« – »Es würde mich wundern, wenn der eminente Schriftsteller, der vor mir sitzt, nicht Argumente fände, die ihn gegen jeden Angriff decken.« – »Sie werden nicht erleben, daß ich Ihnen dankbar die Hand lecke, weil Sie mir den Hof machen. Sie müssen es schlauer anpacken.« – »Die Briefe als solche interessieren mich nicht. Nur als Symptom.« – »Was soll das heißen, zum Donnerwetter? Symptom wofür?« – »Symptom eines Lebensirrtums.« – »Was sagen Sie da! Das ist hirnverbrannt!«

Kerkhoven sah unschlüssig aus. Sollte er das Messer ansetzen und den Schnitt in die kranke Seele wagen? Es war nicht minder verantwortungsvoll, als wenn der Chirurg vor einer Operation auf Leben und Tod steht. Dem Chirurgen helfen Chloroform und Lokalanästhesie gegen den aufsässigen Körper, womit aber war der unbetäubbare, verzweifelt um sich schlagende Geist zu bändigen? Und war seine, des Arztes, Erkenntnis sakrosankt? War er unfehlbar, war die Diagnose richtig, und war die »Operation auf Leben und Tod« nicht doch mehr ein moralisches Gericht als eine Rettungstat? Welcher Mensch ist sich so klar über alle seine Motive, daß er jene Beweggründe ausschalten könnte, die er sich, um an seiner Sache nicht zweifeln zu müssen, verheimlicht? »Ich sehe schon, Herr Mordann«, begann er, »ich muß Ihnen vor Augen führen, was Sie mit Ihrem großen Scharfsinn eigentlich wissen sollten, oder Sie wären nicht der glänzende Psychologe, als den Sie alle Welt bewundert. Der Aufdecker und Entdecker von Geheimnissen. Schön. Das war Ihr Verdienst und Ihr Ruhm; es ist zugleich die Ursache Ihrer gegenwärtigen Nervenkatastrophe.« – »Nanu, nanu, nanu!« rief Mordann, dreimal, mit schlecht verhehltem Schrecken. »Was malen Sie mir denn da für einen Teufel an die Wand!« – »Es gilt, den Dingen ins Gesicht zu sehen, dann kann man die Folgen abwenden. Der Zusammenhang ist evident. Sie haben sich im Lauf Ihres Lebens so vieler menschlicher Geheimnisse bemächtigt, ob auf legale oder illegale Weise, untersuche ich nicht ... Das kommt auch nicht in Betracht ... Der Zweck kommt in Betracht ... Der Zweck ist ja immer der Verderber ... Es war Ihnen um Macht zu tun ... Macht um jeden Preis, Macht über einzelne, über Gruppen und Parteien, über ein ganzes Land. Ich gehe sicher nicht fehl in der Annahme, daß Sie eine unterdrückte, entbehrungsreiche Jugend hatten. Ich entsinne mich, irgendwo in Ihren Schriften sprechen Sie von einem Helotendasein. Das erklärt natürlich vieles. Die Machtgier hat alle andern Triebe verdrängt und erstickt. Ihre Natur, Ihre Lebensform, Ihr Gemütshaushalt haben sich ausschließlich darauf eingestellt. Geheimnisse wissen, durch das Wissen von ihnen herrschen, die Welt unter Druck setzen, gefürchtet sein, Zuchtmeister, Präzeptor, den Höchstgestellten noch mit dem Bewußtsein gegenübertreten: Ich kann dich zerschmettern, wenn ich will, denn ich habe dein Geheimnis ... Ich verstehe, man fühlt sich zum Gott werden, zum Rachegott, zum Sühnegott ... Da braucht man dann keine – wie sagten Sie? keine Theologie. Gott selber braucht keine Theologie. Nur hatten Sie eines dabei vergessen: Ihr menschliches Maß, Ihre Tragfähigkeit, das, was in jedem von uns und folglich auch in Ihnen als Blutsgewissen, als Seelengewissen steckt. Das ist keine moralische Feststellung, sondern eine dynamische, im Sinn des Kräftespiels. Was ich versuche, ist eine Deutung des Phänomens Martin Mordann, eine, die ihm vielleicht die Möglichkeit zur Reorganisation bietet. Sie sind sechzig, nicht wahr? Über Sechzig ... Ich glaube, ich habe schon einmal über den Rhythmusablauf mit Ihnen gesprochen. Dem liegt ein wunderbares Gesetz zugrunde, für das ich noch keine befriedigende Formulierung gefunden habe. Die menschliche Natur neigt, wahrscheinlich nach siebenjährigen Perioden, immer dann am stärksten zum Tode, wenn sie ihre seelischen Bestände verwirtschaftet hat. Um die sechzig herum stellt sich die letzte entscheidende Frage; das Leben nachher und seine Dauer beruhen auf der gewonnenen biologischen Weisheit, wenn es überhaupt Leben ist und nicht eine der vielen Altersformen von stationärer Agonie. Deshalb gibt es auch nichts Großartigeres als das Wiederaufflammen der Genialität bei Greisen. Denken Sie an Tizian, an Verdi, an Goethe oder Tolstoj. Sie sagen, daß ich Sie zum Verrat an Ihrer Idee verleiten will. Aber diese Idee haben Sie ja selber längst verraten. Brausen Sie nicht auf, es ist so. Und zwar durch die Abwürgung Ihrer warnenden Instinkte. Haben Sie nicht eines Tages gemerkt, daß Ihnen die Zeit den Rücken kehrte? Bestimmt haben Sie es gemerkt, Sie wollten es nur nicht wissen. Es ist eben das: Die Macht, mit der man sich übernimmt, zerschellt schließlich an der Macht, die das letzte große Geheimnis auch für Sie bildet. Und das besitzen Sie nicht in Ihrem Zettelkasten, Herr Mordann. Wenn Sie die Briefe ausliefern, beendigen Sie quasi einen natürlichen Prozeß. Sie vollziehen damit eine Symbolhandlung, gegen deren wohltätige Folgen sich nur noch eine abgestorbene Erscheinungsform von Martin Mordann sträubt. Der Geist, der böse Geist sozusagen, der sich das Rebellieren nicht abgewöhnen kann, nicht der Mensch.«

Mordann saß am Tisch, den Kopf geduckt, die krampfhaft geballte Faust ans Kinn gepreßt, gnomenhaft, vollständig starr. Kerkhoven hatte die Hände über den Knien gekreuzt und sah ihn erwartungsvoll an. »Wo sind die Briefe deponiert?« fragte er leise. – »In einem Banksafe in Basel«, kam es wie aus einer Versenkung. – »Würden Sie gestatten, daß ich an den jungen Brederode ein paar Zeilen schicke?« – »Nein!« schrie Mordann außer sich und wandte ihm das verstörte Gesicht zu. »Sie quasseln, Herr. Sie wollen mich einschüchtern. Sie nützen Ihre Situation sträflich aus. Sie sind bezahlt, um mich klein zu kriegen, weiter nichts.« – Kerkhoven sagte kalt: »Ich habe sehr oft die Erfahrung gemacht, daß Leute, deren Beruf das Schreiben ist, auffallend wenig Einbildungskraft besitzen.« – »Ja, bin ich denn nach Ihrer Meinung bloß ein Skribent, der seinen eigenen Tod überlebt hat?« schäumte Mordann, in seiner Eitelkeit bis zur Qual getroffen. »Wenn ich, nach Ihrer Theorie, nur meinen Machthunger hätte stillen wollen, hätte ich einen andern Gebrauch von meiner Wissenschaft machen können, als es tatsächlich geschehen ist. Das Unterste zuoberst hätte ich kehren können, nicht ein Stein wäre auf dem andern geblieben, zehn Jahre früher wäre der große Kladderadatsch hereingebrochen. Im kritischen Moment habe ich immer erst die Belastungsprobe angestellt, ob das, was zerstört werden mußte, das aufwog, was erhalten werden mußte.« – »Das ist eben Ihr Wahn: daß zerstört werden mußte. Und, verzeihen Sie das furchtbare Wort: Ihr Dünkel, daß Sie etwas erhalten konnten.« – »Ja, um Himmels willen, Herr, ich hatte die Mission. Ich hatte den Auftrag.« – »Von wem?« – »Was heißt das: Von wem? Von wem hat man den Auftrag, zu sein, wer man ist?« – »Da sind wir beim springenden Punkt«, sagte Kerkhoven und stemmte beide Arme auf die Tischplatte, »der Mensch steht genau in der Mitte zwischen Freiheit und Schicksal. Die Instinktverluste, die einer erleidet, und das ist ein Existenzproblem ersten Ranges, richten sich danach, wieviel Freiheit er sich anmaßt und wieviel Schicksal er zu tragen gewillt ist, er selbst, er allein. Nicht zu verhängen, zu tragen!« – »Versteh' ich nicht. Ist mir zu tief. Obschon ich ungefähr ahne, wo Sie hinauswollen. Na, und? Was hab' ich schon davon gehabt? Bin ich etwa ein reicher Mann? Ich habe kaum zu leben. Hat man mich geehrt? Ich bin verschrien wie ein toller Hund. Wo ist mein Lohn, wo sind meine Pfründe, wo meine Genugtuungen? In mir drin. Nirgends sonst als in mir drin.« Er schlug sich dröhnend auf die Brust, daß es klang, wie wenn man auf eine leere Kiste schlägt. – »Es ist das Schreckliche bei einem Mann wie Ihnen«, sagte Kerkhoven trüb, »daß er sich im Hader der Dialektik verzehrt und nicht sieht, nicht spürt, die lebendige Welt nicht, das einfache Leben nicht. Geben Sie doch nach! Lassen Sie sich doch einmal fallen! Der selbstmörderische Geist ... den habe ich gemeint vorhin, als ich von dem Mangel an Einbildungskraft sprach. Stellen Sie sich vor ... der junge Mensch ... dieser junge Graf Brederode ... ich habe Nachrichten eingezogen ...« – »Aha, aha, mein ahnungsvolles Gemüt ...« – »Nichts von dem, was Sie vermuten ... selbstverständlich nicht ... Die Recherchen gingen auf unauffälligen Umwegen ... Es handelt sich da um einen Fall von Vaterkult ... Der bloße Gedanke, daß ein Hauch von Unglimpf das verehrte Bild beflecken könnte, macht ihn zu jedem Verbrechen fähig ... Nie würde er glauben, und wenn er's schwarz auf weiß vor Augen hätte ... Die Unantastbarkeit des Vaters ist für ihn ein religiöses Dogma ... Daß die Briefe eine Fälschung sind, steht für ihn fest ... trotzdem zittert er vor der ehrenrührigen Beschuldigung. Erinnern Sie sich nicht an sein Gesicht? Er war dreimal bei Ihnen. Ist nicht der Eindruck einer überzeugenden Wahrhaftigkeit in Ihnen haftengeblieben, oder spielt das keine Rolle? Stellen Sie sich vor: Auf der einen Seite ein Mensch, dem das Fundament einzustürzen droht, dem Sie gewissermaßen ein Ideal schenken, auf der andern ein Haufen Papier in einem Safe ...« – »Ich habe keine Ideale zu verschenken, man hat mir keine übriggelassen, Herr!« – »Sie entscheiden nicht über ihn dabei, Sie entscheiden über sich.« – »Nein, ich tu's nicht«, knirschte Mordann und erhob sich wankend, »scheren Sie sich zum Teufel! Nein, nein und nein!«

Kerkhoven packte ihn, um ihn zu stützen. Er selbst war einen Augenblick vor Erschöpfung schwindlig. Aber die Züge des andern, den er um die Schulter gefaßt hatte, waren vom Tod gezeichnet.

55

Die weittragenden Folgen, die die Befassung mit der gemütskranken Frau Thirriot nach sich ziehen würde, hatte Kerkhoven nicht voraussehen können, als er sie in das Haus Seeblick brachte. Es war, als ob eine unsichtbare Hand sich zu einem hohen Zweck seiner bediente. Das Geschehnis, in das er dadurch verstrickt wurde, war sogar für ihn, den in Schicksalen und Schicksalswendungen Erfahrenen, dermaßen beklemmend, daß er sich manchmal des Schauderns nicht erwehren konnte. In gewisser Weise erinnerte es ihn an die erstaunliche Entschleierung der Unschuld jenes Leonhart Maurizius, der neunzehn Jahre im Zuchthaus gesessen und dem der sechzehnjährige Etzel Andergast zum Befreier geworden war; nur daß es sich hier um ein junges Paar handelte, das seit nunmehr sechs Jahren zu lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilt, und es in diesem Fall nicht ein Knabe war, der einen ungeheuerlichen Justizirrtum aufklärte, sondern im Verein mit Marie und der Schwester Wys-Wiggers eine fünfundvierzigjährige schwer irritierte, beinahe unzurechnungsfähige Frau. In einem so gesetzhaften Leben wie dem Kerkhovens bewegen sich die entscheidenden Begebenheiten in konzentrischen Ringen.

Hier der Sachverhalt, was den angedeuteten Gerichtsprozeß betrifft. Im Dezember 1925 wurde in einer westschweizerischen Kantonshauptstadt der Apotheker Karl Imst, ein Mann Mitte der Dreißig, unter dem dringenden Verdacht verhaftet, gemeinsam mit seiner Geliebten Jeanne Mallery seine Ehefrau Selma durch Gift aus dem Weg geräumt zu haben. Die sofort einsetzende Untersuchung enthüllte ein ungewöhnlich finsteres Familien- und Ehebild. Imst hatte die Frau kennengelernt, als er noch Student war, und sie geheiratet, nachdem ihm ein ererbtes väterliches Vermögen den Kauf der Apotheke ermöglicht hatte. Die Beziehungen zwischen den beiden Gatten waren von Anfang an die mißlichsten. Die Frau beklagte sich über die Kälte und Lieblosigkeit des Mannes, er wiederum zieh sie der Zanksucht, der Kleinlichkeit und Herrschgier. Er behandelte sie schlecht, sie behandelte ihn noch schlechter. Wegen des nichtigsten Anlasses brach sie einen Streit vom Zaun, wenn nicht mit ihm, so mit der Magd, etwa weil diese beim Feuermachen ein Zündholz zuviel verbraucht hatte. Die Geburt eines Kindes nach fünfjährigem Zusammenleben besserte das Verhältnis mit nichten. Als er anfing, seine Vergnügungen außer Hause zu suchen, beschuldigte ihn die Frau des liederlichen Wandels, später behauptete sie sogar, er habe ihr während einer nächtlichen Szene geraten, ein Pülverchen einzunehmen, wenn es ihr bei ihm nicht mehr passe. Die beiden Leute fanden wohl auch physisch kein Glück beieinander; der Mann fühlte sich sinnlich nicht angezogen, die Frau war fordernd, kaum ersättlich, aber von tiefer Kälte. Da machte Imst bei einem Osterausflug die Bekanntschaft von Jeanne Mallery. Sie war eine Genferin, studierte Mathematik und hielt sich bei Verwandten in Langenthal zu Besuch auf. Eine Ferienfreundschaft entwickelte sich zu leidenschaftlicher Liebe. Jetzt nahmen die Ehezwistigkeiten überhaupt kein Ende mehr, oftmals äußerte sich Imst zu seiner Geliebten, er führe ein Leben wie in der Hölle. Was die Frau betrifft, so verzeichnete sie seit Jahr und Tag jeden Wortwechsel mit dem Mann, jede Beleidigung und Zurücksetzung, die sie erfuhr, in einem Tagebuch, und dies war bei einer sonst so wenig gebildeten und noch weniger zur Selbstrechenschaft geneigten Person ein unheimlicher Charakterzug, denn dieses Tagebuch spielte bei dem Prozeß wie auch späterhin eine bedeutende Rolle. Doch um nicht vorzugreifen, die Beziehung zwischen der hübschen jungen Jeanne und dem Apotheker Imst konnte nicht verborgen bleiben, die schmählichen und aufreibenden Eifersuchtsszenen ließen den häufig erwogenen Scheidungsplan in den Vordergrund treten, die Frau erklärte sich einverstanden, aber die Verhandlungen wurden mit großer Bitterkeit und Erbitterung geführt, keiner ersparte dem andern einen Vorwurf, keiner übte Schonung. Hauptsächlich wegen des Kindes kam es zu heftigen Erörterungen; die Frau wollte es dem Mann gänzlich entziehen und ihm nicht einmal die gesetzlich gewährleisteten Besuche gestatten. Nach langwierigen und erschöpfenden Prozeduren, auch solchen materieller Art, wurde endlich im November 1924 die Scheidung ausgesprochen. Als dem überwiegend schuldigen Teil wurde dem Mann zur Wiederverheiratung mit der Geliebten eine Wartefrist von einem Jahr auferlegt, eine Maßregel, die viele Unzuträglichkeiten und Schwierigkeiten im Gefolge hatte. Da ihm Jeanne in jeder Weise unentbehrlich geworden war, auch in seinem Berufe, hausten sie unter einem Dach; dies erregte gehässiges Gerede, überdies setzte sich Imst dadurch einer Strafverfolgung wegen Konkubinats aus.

Weit verhängnisvoller jedoch waren die Begegnungen, die er mit der geschiedenen Frau hatte. Den Vorwand lieferte das Kind. Imst liebte das kleine Mädchen über alles. Er konnte die Trennung von ihm nicht verwinden. Als er nun, nach Monaten, die Frau wiedersah, zeigte sie sich ihm in einem andern Licht. Sie war schwer bedrückt; ihr ganzes Wesen wartete auf Aussprache. Das Kind, offenbar von ihr bearbeitet, setzte sich dem Vater auf die Knie und bat ihn unter Liebkosungen, er möge wieder zur Mutter zurückkehren. Dazu lag ihm die Frau mit beweglichen Klagen in den Ohren, sie könne die Einsamkeit nicht aushalten, sie habe keinen Menschen, der sich ihrer annehme; schließlich, als sie merkte, daß der Mann ihr teilnahmsvoll zuhörte, wurde sie kühner und deutlicher und sprach von der Möglichkeit einer neuen Heirat. Nicht jetzt, nicht gleich, sie könne ruhig ein, zwei Jahre warten; wenn sie nur wieder ein Ziel vor Augen hätte, sei ihr schon geholfen. Sie sehe ein, daß sie ihn oft gekränkt und sich gegen ihn vergangen habe, aber das werde alles anders werden. Imst war im Grunde ein weichherziger Mann; er widerstand solchen Bitten nicht leicht. Wie alle schwachen Charaktere, war er nur zu sehr geneigt, das ihm widerfahrene Böse zu vergessen und an Schwüre und Gelöbnisse zu glauben, die eine Sinneswandlung beim andern annehmen ließen. Das tägliche Beisammensein mit dem Kind bestärkte ihn in dem Wunsch, dem zärtlich geliebten Wesen wieder ein Elternheim zu geben, und er versprach, Selma wieder zu heiraten und so das dem Kind durch die Scheidung zugefügte Unrecht gutzumachen. Aber als er dann zu Jeanne zurückkehrte, wurde ihm der Zwiespalt, in den er durch diese Zusage geraten war, erst in seiner ganzen Tragweite bewußt. Er hatte sie, die er liebte, die mit unbedingter Treue zu ihm stand, die ihm ein vorher unbekanntes Glück gegeben hatte, aufs schnödeste verraten. Er fand aber die Kraft nicht, ihr offen zu bekennen, was er getan. Sie jedoch fühlte es, ahnte es, und als er ihr dann das Geständnis nicht länger vorenthalten konnte, hatte er wiederum nicht die Kraft, folgerichtig den einen Weg zu gehen, zu dem er sich selber verurteilt hatte. Gleichzeitig bedrängt von der Geliebten und der Frau, von der Leidenschaft, die ihn zu jener trieb, dem mißverstandenen Pflichtgefühl, das ihn von neuem dieser verhaftet hatte, verlor er den Boden unter den Füßen; er schwankte kläglich hin und her, und eine krankhafte Freud- und Entschlußlosigkeit kam über ihn. Jeanne berief sich auf das Recht ihres Herzens, auf die düsteren Erfahrungen, die der Freund bereits in der Ehe mit Selma gemacht. Sie verdoppelte die Beweise ihrer Ergebenheit und Treue, ohne dabei einen moralischen Druck auf den unglücklichen Mann auszuüben, eine Schonung, deren sich die andere keineswegs befleißigte; während Jeanne sich noch auf Bitten und Flehen verlegte, hatte die Nebenbuhlerin, kühl und berechnend, das standesamtliche Aufgebot besorgt und mit ihrem Anwalt einen Plan zur finanziellen Abfindung Jeannes ausgearbeitet. Vor soviel Tatkraft wich Imst mutlos zurück und überredete die Freundin, für einige Zeit zu Bekannten ins Appenzellische zu reisen. Sie willfahrte ihm, beschwor ihn aber in flehentlichen Briefen, sie nicht im Stich zu lassen, sie habe ja keinen Menschen auf der Welt außer ihm. Zu alledem war es schon zu spät. Die Wiederverheiratung der geschiedenen Eheleute hatte inzwischen stattgefunden, Selma war mit ihrem Kind in das Haus des Mannes gezogen, und als Jeanne an einem Novemberabend krank und elend dort eintraf, erfuhr sie das Geschehene von der Dienstmagd. Was sollte sie nun tun? Wohin sollte sie gehen? Sie begehrte die Frau zu sprechen, Selma empfing sie auffallend freundlich und bot ihr mit Rücksicht auf ihren trostlosen Zustand ein Obdach für die Nacht an; alles weitere sollte nach der Rückkehr des Mannes, der über Land gefahren war, geregelt werden. Diese Regelung bestand darin, daß Jeanne Mallery vorläufig im Hause verblieb. Die Siegerin, großmütig gestimmt, wollte sie beherbergen, bis sie sich eine neue Existenz gegründet hatte. Jedenfalls schlossen die beiden Frauen miteinander Frieden, sie teilten sich in die Arbeit im Hause, Jeanne bediente wie früher die Kunden in der Apotheke und war im Laboratorium tätig, Selma führte die Wirtschaft, und für Imst war diese Lösung des Konflikts ein Glücksfall, auf den er nicht zu hoffen gewagt hatte.

Es waren trügerische Maßnahmen, war ein Scheinfrieden. Zu vermuten ist, daß sich in der Frau ein unterirdischer Groll sammelte, als sie sah, daß die neu geschlossene Ehe das Verhältnis zwischen ihrem Gatten und Jeanne nicht zu zerstören vermocht hatte. Vielleicht war es ihre Absicht gewesen, die beiden auf die Probe zu stellen, und indem sie sie unter den Augen behielt, konnte sie den verhohlenen Haß gegen die Rivalin nähren und sich wiederum die Qualen schaffen, durch die allein sie sich noch ein Leben der Sinne vortäuschte. Eines Abends, als Imst zu spät zu Tisch kam, brach die unterdrückte Erbitterung aus; ohne auf seine Entschuldigungen zu hören, fuhr sie ihn bösartig an, überhäufte ihn mit Schmähungen und tat, wie wenn er schon die ganze Zeit, statt seine Pflichten zu erfüllen, ein Lumpenleben geführt und die Nächte in Wirtshäusern verbracht hätte, eine völlig aus der Luft gegriffene Beschuldigung. Der Mann brauste auf und antwortete hart, jetzt habe er zwei Jahre Ruhe gehabt, wenn sie wieder in der alten Weise anfange und ihre Versprechungen nicht halte, könne sie ihre Sachen packen und gehen. Auf eine so energische Sprache war Selma nicht gefaßt. Sie allein glaubte die Macht über Frieden und Krieg zu besitzen; als sie sich nun in Gegenwart Jeannes wie ein Dienstbote behandelt sah, begann ein unstillbarer Zorn an ihr zu nagen. Imst bereute seine Heftigkeit, aber alle Versuche, die Frau wieder zu versöhnen, stießen auf ihren verächtlichen Trotz; am andern Morgen wurde sie plötzlich bettlägerig, klagte über Kopfschmerz, Schwindel und Brechreiz, Imst fragte sogleich besorgt, ob sie ein Mittel eingenommen habe, sie verneinte es, er wollte nach dem Arzt telefonieren, sie sagte, sie brauche keinen Arzt, und da die Beschwerden sich nicht steigerten, beschloß Imst, noch zu warten, brachte ihr aus seiner Apotheke etwas Pantopon und Silicose und verordnete eine entsprechende Diät. In den nächsten zwei Tagen wechselte das Befinden ständig, am Abend des dritten zeigten sich jedoch Symptome einer schweren Magen- und Darmerkrankung, der Puls war klein, kalter Schweiß hatte sich eingestellt, verbunden mit Sehstörungen und Herzschwäche. Imst rief den Arzt, auch dieser fragte sie, ob sie etwas eingenommen habe, sie leugnete es wieder, sagte nur, um drei Uhr nachmittags sei ihr auf einmal furchtbar schlecht geworden, und seitdem fühle sie sich mit jeder Stunde elender. Eine klare Diagnose ergab sich nicht. An Vergiftung dachte der Arzt erst, als keine Hoffnung mehr vorhanden war. Um elf Uhr nachts verschied sie. Am folgenden Tag wurde auf Betreiben des Arztes und mit Imsts Einverständnis die Leiche seziert. Bei der chemischen Untersuchung fanden sich ganz abnormale Mengen von Arsen. Nach weiteren zwei Tagen wurden sowohl Imst wie auch Jeanne Mallery verhaftet.

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Obwohl am Anfang des Verfahrens auch die öffentliche Meinung noch schwankte, ob Mord oder Selbstmord vorlag, nahm der Untersuchungsrichter den Mord als gegebene Tatsache an und ging in seinen Nachforschungen und Inquisitionen von der unerschütterlichen Überzeugung aus, daß über die Schuld der beiden Verdächtigten nicht der leiseste Zweifel obwalten könne. Daher wurden sie nicht als Häftlinge behandelt, denen das Verbrechen erst nachgewiesen werden mußte, sondern von der ersten Stunde der Haft bis zum Wahrspruch der Geschworenen, acht Monate lang, als überführte Giftmörder. Es wurden ihnen keinerlei Erleichterungen gewährt. Sie durften keine Bücher lesen. Sie bekamen keine Wäsche, keine Seife, keine Extrakost, und als im Januar strenge Kälte einbrach, mußten sie frieren. Umsonst bemühten sich die Freunde von Imst und Jeanne Mallery, wenigstens ihre physische Lage zu verbessern, der untersuchende Richter, in seiner Voreingenommenheit, verschloß sich jeder menschlichen Regung, lehnte sämtliche Bittgesuche ab, war gegen alle Vorstellungen taub. Er konnte es, er durfte es, es war seine Befugnis. Das aber war nur der äußere Rahmen einer geradezu mittelalterlichen Tortur, der das unglückliche Paar unterworfen wurde. Zu schweigen von den persönlichen Herabwürdigungen, Beleidigungen und Drohungen, mit denen er sie zu einem Geständnis zu zwingen suchte, hatte er sich eine Taktik von Fangfragen zurechtgelegt, durch die sie sich ahnungslos in Widersprüche verwickelten. Die unschuldigste Äußerung wurde ihnen so lange im Mund verdreht und wieder und wieder vorgehalten, bis sie sich in ein Indiz verwandelte; keine Zeugenaussage, die nicht eine absichtliche Mißdeutung erfuhr; verdächtig, daß Imst den Arzt nicht rechtzeitig gerufen; verdächtig, daß Jeanne die Kranke gepflegt hatte; verdächtig das eine Mal die Schweigsamkeit des Mannes nach dem Tod der Gattin, das andere Mal, daß er da und dort zuviel geredet. Und was er geredet; an jede Silbe sollte er sich erinnern, an jeden Blick und jeden Schritt; irrte er, versagte sein Gedächtnis, war es ein Schuldbeweis. Erregung war Schuldbeweis, Fassung war Schuldbeweis, die verhetzte Stimmung in der Stadt: Schuldbeweis; das Umstellen eines Möbelstücks im Vorzimmer, drei Tage vor dem Tod: Schuldbeweis; dadurch nämlich habe man Platz für das Hinaustragen des Sargs schaffen wollen! Daß er den bedenklichen Zustand der Kranken nicht erkannt zu haben behauptete; daß er im Gegensatz zu einigen Zeugen nicht bemerkt haben wollte, daß die Sterbende in den letzten Stunden weiße, steife Hände mit blauen Fingernägeln gehabt; daß Jeanne Mallery nicht sagen konnte, ob sie an dem Nachmittag, da die Frau über quälende Schmerzen geklagt, Tee oder Kaffee gekocht und, als sich endlich herausgestellt, daß es Kaffee gewesen, warum Kaffee und nicht Tee; daß sie nicht wußten, wer die Apotheke zuletzt betreten, wer zuletzt mit dem vorrätigen Arsen zu tun gehabt: Das alles bildete ein hinterhältiges System des Erwischenwollens und der Einschüchterung, wovon die verhängnisvolle Folge war, daß der objektive Tatbestand immer mehr verdunkelt und jedes der unzähligen, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht ohne Rücksicht auf die seelische und körperliche Verfassung der Angeschuldigten vorgenommenen Verhöre in eine Kette von immer wiederholten Einzelfragen zerlegt wurde. Dadurch verloren sich allmählich die wesentlichen Spuren des Geschehens, zum Beispiel die Herkunft des Giftes, der Aufbewahrungsort und die Zeiten der Einnahme, die Krankheitserscheinungen und ihre Steigerungen. Ebensowenig wurden die anklägerischen, zum Teil offensichtlich unwahren Äußerungen im Tagebuch der Frau Imst ernsthaft nachgeprüft; der Sachverhalt lag ja vermeintlich klar zutage: auf der einen Seite ein schmählich betrogenes, in seiner Ehre gekränktes und mißhandeltes Weib, ein edles und von hoher Pflichttreue erfülltes Wesen, Opfer seiner Gattenliebe, auf der andern ein roher Trunkenbold und seine gewissenlose Mätresse, der als einziges Ziel vorschwebte, den unsittlichen Bund zu legitimieren, selbst auf Kosten eines Verbrechens, und die den willensschwachen Mann dahin zu bringen wußte, das unbequeme Hindernis ihres Ehrgeizes zu beseitigen. So war die Auffassung des Volkes, so die des Gerichts und der Geschworenen; vergeblich die feierlichen Unschuldsbeteuerungen der beiden Angeklagten, vergeblich die scharfsinnigen und überzeugenden Plädoyers der Verteidiger, vergeblich die Warnung einzelner Besonnener vor einem ungerechten Spruch, das lebensvernichtende Urteil wurde gefällt, Imst und Jeanne Mallery wanderten in ihr steinernes Grab, und die Welt, von kurzem Gedächtnis, wie sie ist, schien ihrer alsbald vergessen zu haben.

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Eines Tages geschah es, daß Marie Kerkhoven mit der Assistentin Wys-Wiggers ins Gespräch kam und diese plötzlich anfing, ihr von dem Fall zu erzählen. Nicht von ungefähr; es stellte sich heraus, daß sie bis ins Herz davon erfüllt war. Sie war eine Verwandte von Karl Imst; er war ihr leiblicher Vetter. Sie kannte ihn von Jugend auf. Sie war von seiner Schuldlosigkeit durchdrungen. Sie hielt ihn des Verbrechens, dessen man ihn beschuldigt, für vollkommen unfähig. Sie hielt auch Jeanne Mallery für schuldlos. Sie war überzeugt, daß an den beiden ein Justizmord begangen worden sei. Von diesem Gedanken war sie besessen wie von einem Leiden, das ihre Existenz untergrub. Alles, womit sie sich sonst beschäftigte, war nur Betäubung und leeres Tun. Während Imst in Untersuchungshaft gewesen, hatte sie durch ihre unablässigen Bemühungen einmal die Erlaubnis erhalten, ihn zu besuchen. Seitdem war der letzte Zweifel an seiner Unschuld in ihr geschwunden. Als sie diese Begegnung schilderte, wurde sie totenbleich und verstummte vor Entsetzen, jetzt noch, nach vielen Jahren. Sie hatte der Gerichtsverhandlung beigewohnt, hatte Karl und Jeanne beobachtet, die Zeugen beobachtet, die Reden mit angehört und gestand, es habe ihrer ganzen Selbstbeherrschung bedurft, um bei der Urteilsverkündigung nicht aufzuspringen und in den Saal zu schreien: Halt, halt! Um Gottes willen, halt! Ihr seid es, die mordet! Sie sind unschuldig, der Mann und das Weib! Nachher war sie wochenlang krank. Sie besaß sämtliche Zeitungsberichte über den Prozeß, Abschriften der Verhörsprotokolle und der Sachverständigengutachten und war mit der Materie so vertraut, als hätte sie selber die Verteidigung geführt.

Marie hatte zuerst geglaubt, die junge Person sei von einer fixen Idee besessen. Aber Else Wys-Wiggers machte keineswegs den Eindruck einer Phantastin; auch Kerkhoven rühmte stets ihre Ruhe und Verläßlichkeit. Und je öfter sich Marie mit ihr unterhielt, je stärker wurde ihr Interesse, je unabweisbarer das Gefühl, daß hier wirklich zwei Unschuldige fälschlich gerichtet worden waren. Sie vertiefte sich in die Lektüre der Akten und Berichte, und das Gefühl wurde langsam zur Gewißheit. Dies aber brachte ihre Seele in Aufruhr. Plötzlich war sie eng beteiligt; plötzlich war sie selber in den Maschen des Geschehens drin; plötzlich war sie es, die Sühne zu fordern hatte für die beleidigte Gerechtigkeit und Wahrheit. Sie hatte keinen Frieden mehr; ständig kreisten ihre Gedanken um die zwei Menschen im Zuchthaus und wie ihnen zumute sein mußte im Bewußtsein der Unschuld. Kaum zu ertragende Gedanken. Dabei empfand sie es als eine schier unheimliche Fügung, daß sie gleichsam das Kernerlebnis des Menschen übernahm, der ihr einst zum Schicksal geworden war und sie aus einer Träumerin zu einer Wachen gemacht hatte, aus einer abseitigen Zuschauerin zu einem lebendigen und handelnden Weib. Ohne daß er es gewollt und gemeint freilich, aber als Träger der Bestimmung. Das verlieh ihr Zuversicht und Kraft, denn die unserm Schicksal innewohnende spürbare Folgerichtigkeit ist es, die unser Herz stählt und uns vor uns selbst bestätigt.

»Aber hören Sie zu, Else«, sagte sie eines Abends zu der Assistentin, »wenn weder Karl Imst noch Jeanne Mallery etwas mit dem Verbrechen zu schaffen haben, wer hat die Frau getötet?« – »Wer?« fragte die andere mit großen Augen zurück. »Wer? Das fragen Sie!« – »Ich weiß, ich weiß«, flüsterte Marie, »es gab ja immer nur die zwei Möglichkeiten: Mord oder Selbstmord. Ich sehe nur den Grund nicht, weshalb sie sich hätte umbringen sollen. Natürlich, sie war schwer verbittert und verzweifelt, vor allem hatte sie nicht mehr den Glauben an sich ... Aber sie hing doch so am Leben ... und solcher Entschluß ...« – »Sie sehen wirklich nicht den Grund? Wirklich nicht? Er liegt doch so nah, daß man ihn mit Händen greifen kann!« Sie schauten einander starr in die Augen. Marie erbebte. »Das läßt sich nicht zu Ende denken«, murmelte sie verstört. – »Denken Sie es ruhig zu Ende, und Sie werden richtig denken«, sagte die Wys-Wiggers finster. – »Nein, ich kann nicht, ich weigere mich, es wäre die schwärzeste Hölle«, beharrte Marie.– Die andere zuckte die Achseln. »Beweisen müßte man es können«, erwiderte sie dumpf; »solange die Beweise fehlen, gibt es keine Revision. Und wenn nicht ein Gott eingreift, kann man's nicht beweisen.«

Revision des Urteils, das war ihr einziges Ziel. Sie war unermüdlich gewesen in Umfragen und Erkundungen. Sie korrespondierte mit den Anwälten des Imst und der Mallery, mit hohen Gerichtsfunktionären, mit Chemikern und Rechtsgelehrten. Für eine nachhaltige Aktion hatte sie die Mittel nicht. Ihre geheime Hoffnung war, Marie und durch diese Joseph Kerkhoven zu gewinnen. Wenn ein Mann wie Kerkhoven sich mit dem Gewicht seines Namens für die Sache einsetzte und ihr die Wege in die Öffentlichkeit ebnete, war ein großer Schritt getan. Marie, von ihrer Glut mit ergriffen, in jener heiligen Ungeduld, die das verletzte Recht in den Seelen derer wachruft, die noch an Recht und Gerechtigkeit glauben, sprach wieder und wieder mit Joseph darüber. Sie weihte ihn in den Fall ein. Es gelang ihr, ihn zum Studium der aktenmäßigen Darstellungen zu überreden. Er verstand sehr genau, worum es ihr ging. Der geistige Ursprung ihrer Bewegung blieb ihm nicht verborgen; er sah darin einen Läuterungsvorgang, der das Bild Maries mit neuen Zügen bereicherte, ja ihm einen neuen Begriff ihrer Natur gab. Seine Bedenken richteten sich gegen die eigenen Möglichkeiten. »Es ist nicht meines Amtes«, sagte er, »es führt ins Unabsehbare; so etwas verlangt alle Zeit, die man hat, vielleicht das ganze Leben. Denk an Andergast; es hätte ihn beinahe den Hals gekostet. Es ist eine andere Welt als die meine. Man muß achtgeben ... Aber ich will's mal überlegen ... Ich werde nicht drüber hinweggehen, Marie, sei unbesorgt ...« Und abermals war es die besondere Fügung, die den Gang der Dinge förderte und Kerkhoven, rascher, als er geahnt und gewollt, zu tätigem Anteil zwang.

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Die Gemütskrankheit der Emilie Thirriot äußerte sich seit ungefähr drei Jahren in steigendem Maße als eine nicht gewöhnliche Form von Bewußtseinsverwirrung und Selbstpeinigung. Sie hatte eine siebzehnjährige Tochter und bildete sich ein, die Hebamme habe ihr bei der Geburt ein falsches Kind unterschoben, und zwar ein Mädchen statt des Knaben, den sie nach ihrer Meinung zur Welt gebracht hatte. Den Namen der Hebamme hatte sie vergessen, da sie in einer Gebäranstalt entbunden hatte, hingegen war in ihrem Gedächtnis ein Bild der Frau haftengeblieben, ein von ihr erfundenes freilich, viel mehr zwei oder drei Einzelheiten eines Bildes; sie glaubte sich eines Kapotthütchens mit rosa Bändern zu erinnern, sodann schwarzer russischer Röhrenstiefel; immerhin eine wunderliche Kombination, aber das waren eben die Merkmale ihres Zustands. Eines Tages begann sie, überall nach der schuldigen Hebamme zu suchen. Sie sammelte auf der Straße und in allen Mülleimern alte Zeitungsfetzen mit Inseraten, fragte in den Spitälern herum, machte polizeiliche Anzeigen und schlurfte in Filzschuhen tagelang durch die Stadt, um nach weiblichen Personen auszuspähen, die ein Kapotthütchen und Röhrenstiefel trugen. Oft faßte sie Verdacht und sprach fremde Leute an, lief, wenn sie sich abkehrten, hinter ihnen her und beschimpfte sie, so daß sie schließlich zur Beobachtung ihres Geisteszustandes interniert wurde. Da man sie nicht als gemeingefährlich bezeichnen konnte, ließ man sie nach einer Weile wieder frei, betraute aber vorsichtshalber einen jungen Psychiater mit ihrer Beobachtung. Der nahm dann die bedenklichen Symptome an ihr wahr, die sich mit der Zeit immer stärker herausbildeten und zu ihrer dauernden Anstaltsbehandlung führten. Sie war sehr arm und lebte mit ihrer Tochter, die in einer Fabrik arbeitete, in einer Zweizimmerwohnung mit Küche. Es fiel auf, daß sie das Zusammensein mit der Tochter mied, wie man die Gesellschaft eines Menschen meidet, den man vor Ansteckung schützen will. Beim Sprechen sah sie ihr nie ins Gesicht; wenn jene ins Zimmer trat, verkroch sie sich in einen Winkel, wurde bleich und zitterte; nichts, was dem Mädchen gehörte, berührte sie, kein Kleidungsstück, den Stuhl nicht, auf dem das Kind saß, das Bett nicht, worin es lag. Von einem gewissen Tag ab weigerte sie sich, die gemeinsamen Mahlzeiten zu kochen, wie sie es bis dahin getan. Sie hatte sich beim Kartoffelschälen in den Finger geschnitten. Mit den Zeichen ungeheuerster Aufregung lief sie zur Wasserleitung, wusch das Blut ab und, als die Wunde längst nicht mehr blutete, rieb sie noch immer mit Bürste und Seife krampfhaft ihre Hände. Sodann warf sie sämtliche Kartoffeln ins Herdfeuer, die geschälten und die ungeschälten, das Messer, mit dem sie sich verletzt, und als sie auf dem Fußboden einen Tropfen Blut wahrnahm, holte sie Schaffund Lappen herbei, kniete hin und begann keuchend und mit erstickten Seufzern so lange zu schrubben, bis jede Spur des Bluts verschwunden war. Hier, wie bei verschiedenen andern, ähnlichen Anlässen, machte sie den Eindruck eines Menschen, der von seinem bösen Gewissen bis zur Unerträglichkeit verfolgt wird.

Es war ein Rätsel, vor dem die Ärzte kopfschüttelnd standen. Die Angstzustände häuften sich. Sie wurden eine Gefahr für das junge Mädchen, das nicht mehr wußte, was es von der Mutter denken sollte, wenn diese zu wimmern und zu heulen anfing, sobald das Kind in ihre Nähe kam. Man mußte trachten, Mutter und Tochter voneinander zu trennen. Ein Bruder der Frau, der in Friedrichshafen lebte, fuhr nach Kolmar, um sie zu holen. Nach einiger Zeit brachte er sie dann in die Klinik. Von dort, wie schon berichtet wurde, übernahm sie Kerkhoven. Zunächst sah auch er sich vor einer Unerklärlichkeit. Eine dunkle Seele, nicht aufschließbar, beladen mit einer Angst, die uralt schien, wie von den Ahnen her. Er ging behutsam vor. Seine Fragen zogen anfangs einen weiten Kreis, ehe sie sich ins Persönliche und Erlebte wagten. Allmählich erkannte er, daß es sich um ein tief verlagertes Phänomen des Wahnlebens handelte. Schicht um Schicht tat sich auf. Wieder einmal enthüllte sich das scheinbar Einfache, ja Erdhafte, als das Verworrenste und Nächtigste. Indem er ihr, fast spielend, ein Interesse für ihre Person einflößte wie für die Heldin einer spannenden Geschichte, machte er sie neugierig auf ihre eigene Vergangenheit und auf verborgene Regungen ihres Gemüts. Er drückte ihr gleichsam die Schaufel in die Hand, mit der sie grub. (Aber mißverstehen wir seine Absichten nicht; das Ziel war nicht, wie bei gewissen Schulen von Aufgräbern, daß die unterirdischen Bestände als Schutt zutage kamen, der fortgeräumt werden sollte, sondern als Baumaterial, das, weil verschüttet, sich bis nun der Verwendung entzogen hatte, ein von dem üblichen grundsätzlich abweichendes Verfahren.)

Der Wahn war schrecklich genug. Sie glaubte, ihr ganzer Körper bestehe aus Gift, insonderheit Speichel, Blut und Atem und alle Ausscheidungen, und dieses Gift wirke sich lediglich gegen die leibliche Tochter aus. Ihre organische Beschaffenheit, so nahm sie an, war derart, daß sie unweigerlich und ohne daß sie das geringste dazutat, den Tod der Tochter herbeiführen müsse, daß sie also zu irgendeiner Zeit, es konnte morgen, es konnte in einem Jahr geschehen, zur unfreiwilligen Mörderin des jungen Mädchens werden mußte, eben durch jene fürchterliche Eigenschaft ihrer giftigen Natur. Deshalb hatte sie das Blut mit solchem Entsetzen von ihren Händen gewaschen; deshalb räumte sie alle Dinge, die sie angerührt hatte, aus dem Weg, wenn ihr das Kind vor die Augen kam. Auf einer oberen Stufe des Wahns war sie überzeugt, ihr Kind zu lieben, mit einer aufrichtigen, mütterlichen Liebe; in Wahrheit jedoch lag unter dieser Decke von Liebe ein unergründlicher, elementarer Haß, der von ihrem Bewußtsein allerdings abgedrängt war, der aber mit den Jahren ihr Leben zerrieben und ihr durch den Konflikt zwischen Vernichtungswunsch und weiblicher, menschlicher Pflicht das Dasein zur Folter gemacht hatte.

Geheimnisvolle Finsternis, die die stumme Menschenseele aus sich heraus gebiert! War das Verlangen nach dem Knaben und die Enttäuschung über die Tochter der unterste Grund der Verstörung? Zweifellos gibt es Frauen, in denen der Wille zum Sohn gebieterisch wie ein Naturgesetz ist und die sich von der göttlichen Ordnung betrogen fühlen, wenn sie ihr Leib darum betrügt. Dann war auch die Suche nach der Hebamme mit dem Kapotthütchen und den russischen Stiefeln nur ein Vorwand, um dem Geschick einen Schuldigen entgegenstellen zu können, denn aufgehäufte Schuldenrechnung und Abwälzung der Verantwortung ist das Kennzeichen fast jeden Wahns, und daß sie diesen Schuldigen, eine Schattenfigur ohne Gesicht und Namen, nur mit den äußeren Attributen einer Karikatur versehen, nicht zu finden vermochte, zwang ihre kranken Sinne in die Bahn der Selbstvernichtung, eine so umwegige und abstruse, wie keine Vernunft es erdenken konnte. Aber wahrscheinlich lag alles noch viel weiter zurück, als Erinnerungen, Bilder und Eindrücke reichten; weiter als die unglückliche Ehe, über die sie nur spärliche Andeutungen machte, so, als ob der Mann sie an Stelle einer andern geheiratet hätte; daher auch die Wahnidee von den vertauschten Kindern; bis auf die Mutter zurück, die sie in früher Jugend zu fremden Leuten gegeben; bis in die Geschlechter zurück, harte Bauern und Handwerker, die ihres Glaubens wegen verfolgt aus Frankreich hatten fliehen müssen und sich erst nach der Revolution wieder in der elsässischen Heimat niedergelassen hatten. In jedem Einzelleben verkörpert sich ein Teil der Stammes- und Volksgeschichte; was eine Familie in Jahrhunderten erlitten und erfahren hat und alle ihre Zugehörigen schweigend mit ins Grab genommen haben, kommt plötzlich und ohne ersichtlichen Grund in einem sonst ganz unbedeutenden Glied der Kette zum Ausbruch, und in einem solchen Fall pflegt die Natur gerade das ahnungslose oder gedächtnislose Individuum gleichgültig zu opfern.

Von Aussehen war sie eine rundliche, freundlich dreinblickende, sauber gekleidete Frau von etlichen vierzig Jahren, an der nur die katzenartig bernsteingelben Augen auf etwas Ungewöhnliches hindeuteten. Diese Augen konnten einen Ausdruck annehmen, wie man ihn bei Menschen trifft, die mit dem zweiten Gesicht begabt sind. Kerkhoven war sehr bald darauf aufmerksam geworden und hatte beschlossen, dem Anzeichen nachzugehen. Er beobachtete sie heimlich, und wenn sie ihm zuerst, in ihrer kranken Einbildung, als sei sie eine vom Schicksal gezeichnete Mörderin, wie eine jener Spukgestalten erschienen war, derengleichen in Grimmschen Märchen vorkommen, mythische Unholdin, Koboldwesen mit einem Zug finsterer Gemütlichkeit; so zeigte sich dann, infolge einer unmerklichen Drehung gleichsam oder durch den Pendelausschlag nach der andern Seite, das Gegenbild, von einer übernatürlichen Fähigkeit getragen, übernatürlich im Sinn der Ratio-Menschen und der Zwei-mal-zwei-ist-vier-Leute, die noch immer in banaler Zweifelsucht belächeln und zu leugnen bestrebt sind, was ein Mann wie Kerkhoven, zur Genüge belehrt über die Ausweitbarkeit der menschlichen Seelenkräfte, längst nicht mehr zu den Wundern rechnete. Sein Staunen galt dem speziellen Fall. Es war tatsächlich etwas wie Umkehr einer Wahngebundenen unter Abstreifung des kranken Ichs.

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Ohne Frage wirkte die Atmosphäre des Hauses wohltuend auf die Frau. Die Stille und Entlegenheit, die gleichmäßig-schonungsvolle Behandlung, die heiteren, blumengeschmückten Räume – es war Marie, die täglich für frische Blumen sorgte –, das alles trug nicht nur zur Aufhellung ihres Gemüts bei, es veränderte auch die starre Innenrichtung ihrer Gedanken. Sie hatte seit Jahren keinen Umgang mit Frauen gehabt. Außer mit ihrer Tochter hatte sie mit keinem weiblichen Wesen gesprochen. Die Sanftheit und geschulte Rücksicht der jungen Assistentin stimmten sie weich; mit Ungeduld wartete sie jeden Tag auf ihren Besuch und ließ während ihrer Gegenwart nicht die Augen von ihr. Dieselbe Anhänglichkeit, noch um einen Grad scheuer, bezeigte sie gegen Marie, seit diese sich ein paarmal freundlich mit ihr unterhalten hatte. Es war eine Art Schwärmerei; wenn sie sie nur von ferne sah, strahlte sie übers ganze Gesicht. Wie sie nach und nach darauf kam, daß Schwester Else unter dem Druck einer dauernden Sorge lebte und unaufhörlich mit einem einzigen Gedanken beschäftigt war, der ein bestimmtes Willensziel hatte, konnte später nicht mehr ergründet werden; Kerkhoven, als er einmal darüber sprach, neigte zu der Ansicht, daß die mediale Gabe schon bei den ersten Begegnungen wirksam gewesen sei. Eines Tages saßen Marie und Schwester Else im Garten und erörterten den Inhalt einer Broschüre, die vor ihnen auf dem Tisch lag. Sie war von einem jungen Juristen verfaßt und entwickelte trocken, aber gewissenhaft, Zug für Zug den Verlauf des Prozesses Imst-Mallery. In gewissen Zeitabständen meldete sich immer wieder eine Stimme, die die Gerechtigkeit des Urteils in Zweifel zog, wie wenn das Gewissen des Landes in heimlicher Gärung wäre. Auch dieser Autor gelangte zu dem Schluß, daß ein Fehlspruch vorliege, mußte aber zugleich einräumen, daß die für ein Wiederaufnahmeverfahren unerläßlichen neuen Tatsachen nicht zu beschaffen seien. Else Wys-Wiggers, durch die Lektüre des Heftes in jene leidenschaftliche Erregung versetzt, die jedes Aufrühren des Themas bei ihr zur Folge hatte, las Marie die letzten resignierten Worte der Druckschrift vor und warf dann das Heft mit einer hoffnungslosen Gebärde auf den Tisch. In dem Augenblick kam die Emilie Thirriot mit ihrem watschelnden Gang daher, zögerte ein wenig und fragte schüchtern, ob sie sich zu den beiden Frauen setzen dürfe. Marie nickte freundlich. Dabei fiel ihr schon der Ausdruck in den Augen der Frau auf, mit dem sie die Assistentin anstarrte. Ihr Gesicht hatte auf einmal etwas Verwaschenes und Leeres, so, als ob jemand mit einem Pinsel darübergefahren wäre und die charakteristischen Formen ausgewischt hätte; im Gegensatz hierzu war in den bernsteingelben Augen ein dumpfes, tiefes Licht, ein saugender Glanz, etwas beängstigend Fremdes von Neugier und Wissen, aber jenseits der Selbstkontrolle. Schwester Else sprang ungestüm auf und lief ins Haus, Marie sah ihr mit einem traurigen Blick nach, die Anwesenheit der Thirriot hatte sie ganz vergessen, da sagte diese, wie aus einem Traum erwachend, mit seltsamem Stammeln: »Ich weiß jetzt ... ich seh'jetzt ... eine Frau ... ein Mann ... im Zuchthaus ... ich sehe ...« Marie zuckte zusammen und schaute sie groß an. Doch da veränderten sich die Züge der Frau wieder, und mit gleichfalls veränderter Stimme fuhr sie fort: »Das Schönste an Ihren Haaren, Frau Professor, ist der braune Schimmer, wie bei den ersten Kastanien im Herbst. Erinnern Sie sich, wie schön die schimmern?« Marie lächelte wie zu der ungeschickten Schmeichelei eines Kindes; sie erhob sich und ging, von widerstreitenden Gefühlen bedrängt. Die Broschüre ließ sie auf dem Tisch liegen. Nach einer Weile fiel der Blick der Frau Thirriot darauf, sie griff nach dem Heft, schlug es auf und begann zu lesen. Nach Art ungebildeter Leute bewegte sie die Lippen beim Lesen. Ein Beobachter hätte nicht schlüssig werden können, ob das Gelesene irgendwelchen Eindruck auf sie machte. Es schien sie eher zu ermüden, als zu fesseln. Aber in Marie hallten die Worte vom Zuchthaus nach, die die Wirre zu ihr gesprochen hatte.

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Als sie es Schwester Else mitteilte, stand diese eine Minute regungslos. »Mein Gott, wenn das möglich wäre!« flüsterte sie mit gefalteten Händen. – »Was, wenn was möglich wäre?« – »Ist es denkbar, daß wir auf telepathischem Weg ... Es fällt mir nur so ein ... Die Frau ist in letzter Zeit so komisch ... Ich muß mit dem Professor reden ... Man kann doch nicht annehmen, daß gerade eine Neurotikerin ... Ich muß sofort mit dem Professor sprechen.«

Kerkhoven hörte sie aufmerksam an. »Ich komme eben von ihr«, sagte er, »sie hat mir das Heft da für Sie gegeben.« – »Hat sie es gelesen?« – »Ja. Aber viel kapiert scheint sie nicht davon zu haben.« – »Glauben Sie, daß sie in die Einzelheiten eingeweiht sein müßte, wenn ...« – »Sie meinen, wenn wir einen Versuch mit ihr machen? Ich glaube nicht. Es ist keinesfalls von Nachteil, wenn sie die faktischen Voraussetzungen kennt, ist aber nicht ausschlaggebend. Es handelt sich ja um eine Bewußtseinsspaltung, und der eine Komplex steht mit dem andern in keinerlei Verbindung. Der beste Beweis ist, daß sie vorläufig keine Ahnung zu haben scheint, daß zwischen dem Inhalt der Broschüre und Ihrer Person ein Zusammenhang besteht.« – »Aber widerspricht der ganze Krankheitsfall der Frau nicht der Annahme, daß eine telepathische Befähigung in ihr steckt? Eine solche Vereinigung findet sich doch selten. Es kommt mir vor, als wären es Elemente, die einander ausschließen, negative und positive ...« – »Ihre Bemerkung ist sehr scharfsinnig, Schwester. Sie zeigt mir, daß Sie Blick und Instinkt für unser Fach haben. Es war auch mein erster Gedanke. Doch wir können der Natur nicht in die Werkstatt schauen. Sie überrascht uns immer aufs neue. Es sind polare Kräfte, gewiß. Aber was Sie positiv und negativ nennen, könnte ebensogut ein kausales Verhältnis sein, ein verschleierter Genesungsprozeß, ähnlich wie man physisch Paralyse durch Malaria heilt. Verstehen Sie, was ich meine?« – »O doch, ganz genau, Herr Professor. Man könnte es also wagen?« – »Man könnte es ruhig wagen.« – »Und wenn man Erfolg damit hat, ich will sagen, wenn man unbekannte Tatsachen damit aufdeckt, was hat es juristisch, was hat es praktisch zu bedeuten?« – »Das bliebe abzuwarten. Ganz aussichtslos ist es wohl nicht. Aber spannen Sie Ihre Erwartungen nicht zu hoch. Solche Experimente schlagen oft fehl. Zu alledem hat man den Unglauben einer Welt gegen sich. Wir müssen jemand haben, der nicht im Verdacht günstigen Vorurteils steht und das Protokoll aufnimmt. Ich denke an Fräulein Mordann. Wir können gleich heute abend ans Werk gehen.« Schwester Else preßte die Hände auf die Brust und ging weg, als trete sie auf schwankenden Boden.

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Die Sitzung fand in Kerkhovens Arbeitszimmer statt, das unter dem Dach des Hauses lag und das unverkleidete Gebälk als Decke hatte, ein Raum von zwanzig Schritt Länge und elf Schritt Breite. Fünf oder sechs hohe Stehlampen beleuchteten ihn, außerdem eine Anzahl Glühbirnen, die hinter den Balken versteckt waren. Die verhängten Fenster waren hoch in der Mauer angebracht. Marie und Else Wys-Wiggers saßen nebeneinander auf einer geschnitzten Bank; Agnes Mordann, die sich nach einigem Zaudern bereit erklärt hatte, die Protokollführung zu übernehmen, hatte sich an einem mit Büchern beladenen Tisch in der Mitte niedergelassen, Schreibpapier und ein halbes Dutzend gespitzte Bleistifte vor sich; Emilie Thirriot kauerte mit ängstlichen Mienen auf dem Rand eines breiten Lederfauteuils, und Kerkhoven, nachdem er eine Weile auf und ab marschiert war, nahm ihr gegenüber Platz auf einer Wandbank beim Kamin.

»Wir möchten, Frau Thirriot, daß Sie uns etwas über gewisse Vorgänge erzählen, die uns nahe angehen, am nächsten die Schwester Else«, begann er mit leiser Stimme, die die Frau zu größter Aufmerksamkeit nötigte; »Sie müssen jetzt vergessen, wo Sie sind, und sich zurückversetzen in ein bestimmtes Haus. Können Sie das Haus finden? Es leben drei Leute darin, eigentlich vier. Der Mann heißt Karl, die Frau Selma, noch eine Frau, ein Fräulein vielmehr, namens Jeanne, und eine Magd. Was geht eigentlich vor in dem Haus, Frau Thirriot? Die Frau scheint krank zu sein, es ist ein Tag im Dezember ... Die Frau hat sich zu Bett gelegt ... Können Sie uns sagen, was mit ihr ist?« – Der Blick der Thirriot wandte sich langsam gegen Schwester Else und gegen Marie, um dann erschrocken ins Leere zu fallen. Wieder nahmen die Züge den verwischten Ausdruck an, als sei ein Pinsel mit grauer Farbe darübergefahren; wieder erschien in den bernsteingelben Augen das dumpfe, tiefe Licht. Sie seufzte und nickte ein paarmal bedächtig vor sich hin. »Och, das ist ein langes Übel«, sagte sie in schläfrigem Ton, »die haben schlecht miteinander gelebt. Ein miserables Leben war das. Warum hat sie denn der Mann wiedergeheiratet, wo er sie doch endlich los war? Es tut ja nicht gut. Ließe er wenigstens die Jeanne nicht im Haus. Die Frau ist ganz rabiat darüber, wenn man's ihr auch nicht anmerken kann; wenn sie's auch selber so gewollt hat. Aber das war nur zum Schein. So ist es immer bei ihr. Sie denkt sich was Arges aus, und wenn die Folgen kommen, hat der andere schuld. Och, mit der ist nicht gut Kirschen essen.« – »Was hat es denn zwischen den Eheleuten gegeben, bevor sich die Frau ins Bett gelegt hat?« fragte Kerkhoven. – »Och, da hat es bösen Streit gegeben. Ja ... warten Sie mal ... was die ihm alles sagt ... Und er nimmt sich auch kein Blatt vor den Mund ... Wie die Verrückten gehen sie aufeinander los. Die Jeanne will Frieden stiften, der Karl will ja gern abbitten, aber die Selma faucht ihn böse an, und draußen sagt die Jeanne zu ihm: Bereust du jetzt, was du getan hast? Siehst du's ein? Da packt er ihre Hände und schüttelt sie und schaut zum Himmel hinauf. Derweil sitzt die Selma ... ja, warten Sie mal ... da hat sie ein Schreibheft ... da schreibt sie immer auf, was geschehen ist. Und ihre Gedanken schreibt sie auch hinein. Aber wie ist denn das? Sie schreibt ja lauter falsche Sachen ... Sie lügt ja ... Och, was ist denn das für eine ... Das sind ja lauter Lügen ... Warum macht sie denn das?« Sie hielt inne und rieb sich mit den Fingern über die Stirn. Schwester Else gab es einen Ruck. Mit bebenden Wimpern schaute sie der Thirriot ins Gesicht und wollte etwas sagen. Kerkhoven winkte ihr zu, still zu sein. »Sprechen Sie nur weiter, Frau Thirriot«, sagte er, »wir sind ganz im Bilde. Die Frau, die Selma, macht also lügenhafte Angaben in ihrem Tagebuch. Sehr interessant. Was bezweckt sie denn damit?« – Die Thirriot rieb immer noch mit den Fingern über die Stirn. »Sie hat einen Plan ... einen niederträchtigen Plan ... Ich kann's noch nicht recht sehen ... Nein, ich weiß noch nicht ... Kann sein, sie weiß es selber nicht genau ... Es ist ihr zumut, als müßte sie alles um sich in Stücke reißen ... Am liebsten möchte sie das Haus anzünden. Alles fiebert nur so an ihr. Sie hat schon einmal den Versuch gemacht, sich und das Kind umzubringen. Das war im Juni. Dann ist sie wieder davon abgestanden. Sie hat gehofft, dadurch wird sie den Mann kleinkriegen, er hat es immer gleich mit dem Mitleid. Und einmal hat sie auch ihn vergiften wollen. Fortwährend sind Mordgedanken in ihrer Seele. Och, eine Zerrissene ist das, eine Heillose ...«

Ihr Gesicht krampfte sich zusammen. Es schien sie eine qualvolle Anstrengung zu kosten, die innerlich erschauten Vorgänge festzuhalten. Marie und Schwester Else getrauten sich kaum zu atmen. Sogar Agnes Mordann warf die Zigarette weg und blickte die Thirriot gespannt an. »Bleiben wir vorläufig bei dem Abend, an dem der furchtbare Streit stattgefunden hatte, Frau Thirriot«, sagte Kerkhoven ruhig; »ich möchte, daß wir Stunde für Stunde verfolgen, was hernach geschah. Hoffentlich fällt es Ihnen nicht zu schwer.« – »Ich will mal sehen. Warten Sie mal ...« Bei dieser ständig wiederkehrenden Phrase sank ihr Kopf gegen die Brust, und die Augen fielen ihr halb zu. – »Welche Zeit mag es gewesen sein, als der Mann nach Hause kam? Halb zehn vorüber, scheint mir ...« – »Nein, früher, sieben Minuten vor halb.« – »Ist eine Uhr im Zimmer?« – »Ja, auf der Kommode steht eine alte französische Uhr.« – »Und als der Streit vorüber ist, wieviel zeigt die Uhr da?« – »Viertel elf.« – »Ist es das Schlafzimmer der Selma?« – »Ihr Bett steht drin, ja.« – »Und nachdem der Karl und Jeanne das Zimmer verlassen haben, legt sie sich nieder?« – »Ja, sie zieht sich aus. Sie hat eine weiße Nachtjacke an mit Perlmutterknöpfen.« – »Sie können das ganz genau sehen?« – »Ja, ganz genau.« – »Dann können Sie gewiß auch beschreiben, was sie von da an vornimmt und wie überhaupt die Nacht verläuft?« Alle warteten erregt auf die Antwort; am Morgen nach dieser Nacht hatte ja die Todeskrankheit der Selma Imst begonnen.

Etwa anderthalb Minuten lispelte Frau Thirriot unhörbar vor sich hin, und alle neigten den Kopf vor, um sie zu verstehen. Allmählich wurden die Worte deutlich. Durch die Suggestion, die von ihnen ausgeht, befindet man sich im Schlafzimmer der Selma Imst. Auf dem Nachttisch brennt das elektrische Licht. Im Haus ist es vollkommen still. Selma horcht und horcht. Plötzlich verzerren sich ihre knochigen Züge, und sie gebärdet sich wie rasend. Sie schlägt mit den Fäusten um sich, dreht den Kopf hin und her und beißt ins Kissen. Dabei schluchzt und stöhnt sie ununterbrochen, alles in der Absicht, dadurch den Mann aufmerksam zu machen und ihn zu zwingen, daß er zu ihr komme. Aber es rührt sich nichts. Gegen Mitternacht dreht sie das Licht ab. Sie findet keinen Schlaf. Gegen halb zwei macht sie wieder Licht, steht auf, setzt sich an den Tisch und schreibt ein paar Zeilen in ihr Tagebuch. Sie schreibt: Es wird ihm heimgezahlt werden, was ich leiden muß, das Schicksal wird ihn schon strafen. (Das war die wirkliche Fassung der betreffenden Stelle im Tagebuch, Frau Thirriot hatte davon unmöglich wissen können.) Dann kriecht sie wieder ins Bett und wälzt sich bis halb fünf Uhr schlaflos herum. Dann steht sie abermals auf, geht in die Küche und stellt Wasser auf den Spiritusbrenner, um Tee zu kochen. Mit der gefüllten Tasse kehrt sie ins Schlafzimmer zurück. Sie stellt die Tasse auf den Nachttisch und wandert in ihren Pantoffeln ruhelos im Zimmer auf und ab. Bisweilen wühlt sie alle zehn Finger in die Haare und heult leise vor sich hin. Einmal bleibt sie vor dem Spiegel stehen und betrachtet ihr übernächtiges Gesicht. Es ist jetzt dreiviertel sechs. Sie geht zur Kommode hin und rüttelt an der zweiten Lade. Die Lade ist versperrt, sie sucht den Schlüssel. Sie ringt verzweifelt die Hände, endlich findet sie den Schlüssel, er liegt hinter der französischen Uhr. Sie sperrt die Lade auf, beginnt wieder hastig zu suchen, wirft Strümpfe und Taschentücher durcheinander, bis sie auf eine längliche Schachtel stößt, die mit einem Seidentuch umwickelt ist. Sie öffnet die Schachtel, ein weißes Pulver ist drin, sie geht zum Nachttisch, schüttet von dem Pulver, mehr, als auf einen Eßlöffel geht, in die Teetasse, rührt um, murmelt etwas mit zuckenden Lippen und trinkt die Tasse in einem Zug leer. Dann schüttet sie von dem weißen Pulver noch einmal so viel, wie sie schon genommen hat, auf ein Blatt Papier, dreht es an den Enden zusammen, daß es wie ein Säckchen aussieht, und versteckt es in der Nachttischlade unter einen Bausch Watte. Hierauf geht sie mit der Schachtel hinaus auf den Abort, schüttet das ganze Pulver in die Schale und läßt es mit der Wasserspülung ablaufen. Sie beugt sich sogar noch herunter, um nachzusehen, ob kein Rest von dem Pulver an der Schale klebengeblieben ist. Dann überlegt sie, wo sie die Schachtel verstecken kann. Die Schachtel muß sie um jeden Preis aus dem Weg räumen. Sie möchte sie verbrennen, aber im Herd ist noch kein Feuer, die Magd ist noch nicht aufgestanden. Sie hat Eile, jeden Augenblick können die Schmerzen beginnen. Wenn die Magd das Frühstück bringt, will sie die zweite Portion von dem Gift nehmen. Vielleicht aber erst mittag oder nachmittag, je nachdem die Wirkung ist. Jedenfalls will sie sichergehen, und von dem Pulver im Nachttisch darf nichts übrigbleiben. Sie steht schlotternd im kalten Flur und denkt nach. Da fällt ihr Blick auf das eiserne Kamintürchen. Schnell hebt sie den Riegel, öffnet das Türchen und wirft die Schachtel in das rußige Loch hinein. Dann geht sie in ihr Zimmer, schlüpft ins Bett und streckt sich lang aus, die Arme auf der Decke, und so um halb sieben herum fangen ihre Eingeweide an zu brennen, und es wird ihr gräßlich übel; da läutet sie nach der Magd, die jetzt schon in der Küche ist ...

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Keine Wiedergabe dieser Vision könnte dem Eindruck auch nur nahekommen, den sie auf die Zuhörer übte. Das übergroße Gesicht der Hellseherin mit den verloschenen Zügen; die schlaffe, schläfrige Stimme; das scheue Dasitzen, wie wenn sie jemand mit Gewalt auf den Sessel niedergedrückt hätte und festhielte; die fleischigen Hände, die unbeweglich auf den dicken Schenkeln lagen; dazu nun der Bericht eines sechseinhalb Jahre alten Geschehens, so, als ob es sich in der gegenwärtigen Stunde zutrüge; mit einer Fülle verblüffender Einzelheiten, von denen bis jetzt kein Mensch Kenntnis gehabt noch Kenntnis hätte erlangen können; die unheimliche Richtigkeit des geschilderten Charakters sowie die sich aufdrängende Wahrheit der Situation, die innere wie die äußere: das alles hätte den Kaltblütigsten aus dem Gleichgewicht bringen müssen, es wirkte wie die Aufhebung der Gesetze von Zeit und Raum, Vergangenheit war Täuschung, Ursache und Folge waren anders geschaltet, das Leben bekam unter diesem Schaupunkt ein anderes Antlitz; auch Kerkhoven war nicht völlig imstande, seine ärztliche Gelassenheit zu bewahren. Jeder spürte, daß das Geschick zweier Menschen an dieser Stunde hing. Mehr noch: Der wahnhafte Irrtum von der Heiligkeit der geltenden Rechtsnormen wurde erschüttert.

Wenn es sich bestätigte, daß die Schachtel, in der das Gift gewesen, in das Kaminloch geworfen worden war, hatte man damit ein schwerwiegendes neues Beweisstück zustande gebracht, wie es das Gesetz zur Wiederaufnahme des Verfahrens forderte. Und um es gleich vorwegzunehmen: Drei Wochen später, als der von der Unschuld der Verurteilten noch immer überzeugte Anwalt auf Grund des Kerkhovenschen Protokolls Nachforschungen in der gewiesenen Richtung anstellte, wurde das Corpus delicti an dem bezeichneten Ort wirklich entdeckt. Es lag ganz hinten an der Mauer, unter einer dicken Rußschicht begraben. Das Haus gehörte immer noch dem Apotheker Imst; seit der Verhaftung des Besitzers war es unbewohnt; niemand hatte es mieten wollen. Der Fund erregte sowohl bei den Gerichten wie im Publikum das größte Aufsehen; jedenfalls war er geeignet, die Einseitigkeit und Nachlässigkeit, mit der der voruntersuchende Richter seines Amtes gewaltet, ins Licht zu stellen. Nicht nur hatte er sich nicht um Aufklärung bemüht, woher der oder die Täter das Gift genommen, aus der Apotheke oder aus einem schon vorhandenen Vorrat, und wohin sie es nach dem Gebrauch geschafft hatten, er hatte nicht einmal eine gründliche Durchsuchung des Hauses veranlaßt. Allerdings konnte die Schachtel auch von Karl Imst oder der Mallery in das Kaminloch geworfen worden sein; wenn man sich gegen die mediale Entschleierung des Falles überhaupt skeptisch verhielt, lag dieser Einwand nahe genug und wurde auch vielfach erhoben, zumal während der Zeit, da weit schlagendere Angaben des Protokolls noch nicht bekannt waren. Das Überraschendste unter diesen neuen Fakten war, daß Selma Imst kurz nach der Scheidung von ihrem Gatten ein Verhältnis mit einem zwanzigjährigen Studenten gehabt hatte, einem Griechen, und daß sie damals angefangen, Arsen zu essen, hauptsächlich, um ihre körperliche Liebesfähigkeit zu steigern. Ein solcher Anwurf gegen eine Frau, deren sittliche Reinheit vom Untersuchungsrichter wie vom Staatsanwalt immer mit besonderem Nachdruck betont worden war, wog natürlich außerordentlich schwer. Die Erhebungen wurden mit Umsicht und Eifer gepflogen, und abermals ergab sich ein beispielloses Versäumnis des Vorprozesses: Die Angaben der Thirriot bewahrheiteten sich Punkt für Punkt. Die Freundin, bei der Selma in Aarau gewohnt hatte, mußte einräumen, daß diese häufig von einem jungen Mann besucht worden war; der Name des Studenten ließ sich nicht mehr ermitteln, er war im Frühling 1926 mit unbekanntem Ziel abgereist, aber nicht nur fanden sich in dem Quartier jener Freundin, in einer Kiste, die man auf dem Dachboden verstaut hatte und die allerlei Briefe und Dokumente enthielt, die der Selma Imst gehörten, einige Zettel sehr intimen, sehr verräterischen Inhalts; es lag auch bei den Akten ein anonymer Brief, geschrieben drei Tage vor der Urteilsfällung, worin der Schreiber dem Gericht mitteilte, er habe die Verstorbene aus vertrautestem Umgang gekannt, und nach allem, was er von ihr wisse, könne er die Meinung nicht verhehlen, daß sie durch Selbstmord geendet habe; der Hang hierzu sei tief in ihrem Gemüt gelegen, eine ihrer stehenden Redensarten sei gewesen, wenn sie ein gewisses Ziel nicht erreiche, werde sie sich an dem Tag umbringen, an dem sie einsehen werde, daß es keine Hoffnung mehr für sie gebe. Unbegreiflicherweise war dem Brief keinerlei Beachtung geschenkt worden; nicht einmal dem Verteidiger war er wichtig genug erschienen, sich darauf zu berufen und seinen Verfasser ausforschen zu lassen. Für Kerkhoven stand es fest, daß es dieser geheimnisvolle junge Mensch war, der die Selma Imst zum Giftgenuß verführt hatte, wahrscheinlich infolge seiner eigenen perversen Veranlagung, und durch diese wieder war es ihm gelungen, eine Person mit so übermäßig stark entwickeltem Willen in seinen Bann zu schlagen, trotz des großen Altersunterschieds und trotz ihres prüden und vorurteilsvollen Charakters.

Da die ganze Art der Enthüllungen der Thirriot ein Zurückgehen vom Ende gegen den Anfang war, also analytisch Motiv an Motiv kettend, konnten ihrer merklichen Erschöpfung wie auch der Fülle des Stoffes halber verschiedene Umstände bei dieser Sitzung nicht völlig sichergestellt werden, unter anderm der schon während des Prozesses so oft erörterte Zeitpunkt der zweiten Gifteinnahme, jener Portion, die sie in dem Papiersäckchen aufbewahrt und im Nachttisch verborgen hatte. Offenbar hatte sie diese als Reserve zurückbehalten, falls sich die zuerst eingenommene Menge als ungenügend erwies, sie zu töten. Welche Entschlossenheit, welche Raserei, welche teuflische Planmäßigkeit! Denn daß ihr Tun auf einem vorher bis ins Kleinste überlegten Plan beruhte, darüber ließ die Darstellung der Thirriot keinen Zweifel aufkommen; das allermerkwürdigste an ihrem Bericht war ja die Abneigung, ja das unverhohlene Grauen, mit welchem sie von der Selma Imst sprach, obgleich sie den eigentlichen furchtbaren Antrieb zu dem Selbstmord nur immer allgemein umschrieb, als scheue sie sich, in diesem Punkt präzis zu sein. Gerade das Verdeckte und bei aller Schonung Durchsichtige wirkte aber auf die Zuhörer mit der Wucht eines unmenschlichen Vorgangs, namentlich auf Marie; Schwester Else hatte es im Grunde schon geahnt, für sie war es nur die ausdrückliche Beglaubigung ihres Gefühls; Marie war jedoch so erschüttert und verstört, daß sie nach Beendigung der Sitzung, obwohl es schon weit nach Mitternacht war, ihren Mann bat, ihr noch eine halbe Stunde Gesellschaft zu leisten, sie könne nicht zu Bett gehen, ohne mit ihm gesprochen zu haben. Im übrigen sei erwähnt, daß die Thirriot am andern Tag eine Reihe schwerer Ohnmachtsanfälle erlitt und deshalb an eine Wiederholung des Versuchs vorläufig nicht gedacht werden konnte. Eine solche fand erst viele Wochen später im Beisein mehrerer Advokaten und Sachverständigen statt.

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»Vor allem sag mir«, begann Marie, ehe Kerkhoven noch die Tür hinter sich geschlossen hatte, »hältst du es für denkbar? Hältst du es für möglich, daß ein Mensch etwas Derartiges aussinnt? Eine Frau! Und nicht nur aussinnt, auch vollbringt ...?« – »Da du so fragst«, erwiderte Kerkhoven, zu Boden starrend, »scheinst du von der Annahme auszugehen, daß ...« Er zögerte. – »Sprich es nur aus«, rief Marie, »daß sie sich umgebracht hat, um sich an ihrem Mann und an der Mallery zu rächen.« – »Das ist allerdings möglich, es ist sogar wahrscheinlich«, gab Kerkhoven zu, »es ist nur nicht gleichbedeutend mit der Absicht, sie unter Mordanklage zu bringen.« – »Nicht? Geh doch, Joseph! Gibt es da einen Zweifel? Etwas so tückisch Ausgeklügeltes wie das mit der Schachtel ... Und wie sie alles vorbereitet hat ... wie sie den Arzt nicht kommen lassen wollte ... wie die Eintragungen im Tagebuch schon darauf berechnet sind, den Verdacht auf die beiden zu lenken ... den Mann zu belasten, seinen Charakter zu entstellen ... Und da willst du mir einreden ...« – »Du hast mich gefragt, ob es möglich ist, und es zeigt sich, daß du meine Antwort gar nicht brauchst«, entgegnete Kerkhoven mit schwachem Lächeln; »das ist unlogisch. Du begehst den gewöhnlichen Fehler, eine bewußte Tat vorauszusetzen, wo vermutlich nur eine Instinkthandlung vorliegt. Gewiß, eine solche kann viel folgerichtiger und grausamer sein als die klar überlegte, aber sie untersteht nicht derselben Verantwortlichkeit. Es sind sozusagen nur die ausführenden Faktoren da, die Befehlsgewalt aber nicht.« – »Ach was, Instinkthandlung!« widersprach Marie heftig. »Das sind Deuteleien. Der Mensch ist etwas Ganzes, er läßt sich nicht in eine anwesende und eine abwesende Hälfte zer-* teilen. Wenn mir eure Wissenschaft weismachen will, daß das Böse, das Grundböse von sich selber nichts zu wissen braucht, dann kommt sie mir wie ein Götze vor, der sich von seinen Priestern bereden läßt, die Verbrechen und die Sünden zu einem Erwerbszweig zu machen.« – »Nicht darum geht es, Marie«, sagte Kerkhoven, noch immer mit dem Lächeln des Mannes, der Geduld üben muß, weil es sein Beruf ist, geduldig zu sein, »nicht darum ...« – »Doch, doch, doch«, unterbrach ihn Marie mit leidenschaftlichem Kopf schütteln; »was ich hier sehe, ist ein solches Übermaß von Verworfenheit, etwas so scheußlich Abgefeimtes, dreh und wend es, wie du willst, daß man sich ernstlich fragt, ob es noch was zu tun hat mit unsern Begriffen von Seele und Gefühl und Liebe und so weiter. Ein Weib noch dazu! Ein Weib! Eine meines Geschlechts!« Sie kehrte sich um, drückte die Stirn gegen den Türpfosten und schluchzte hilflos. – Kerkhoven ging eine Weile schweigend auf und ab. »Die Tränen ehren dich, Marie«, sagte er dann bewegt; »wahrhaftig, ich weiß nicht, was ich dir noch sagen könnte ... außer ... daß es eben unsere Aufgabe ist, uns mit der Menschenwelt abzufinden. Und vielleicht noch etwas mehr. Sogar in einem Fall wie diesem ... zugegeben selbst, die Frau hätte das bösartige Gewebe mit Vorbedacht geknüpft ... Bedenk doch, die unsinnige Kraft, die dazu nötig war! Sie ignoriert den eigenen Tod dabei! Der ungeheure Traum: Der Mann und seine Geliebte von ihr, der Toten, bestraft, von ihr, der Toten, ins Zuchthaus geliefert! Sie wirkt noch, sie richtet noch, sie herrscht noch im Tode!« – »Jaja; nun? Nun«, murmelte Marie, »also?« – »Ich finde, es hat Größe; oder, wenn du das Wort nicht annimmst, es ist eine Erscheinung, wie ein Sturm eine Erscheinung ist. Ich wenigstens, ich stehe staunend davor. Neulich hat man mir eine tolle Geschichte erzählt. Im Hospital von Alicante in Spanien brach eine Revolte unter den Leprakranken aus. Sie überfielen die Wärter, stürmten aus dem Haus, drangen in ein Dorf in der Nähe und forderten von den Bauern, daß sie sie küssen sollten. Ich weiß nicht, warum ich gerade heute daran denken mußte. Stell dir das vor: Lepröse, die geküßt werden wollen! Und stell es dir vor: Diese Selma Imst, deren letzte Wollust es ist, zu wissen, daß sie im Tod, und nur im Tod, Vergeltung üben kann für alles, was sie gelitten!« – »Hat sie es denn gewußt? Es hätte ja auch anders kommen können.« – »Ja, siehst du, das ist das Sonderbare bei solchen Triebmenschen. Sie verrechnen sich eigentlich nie. Es ist, wie wenn sie im Einklang mit einer Macht handelten, die das Böse genauso bejaht wie das Gute.«

Marie stand da mit gesenktem Kopf und schaute ihre Finger an. Ihr war kalt am Leibe. In ihren Zügen war etwas bang Horchendes. In der Tat war ihr zumute, als höre sie eine Stimme, die ihr zurief: Wenn du noch einen Schritt weitergehst auf diesem Weg, bist du verloren. Sie sah den Abgrund. Den Abgrund des Wissens und Erkennens. Wie ihm entkommen, da doch ihr ganzes Inneres ebenso nach Wissen und Erkennen lechzte wie nach dem andern, Uniehrbaren, Unerfaßbaren?

Kerkhoven spürte, was in ihr vorging. War er doch selbst in der Schwebe. Wie nahe er daran war, die Realwelt preiszugeben und sich zum Anwalt der Marienwelt zu machen, das erfuhr er zu seiner eigenen Verwunderung schon am Tag darauf während einer Auseinandersetzung mit Martin Mordann.

64

Mordann lag im Bett. Er klagte über Atemnot und Stiche im Herzen. Die Stirnhaut glänzte feucht. Auf einem verstellbaren Tisch über der Bettdecke lagen Stöße von Büchern, Briefen und Manuskripten. Das Fenster war offen, und da er sich vor dem Luftzug fürchtete, hatte er eine graue Sportmütze auf dem Kopf. Am oberen Glied des Daumens der linken Hand trug er einen riesigen alten Siegelring, wie ein Bischof. Alle diese Sonderbarkeiten hatten etwas Paradoxes und Herausforderndes. Seine Bewegungen waren fahrig und erinnerten an die einer launenhaften, kränklichen Frau. Denn bei ihm verschanzte sich die wirkliche Krankheit hinter einer zur Schau getragenen Kränklichkeit.

»Na, ich habe gehört, Sie haben sich gestern abend okkultistisch betätigt«, empfing er Kerkhoven mit einem stillen Feixen; »man kann meiner Tochter nicht nachsagen, daß sie eine Adeptin ist, aber was sie erzählt, klingt recht doli. Ich sagte ihr, du hast 'n Frost im Kopp, liebes Kind; hast dich hereinlegen lassen. Also, ich lache mich schief.« – »Freut mich, daß ich Ihnen Grund zur Heiterkeit gebe, Herr Mordann«, antwortete Kerkhoven; »leider war die Sache selbst nicht gerade vergnüglich.« – »Weiß es, weiß es«, winkte Mordann ab, »Sie wollen der Tigerin Justitia eine Beute aus den Klauen reißen. Wird Ihnen nicht gelingen. So nicht. In dieser Schule hab' ich auch mein Lehrgeld bezahlt. Die Jean Galas und die Dreyfuß sind ja heutzutage keine Seltenheiten mehr, man kann sich kaum mehr was drauf einbilden, wenn man sich zu ihren Voltaires und Zolas macht. Ist zu billig geworden. Aber mit der Geisterbeschwörung habe ich's nie versucht. Ganz originell. Mal was anderes als die blöde gesunde Vernunft.« – »Ja; mit der gesunden Vernunft ist man eben auf keinen grünen Zweig gekommen«, bemerkte Kerkhoven lächelnd. – Mordann musterte ihn scharf hinter verkniffenen Lidern. »Unter uns, Professor, halten Sie ernstlich was von dem Humbug? Hand aufs Herz ...« – Kerkhoven setzte sich an den Bettrand und befühlte den Puls des Patienten. »Hm ... Humbug ...«, sagte er; »Sie meinen damit gewisse unbekannte Bluts- und Seelenkräfte? Ich will Ihnen zugeben, daß man gegen den Strom schwimmt, wenn man ... wenn man sie einzubeziehen sucht.« – »Na sehen Sie. Jedes Gericht wird Ihnen was blasen. Es kommt mir vor, wie wenn einer mit dem Kindersäbel in den Schützengraben geht.« – »Immerhin gibt es bereits so etwas wie eine Kriminaltelepathie«, versetzte Kerkhoven, »nur offiziell wird sie noch nicht gehandhabt.« – »Gehandhabt ist gut«, kicherte Mordann, »ist sogar sehr gut. Sie glauben also tatsächlich, daß ein übergeschnapptes, dummes altes Weib, gestützt auf sogenannte hellseherische Gaben, daß sie ... na, sagen wir mal beispielsweise, daß sie imstande wäre, Ihnen zu verraten, was ich am sechzehnten Mai achtzehnhundertdreiundneunzig, ein historisches Datum, Verehrter, was ich an diesem sechzehnten Mai mit dem Fürsten Bismarck gesprochen habe. Es gab keine Zeugen bei diesem geheimen Gespräch. Kein Mensch auf Erden weiß eine Sterbenssilbe davon. Ich habe es nur für mich notiert. Und Sie glauben, die erstbeste Gauklerin und Psychopathin könnte ...« Er hatte sich aus den Kissen aufgerichtet und starrte Kerkhoven mit höhnischem Triumph ins Gesicht. – »Ich glaube es nicht nur, ich halte es sogar für äußerst wahrscheinlich«, versetzte Kerkhoven; »es hängt von bestimmten Einflüssen ab, bestimmten Konzentrationsmöglichkeiten ...« – »Das ist barer Quatsch, Herr ... man muß sich an den Kopf greifen ...« – »Es ist nützlich, wenn man sich manchmal an den Kopf greift. Sie können kein Urteil haben, weil Ihnen die einschlägige Erfahrung fehlt.« – »So entschlüpfen Sie mir nicht«, krähte Mordann erbost, »die Tricks kenn' ich. Eure Erfahrung! Wer die Augen offenhält und sich keinen blauen Dunst vormachen läßt, wird aus der Gemeinde der Gläubigen ausgeschlossen und kommt in den Kirchenbann. Damit führen uns seit jeher die Pfaffen aller Fakultäten an der Nase herum. Worauf läuft's denn hinaus? Ich soll eine gesicherte geistige Position aufgeben und einen metaphysischen Luftkurort beziehen, wo mir dermaßen schwindlig wird, daß ich zu allem Hokuspokus Ja und Amen sage. Probates Mittel, den Verstand zu diskreditieren und die Welt auf den Hund zu bringen, auf dem sie ohnehin bereits angelangt ist. Zum frommen Schluß heißt es dann wohl: Wie hältst du's mit der Religion? Oder irr' ich mich darin?« – »Es könnte sein, daß es sich auf diese Frage zuspitzt. Ich stelle sie nicht. Es hat mit der Religion zunächst nichts zu schaffen.« – »Sondern?« – »Mit Gehorsam. Einer Form des Gehorsams. Mit Selbstgehorsam.« – »Versteh' ich nicht.« – »Führt auch zu weit, Herr Mordann.« – »Na, hören Sie, Männeken, mich können Sie so weit führen, wie Sie wollen, fragt sich nur, ob Ihnen nicht die Puste ausgeht.« – »Nein. Wir stehen in verschiedenen Zeitaltern und sprechen in verschiedenen Sprachen zueinander.« – »Ist mir neu. Bisher war mir nichts Menschliches fremd.« – »Aber alles Göttliche.« – Mordann stutzte. »Was sagen Sie da? Donnerwetter noch mal ...« Seine vorquellenden Augen irrten wie erschreckt im Zimmer herum. Plötzlich kreischte er belustigt auf. »Vorzüglich, Geschätztester. Jetzt hab' ich Sie erwischt! Ich höre ordentlich, wie sich der heilige Darwin und der heilige Häckel im Grab umdrehen. Hochmoderne Nebelfabrikation der mystisch erleuchteten Wissenschaftler, die auf das Göttliche schlagen und ihre Zauberkunststückchen meinen ...« Er lachte kollernd hinter seinem Handrücken. Mit einemmal ging das Gelächter in einen krampfartigen Husten über, der sich von Sekunde zu Sekunde verstärkte und den ganzen Körper durchschüttelte. Die Arme bewegten sich flatternd, der Kopf wackelte hilflos auf dem fetten Hals, das Gesicht bekam eine zyanotische Färbung, die Schläfenadern schwollen an wie Stricke.

Kerkhoven läutete Sturm nach der Schwester. »Kampferspritze!« rief er ihr zu, als sie hereinstürzte. Indessen schien es, als wolle der harte, trockene Husten die Brust des Mannes zerreißen. Es war ein Geräusch zwischen Bellen und Röcheln, es keuchte wie aus einem Blasebalg, knarrte wie verrostete Wagenräder, es hatte etwas so Schauerliches wie lautgewordener Todeskampf und drang bis in die entferntesten Räume des Hauses. Kerkhoven packte den verzweifelt sich Windenden und Umsichschlagenden bei den Armen und hielt sie unter größter Kraftanstrengung in die Höhe. »Großer Gott, er stirbt!« sagte eine rauhe Stimme neben ihm. Es war Agnes Mordann. Halb angekleidet und in Strümpfen stand sie vor dem Bett, eine brennende Zigarette zwischen den Fingern der erhobenen Linken. »Werfen Sie die Zigarette weg!« herrschte Kerkhoven sie an. – »Jaja«, hauchte sie bestürzt und warf den Stummel zum Fenster hinaus. Als die Schwester mit der Spritze eintrat, hörte der Husten so jäh auf, wie er begonnen hatte. Der Mann lag still da, mit geschlossenen Augen und geballten Fäusten, unregelmäßig atmend. Agnes beugte sich zu ihm nieder. »Wünschst du etwas, Vater?« hauchte sie. Dann, zu Kerkhoven gewendet, kaum vernehmlich, so daß er die Worte nur von ihren Lippen ablas: »Ist noch Hoffnung?« – Er machte eine warnende Geste und trat in die Mitte des Zimmers. Sie folgte ihm mit dem beharrlich fragenden Blick. »Für den Augenblick besteht durchaus keine Gefahr«, sagte er. – »Können Sie ihn denn retten«, forschte sie mit finsterer Miene, »liegt es in Ihrer Macht? Oder haben Sie ihn schon zum Tod verurteilt?« – Kerkhoven sah sie mit zusammengezogenen Brauen an. Er verbarg seine Betroffenheit. – »Es ist Ihnen doch klar, was für ein Mann mit ihm stirbt?« fragte sie fast drohend. – »Ja, es ist mir klar.« – »Aber das eine können Sie schwerlich wissen: daß ich entschlossen bin, ihn nicht zu überleben.« Sie lachte kurz und scharf auf, es klang dem Lachen des Vaters zum Verwechseln ähnlich, und kehrte sich schroff zur Tür. Ihre großen Füße in den braunen Strümpfen wirkten seltsam abstoßend.

65

Das alles war sehr ungewöhnlich, sehr unheimlich, fast wie ein eingespielter Vorgang mit blendendscharf herausgehobenen Einzelheiten, die sich dann kurze Zeit überdunkelten, denn während des gemeinsamen Abendessens hatte Kerkhoven einen familiären Streit mit Marie, weil er seinem Sohn Johann erlaubt hatte, die Schule zu schwänzen. Ohne besonderen Grund; der Bub hatte ihn einfach so lange bestürmt, bis er schwachmütig nachgegeben hatte. »Und weißt du, wozu er den Nachmittag gebraucht hat?« fragte Marie böse. »Bei der eingestürzten Gartenmauer hat er sich mit seinen Gesponsen zu schaffen gemacht, und dir hat er vorgelogen, er hätte Kopfweh. Wenn du fortfährst, ihm auf solche Schwindeleien hereinzufallen, werden wir wenig Freude an ihm erleben. Überhaupt deine Erziehungsmethoden, großer Joseph Kerkhoven. Daß Gott erbarm! In dem Punkt bist du wahrhaftig mit Blindheit geschlagen.« Kerkhoven sah schuldbewußt drein. Nur bei der Erwähnung der Gartenmauer hatte er ein wenig gelächelt. In der vorvorigen Nacht war ein etwa zwölf Meter langes Stück der Mauer mit großem Lärm zusammengebrochen. Am nächsten Abend hatte Marie in der Zeitung gelesen, daß in Japan um diese Stunde ein Erdbeben gewesen sei. Kurz zuvor hatte sie mit dem Baumeister über die Wiederaufrichtung der Mauer gesprochen und war über den Kostenvoranschlag entsetzt gewesen. Als sie dann die Zeitung aus der Hand gelegt, hatte sie sich mit der unmutigen Bemerkung an ihren Mann gewandt: »Na, dieses Erdbeben wird uns mindestens tausend Mark kosten.« Er hatte laut herausgelacht. »Du bist also fest überzeugt, daß zwischen dem japanischen Erdbeben und unserm Mauerschaden ein Kausalnexus besteht?« fragte er. Ja, sie war fest überzeugt. Sie wollte es sogar gespürt haben. Es war halb drei Uhr nachts gewesen, und sie war mit einem Bangigkeitsgefühl aufgewacht; plötzlich hatte sie draußen die Steine poltern hören. Es mag sein, sagte sich Kerkhoven nachher, Frauen haben in diesen Dingen eine ganz andere Art der Sensibilität, und Marie besonders. Aber daß jetzt Erdbeben und eingestürzte Mauer in Verbindung mit einem pädagogischen Mißgriff auftraten, den er begangen, ergötzte ihn so sehr, daß er sich nicht enthalten konnte, Marie damit zu necken. Sie nahm es übel. Sie fand, er drücke sich um seine väterlichen Aufgaben. Ihr falle immer das Verbieten zu, er mache sich die Sache bequem durch gedankenloses Gewähren. So werde in den Kindern das Gefühl erweckt, als sei die Mutter die unerbittliche Straferin und Tadlerin, der Vater aber der, dem man alles abschmeicheln und ablisten könne. »Siehst du das nicht ein, Joseph? Begreifst du nicht, daß das auf die Dauer eine unhaltbare Stellung ergibt? Du, der du so weise bist in allen Weltverhältnissen, so unbeirrbar in deinem Urteil über Menschen, versagst den eigenen Kindern gegenüber so kläglich, daß ich das größte Unheil voraussehe.« – »Du übertreibst, Marie, wirklich, darin übertreibst du maßlos.« – »Nein, Joseph, ich übertreibe nicht. Daß du das glaubst, ist ja, verzeih, ein Teil meiner Sorge. Es stimmt so wenig mit allem andern in dir überein. Die Liebe, die man sich auf solche Weise erkauft, ist zu teuer bezahlt, sie wird einmal zur Schuld.«

Er sah es ein; er begriff es. Sie hatte ja einen so leuchtenden Verstand, das Sonderbare war nur, daß er sich als Mann, als in seinem Stolz und seiner Überlegenheit beleidigtes Mannsbild, immer ein wenig zur Wehr setzte gegen ihre unerbittlichen Schlußfolgerungen. Er machte dann den Eindruck eines überführten Diebes, der sich sittlich entrüstet, wenn man die gestohlenen Gegenstände in seinen Taschen findet. Was nicht hinderte, daß er jedesmal, so auch jetzt, den Vorsatz faßte, sich zu bessern. Aber auch dieser Vorsatz war eine Schwäche. Er mußte wissen, daß man gegen den eigenen Charakter machtlos ist, so machtlos wie gegen ein Naturgesetz. War doch auch Marie machdos gegen ihre Überzeugung, das Erdbeben in Japan habe den Einsturz der Gartenmauer verursacht. Unsere Einbildungen und unsere Selbstgewißheiten verhalten sich zur Wirklichkeit wie Legenden zu den historischen Tatsachen.

Der Kuß, mit dem er sich von Marie verabschiedete, enthielt Reue und Beteuerung. Sie verstimmt und unversöhnt zurückzulassen bereitete ihm ein Gefühl, wie wenn er in einem Gasthaus die Rechnung nicht beglichen hätte. Und es drängte ihn von ihr weg. Sie mußte ja gemerkt haben, daß er bei dem Gespräch nur zur Hälfte gegenwärtig gewesen. Das Problem Martin Mordann hielt ihn um und um besetzt. Das fette, boshafte, geistreiche Gesicht wich nicht von seinem innern Auge, dieses Gesicht eines rebellischen alten Haudegens, den man in den Ruhestand versetzt hat. Und der fürchterliche Hustenanfall blieb ihm fortwährend im Ohr wie das Gebelfer eines Dämons; und das wachsbleiche Gesicht der Tochter, die in hassender Anbetung an den Vater fixiert und zweifellos ihm nachzusterben gewillt war, wie wenn sie nichts so sehr fürchtete wie die Erlösung von seiner vernichtenden Nähe. Ja, es war durch und durch unheimlich, das alles. Nie war ein Arzt so fehl am Ort, war Kerkhovens Gedanke, während er, die Hand an der Stirn, in seinem saalartigen Arbeitsraum unablässig auf und ab marschierte; nie war ein Tod so notwendig und gerecht; nie ein Schicksal so zu seinem logischen Ende gediehen. Aber was heißt das: einen Menschen bewußt sterben lassen? Heißt es nicht wirklich, ihn zum Tod verurteilen, wie diese Agnes rätselhaft scharf gesagt hatte? In der Theorie hatte man gut verfügen: Der kranke Mensch kann nicht gerettet werden, wenn er sich nicht selber rettet; wenn er nicht, hineingestellt in sein Geschick, die Verantwortungen übernimmt, die der Heiler dem todsüchtigen und todesreifen Körper allein niemals vermitteln kann. Schon recht; aber der Arzt hat gegen den Tod anzutreten, er darf sich nicht mit dem Tod verbünden. Es gibt kein Recht des Arztes auf Leben und Tod, die unendliche Seele entzieht sich dem menschlichen Gericht, und wäre Siechtum auch ein Laster und Krankheit die Folge von Wahn und Verbrechen, wer sich zum Henker aufwirft, wo noch eine einzige Zelle zur Erneuerung strebt, der vergreift sich an der Welthorme. Seltsam, daß ihm dieser geheimnisvoll klare und umfassende Begriff, den der große Forscher und Freund in Zürich geformt hatte, plötzlich so tönend ins Bewußtsein trat. Welthorme: Gott- Leib, Gott-Hirn, Gott-Substanz, und im ergänzenden Gegensatz dazu das unbekannte Treibende im Innern des Menschen, jenes Etwas, das wie ein pochendes Geisterherz ist, Träger des »vitalen Programms« nach den Worten des wunderbaren Mannes, die Syneidesis, das unbetrügbare, ursprüngliche, unzerstörbare Gewissen des Plasmas und des Zellenstaates.

Es war schon elf Uhr, als er zu Mordann ging, um seiner Pflicht zu genügen und sich über den Zustand des Kranken zu vergewissern. Die elektrische Lampe auf dem Tisch war mit einem dicken grünen Tuch verdeckt. Am Bett saß Agnes in angestrengt steifer Haltung und mit starroffenen Augen. Sie nahm von der Anwesenheit Kerkhovens keine Notiz, bewegte nicht einmal die Pupillen. Er trat dicht an das Bett, beugte sich zur Brust des anscheinend tief Schlafenden nieder und horchte die Atemzüge ab. Auf dem Nachttisch lag ein Zettel mit der Fieberkurve. Die letzte Eintragung von der Hand Schwester Elses war 38,6. Kerkhoven richtete sich auf. Sein zugleich verträumter und durchdringender Blick haftete minutenlang unbeweglich auf Mordanns Gesicht.

Da lag er nun, der Mann des Zettelkastens. Der Aufrührer, der Furchterwecker, der ruhlose Schreiber, der Beherrscher des Worts. Da lag er, sterbender Tribun. Und der verträumt-durchdringende Blick Kerkhovens bohrte sich ins Innere des Schädels, in die illuminierte und arbeitsame Nacht des Gehirns. Er sah die Windungen, die gleich Maschinenbändern bebenden gelbgrauen Stränge, die teigigen Geflechte, die membranhaft zuckenden Häute und Häutchen, die verborgenen Schaltungen und in zarte Kanäle eingebetteten Flüssigkeiten. Er sah die Gedanken von Station zu Station eilen, signalgebend, von Todesahnungen bedrängt; er sah die Bilder aufsteigen und versinken, die sechzig Jahre Leben in ein Fieberpanorama verwandelten; er sah die Angst, die einer bleichen Nebelmasse glich, die ehrgeizigen Träume, die wie Kügelchen rannen, den Wahn, der wie dicker schwarzer Saft um die feinsten Fleischfasern quirlte: ein Reich, ein ungeheures, unvergleichlich organisiertes Reich. Und wo waren da Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, Recht und Unrecht, zu Hassendes und zu Liebendes? Wo das Maß dafür, wo die gültige Formel, wo der Anhalt für Nutzen oder Unnutzen? Es konnte in diesem Augenblick sein, es konnte morgen oder in drei Tagen sein: Eine Hundertstelsekunde, und ewige Ruhe herrschte in diesem engummauerten Kosmos, der die Unendlichkeit enthielt; die Illumination war aus, der sogenannte Tod, unfaßlich wie das sogenannte Leben, überdeckte alles mit Finsternis.

Es geschieht, ob ich es will oder nicht, ging es Kerkhoven durch den Sinn; ob ich es zu hindern trachte oder nicht; vielleicht hätte ich das Ende hinauszögern können; vielleicht habe ich es unbewußt unterlassen; aber da ist die Grenze der Natur, da erhebt sich die Forderung, dem eigenen Instinkt zu vertrauen und sich in Harmonie mit einem zuinnerst gewußten Daseinsgesetz zu bringen. Und er erinnerte sich, wie er einst dem todgeweihten und nach dem Tod verlangenden Irlen die tödliche Giftdosis gegeben: Mörder aus Erbarmen und Liebe. Damals, in seiner ersten Existenz, war es der Freund gewesen, der einzige, den er je besessen. Auch dieser Körper war ihm, bei einem unvergeßlichen Anlaß, zur Organvision geworden. Heute stand er mit verschränkten Armen, dem Tod den Weg freigebend, am Sterbebett des Feindes. Nicht seines Feindes; des Art- und Blutfeindes, des Gottesfeindes ...

Still, fast unhörbar schlich er aus dem Zimmer. Agnes hatte sich während der ganzen Zeit nicht gerührt.

66

Am Morgen berichtete ihm Schwester Else zu seiner Verwunderung, Agnes Mordann sei nach Basel gefahren, offenbar im Auftrag ihres Vaters. Der Kranke schien sich merkwürdigerweise von dem gestrigen Anfall erholt zu haben. Er war auffallend agil, hatte sogar der Tochter schon vor dem Frühstück einen langen Brief diktiert. Gegen Mittag kam Agnes zurück, und kurz darauf trat die Wys-Wiggers bei Kerkhoven ein und sagte: »Herr Mordann wünscht Sie zu sprechen«; zögernd fügte sie hinzu: »Was da los sein mag; die zwei streiten miteinander wie die Teufel.« Kerkhoven ging eilends hinunter. Aber als er einen Augenblick vor der Tür von Mordanns Zimmer lauschte, vernahm er keinen Laut. Er klopfte, und da niemand antwortete, trat er ein. Agnes lehnte in feindseliger Haltung am Tisch, die Arme nach rückwärts gegen die Platte gestemmt. Mordann lag finster starrend; seine auf der Bettdecke ruhenden Hände umfaßten ein mit einem blauen Band umschnürtes Briefpaket. Er schien zu frieren; trotz des warmen Märztages waren die Fenster zu, und in dem breiten weißen Kachelofen prasselte ein frisches Feuer. Bisweilen zuckte er nervös zusammen; er konnte das Geprassel des brennenden Holzes nicht ausstehen; wenn es noch Kohlen gewesen wären. Aber Kerkhoven war, aus hygienischen Erwägungen, nicht nur gegen mechanische Heizanlagen, sondern ließ auch im ganzen Haus ausschließlich mit Buchenscheiten heizen. Darüber hatte sich Mordann täglich erbost; jeder Ofen war ihm ein vorsintflutliches Monstrum, und in seiner barocken Launenhaftigkeit zog er manchmal statt der Ofenwärme vor, im kalten Zimmer zu liegen.

Daß ein Wortwechsel stattgefunden hatte, spürte man in der Luft. Als Kerkhoven Agnes fragend anblickte, zuckte sie wortlos die Achseln. »Sie soll gehen«, knurrte Mordann. – »Ich muß wissen, was du tust, ich muß wissen, was hier vorgeht«, brauste Agnes auf, »ich werde mich nicht einmischen, ich werde kein Wort reden, aber ich muß dabeisein.« Erregt ging sie zu dem nischenartig ausgebauten Mittelfenster, warf sich in einen Strohsessel und zerrte aus einem Stoß Zeitungen, der auf dem Sims lag, eine heraus, um sie geräuschvoll auseinanderzufalten. Mordann sagte bissig: »Da haben Sie's, Professor. Dazu hat man Kinder.« – »Du hast keine Kinder, Gott sei Dank, du hast nur ein Kind«, kam die Antwort, die wie ein schriller Pfiff klang. – »Stimmt, stimmt, hat was für sich«, gab Mordann asthmatisch kichernd zurück.

Eine Weile herrschte Schweigen. Und aus dem Schweigen heraus fragte Mordann mit dürrer Stimme: »Wieviel Zeit geben Sie mir noch zu leben, Professor? Ich wünsche einen aufrichtigen, unverklausulierten Bescheid. Ich muß die Wahrheit wissen.« – Aus der Fensternische kam ein kurzes gequältes Auflachen. – »Nur ein Ignorant und Scharlatan hätten den Mut, Ihnen darauf präzis zu antworten«, sagte Kerkhoven; »ich bin weder das eine noch das andere.« – »Gut gebrüllt, Löwe. Aber das macht mir keinen Eindruck. Es ist die gewöhnliche standesgemäße Ausflucht. Feigheit, jawohl. Raffen Sie sich auf. Handeln Sie wie ein ehrlicher Mann.« – »Sie überschätzen meine Fähigkeiten.« – Mordann richtete sich mühselig aus den Kissen empor. Seine Augen flackerten in wilder, dringlicher Bitte. »Hören Sie zu, Mann«, knarrte seine Stimme in jammervoller Luftnot, »ich brauche notwendig noch sechs Wochen. Bieten Sie alle Mittel Ihrer Wissenschaft auf, Gifte, Zaubertränke, Zaubersprüche, was immer Sie wollen, aber die sechs Wochen muß ich haben.« – Kerkhoven verdrehte in seiner komischen Weise, wie ein Vogel, den Hals. »Ist es vorwitzig, wenn ich mich erkundige, zu welchem Zweck?« fragte er ohne tiefere Neugier. – »Können Sie getrost erfahren. Bevor ich ins Gras beiße, müssen die Lügen und Verleumdungen widerlegt werden, die über mich in der Welt umlaufen. Über und über bedeckt mit schweinischem Unrat, Herr ... so kann man nicht sterben. Ich muß der Bande die Mäuler stopfen, die nicht davor zurückschrecken wird, noch mein Grab zu bespeien. Ich bin es mir schuldig, bin es meiner Vergangenheit schuldig. Mit einem Wort, es handelt sich darum, die Geschichte der letzten zwanzig Jahre meines Lebens zu Papier zu bringen.« – »Ich verstehe. Aber warum wollen Sie, selbst wenn ich die Möglichkeit eines baldigen Todes zur Diskussion stelle, was zu tun ich mich weigere, warum wollen Sie sich die Frist, die Sie noch haben, mit unfruchtbaren Auseinandersetzungen vergällen, mit überflüssiger Rechtfertigung, mit Groll und Haß und Anklage? Suchen Sie doch lieber den Frieden in Ihrem Innern.« – »Gottverfluchtes Gesabber, Mann! Ihr habt ja alle den Verstand verloren! Die dort redet mir auch zu, ich soll mich nicht auf posthumes Prozeßführen einlassen, soll mich schonen, was ich erstritten und vollbracht, wird für sich selber zeugen. Widerlicher Kohl. Habt Ihr 'ne Ahnung? Kapiert Ihr denn nicht, daß ich auf der Welt nichts besitze als meinen Namen, nichts hinterlasse als mein fleckenloses Schild? Wenn sie sich an meinem Namen vergreifen, die Hunde, wie sie sich an meiner Person vergriffen haben, dann mögen sie vor der Hand zittern, die sich aus meinem Sarg nach ihnen streckt.«

Diese gellenden Worte, ein Aufschrei fast, hatten etwas Erschütterndes für Kerkhoven. Sie enthüllten ihm, neben allen Anzeichen der Manie des Verfolgtseins, eine Form des Wahns, die er noch nicht kannte. Den Wahn des Tribuns; den Wahn von papierener Unsterblichkeit; den Wahn von der Dauer des gedruckten Worts, von der Dauer des bloßen Namens, als stünde dahinter wirkliches Werk und wirkliche Tat und nicht leerer Schall, nicht eitler Machtrausch, nicht ein Zettelkasten mit achtzehntausend Nummern. Denkwürdige Erfahrung. Denkwürdige Zeit, die ein solches Menschengebilde hervorgebracht hatte.

»Sie sehen, was auf dem Spiel steht«, fing Mordann wieder an; »wenn Sie mir helfen, dann will ich ... ich hab' mir das mit den Briefen überlegt ... dann will ich Ihnen die Brederodeschen Briefe ausliefern. Martin Mordann läßt sich nichts schenken. Sichern Sie mir noch sechs Wochen Leben zu, noch fünf, und Sie können die Briefe haben. Agnes hat sie aus Basel geholt. Hier sind sie.« Er hielt Kerkhoven das Paket in der ausgestreckten Hand mit einem grausig verführerischen Lächeln wie eine Lockspeise hin. In diesem Augenblick erhob sich Agnes, schleuderte die Zeitung zu Boden und verließ in erbittertem stummem Protest das Zimmer. Kerkhoven setzte sich an das Bett und legte seine Hand auf Mordanns Schulter, als müsse er einen Delirierenden beruhigen. »Nehmen Sie Vernunft an, Herr Mordann«, sagte er mit einem Ton von Güte, den er sich bis dahin gegen diesen Mann nicht hatte abringen können; »wie ist es möglich, daß ein Geist wie der Ihre einem derartigen Aberglauben verfällt? Ich kann Ihrem Leben nicht eine einzige Minute hinzufügen. Nur Sie selber vermögen das. Wie und wodurch? Ich habe es Ihnen schon einmal angedeutet.« – Mordanns Züge verzerrten sich zu einem Ausdruck der Raserei und Verzweiflung. »Kommen Sie mir am Ende wieder mit dem ... mit dem Göttlichen«, lallte er mit schwerer Zunge, »mit dem – wie sagten Sie? – mit dem Gehorsam? Mit all dem schwachsinnigen, obskurantischen Zeugs da ... Scheren Sie sich zum Teufel, Mann ... Ich will Sie nicht mehr sehen ... Ich kündige Ihnen das Quartier ... Schicken Sie mir Ihre Rechnung ...« Es würgte ihn in der Kehle, die Worte waren zur Hälfte unverständlich; als Kerkhoven sich mitleidig-widerstrebend erhob, warf er die Decke ab, sprang aus dem Bett, lief, die umschnürten Briefe in der Hand, auf abstoßend behaarten und abgemagerten Beinen zum Ofen, und ehe Kerkhoven es verhindern konnte, hatte er das Eisentürchen aufgerissen und das Paket ins Feuer geworfen. Danach brach er zusammen und war nur noch ein von einem lächerlich karierten Hemd bedeckter Haufen Fleisch.

Doch der Tod trat erst achtundvierzig Stunden später ein. Und am dritten Tag schon meldeten alle Zeitungen Europas mit sensationeller Schlagzeile das Ableben des berühmten Publizisten Martin Mordann, des letzten großen Kämpfers für Freiheit und Demokratie.


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