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Die Geschichtschreiber des Königreichs Dijarbekir erzählen von einem sehr reichen und mächtigen König, der einst in der Stadt Harran herrschte. Er liebte seine Untertanen sehr und wurde auch von ihnen geliebt. Er hatte tausend Tugenden, und es fehlte ihm nichts zum vollkommenen Glück, als ein Erbe. Obschon er die schönsten Frauen von der Welt in seinem Serail hatte, so konnte er doch keine Kinder erhalten. Da er unaufhörlich den Himmel um diese Gnade bat, so erschien ihm eines Nachts, während er die Süßigkeit des Schlafes kostete, ein freundlicher Mann oder vielmehr ein Heiliger und sprach zu ihm: »Deine Gebete sind erhört, du erhältst, wonach du dich sehntest. Sobald du erwachst, stehe auf, verrichte dein Gebet und mach zwei Kniebeugungen, sodann gehe in den Garten deines Palasts, rufe deinen Gärtner und laß dir von ihm einen Granatapfel geben; von diesem iß so viele Kerne, als dir behagt, und deine Wünsche werden in Erfüllung gehen.«
Als der König erwachte, erinnerte er sich dieses Traumes und dankte dem Himmel dafür. Er stand auf, verrichtete sein Gebet und machte zwei Kniebeugungen, hierauf ging er in den Garten, zählte fünfzig Kerne von einem Granatapfel genau ab und aß sie. Er hatte fünfzig Frauen, die sein Bett teilten, und alle wurden schwanger. Nur eine war darunter, Namens Piruza, deren Schwangerschaft nicht sichtbar wurde. Er hatte deswegen einen solchen Abscheu vor ihr, daß er sie töten lassen wollte. »Ihre Unfruchtbarkeit«, sagte er, »ist ein sicheres Zeichen, daß der Himmel Piruza nicht würdig findet, Mutter eines Prinzen zu werden. Ich muß die Welt von diesem Wesen reinigen, welches dem Herrn verhaßt ist.« Schon hatte er diesen grausamen Entschluß gefaßt, als sein Vezier ihm vorstellte, nicht alle Frauen seien vom gleichen Schlage, und Piruza könne wohl schwanger sein, wenn ihre Schwangerschaft sich auch noch nicht so deutlich zeige. »Nun gut«, versetzte der König, »so mag sie leben, aber sie soll sogleich meinen Hof verlassen, denn ich kann sie hier nicht länger dulden.« – »Großer König«, entgegnete der Vezier, »schicke sie dem Prinzen Samer, deinem Vetter.« Dem König gefiel dieser Rat, und er schickte Piruza nach Samarien mit einem Brief an seinen Vetter, worin er ihn bat, sie gut zu behandeln, und im Falle sie schwanger sei, ihm von ihrer Niederkunft Nachricht zu geben.
Piruza war noch nicht in diesem Land angelangt, als man deutlich sah, daß sie sich in gesegneten Umständen befand, und am Ende gebar sie einen Prinzen, schöner als der Tag. Der Fürst von Samarien schrieb sogleich an den König von Harran, meldete ihm die glückliche Geburt dieses Sohnes und wünschte ihm Glück dazu. Der König hatte große Freude darüber und schrieb dem Prinzen Samer folgendermaßen: »Lieber Vetter, alle meine anderen Frauen haben gleichfalls Prinzen geboren, so daß wir hier jetzt eine Menge Kinder haben. Ich ersuche dich deshalb, den Sohn der Piruza aufzuziehen, ihm den Namen ChodadadChodadad ist persisch und zusammengesetzt aus Choda, Gott, und daden, geben, entsprechend dem französischen Namen Dieudonne, dem griechischen Theodor, umgekehrt Dorotheus. zu geben und ihn mir zu schicken, wenn ich ihn von dir fordere.«
Der Fürst von Samarien versäumte nichts, um seinem Neffen eine gute Erziehung zu geben. Er ließ ihm Unterricht im Reiten, im Bogenschießen und allen anderen Sachen, die sich für Königssöhne ziemen, erteilen, so daß Chodadad in seinem achtzehnten Jahr für ein wahres Wunder gelten konnte. Dieser junge Prinz besaß einen seiner Geburt würdigen Mut und sagte eines Tages zu seiner Mutter: »Ich fange an, mich in Samarien zu langweilen. Ich fühle Begierde nach Ruhm in mir, deswegen erlaube, daß ich ausziehe und Gelegenheit aufsuche, ihn in den Gefahren des Kriegs zu erwerben. Der König von Harran, mein Vater, hat Feinde. Einige seiner Nachbarn beabsichtigen, seine Ruhe zu stören. Warum ruft er mich nicht zu Hilfe? Warum läßt er mich solange Kind sein? Sollte ich mich nicht bereits an seinem Hof gezeigt haben? Soll ich hier mein Leben im Müßiggang verbringen, während alle meine Brüder das Glück haben, an seiner Seite zu fechten?« – »Mein Sohn«, antwortete Piruza, »ich sehne mich ebenso sehr wie du, deinen Namen berühmt zu sehen. Ich wollte, du hättest dich bereits gegen die Feinde deines Vaters ausgezeichnet; aber du mußt warten, bis er dich aufforderte – »Nein, liebe Mutter«, antwortete Chodadad, »ich habe nur zu lange schon gewartet. Ich sterbe vor Verlangen, den König zu sehen und habe große Lust, hinzuziehen und ihm als junger Unbekannter meine Dienste anzubieten. Er wird sie ohne Zweifel annehmen, und ich werde mich ihm nicht eher zu erkennen geben, als bis ich tausend ruhmvolle Taten vollbracht habe. Ich will seine Achtung verdienen, ehe er mich anerkennt.« Piruza billigte diesen hochherzigen Entschluß, und um von dem Fürsten Samer keinen Widerspruch zu erfahren, sagte ihm Chodadad kein Wort davon, sondern verließ eines Tags Samarien unter dem Vorgeben, er wolle auf die Jagd reiten.
Er ritt ein weißes Pferd mit goldenem Zügel und Hufbeschlag; Sattel und Schabracke waren von blauem Atlas und ganz mit Perlen besät. Der Griff seines Säbels bestand aus einem einzigen Diamant, die Scheide war von Sandelholz und ganz mit Smaragden und Rubinen besetzt. Über seine Schulter hing ein Köcher und ein Bogen. In diesem Aufzug, welcher seine schöne Gestalt ins glänzendste Licht treten ließ, kam er in der Stadt Harran an. Er fand bald Mittel und Wege, sich dem König vorstellen zu lassen, auf den seine Schönheit und sein stattlicher Wuchs den angenehmsten Eindruck machte. Vielleicht war es aber auch die Macht des Blutes, was sein Herz so zu dem Jüngling hinzog; kurz, er empfing ihn aufs huldreichste und fragte ihn nach seinem Namen und Stand. »Großer König«, antwortete Chodadad, »ich bin der Sohn eines Emirs von Kahirah, Wanderlust hat mich aus meinem Vaterland getrieben, und da ich auf meiner Reise durch deine Staaten erfuhr, daß du mit einigen deiner Nachbarn in Fehde liegst, so bin ich an deinen Hof gekommen, um dir meinen Arm anzubieten.« Der König war ungemein gnädig gegen den Jüngling und gab ihm eine Anstellung in seinem Heer.
Der junge Prinz säumte nicht, seine Tapferkeit an den Tag zu legen. Er erwarb sich die Achtung der Offiziere und die Bewunderung der Soldaten, und da er ebenso viel Geist als Mut besaß, so gewann ihn der König so lieb, daß er ihn bald zu seinem Günstling machte. Die Minister und anderen Höflinge besuchten Chodadad tagtäglich und bewarben sich aufs angelegentlichste um seine Freundschaft, während sie die übrigen Söhne des Königs vernachlässigten. Die jungen Prinzen konnten dies nicht ohne Ärger geschehen lassen, und ihr Herz entbrannte von heftigem Haß gegen den Fremdling. Der König aber fühlte von Tag zu Tag mehr Liebe gegen ihn und gab ihm fortwährend neue Beweise seiner Zuneigung. Er wollte ihn stets um seine Person haben; er bewunderte seine geistvollen und weisen Reden, und um jedermann zu zeigen, wie hoch er seine Weisheit und Klugheit achte, vertraute er ihm die Aufsicht über die anderen Prinzen an, obschon er mit ihnen in gleichem Alter stand, so daß Chodadad der Hofmeister seiner Brüder wurde.
Dies reizte ihren Haß nur um so mehr. »Wie!« sagten sie, »ist's nicht genug, daß der König einen Fremdling mehr liebt als uns, er macht ihn sogar zu unserm Hofmeister, ohne dessen Erlaubnis wir nichts tun sollen! Nein, das können wir uns nicht gefallen lassen. Wir müssen uns diesen Fremdling vom Hals schaffen.« – »Das kürzeste ist«, sagte einer von ihnen, »wir fallen alle zusammen über ihn her und schlagen ihn tot.« – »Nein, nein«, sagte ein anderer, »auf diese Art würden wir uns selbst in die Grube stürzen. Sein Tod würde uns dem König verhaßt machen, und dieser könnte uns zur Strafe leicht samt und sonders der Thronfolge unwürdig erklären. Wir müssen dem Fremdling mit List beikommen. Wir wollen ihn um die Erlaubnis bitten, auf die Jagd zu reiten, und wenn wir weit genug vom Palast sind, so schlagen wir uns nach irgend einer Stadt und halten uns dort eine Zeitlang auf. Der König wird sich über unsere Abwesenheit verwundern, und wenn er uns nicht zurückkommen sieht, so wird er die Geduld verlieren und den Fremdling vielleicht töten lassen. Jedenfalls wird er ihn von seinem Hof verbannen, weil er uns erlaubt hat, seinen Palast zu verlassen.«
Dieser Vorschlag fand allgemeinen Beifall. Die Prinzen gingen zu Chodadad und baten ihn um Erlaubnis zu einer Jagdpartie, zugleich versprachen sie, noch an demselben Tag zurückzukommen. Piruzas Sohn ging in die Schlinge, er gab seinen Brüdern die erbetene Erlaubnis. Sie ritten weg und kamen nicht wieder. Schon waren sie drei Tage abwesend, als der König zu Chodadad sagte: »Wo sind die Prinzen, ich habe sie lange nicht gesehen.« – »Herr«, antwortete dieser mit einer tiefen Verbeugung, »sie sind seit drei Tagen auf der Jagd. Sie haben mir indes versprochen, früher zurückzukommen.« Der König wurde unruhig, und seine Unruhe vermehrte sich, als die Prinzen auch am folgenden Tage noch nicht erschienen. Nun konnte er seinen Zorn nicht mehr zurückhalten, »Unvorsichtiger Fremdling«, sagte er zu Chodadad, »wie konntest du meine Söhne wegreisen lassen, ohne sie zu begleiten? Verwaltest du so das Amt, das ich dir anvertraut habe? Geh, suche sie sogleich auf und führe sie zu mir; wo nicht, so bist du ein Mann des Todes.«
Diese Worte erfüllten den unglücklichen Sohn Piruzas mit schauderndem Entsetzen. Er legte seine Rüstung an, schwang sich auf sein Roß und ritt zur Stadt hinaus. Wie ein Hirt, der seine Herde verloren hat, suchte er überall im Gefilde seine Brüder, fragte in allen Dörfern, ob man sie nicht gesehen habe, und da er nichts von ihnen erfahren konnte, überließ er sich dem heftigsten Schmerz. »Ach, meine lieben Brüder!« rief er aus, »was ist aus euch geworden? Seid ihr vielleicht unsern Feinden in die Hände gefallen? Sollte ich nur dazu an den Hof von Harran gekommen sein, um dem König ein so grausames Herzeleid zu bereiten?« Er war untröstlich, daß er den Prinzen die Jagd erlaubt oder sie nicht begleitet hatte.
Nach mehrtägigen vergeblichen Nachforschungen gelangte er in eine ungeheure weite Ebene, in deren Mitte ein Palast von schwarzem Marmor stand. Er ritt darauf zu und erblickte an einem Fenster ein wunderschönes Fräulein, aber bloß mit ihrer Schönheit geschmückt; denn ihre Haare waren zerstreut, ihre Kleider zerrissen, und auf ihrem Gesicht bemerkte man den Ausdruck der tiefsten Betrübnis. Sobald sie den Fremden erblickte und gehört zu werden glaubte, rief sie ihm zu: »O Jüngling, entferne dich von diesem unseligen Palast, oder du wirst bald in die Hände des Ungeheuers geraten, das ihn bewohnt. Her haust ein Schwarzer, der sich nur von Menschenblut nährt; er ergreift alle Leute, die ihr schlimmes Geschick in diese Ebene führt, sperrt sie in finstere Kerker ein, aus denen er sie nur hervorzieht, um sie zu verschlingen.«
»Herrin«, antwortete Chodadad, »sag mir, wer du bist, und sei wegen des übrigen unbesorgt.« – »Ich bin aus Kahirah gebürtig und aus vornehmem Haus«, antwortete das Fräulein; »gestern kam ich auf meiner Reise nach Bagdad nahe an diesem Schloß vorbei, wo mir der Schwarze begegnete, alle meine Leute tötete und mich hierher führte. Ach! wenn ich nichts anderes zu fürchten hätte als den Tod! Aber, um mein Unglück zu vollenden, verlangt das Ungeheuer noch Gefälligkeit von mir, und wenn ich mich morgen nicht gutwillig seinen tierischen Lüsten ergebe, so muß ich der äußersten Gewalt entgegensehen. Noch einmal«, fuhr sie fort, »rette dich, der Schwarze wird bald zurückkommen. Er ist ausgezogen, um einige Reisende zu verfolgen, die er von ferne auf der Ebene bemerkt hat. Du hast keine Zeit zu verlieren, ja, ich weiß nicht einmal, ob du ihm durch schleunige Flucht wirst entrinnen können.«
Noch hatte sie nicht ausgesprochen, als der Schwarze erschien. Es war ein Kerl von ungeheurer Größe und furchtbarem Aussehen. Er ritt ein gewaltiges tartarisches Roß und führte ein breites, gewichtiges Schwert, das nur er allein handhaben konnte. Als der Prinz ihn erblickte, verwunderte er sich über die ungeheure Gestalt. Er empfahl sich dem Schutze Gottes, zog dann seinen Säbel und erwartete unerschrocken den Schwarzen, der einen so schwachen Feind verachtete und ihn aufforderte, sich ohne Schwertstreich zu ergeben. Chodadad aber gab deutlich zu erkennen, daß er entschlossen war, sein Leben zu verteidigen; denn er ritt auf ihn zu und versetzte ihm einen derben Hieb ins Genick. Als der Schwarze sich verwundet fühlte, stieß er ein entsetzliches Geschrei aus, von dem die ganze Ebene wiederhallte. Schäumend vor Wut erhob er sich in den Steigbügeln und wollte Chodadad mit seinem furchtbaren Schwert zu Boden schlagen. Der Streich wurde mit solcher Kraft geführt, daß es um den jungen Prinzen geschehen gewesen wäre, wenn er nicht die Gewandtheit gehabt hätte, durch eine Schwenkung seines Rosses ihm auszuweichen. Das Schwert sauste grauenvoll durch die Luft. Ehe nun der Schwarze Zeit hatte, zu einem zweiten Schlag auszuholen, hieb ihm Chodadad mit einem gewaltigen Streich den rechten Arm ab. Das furchtbare Schwert fiel zugleich mit der Hand, die es hielt, zu Boden, und der Schwarze war durch die Gewalt des Schlages so erschüttert, daß er die Bügel verlor und die Erde von seinem Fall erdröhnte. Flugs stieg der Prinz von seinem Roß, warf sich über seinen Feind her und hieb ihm den Kopf ab. Das Fräulein, deren Augen Zeugen des Kampfes gewesen waren, und die fortwährend für den jungen Helden, den sie bewunderte, heiße Gebete zum Himmel geschickt hatte, tat einen Freudenschrei und sprach dann zu Chodadad: »Prinz (denn der schwere Sieg, den du soeben errungen, sowie dein edler Anstand überzeugen mich, daß du nicht aus gemeinem Blute stammst), vollende jetzt dein Werk: der Schwarze hat die Schlüssel zum Schloß bei sich; nimm sie und befreie mich aus diesem Gefängnis.« Der Prinz durchsuchte die Taschen des Elenden, der im Staube dahingestreckt lag, und fand darin mehrere Schlüssel.
Chodadad öffnete die erste Pforte und trat in einen großen Hof, wo er das Fräulein, das ihm entgegengekommen war, bereits antraf. Sie wollte sich zum Zeichen ihrer herzlichen Dankbarkeit ihm zu Füßen werfen, aber er gab es nicht zu. Sie pries seine Tapferkeit und erhob ihn über alle Helden der Welt. Er erwiderte ihre Höflichkeiten, und da sie ihm in der Nähe noch liebenswürdiger erschien als von ferne, so weiß man nicht, ob sie über ihre Befreiung aus so schrecklicher Gefahr mehr Freude empfand, oder er darüber, daß er einem so schönen Fräulein einen solch wichtigen Dienst geleistet hatte.
Ihr Gespräch wurde durch Geschrei und Gestöhn unterbrochen. »Was höre ich?« rief Chodadad, »woher kommen diese kläglichen Töne, die an mein Ohr schlagen?« – »Herr«, antwortete das Fräulein, indem sie mit dem Finger auf eine niedrige Tür innerhalb des Hofes wies, »sie kommen von dorther. Es stecken hier eine Menge Unglückliche, die ihr böser Stern in die Hände des Schwarzen fallen ließ. Sie sind alle gefesselt, und jeden Tag zog das Ungeheuer einen hervor, um ihn zu fressen.«
»Ich bin sehr erfreute,« versetzte der Prinz, »daß ich durch meinen Sieg diesen Unglücklichen das Leben retten kann. Komm, edles Fräulein, und teile mit mir das Vergnügen, sie in Freiheit zu setzen. Du kannst die Freude, die wir ihnen machen werden, an dir selbst ermessen.« So sprechend, näherten sie sich der Tür des Gefängnisses, und je näher sie kamen, je deutlicher hörten sie die Klagen der Gefangenen. Dem Prinzen Chodadad ging dies durch Mark und Bein. Um ihren Leiden so schnell als möglich ein Ende zu machen, stieß er schleunig einen Schlüssel in das Schloß. Anfangs bekam er nicht den rechten und nahm dann einen andern. Bei diesem Geräusch wähnten die Unglücklichen, der Neger komme, um ihnen wie gewöhnlich zu essen zu bringen und zugleich einen der Unglücksgefährten zu seinem Fraß zu holen, und ihr Angstgeschrei und Gestöhn wurde immer kläglicher. Es war, als ob aus dem Mittelpunkt der Erde klagende Stimmen herauftönten.
Indes öffnete der Prinz die Tür und fand eine sehr steile Treppe, auf der er in eine tiefe und weite Höhle hinabstieg, die durch ein Luftloch spärlich erleuchtet wurde und worin mehr als hundert Menschen mit gefesselten Händen an Pfähle gebunden waren. »Unglückliche Reisende«, sagte er zu ihnen, »arme Schlachtopfer, die ihr nun den Augenblick eines grausamen Todes erwartet, dankt dem Himmel, der euch heute mittelst meines Arms befreite. Ich habe den abscheulichen Schwarzen, dessen Beute ihr werden solltet, getötet, und komme, eure Ketten zu zerbrechen.« Als die Gefangenen diese Worte hörten, stießen sie vor Verwunderung und Freude lautes Geschrei aus. Chodadad und das Fräulein fingen an, sie loszubinden, und so wie einer von seinen Ketten befreit war, half er auch den anderen aus den ihrigen, so daß binnen kurzer Zeit alle sich ihrer Erlösung erfreuten.
Jetzt warfen sie sich dem Prinzen zu Füßen, dankten ihm für ihre Befreiung und stiegen aus dem Gewölbe heraus. Aber wie erstaunte Chodadad, als sie nun im Hof waren und er unter den Gefangenen auch seine Brüder erblickte, die er suchte und zu finden bereits alle Hoffnung aufgegeben hatte. »Ach, liebe Prinzen«, rief er aus, »täusche ich mich nicht? seid ihr es wirklich? Darf ich mir schmeicheln, daß ich euch dem König, eurem Vater, zurückbringen kann, der über euern Verlust untröstlich ist? Haben wir nicht vielleicht einen von euch zu beweinen? Seid ihr alle noch am Leben? Ach, der Tod eines einzigen könnte mir die ganze Freude vergiften, die ich über eure Rettung empfinde.«
Die neunundvierzig Prinzen gaben sich Chodadad zu erkennen, der einen um den anderen umarmte und ihnen erzählte, in welche Unruhe ihre Abwesenheit den König versetzte habe. Sie erteilten ihrem Befreier alle Lobsprüche, die er verdiente, desgleichen auch die anderen Gefangenen, die keine Ausdrücke stark genug fanden, um den Dank, von dem sie durchdrungen waren, an den Tag zu legen. Chodadad durchsuchte hierauf mit ihnen das Schloß und fand darin unermeßliche Reichtümer, feine Leinwand, Goldbrokate, persische Teppiche, chinesischen Atlas und eine Menge anderer Waren, die der Schwarze den ausgeplünderten Karawanen abgenommen hatte, und wovon der größte Teil den von Chodadad befreiten Gefangenen angehörte. Jeder erkannte sein Eigentum und machte seine Ansprüche darauf geltend. Der Prinz ließ sie ihre Ballen nehmen und verteilte auch noch die übrigen Waren unter sie. Hierauf sprach er zu ihnen: »Wie wollt ihr aber eure Waren fortschaffen? Wir sind hier in einer Wüste, wo ihr wahrscheinlich keine Pferde finden werdet.« »Herr«, antwortete einer der Gefangenen, »der Schwarze hat uns außer unsern Wagen auch unsere Kamele geraubt; vielleicht stehen sie noch in den Ställen dieses Schlosses.« – »Wohl möglich«, versetzte Chodadad, »wir wollen einmal nachforschen.« Sie gingen nun in die Ställe und fanden daselbst nicht nur die Kamele der Kaufleute, sondern auch die Pferde der Prinzen, worüber alle ungemeine Freude empfanden. In den Ställen waren auch einige schwarze Sklaven, die, als sie die Gefangenen alle befreit sahen, woraus sie auf den Tod ihres Herren schließen mußten, in Schrecken gerieten und auf Auswegen, die ihnen bekannt waren, entflohen. Man dachte nicht daran, sie zu verfolgen. Die Kaufleute waren voll Freude, mit ihrer Freiheit auch ihre Kamele und Wagen wieder erhalten zu haben, und rüsteten sich zur Heimkehr; zuvor aber dankten sie nochmals ihrem Befreier.
Als sie abgereist waren, wandte sich Chodadad an das Fräulein und sprach zu ihr: »Wohin gedenkst du zu reisen, edles Fräulein? Was war dein Plan, als du von dem Schwarzen überfallen wurdest? Ich werde dich nach dem Ort führen, den du zu deinem Aufenthalt ausersehen hast, und ich zweifle nicht, daß diese Prinzen sämtlich ebenso gesonnen sind.« Die Söhne des Königs von Harran beteuerten dem Fräulein, daß sie sie nicht eher verlassen würden, bis sie sie den Ihrigen wiedergegeben hätten.
»Prinz«, sagte sie zu Chodadad, »ich bin aus einem zu fernen Land, und es hieße deine Großmut mißbrauchen, wenn ich dich einen so weiten Weg machen ließe; übrigens muß ich auch bekennen, daß ich auf immer von meinem Vaterland geschieden bin. Ich habe dir vorhin gesagt, ich sei ein Fräulein aus Kahirah; aber nach der Güte, die du mir bewiesen, und nach der Verpflichtung, die ich gegen dich habe, Herr«, fügte sie mit einem bedeutungsvollen Blick auf Chodadad hinzu, »wäre es Undank, wenn ich dir die Wahrheit länger verhehlen wollte. Ich bin die Tochter eines Königs. Ein Kronräuber hat sich des Thrones meines Vaters bemächtigt, nachdem er ihm das Leben geraubt hat; und um das meinige zu retten, war ich genötigt, die Flucht zu ergreifen.« Nach diesem Geständnis baten Chodadad und seine Brüder die Prinzessin, ihnen ihre Geschichte zu erzählen, und versicherten ihr, daß sie allen möglichen Anteil an ihrem Unglück nehmen und bereit seien, alles aufzubieten, um sie wieder glücklich zu machen. Sie dankte Ihnen für diese neue Versicherung ihrer Dienstwilligkeit und konnte nicht umhin, ihre Neugierde zu befriedigen. Sie begann daher folgendermaßen: