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Wenige Minuten, bevor der Dampfer Folkestone–Boulogne an einem unfreundlichen Oktobermorgen in den Kanal stach, tauchte noch eine hohe Gestalt aus dem dichten Nebel an der Pier und steuerte gemessenen Schrittes dem Laufsteg zu.
Der Mann hatte den Kragen seines Trenchcoats hochgeschlagen und die Mütze tief in die Stirn gedrückt, so daß von seinem Gesicht nichts zu sehen war, aber einer der beiden überwachenden Kriminalbeamten hob doch hinter ihm rasch den Kopf und ließ mit verkniffenen Augen einen leisen, gedehnten Pfiff hören.
»Etwas Besonderes?« flüsterte sein neuer Kollege mit lebhafter Neugier, der andere zuckte jedoch nur mit den Achseln, und erst als das Wasser unter den Schrauben des Dampfers zu rauschen begann, verstand er sich zu so etwas wie einer Erklärung.
»Es scheint so«, murmelte er wichtig. »Wir kennen ihn schon über ein Jahr, und er nimmt immer die Route Folkestone – Boulogne, obwohl sie gerade nicht die kürzeste und angenehmste ist. Wahrscheinlich hat er seine Gründe dafür. – Der Inspektor, der eine Nase für solche Dinge hat, nennt ihn den ›Sturmvogel‹, denn sooft er hier auftauchte, gab es in Kürze eine große Sache.«
Es dauerte diesmal genau dreiundzwanzig Tage, bis der geheimnisvolle Reisende in Folkestone den Fuß wieder an Land setzte, aber der Kriminalbeamte konnte mit seinem Kollegen nur einen raschen Blick wechseln, denn es hieß die Augen offenhalten. Es war einer der großen Zeeland-Dampfer aus Vlissingen, der angelegt hatte, und über den Steg schlängelte sich eine lange Kolonne von Passagieren, was um diese Jahreszeit eine Seltenheit war.
Mrs. Joanna Lee deutete mit ihrer kleinen, fleischigen Hand, an der einige sehr kostbare Steine blitzten, flüchtig auf eine Reihe von Koffern und wandte sich dann sofort wieder an ihren Begleiter. Sie wünschte nicht, daß die Bekanntschaft mit dem eleganten Mann, der sich ihrer bereits in Genf und nun auch während der gemeinsamen Heimfahrt in so zuvorkommender Weise angenommen hatte, schon in Folkestone oder auf einem der Londoner Bahnhöfe ihr Ende fände, und war entschlossen, dies Mr. Bayford möglichst deutlich zu verstehen zu geben. Sie war seit acht Jahren Witwe, in jeder Beziehung unabhängig, und der Herr mit dem Monokel hatte auf sie einen ganz außerordentlichen Eindruck gemacht.
Sie blinzelte unter den etwas schweren Lidern schmachtend zu ihm auf und dämpfte ihre tiefe Stimme zu einem lockenden Gurren.
»Ich danke Ihnen herzlichst für alle Ihre liebenswürdigen Bemühungen und Aufmerksamkeiten, die mir die letzten Wochen so angenehm gestaltet haben – und auch für Ihr Interesse an unserer Sache. Was wir anstreben, ist wirklich der Unterstützung wert, und ich möchte Ihnen darüber gerne noch mehr mitteilen. Wir haben in Genf eine Reihe von Beschlüssen gefaßt, die dem verbrecherischen Treiben bald ein Ende bereiten werden. Wenn es Sie nicht langweilt, könnten wir darüber –«
»Das würde mich sehr freuen, Mrs. Lee. Es ist dies keine bloße Redensart«, versicherte er, »und mein Interesse entspringt auch nicht müßiger Neugierde, sondern wirklicher Anteilnahme an Ihren Bestrebungen. – Man sollte es nicht für möglich halten, daß es so etwas heute noch gibt, und es ist einfach die Pflicht eines jeden, mit dazu beizutragen, daß dem Mädchenhandel endlich das Handwerk gelegt wird.«
»Ich empfange Montag und Freitag«, hauchte sie, indem sie ihm ihre Karte reichte, »aber für meine Freunde bin ich auch sonst zu sprechen, wenn sie sich telefonisch ansagen.«
Der Herr mit dem Monokel neigte verbindlich den Kopf und war bereits im Begriff, der so zuvorkommenden Frau zu versichern, daß er das Vorrecht ihrer Freunde in Anspruch nehmen werde, als ihn plötzlich ein beklemmendes Gefühl unruhige Umschau halten ließ . . .
Dicht neben ihm stand an der Barriere ein hochgewachsener Mann in einem Trenchcoat und blickte, die Arme verschränkt, teilnahmslos auf das Getriebe in der Halle. Er hatte die Mütze so tief ins Gesicht gezogen, daß zwischen dem Mantelkragen und dem Mützenschirm nur das starke, glatte Kinn und der von zwei scharfen Linien umrissene, bartlose Mund zu sehen waren, und Mr. Bayford begriff nicht, weshalb ihm die Nähe dieses Fremden mit einemmal solches Unbehagen verursachte. Er war ihm in den letzten drei Wochen in Genf und nun während der Rückfahrt wiederholt begegnet, ohne das geringste Interesse an ihm zu nehmen, und auch der andere hatte ihm nie irgendwelche Aufmerksamkeiten geschenkt. Der Mann von einigen dreißig Jahren schien nach seinem Äußeren und seinem Auftreten irgendein vornehmer Globetrotter zu sein, der für seine Umgebung nichts übrig hatte.
Auch jetzt hielt er sich abseits und wartete gelassen, bis er mit seinem Gepäck an die Reihe kam, aber Mr. Bayford gab etwas auf sein äußerst empfindliches Ahnungsvermögen, das ihn noch selten getäuscht hatte.
Eben als er an der Seite der strahlenden Mrs. Lee zu dem bereitstehenden Zug schritt, tauchte der Fremde plötzlich unmittelbar vor ihnen wieder auf und zog langsam die Hand aus der Tasche.
Die Bewegung geschah ganz unauffällig, aber für den mißtrauischen Mr. Bayford hatte sie etwas Absichtliches und Herausforderndes.
Im nächsten Augenblick bemerkte er auch schon das kleine gefaltete Papier, das zu Boden fiel, und, geschickt, wie er in solchen Dingen war, hatte er bereits beim nächsten Schritt den Fuß darauf gesetzt.
An dem Wagen gab es zunächst eine ziemlich lebhafte allgemeine Verabschiedung, deren Mittelpunkt die stattliche Mrs. Lee war, und ihr Begleiter hatte die Ehre, hierbei einigen der namhaftesten Führerinnen der englischen Frauenfürsorge vorgestellt zu werden. Aus den hastig und abgerissen hin- und herfliegenden Worten erfuhr er auch, daß der auf der Tagung in Genf beschlossene einheitliche Kampf gegen den Mädchenhandel nach Erledigung der notwendigen Vorarbeiten sofort aufgenommen werden sollte und daß Mrs. Joanna Lee zur Präsidentin des Komitees ausersehen war.
Alle diese Dinge nahmen den höflichen und geschmeidigen Mr. Bayford derart in Anspruch, daß er nicht dazu kam, sich das Papier, das er auf dem Bahnsteig mit einem raschen Griff aufgelesen hatte, näher anzusehen. Es steckte noch immer in seinem Handschuh, und der Zug war bereits längst in voller Fahrt, als der hagere Herr mit dem Monokel endlich Gelegenheit fand, es unauffällig zu entfalten.
Es war ein vom Rand einer Zeitung abgerissener Streifen, und während ihn Mr. Bayford spielend mit den Fingern glättete, flogen seine unruhigen Augen hastig und verstohlen über die weiße Fläche.
Was er fand, enttäuschte ihn zunächst, ließ ihn aber nach einigen Sekunden der Überlegung um so fassungsloser zurück.
Das Papier enthielt nichts anderes als ein flüchtig hingeworfenes Pentagramm – einen Drudenfuß –, aber die Finger Bayfords zitterten leicht, als er es mechanisch wieder zusammenfaltete, und Mrs. Lee fand nach einer Weile, daß ihr bisher so unterhaltender und aufmerksamer Begleiter plötzlich sehr einsilbig und zerstreut geworden war.
Der Mann, der ihm den Drudenfuß in den Weg geworfen hatte, war für ihn plötzlich zu einer wichtigen Persönlichkeit geworden, denn je länger er darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher schien es ihm, daß es sich hier um einen harmlosen Zufall handelte. Ganz abgesehen davon, daß ihn sein oft bewährter Instinkt so nachdrücklich vor dem Manne in dem Trenchcoat gewarnt hatte, war das Zeichen, das dieser ihm hatte zukommen lassen, nicht alltäglicher Art. Man kritzelt nicht zufällig gerade ein Pentagramm auf einen Streifen Papier und läßt es nicht gerade einem der beiden unter Hunderttausenden vor die Füße fallen, für die ein Drudenfuß einiges zu bedeuten hatte.
Mr. Bayford war sehr gedankenvoll und sehr ernst gestimmt, als er vor der Station ein Taxi nahm und seine Wohnung angab. Den zudringlichen Zeitungsjungen, der ihm mit seiner monotonen Litanei bis auf den Tritt des Wagens verfolgte, bemerkte er nicht einmal.