Louis Weinert-Wilton
Der Drudenfuß
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

32

Kaum zwanzig Schritte hinter ihm stapfte Steve Flack des Weges daher, und sein roter Bart war ununterbrochen in grimmiger Bewegung. Das kam von den halblauten Flüchen, die der Steuermann vom Stapel ließ, seitdem er an diesem Vormittag das Viertel der Bar wie ein aufgeregter Spürhund umkreiste.

Es gab zwar augenblicklich hier für ihn nichts zu tun, und es war auch sonst nicht seine Art, sich die Füße abzulaufen, wenn dies keinen Zweck hatte, aber die verdammte Geschichte in der verflossenen Nacht ließ ihm keine Ruhe. Er mußte sich die Stelle etwas näher ansehen, an der er fast hätte daran glauben müssen.

Aber solange er auch herumstrich, er bekam weder den einen noch den anderen zu Gesicht, und der einzige Bekannte, auf den er stieß, war schließlich Mr. Bayford, der eben in ziemlicher Eile aus dem Tor der Bar schoß.

Der Steuermann hatte von der verwünschten Gegend genug und heftete sich zunächst einmal an die Fersen des eleganten Herrn. Er hielt dabei aus alter Gewohnheit vorsichtig Distanz und machte sich auch so dünn wie möglich, aber bei einer Quergasse wäre ihm doch beinahe ein Mißgeschick widerfahren. Er konnte sich gerade noch in eine Mauernische drücken, um dem kleinen dicken Mann auszuweichen, der behutsam um die Ecke bog und Bayford mit gespannter Miene nachblickte.

Steve Flack kämpfte einen furchtbaren Kampf, denn er wollte sofort einen Liter Themsewasser saufen, wenn das nicht . . . Und er hatte das feiste Genick so nahe vor sich, daß er nur einen Sprung tun und einen seiner langen Arme auszustrecken brauchte . . . Der Steuermann schloß krampfhaft die Augen, um der Versuchung Herr zu werden, und als er endlich wieder zu blinzeln begann, konnte er gerade noch beobachten, wie der elegante Herr in dem Restaurant verschwand und der andere eine Weile unschlüssig stehenblieb. Aber dann trippelte auch der kleine Dicke auf das Lokal zu, und Steve stieß in ausbrechendem Jagdfieber den stichelhaarigen Bart in die Luft.

In diesem Augenblick schob sich ein Arm in den seinen, und als er blitzschnell herumfuhr, hatte er einen Anblick, der sich ihm wie ein Alp auf die Brust legte. Dabei war Inspektor Miles von Scotland Yard ein einziges strahlendes Lächeln und von so ausgesuchter Höflichkeit, daß er den etwas zerbeulten Hut hoch über die mächtige Glatze schwang.

»Oh, Mr. Flack«, lispelte er mit seiner dünnen Stimme erfreut, indem er nach der herabhängenden Hand des andern fischte und sie herzlich schüttelte. »Das nenne ich einen glücklichen Tag. Seit drei Jahren schaue ich mir auf Schritt und Tritt die Augen aus, ob ich meinen alten Freund nicht vielleicht einmal zu Gesicht bekomme, und gerade heute . . . Haben Sie schon gefrühstückt?«

Der Steuermann hatte erst nur den einen Wunsch, so rasch wie möglich loszukommen, aber die hastige Frage klang so einladend, und er verspürte so ehrlichen Hunger, daß er sich die Sache zu überlegen begann.

»Das gerade nicht«, bemerkte er zurückhaltend.

»Das trifft sich großartig. Ich auch nicht. Und dort drüben haben wir ein Restaurant, in dem es allerlei gute Dinge gibt. Lassen Sie mich nur aussuchen.«

Der zappelige Inspektor war ganz begeistert und hielt seinen alten Bekannten mit einem so festen Griff gefaßt, als ob jener vielleicht doch noch versuchen könnte, ihm zu entschlüpfen.

Miles schien sich in dem Lokal sehr gut auszukennen, denn er schob seinen Gast durch eine Nebentür in einen kleinen Raum, der von dem eigentlichen Speisesaal durch eine Glaswand getrennt war und offenbar hauptsächlich von eiligen Geschäftsleuten der Nachbarschaft besucht wurde. Augenblicklich waren die meisten Tische leer, und der Inspektor steuerte in eine Ecke, in der man völlig verborgen saß, aber das ganze Restaurant übersehen konnte.

Aber erst nachdem er die Speisekarte gründlich studiert und Dinge gewählt hatte, die Steve Flack schon beim Anhören das Wasser im Munde zusammenlaufen ließen, fand Miles einiges Interesse für seine Umgebung und blinzelte mit lebhaften Augen durch die Glaswand. Dabei klopfte er mit der Rechten dem Steuermann höchst freundschaftlich auf die Schulter, während er mit der Linken vergnügt auf seiner Glatze trommelte.

»Gemütlich, was?« fragte er. »Ich esse hier wenigstens dreimal in der Woche – aber niemals dort drüben. Man wird hier viel besser bedient, und in der geschniegelten Gesellschaft fühle ich mich auch nicht so recht wohl. Unsereiner sieht daneben zu schäbig aus. – Zum Beispiel neben dem Herrn mit dem Glas im Auge, der dort in der Mitte sitzt«, fuhr er unbefangen fort. »Schauen Sie sich nur einmal um. Dagegen bin ich mit meinem Anzug, den ich schon das vierte Jahr trage, der reinste Landstreicher. Und ich brächte in seiner Nähe auch nicht einen Bissen hinunter, weil ich immerfort zusehen müßte, wie er es macht, daß ihm beim Essen das Monokel nicht in die Soße fällt. – Sie kennen ihn doch?«

Die Frage kam blitzschnell, vermochte aber Flack nicht zu überrumpeln, denn dessen Gedanken weilten bei der bestellten Schildkrötensuppe. Er saß manierlich und respektvoll, wie es sich in der Gesellschaft eines Gewaltigen von Scotland Yard schickte, und schielte erwartungsvoll nach der Tür, durch die der Kellner doch endlich kommen mußte. Auf die Frage selbst hatte er nur ein zerstreutes Kopfschütteln, aber Miles nahm ihm dies nicht übel.

Der Schildkrötensuppe ließ Steve Flack ein zwei Handteller großes Beefsteak und dann noch einen ansehnlichen Nachtisch folgen, und dabei hatte er ständig den Mund so voll, daß jedes Wort von seinen Lippen eine Katastrophe gebracht hätte. Aber einmal wurde der Steuermann bei der Eile, mit der er das Geschäft betrieb, doch fertig, und als ein frisches Glas Bier vor ihnen stand, rückte Miles auch noch mit einer Zigarre heraus.

»So, nun stecken Sie sich noch ein Kraut an«, drängte er freundlich, »und dann wollen wir –«

So wichtig ihm die Sache war, so brach er mit einer blitzartigen Bewegung doch jäh ab, weil er etwas gewahrte, was ihm noch wichtiger schien.

Er hatte die ganze Zeit über die Augen verstohlen auf den Nebenraum gerichtet, und die höchst befremdete Miene Bayfords, als der Kellner ihn offenbar ans Telefon rief, war ihm nicht entgangen. Aber kaum war der Herr mit dem Monokel durch die Tür verschwunden, als eine Gestalt auftauchte, die den Inspektor alles andere vergessen ließ.

Ein kleiner, dicker Mann mit einem aufgedunsenen Gesicht kam eilig vom anderen Ende des Saales her, sah sich hastig um, als ob er jemand suchte, und machte schließlich bei dem Platz, den noch vor wenigen Minuten Bayford eingenommen hatte, unschlüssig halt. Dann streckte er die Hand mit dem Hut mit einer fahrigen Bewegung über den Tisch, hob enttäuscht die Schultern und verschwand hierauf ebenso rasch, wie er gekommen war.

Miles starrte ihm mit verkniffenem Gesicht nach, und als im nächsten Augenblick der Herr mit dem Monokel wieder zurückkehrte, machte der Inspektor Miene aufzuspringen.

Aber Flack legte ihm die schwere Hand nachdrücklich auf den Arm.

»Lassen Sie ihn das Zeug ruhig aussaufen«, sagte er stoisch und begann dann wieder an seiner Zigarre zu ziehen, während Miles unruhig auf seinem Sitz hin und her rückte und krampfhaft seinen kahlen Schädel rieb.

»Flack«, stieß er endlich aufgeregt hervor, »haben Sie zugesehen? Und haben Sie den Burschen erkannt? – Fred Slater . . . Sie werden sich ja noch an die Geschichte erinnern . . .« Er rückte plötzlich ganz dicht an den anderen heran, und sein faltiges, graues Gesicht war so sanft, wie der Rotbart es noch nie gesehen hatte. »Ich bin immer Ihr Freund gewesen«, versicherte er ganz unvermittelt, aber höchst treuherzig, »und wenn es nach mir gegangen wäre, täten Sie noch heute bei uns Dienst. Und statt Ihnen damals wegen der Kleinigkeit das Genick zu brechen, hätte ich Sie avancieren lassen. Jawohl, das hätte ich getan«, bekräftigte er, »denn solche Leute wie Sie haben wir nicht viele. Und das sehen jetzt auch die andern ein, die gegen Sie waren . . .«

»Wegen meines roten Bartes, der ihnen nicht schön genug war«, flocht Steve Flack mit dumpfem Grollen ein, »und weil ich keine Disziplin hatte, wie sie sagten, und dann wegen des dummen Ohrs . . .«

Er erinnerte sich, daß der Mann, der neben ihm saß und plötzlich so freundlich tat, ihn bis aufs Blut schikaniert hatte, und er wußte, daß nun endlich die Stunde gekommen war, da er ihm das heimzahlen konnte. Das reichliche Mittagsmahl hatte er glücklich verzehrt, und auf ein Glas Bier mehr oder weniger wollte er es nicht ankommen lassen.

»Hauptsächlich wegen des Ohrs«, erklärte Miles vertraulich und nachdrücklich. »Es ist eben für unsereinen eine böse Geschichte, wenn man nach so einem Nichtsnutz faßt und es bleibt einem das Ohr in der Hand.«

»Warum hat der Bursche so lange herumgerissen, bis es weg war?« protestierte der Steuermann gekränkt. »Ich habe nur meine Pflicht getan und festgehalten. Aber dafür hat man mich mit Schimpf und Schande zum Teufel gejagt. – Wo ich zwanzig Jahre straflos auf See gefahren bin und nach dem Krieg mit vollen Ehren abgemustert habe.«

Der Inspektor nickte verständnisvoll, dann aber ließ er ein verschmitztes Kichern hören.

»Dafür können Sie jetzt als freier Mann mit einer eigenen Jacht spazierenfahren«, flüsterte er mit einem vergnügten Augenzwinkern. »Es gehört doch Ihnen, das silbergraue Boot, wie? Wahrscheinlich haben Sie es sich von den sechzig Schilling Pension gekauft, die Sie monatlich bekommen. Wir wissen schon längst davon, und eigentlich sollte man sich das Ding einmal etwas näher ansehen . . .«

Der boshafte, lauernde Blick seines ehemaligen Vorgesetzten wollte Flack gar nicht gefallen, aber trotzdem blieb er völlig gleichmütig.

»Das können Sie tun. Nur lassen Sie es mich vorher wissen, denn bei dem verdammten Nebel, den wir jetzt auf dem Fluß haben, könnte es sonst ein Malheur geben. Ich habe unlängst den Schuster, der mir ein Paar neue Stiefel brachte, ins Wasser geschmissen, weil ich ihn nicht gleich erkannt habe . . .«

Diese Einladung klang nicht sehr ermunternd, aber die Aufmerksamkeit des Inspektors war eben wieder von Bayford in Anspruch genommen, der gerade eilig und mit einer bedenklichen Falte zwischen den Brauen das Lokal verließ. Der angebliche Telefonanruf, über dessen Zweck er sich nicht klarwerden konnte, hatte ihn aus seiner Ruhe aufgestört, und er fand es geraten, für alle Fälle das Feld zu räumen.

Miles sah ihm mit einem ratlosen Kopfschütteln nach und nahm dann wieder Flack in Arbeit.

»Sie haben wirklich recht behalten. Ich wollte schon dazwischenfahren, denn ich habe ganz deutlich beobachtet, daß Slater etwas in das Weinglas gespritzt hat. Und das ist bei diesem Burschen kein Spaß. – Aber Sie wissen jedenfalls mehr von der Geschichte, die da vorgeht, und aus alter Freundschaft könnten Sie mir die eine oder die andere Andeutung machen, damit man sich danach richten kann und nicht gar so dämlich dasteht, wenn es zum Klappen kommt. – Wie bei den letzten Fällen, bei denen ihr uns nichts übriggelassen habt . . . Sie wissen schon.«

Er verdrehte vorwurfsvoll die Augen und malte mit dem Zeigefinger magische Zeichen auf seine Glatze, aber Steve trank zunächst gelassen sein Glas aus und gab dann den Rauch der Zigarre langsam von sich.

»Kann mir nicht denken, Sir, was Sie meinen«, brummte er unbefangen aus der dichten Wolke heraus.

»Tun Sie doch nicht so . . .!« Der Inspektor wurde sichtlich ungeduldig und ärgerlich. »Ganz so blind sind wir denn doch nicht. Und wenn Sie nicht mit sich reden lassen, werden wir eben auf andere Weise hinter Ihre Schliche kommen. – Daß Sie in der Nähe waren, als vor ein paar Nächten der Ausländer hier in der Gegend niedergestochen wurde, wissen wir schon – und daß der Mann mit dem Monokel und Fred Slater irgend etwas damit zu tun haben, ist mir jetzt auch klar. Da wird es vielleicht gar nicht so schwer sein, sich das übrige zusammenzureimen und Ihnen und Ihrem Herrn diesmal den Bissen vor der Nase wegzuschnappen.«

Er grinste tückisch, aber den Rotbart rührte das alles nicht.

»Das täte ich an Ihrer Stelle auch«, gab er sogar zu. »Und wenn Sie dann in Pension sein werden und gerade nichts anderes zu tun haben sollten, können wir auf meinem Kahn den ganzen Tag Karten spielen.«

Für Inspektor Miles hatte das Wort ›Pension‹ einen höchst unangenehmen Klang, denn er war ein ehrgeiziger Mann, der wenigstens noch ein Jahrzehnt arbeiten wollte. Wenn daher die Dinge so lagen . . .

Er beeilte sich, die knochige Rechte des Steuermanns gönnerhaft und beruhigend zu tätscheln, aber innerlich verfluchte er den verschlagenen roten Hund, der nicht einmal für ein so gutes und teures Mittagessen ein bißchen Erkenntlichkeit aufbrachte.


 << zurück weiter >>