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Daniel

1

In Babylon, der weißen Millionenstadt am Ufer des langsamen, gelben, vom Wüstenhauche seidig gekräuselten Flusses, lebten zur selben Zeit die unvergleichlichsten Menschen, die, sich zum Segen und zum Fluch zugleich, von Gott ausersehen, von Dämonen beherrscht, über Dämonen gebietend, sich über das gemeine Maß der Seelen erhoben, wie sie die Erde täglich hervorbringt, täglich leben läßt, täglich vernichtet: Nebukadnezar, der glückseligste Fürst, der weiseste Herrscher, der Größte seiner Zeit und der Tiefgesunkene. Daniel, Erbe des königlichen Hauses David, enterbter Erbe, aufgezogen mit der Milch der Armut, gewaschen mit dem Speichel der Gefangenschaft. Er stammte von Menschen, doch menschlich war nichts an ihm. Ein Heiliger wurde geboren, ein silbern leuchtendes Kind wurde im zehnten Jahr der Verbannung von der wild aufstöhnenden Mutter wie ein Tier des Waldes geworfen in einer dunklen Höhle, spät am Abend, am ersten helleren Tag nach langen Regengüssen, mitten im Park der kaiserlichen Burg Nebukadnezars, hoch in der Stadt Babylon.

Von oben streut ein mitleidiger Knecht der sich in Schmerzen windenden Mutter mit einer hölzernen Schaufel, die er eben beim Reinigen der kaiserlichen Stutenställe benutzt hat, ein paar Haufen faulen Laubes hinab. Denn Rahel, Daniels Mutter, im Kerker mit ihrem Gatten Jojakim und mit dessen Bruder, dem geblendeten König Zedekia, hausend, hat kein anderes Lager unter ihren armen, krampfzerrissenen Hüften als die Quadersteine einer geräumigen Grube im kaiserlichen Park, wo bis zu ihrer Zeit große, beschuppte Nattern vom Nil gehalten worden waren. Sie hat kein anderes Kissen unter ihr edles, schmales, schwarzumflossenes Haupt als ihres armen Gatten Hände, so hart und knorrig sie die zehn Jahre der Not und Gefangenschaft gemacht haben. Alle drei sind nackt.

Zedekia, der jüngere Bruder, ist der letzte König von Jerusalem. Jojakim, der ältere, weisere, sanftere, hatte, den Sturz des königlichen Berges, die Zerstörung der göttlichen Stätte vor dem vorausahnenden Blick, noch als Jüngling den Stab und den Thron Jerusalems dem jüngeren, wilderen, glühenden Bruder übergeben. Zedekia trug die Krone der gottbegnadeten Stadt, damit er mit ihren im Lagerfeuer des siegreichen Feindes weißglühend gemachten Spitzen und Zinken geblendet werde. Einst hatte er seine starken, weißen, königlichen Hände über die von Gott verfluchte Stadt Jerusalem ausgestreckt, damit eben diese seine Hände, mit doppelten Ketten gebunden, nun vor seine Scham gehalten werden als einziges Kleid, das der Erbarmungswürdige, Nackte, Geblendete, Verirrte noch behalten darf, als sie alle fortgeführt werden: sein Bruder Jojakim, Rahel, Jojakims Gattin, die schlanke, elfenbeinfarbene, hohe, schwarzumflossene Gestalt, und er, Zedekia, zwischen ihnen, gebückt neben den Aufrechten, tränenlos neben den Weinenden, blind neben den Sehenden, verloren. Dahin über das bergige Juda, dahin über die weiten Sandflächen, die in der Sonnenglut knirschen, dunkel raunende Wasserflüsse entlang, dann über das Wasser auf Bohlen, die schlüpfrig unter den Füßen des Blinden gleiten, dahin mitten durch Wälder, deren Bäume im Frühlingsregen rauschen, wo Akazien in ihrer Blüte duften.

Denn im Frühling ist Jerusalem zerstört, zur Zeit, da der Regen fällt, da die Akazien blühen. Der große Heerbann des Kaisers Nebukadnezar braust jubelnd zurück nach Babylon. Die Streitrosse wiehern und stampfen neben dem Blinden, die Rüstungen der Soldaten krachen in ehernem Getöse, die Menschen schreien und singen froh in fremder Sprache, die Glocken der Kamele läuten; täglich wird an einer anderen Stätte genächtigt, weiter fort, unwiderruflich fort von dem Akazienduft der geliebten Heimatkrume. Mitten im Geschrei und Getöse eines Wandertages plötzlich Stille ringsum, selbst die Tiere schweigen, nur Sand knistert aus den gespaltenen Klauen der Kamele, der Atem zahlloser Männer faucht leise, ein einzelner kommt vorbei, vor dem sich alle neigen, stumm, im Mittagswind zitternd vor dem Gewaltigsten der lebenden Welt: Nebukadnezar.

Nun ist die kleine Familie längst vereint. Man hält sie in der Nähe des Kaisers gefangen, aber er kommt zu ihnen nie. Von oben läßt man ihnen Speisen herab, aber es ist nur Abfall, unreines Fleisch, schlüpfrige Fische, schuppige Molche, wie man gewohnt ist, sie den Schlangen und Nattern vom weißen Nil vorzuwerfen, die vor den beiden Königen aus Juda hier, in der Höhle des Parkes, unweit der Ställe an der dritten Mauer, lange gelebt haben.

Ob die drei Menschen, Zedekia, Rahel, Jojakim, schmerzenvoll klagen, ob sie in Wehmut seufzen, oder ob sie, auf unbegreifliche Weise getröstet, durch holdesten Zauber aufrechterhalten, sich bis zu einem schweigenden Fragen, schweigenden Lächeln zu erheben wissen – in der endlosen, furchtbaren Einsamkeit dieser zehn Jahre erscheint kein Fremder, kein Retter, kein Helfer flüstert ihnen von oben her zu, kein gutes Licht dringt nachts zu ihnen, nur der böse funkelnde Mond, weither gespiegelt durch das "Wasser des nahen Teiches, keine Decke wärmt die drei Unglücklichen in den lichten, kalten Nächten, wenn der schwere Tau fällt, gegen den Morgen hin, wenn es kühl über sie gleitet, wie Schnee auf den Bergeshöhen, dort, in der auf immer verlorenen Heimat, auf dem harzduftenden herrlichen Berge Gottes: Libanon.

Kein fremdes Gesicht nähert sich ihnen, die immer unter dem Baldachin der herrschenden Höfe gewohnt haben; nur jetzt dieses, das des niederen schwarzen Dieners aus dem Marstall des babylonischen Kaisers, der ihnen eine Schaufel voll faulen Laubes herabwirft und noch eine.

Wie sorgfältig das Streben des Gatten, der ein Häufchen Blätter unter den schwarzen, durch die dünnen Haare hindurch heiß anzufühlenden Scheitel der Gattin ausbreitet, ein zweites Häufchen Blätter unter ihren Hüften, die weiß und in wildem Schwung durch den braunen Dämmer der Höhle schimmern, und ein drittes, als wäre es für eine Tote, die im engen Sarge gelagert würde, unter den Fersen der leidenden Mutter entfaltet. Und als wäre es für eine Sterbende, die sich mit einem nie zu beschreibenden Seufzer auf dieser Lagerstatt ausstreckt, haucht der Gatte über die Gattin nur das leere Totenwort: »Ach Herrin! Ach, Liebste! Rahel!«

Des Gatten Brust ist, so jung er noch ist, schon mit dem grauen Haar des Kummers bewachsen, sein schönes Auge durch tief herabwuchtende Augenbrauen beschattet; an das Dunkel gewöhnt, blickt es aus schmalem Spalt und hat keine Tränen mehr, auch nicht in dieser Nacht.

Wohl ist jetzt, in einem Schwall von lebendem Blut, unter dem Flüstern von zarten, wie im Rausch entfließenden Liebesworten, ein kleiner Knabe geboren worden. Ohne Schrei, ohne Schmerzen, ohne Klagen der entzückten, entrückten Mutter, der flach gelagerten, schwarzumflossenen Gestalt in der tiefen Höhle: so hell entsprießt der Finsternis das wie ein Mond gerundete Gesicht des Kindes; so leuchtend im Augenglanz nach all den Tränen, so wissend in den festen Zügen um die Lippen nach allen Verblendungen des von Gott verblendeten Geschlechtes Davids und Salomos und Zedekias. Zwei Könige halten das silberne Kind auf ihren Armen.

Aber es gibt keine Nahrung für den neugeborenen Mund. Vergebens preßt die Mutter ihre mädchenhaften, kleinen Brüste, vergebens will der unselige Vater sich Stücke aus seinem eigenen Fleisch reißen, als müßte alles möglich sein, nachdem alle Sünden des Volkes Israel und seine eigenen Sünden durch das Leid Israels und sein eigenes Leid gebüßt sind. Aber dieses sündenlose Kind wird nicht unreines Fleisch essen. Nicht mit Schmerzen, nicht mit Blut wird sein Durst gelöscht werden.

Es vergehen viele Stunden seit der Geburt, nichts rührt sich. Immer heißer, immer härter der Busen der gütigsten, stillsten Mutter. Leer die Hände des Vaters, ausgeweidet und verdorrt sein Reichtum, verloren die Macht, die Kammern geplündert, die Herden weggeführt und die Hirten gesteinigt. Lange ist Jerusalem zerstört.

Dunkel die Nacht; kaum, daß selten, verirrt, ein schräger Funke grünlich aus dem nahen Teich unter den Palmen emporflackert, von den weichen Flossen eines in die Nachtluft springenden Fischleins entsendet. Das Kind – weiß die Mutter, ob aus Zufriedenheit oder aus Sterbensschwäche? – ist eingeschlummert. Sein Atem bricht aus dem innersten Innern in schnellen, hoch beschwingten Strömen, schneller als sonst Menschenatem strömt. Da es seine Lippen, die mit Purpur gezeichneten, die in vollen und reinen Linien gezogenen, im Traume bewegt, findet die Mutter, die nicht schlafen kann trotz ihrer Erschöpfung, und die neben einem hungrigen Kinde nie wird schlafen können, keinen anderen Rat, sie weiß sich keine andere Hilfe, als ihrem Kinde ein feuchtes Blatt von ihrer Lagerstätte, mag es noch so sehr nach dem Unrat der Stuten im heidnischen Palast riechen, zwischen die Lippen zu schieben. Sie rollt es um ihren kleinen Finger, sie wärmt es erst, als wäre es richtige Speise, nur zu heiß oder zu kalt, in ihrem eigenen Munde und gibt dem Kinde dieses zu essen und zu trinken.

Und mag es ein größeres Wunder sein, daß das Kind eines Königs, nach langer Ehe geboren, an die Brust seiner Mutter pocht mit seinen verlangenden Lippen und doch keine Nahrung findet, mag es ein furchtbareres Wunder sein, daß dieses schöne, silberne Gebilde in der vom Schmutz und Auswurf vieler Jahre verpesteten Schlangenhöhle zur Welt kommt, in Nachtkälte gebadet, mit Tränen getrocknet, das Kind nimmt Nahrung, die jeder Mensch verschmäht; denn es ist nichts menschlich an ihm, nur die Gestalt.

Dieses Kind saugt, halb im Traume, an der schlechtesten Speise, und durch die kleine, wie ein Edelstein unter der zarten Haut gekantete und geschliffene Kehle gleitet der erste, der erdige, schmutzige Bissen.

Die Lippen, etwas geöffnet und im völlig verglimmenden Silberschein der fliegenden Funkenfische ihr rosiges Fleisch von innen entblößend, verlangen nach mehr. Nun aber, da die Mutter, heimlich, damit der unglückliche Gatte es nicht sehe, unter ihrem Haupt mehr von dem feuchten Laube hervorzieht und es zwischen ihren mageren Händen auspreßt, da ruhen ihre Hände, weich gerundet, eng geschlossen wie ein kleines, sicheres Dach, über den aufgetanen, strahlenden Augen ihres Kindes. Aber bevor ein Tropfen des erdigen Totensaftes die Lippen berührt, in diesem Augenblick erheben sich Tausende von breit beschuppten Fischen mit einem rauschenden Sprunge, wie eine dichte, schillernde, perlmutterfarbene Wolke, von Lichte triefend, aus dem Teiche unter den Palmen, nahe den Pappeln. Es leuchtet die ganze Landschaft, die dunkel geballten, schwarzumblätterten Bäume mit den lichteren Rebengebinden, die weißen Mauern mit ihren tiefen Rillen und scharfen Ecken, ihren hohen Zinnen und schweren Türmen, die Beete mit ihren Blumen, die kleinen Bachgeriesel und sandbestreuten Wege, die Tempel, steinernen Altäre und Göttergestalten – und hoch oben über dem Kinde auf dem Grunde der Höhle, über der liebend erhobenen, schmerzvoll aufgebäumten Mutter, über dem Park mit Beeten, Bäumen und Teich, über den Zinnen und Türmen steigt, kaum dem ahnenden Blick erreichbar, fern wie Gottes Trost, das Schloß des kaiserlichen Herrn empor, in unzähligen Fenstern erglühend, auf Säulen ruhend, unerschütterlich: viele Fackeln blitzen auf dem flachen Dach der kaiserlichen Feste, ihm zu Ehren.

In diesem unvergeßlichen Augenblick sieht die Mütter mit einer in Worten nie zu schildernden Freude, mit einem für andere nie zu ermessenden Tröste, aufschwebend in einer im ganzen Jammer wortlos erschütternden Entzückung, wie von ihren Brüsten, erst von der rechten, dann von der linken, sich kleine, in diesem Lichte ebenfalls perlmutterfarbene Springquellen von Milch loslösen, die, von einem sanften, nach Wein und Nelken duftenden Winde getrieben und gelenkt, dem schönen Kinde zwischen die schmale Furche der festen Purpurlippen strömen, während im Garten die Fische mit knisterndem Ton, wie sich senkende Schwärme wilder Möwen, wieder ins Wasser und in die gute Dunkelheit zurückkehren.

Der Vater, so schwer er in seufzendem Schlafe liegt, muß es bemerkt haben, da er sich stumm, mit gesänftigtem Lächeln über beide, Mutter und Kind, lehnt. Bloß sein Bruder, der geblendete Zedekia, der treueste Gefährte des durch zehn Jahre erduldeten Jammers, ahnt nichts von dem Segen. Er schläft so tief, er ruht so verlassen, abseits der Liebenden, verloren unter den Vereinten, das Streicheln von Rahels Hand kann ihn nicht wecken, das Rufen von seines Bruders einst so geliebter, lange einzig vertrauter Stimme kann ihn nicht rühren; müde, wie ein gefallenes Blatt, das als Kissen unter Rahels müdem Haupte liegt.

Der Bruder greift an des düstern Königs Hand, doch da ist alles von der zehnjährigen Fessel verödet, verdorrt. Er will ihm die blinden Augen öffnen, denn wie sonst könnte man ihn rufen? Aber hier ist unter den schwarzen Lidern nur eine leere, trockene Grube, ein verlassenes Grab.

So ruhen drei Lebende neben einem Toten, nachts im Sommer in der Schlangenhöhle, in der ersten helleren, trockenen Nacht nach den Regengüssen des Frühlings. Sie schlummern in Frieden, auf den Höhen zu Babylon, im zehnten Jahre der babylonischen Verbannung. Im Frühling ist das Kind geboren; es streckt seine Hände, es tastet über den weißen, langen Bart des gestorbenen Königs Zedekia, dorthin schmiegt es sein heiteres, silbern schimmerndes, kleines Gesicht. Dort schläft es, bis der Morgen kommt.

 

2

Am nächsten Morgen betraten zwei Diener des kaiserlichen Herrn den unterirdischen Raum. Es war noch finster in der aus schweren Quadern gemauerten Höhle, nun hob sich die Dämmerung, die Nebel wogten über den hohen Wiesen, der Dunst des stehenden Wassers im Teiche mischte sich mit dem bitteren Atem des toten Königs Zedekia. Im sandbestreuten Winkel der Achselhöhle barg sich sein schlaffes, schlafendes Haupt, in aschenfarbenem Geriesel rollte der Bart über die mageren, an die Brust emporgezogenen Knie. Staubig war der Grund der schmutzigen Erde und kein Tuch gebreitet. Würmer krochen durch die Glieder der verrosteten Kette, sie waren in helleres Goldbraun gekleidet.

Die kaiserlichen Boten schimmern in weißen, weiten Röcken, sie weisen ein lächelndes, blühendes Gesicht, als hätten sie allen die freudigste Botschaft zu verkünden. Als aber Rahel sich bittend an ihr knisterndes Gewand schmiegt, dessen kleinster Zipfel das nackte Kind Daniel hätte bedecken können, streifen sie die Diener unwillig ab mit ausgereckten Knöcheln, mit nach innen gebogenen Fingerspitzen, als wäre eine haarige Raupe vom Baume zu lösen, die ein Edler nicht gerne berührt. Über den toten König Zedekia schreiten sie hinweg wie über einen verwitterten Stein und heben die Säume ihres Gewandes hoch. Vor Jojakim beugen sie sich. Es klirrt unter ihrem schmiegsamen Leinengewande der Panzer aus Erz. Mit den äußersten Enden ihrer schönen Locken rühren sie schmeichelnd an das Geäder seiner Füße, die von der langen Gefangenschaft verkrüppelt sind.

»Unser Kaiser Nebukadnezar erwartet dich. Er will freundlich mit dir reden. Lieber Jojakim, sagt er durch unseren Mund, darf ich dir nicht milde sein? Laß hinter dir, was du erlebt hast. Zürne nicht weiter, gräme dich nicht. Ich will dir einen anderen Vater geben, eine andere Gattin vermählen. Ich will dir ein anderer Gott sein, ein besserer, ein milderer. Denn euer Gott liebt die Seinen nicht. Zehn Jahre mögen sie, seine Knechte, nach ihm jammern, er hört sie nicht.

Aber ich will dich nicht plagen, sondern deinen Tisch weit erhöhen über die Tische der Könige, die mir zu eigen sind. So sollen die Tage deiner Knechtschaft ein Ende haben.

Laß die Frau, laß ihre Hand und meide ihren Schoß, laß dein Land, deine zerborstene Stadt, ihre Bäume, ihren Schatten, Tempel, Höfe und Basare, Altäre, Brunnen, Scheunen und Häuser, ihren Brand und ihr Vergehen. Ich habe neue Städte für dich und anderes viel! Verbirg dich nicht im Winkel, ducke dich nicht in den Ecken, denn unser Herr spricht zu dir in gutem Willen. Du magst vorangehen in deiner Freuden Fülle. Im Festzug dem Herold nachfolgen, beschattet sein von seinem breiten Baldachin. Ich will alles vergelten, dein Kleid ändern aus dem Bettlerkleide in ein königliches, deines Herzens Kummerfalten seien ausgelöscht, daß du es nicht wiedererkennst. Du magst an meinem kaiserlichen Tische sitzen, als hättest du ihn nie verlassen.«

»Gestern wurde mir ein Sohn geboren. Zehn Jahre lang sah ich nur meiner lieben Gattin Gesicht. Wer wäre ich, wenn ich sie heute verließe?«

»Wer wäre unser hoher Herr, wenn er sie vergäße? Laß sie hinter dir. Sie werden nicht sterben. Einen Mann aus Judas Zahl will unser Herr in Freude baden und mit Glück salben. Das sollst du sein. Sind alle Juden verflucht von ihrem Gott, einer sei gesegnet von unserem Kaiser, der mächtiger ist. Dein Gott hat dir die Krone genommen. In verschütteten Städten und in zerschmetterten Mauern hast du einmal gerichtet und gerechtet. Hier hast du lange gelebt und hast tausendmal tausend Gebete gebetet und keines wurde dir gewährt. Unser Herr hat deiner gestern nacht gedacht. Zwischen seinen Säulen sah der Herr hinab in deine Höhle und erbarmte sich deiner. Er sah zwischen seinen Freudenfeuern das Dunkel deiner Gefangenschaft. Er sah, wie Fische sich aus dem Teich erhoben und in deine Höhle herableuchteten mit knisterndem Scheine, da wollte er Mitleid üben. Er will sich deiner freuen, dich kleiden, schmücken, Garten und Park dir pflanzen, Bäder bereiten und ein Dach in deiner neuen Heimat dir gründen. Ich bin mild und gnädig, sagt er, ich habe dich ausersehen, begnadigt und befreit. Laß mich nicht warten, spricht das frohe Herz der Welt, Nebukadnezar.«

»Kann ich Rahel verlassen, scheidet ein Gatte sich so von der Liebsten? Habe ich deshalb verfaultes Laub um ihre armen Hüften gebreitet? Habe ich vergebens meine Hände unter ihrem Haupte gefaltet? Wurde mir zum Hohn mein Sohn geboren? Zum Spott der Erbe gegeben? Wie sollst du allein dein Leben erwerben? Ich soll dich nicht hören, wenn du rufst? Wir waren so innig vereint. Gestern flüsterte ich dir zu: Ach Herrin, ach Liebste, ach Rahel!«

»Kein Zögern, kein Verweilen! Deine Gattin wird aus dem Kerker befreit. Sie mag am Rande der Stadt leben unter den anderen, die dort wohnen. Warte! Sei getrost! Gestern, in einer schlaflosen Nacht, hat sich der Kaiser deiner erbarmt. Morgen, beim guten Erwachen, wird er deiner Gattin in gleicher Güte gedenken. Vertraue ihm. Er ist nicht der Judengott, der der Hoffenden spottet und vor den Bittenden sich verhärtet.«

»Was kann hoffen, wer gesehen hat, was ich sah ? Meine Augen haben keine Tränen mehr. Zu sehr bin ich des Lebens müde geworden und des Leidens satt und übersatt. Wer hat gehofft und wurde nicht betrogen? Die Welt hat keinen Grund und Boden mehr. Noch kenne ich dich, Rahel, dich, Daniel, aber Gott kennt uns nicht. Gesündigt haben viele vor uns und gefrevelt Geschlechter auf Geschlechter. Aber erst uns hat er aus dem Buche ausgestrichen. Ich bin nur ein Schatten, in deinen Augen, Rahel, mich zu spiegeln. Ich bin nur Daniels Vater, eines Glücklicheren Vorbote. Besser mit ihnen hier verdorren, als in Freude allein leben.«

»Deiner Witwe wird Nebukadnezar sich erbarmen, für deine Waise wird er sorgen. Es ist nicht am Ende aller Tage.«

»Wurde ein König tiefer verachtet als ich? Meine Hände sind leer. Mein Reichtum ausgeweidet. Die Macht verloren. Die Kammern geplündert. Die Herden weggeführt. Die Hirten gesteinigt. Ich habe einen Sohn gezeugt. Im finsteren Kerker wird er geboren, wie ein Tier von der aufstöhnenden Mutter geworfen. Ich habe einen Erben gewonnen. Erde reichen wir ihm als Brot, doch die essen nur Tote. Sprich, Rahel! Noch bin ich bei dir. Darf ich mich nicht hier noch nach Frieden sehnen, nach Freude hungern und nach Milde dürsten? Darf einer nicht der Strenge überdrüssig sein, darf mein Gaumen sich nicht verschließen vor der Speise Elend und dem Trank Jammer? Wollen wir noch ruhen, nur in einem Grabe können wir noch ruhen, beide beisammen. Ruhten wir nicht zu lange schon in der Schlangenhöhle, fern von Sonne und Mond? Darf ich nicht endlich auf Teppichen mich strecken, ein Dach über meinen Gliedern haben, wie ein Wasserträger in seiner Hütte, damit nicht der Morgentau mich weckt nach unruhvoller Nacht? Was soll ich tun? Was tut Gott mit uns? Er führt uns nie heraus aus dieser fürchterlichen Zeit. Dein Kind, Rahel, blickt mich an, als wüßte es alles. Es bewegt die Lippen, als wollte es sprechen, es verzieht den Mund, als wollte es weinen. Sprich zu mir, Rahel! Schweige nicht, wenn der Versucher uns martert, gib mir Kraft, halte mich, binde mich. Unser Geschlecht war von Gott verblendet. Führe du mich, sprich!«

»Was könnte ich sprechen, was du nicht weißt? Hast du nie gehört: ›Bleibe bei mir, Liebster!‹, nie vernommen: ›Verlasse uns nicht!‹? Gehe nicht zu den Freudigen, setze dich nicht zu den Mächtigen! Eines Königs Kind, nach langer Ehe geboren, pochte gestern nacht mit seinen verlangenden Lippen an meine harte Brust. In der verpesteten Schlangenhöhle hier kam es zur Welt, in Nachtkälte mußte ich es baden, das Ärmste mit Tränen trocknen, an der schlechtesten Speise, dem erdigen, verfaulten Bissen ließ ich es saugen, an dem Kuchen der Toten sich laben. Doch war alles zum Segen. Doch! Doch! Sieh es, strahlt es nicht schöner, schimmert es nicht reiner als die Kinder der Reichen, die Nachkommen der Fürsten, wie wir's einst waren, wir beide? Bei uns ist Gott zu Hause. Beuge dich nicht. Bleibe bei uns.«

Noch umfaßte er Rahels nackten Rücken, er klammerte sich an ihre von der Feuchtigkeit der Grube schlüpfrigen, schlanken Arme, er legte seinen Kopf an ihre schmalen Knie.

Aus der Tiefe hauchte er Bitte um Bitte zu den Knechten des Kaisers. Seinen Augen entsprangen Tränen. Die Gattin wandte sich ihm zu, schnell und hoch wie ein Vogel atmete das Kind zwischen beiden, aus der Tiefe drang der ruhige Glanz seiner Augen von zartestem Blau empor.

Lautlos flüsterte Rahels blasser ausgebluteter Mund.

Die Boten hoben Jojakims willenlose, leichte Gestalt auf, sie warfen um seine Glieder, über seine zitternde Haut eine weiße Hülle, ähnlich der, die sie selbst trugen. Über ihre mondförmigen, korallenroten Nägel rannen seine Tränen. Auf sein neues, weißes, kühles Kleid schütterte das früh ergraute Gesträhn seines Bartes.

»Dein glücklichster Tag«, flüsterte der jüngere Bote, »nie kehrst du zu Rahel zurück.«

Schon streckte sich Jojakims Haupt, zum erstenmal seit zehn Jahren, über die Brüstung des Gewölbes, nun setzte er den Fuß auf den freien Boden, die feine sandige Umrandung der Höhle, die noch die Spuren von den Tatzen der Krokodile trug. Er blickte hinab. Sein wissender Blick umfaßte die Mutter von oben, die edle, schwarzumflossene Gestalt, die noch, gespiegelt auf ihrer feuchten Lagerstätte aus Blut und Schmutz, aber fern in ihrer Seele von Blut und Schmerz, allem anderen versunken war. Denn sie stand da, Auge in Auge mit ihrem Kinde, ihre Blöße verdeckt mit des Kindes Blöße, ihren verglimmenden Lebensstern vereint mit dem aufgehenden des Daniel.

Nur ein leichter Seufzer wehte zu ihm, dem kräftig Aufatmenden, unter den hohen Bäumen, so leise strömte es ihm nach in den reinen Schatten unter den Pappeln, so zart hauchte es ihm nach unter seinen Füßen, den erstarkenden, so nahe aus der Tiefe: »Freue dich nicht mit den Frohen! Bleibe bei mir! Lasse uns nicht, Liebster! Wir küßten uns tief in der Liebesnacht. Verborgen lebten wir zehn Jahre gesegnet unter den Verfluchten. Unser Bruder hat uns nicht gehört, kein Fremder uns gestört. Vergiß mich nicht! Mein Mund lag in deinem Ohr, so konnte ich flüstern, dein Herz schlug sanft in meiner ausgebreiteten Hand, so konnten wir glücklich sein. Es ist nicht alles Speise Elend, was unser Gott uns gab an diesem Ort, nicht alles Trank Bitternis. Unser Kind ist seliger als wir. Um seinetwillen wurden meine armen, müden Lenden gesegnet nach zehn dürren Jahren. Unser Kind ist seliger als ich. Um seinetwillen lebt die Welt. Sahst du es nicht? Milch fließt aus den Felsen. War es nicht hier? Die Fische flattern in der dunklen Luft, mit Fittichen rauschen sie über uns, uns beiden zum Zeichen. Dies ist nicht ein Mensch, wie wir es waren.

Komm zurück! Ist nicht das Herrlichste unseres einzigen Lebens zurück? Davids himmlischer Stern, Jerusalems gesegnete Höhe, die Winkel inmitten der Mauern, wo mein Lager stand neben dem Lager der drei Schwestern und duftende silbergraue Kräuter zu unseren Häupten, Zweige von Libanons herrlichen Gipfeln, vor den Türen spielen meine Brüder, sie rufen dir zu, denn du kommst, mein Liebster. Zurück! Alles zurück! Mein Gatte, der Reichste von allen, da er einen Thron verschenkte und eine Krone aus der geöffneten Hand gleiten ließ. Mir reichte er seine starke Hand, mich führte er fort unter das Hochzeitszelt am Abend unter den Gärten.«

Das Kind erhebt seinen lichten nackten Körper, es stützt ihn auf die kleinen Fersen. Den weichen Rücken hält es angeschmiegt an das dunklere Elfenbein der mütterlichen Lenden, das schwer goldfarbene.

Sein Gesicht so leuchtend im Augenglanz nach allen Tränen, so wissend in den festen Zügen des Mundes nach allen Verblendungen des von Gott verblendeten Geschlechts. Nun blickt es den Vater an, es hebt seine rechte Hand.

Jojakim kehrt zurück. »Der Tote soll nicht neben den Lebenden ruhen.«

Die Wächter ließen ihn frei, seines Gehorsams gewiß. Jojakim beugt sich stumm vor seiner Gattin, er kniet nieder zum Segnen seines schönen Kindes. Er sieht den Bruder sein schlaffes, schlafendes Haupt in die sandbestreute Achselhöhle schmiegen, von bitterem Todesatem umwittert.

Jojakim scheidet sich von den Seinen, er scheidet die Lebenden von den Toten. Er umarmt den kühlen Leib seines jüngeren Bruders, hebt ihn auf seine mageren Schultern. So trägt er ihn fort aus dem engen Raum, der Bestattung entgegen.

 

3

Als Jojakim die eisernen Ketten seines Bruders Zedekia so leicht und silberklingend gegen seine eigenen Knie schlagen hörte, und sich das leblose Haupt seines Bruders nach hinten beugte, so willenlos, bis ins letzte ihm hingegeben, als in dem zerbrochenen Spiegel der blauen, toten Augen der Widerschein der verlassenen Schlangenhöhle sich erhob, und der lange verschlossene Mund des Toten sich öffnete zu kaum geflüstertem Seufzer, zum stummen Abschiedswort, und die Reihen der weißen, hohen Zähne sich entblößten unter den Wolken des im Morgenwinde seidig erglänzenden Bartes, da endete er, Jojakim, die Jahre des Jammers, er verließ auf immer das Weib der zerstörten Heimat, das Kind der schwarzen Winter, das Haus in der Grube nahe den Ställen, die Quadern ohne Dach, das böse Wasser im stehenden Teich, den blinden Himmel, das unfruchtbare Land voll Schweigen. Er erkannte den Fluch Gottes. Er wußte, wer er war, und wollte es nicht mehr sein. Er hielt sich aufrecht, erstarkt ging er auf dem feuchten, roten Sande des kaiserlichen Parkes der Höhe Babylons. In immer heller werdendem Grün wanderte er unter breiten Bäumen, spitzen Pappeln, weit gebauschten Palmen, blaublühenden, goldumrindeten Fächergewächsen, gepreßten, steingrünen Sykomoren. Allmählich entglitt der Hauch des stehenden Gewässers, der Dunst der stumm in Beeten verdorrenden Blumen, der Brodem der gemauerten Höhle, in der Schlangen und Nattern zu lange gehaust. Freudiger stieg er über knisternde hellere Wiesen, auf frischere Höhen. Er richtete sich auf über die beiden Boten, er wuchs über Diener, Knechte, Krieger und Sklaven des Kaisers.

Er war Herr wie einst, gesalbt mit dem königlichen Öl Jerusalems, Träger der heiligen, jüdischen Krone, da er seinen letzten Fürsten mühelos trug auf seinen starken Armen. Er stieg über reine Treppen, kühle Stufen, an blaßroten Kapellen vorüber, wo in weiten Höfen lichtlose Flammen brannten vor goldenen, silbernen, sandfarbenen, milchweißen Göttern. Es ragten Männergestalten und Tiere, Herren im Panzer mit kurzem Schwert und Frauen in fließendem Kleide, aus rauhem, feuerfarbenem Ton gebrannt. Hohe Opfertische trugen Früchte viel, feucht vom Tau, wie mit Wachs milchig bereift, Trauben in schweren Gewinden. Dunkles Blut, dunkler, schwarzer Wein vor den ehernen Altären, aus steinernen Krügen in lichtblaue Schalen wie in Blumenblätter gefüllt. Rauchendes Fleisch aufgebrochener Opfertiere krümmte sich unter leichtem Krachen über flackernden Feuern, Fett zischte in kleinen Fünkchen, versprüht im aufsteigenden, hellgelben, flimmernden Mittag.

Wo sind meines Gottes Tempel? Längst zerfallen. Die ehernen Meere und gegossenen Schalen zertrümmert und den Kupferschmieden zur Zerstückelung hingegeben, alles vorüber, alles dahin.

Meines Herrn stete Feste? Abgebrochen, die Schellen der Frohen verstummt an den Tagen, da meine Stadt fiel, dort in den lieben Bergen, in den Tagen, da die Akazien blühen. Heute ist der Tag meiner Lösung. Ein ander Jerusalem sei dir hier aufgebaut, ein neuer Tisch gedeckt, sagt mein neuer Gott, Fürst und Freund. Unter lichtem Türkis und unter wolkenlosem Himmel darf ich gehen, hoch auf der sommerlichen, steil gemauerten Burg Babylon. Je weiter Jojakim geht, je höher er steigt, desto länger der Zug. Die Männer seines Volkes, urvertraute Gesichter, gealtert und bestaubt, neigen sich vor den auferstandenen Königen, dem lebenden und dem toten, sie schließen sich zu leise murmelndem Geleite. Die Leiche des toten Herrschers nehmen auf und tragen vier schöne Knaben aus Judas edlem Stamme, spät geborene, die in der Verbannung aufgewachsen sind, fern der Heimaterde, dienend im kaiserlichen Palaste in niederm Dienst.

Es leuchtet im Mittagsglanze unter gelber Sonne die babylonische Landschaft, die dunkel geballten, schwarz umblätterten Bäume mit den silbernen Rebengebinden, die weißen Mauern mit tiefen Rillen und scharfen Ecken, die Tore mit starken, lachenden, riesigen Knechten, die Beete im Innern mit strahlenden Blumen, die kleinen Bachgeriesel und sandbestreuten Wege. Schöne Frauen schreiten im wiegenden Gang, die weiten Gewänder bauschen sich im aufsteigenden Mittagswind und in den Falten verrieselt das Licht unter seidigem Knistern.

Fernher starrt in Mittagsglut der ungeheure Turm Babylons, der quaderförmige Koloß. In klarem Himmel badet er, enthoben dem Dunst der weißen Millionenstadt. In mächtigen Steinen ist er aufgerichtet auf der anderen Seite des lehmfarbenen Flusses.

In der Nacht hatten sie den Fürsten der Juden mit seinem Bruder und seiner Gattin nach dem Falle Jerusalems hierhergeführt. Nie hat er dieses freudig auferbaute höchste Haus der bewohnten Welt gesehen. Nun glühen weiß die Zinnen des Turmes über der in Silberlichtern flirrenden friedenvollen Stadt. Zu Füßen des Turmes schmiegt sich dienend der Strom.

Es schwimmen nebeneinander Dschunken und schmälere Kähne, es blähen sich safranfarbene Segel, es beugt sich der dunkel elfenbeinfarbene Mastbaum wie das schlanke Rückgrat einer schönen weiblichen Gestalt. Rosse und Reiter, Wagen, Karren und Menschen ohne Zahl wogen über die hochgeschwungene Brücke, sie ziehen fort und kommen, begegnen einander in lautlosem Auseinandergleiten tief unten in der hochgesegneten Stadt Babylon.

 

Hier durch die Höfe des schweigenden kaiserlichen Parkes wird der letzte Fürst des verfluchten Geschlechtes Juda dahingeführt. Ein Knabe trägt sein Haupt und schmeichelt den eingefallenen Wangen mit seinen schmächtigen, feinknöcheligen Fingern, der zweite umfaßt die Brust von der rechten Seite her und seine braunen, kindlichen Handgelenke kreuzen sich unter Zedekias weithin strömendem, licht aschenfarbenem Bartgelock, der dritte nimmt von untenher die Knie des Toten, die sich im Takte wiegen, der letzte trägt die Füße Zedekias, als der Schwächste hat er die leichteste Last, gebeugt schreitet er in des Toten Schatten dahin. Nun legen sie ihn nahe der umfassenden Mauer nieder, milde weht sein Haupthaar im heißen Winde, der von den flachen Dächern und den glatten Wänden widerstrahlt. In den dunklen, offenen Augen des Judenfürsten irrt grüner Glanz von Blättern. Eine Quelle quillt zwischen moosfarbenen Steinen. Sie schöpfen Wasser in hölzerne Kellen, sie waschen ihn rein, sie kühlen ihn zart. Aus dem Gemache eines Dieners bringen sie Salbe auf einem frischen Blatte, dem König Hände und Füße zu salben. Aus der Kammer einer jüdischen Sklavin holen sie ein Totengewand, ein Frauenhemd, lange schon gewebt, grobes Linnen, mit Knoten gewirkt. Senkrecht wallen die Falten herab. Aus den Säumen ihrer schlechten eigenen Kleider reißen sie staubige Fäden, drehen aus Hanf eine graue Krone, die müde Königsstirn in der Verbannung zu krönen.

Sie murmeln Gebete, sie stimmen ihre Gesänge an. Nahe den Bäumen, in der feuchten berieselten Erde, unweit der Quelle. Unter schlanken windwehenden Palmen graben sie mit Spaten eine niedere Grube.

»Weinet nicht über die Toten, grämet euch nicht um den, der dahinzog, da er nimmer wiederkommen wird, daß er sein Vaterland wiedersehen möchte. Wir werden nicht wieder hinkommen, werden sterben an dem Ort, wo wir gefangen hingeführt sind, werden dieses Land nimmer sehen. Wir haben unser Haus gebaut mit Sünden, unsere Gemächer mit Unrecht geschmückt. Gottes Gnade, ihm zu leuchten. Erbarmen, ihn zu decken. Milde, ihn einzuschläfern und ihn satt zu machen, ihn mit Frieden zu tränken. Vergeben Gottes soll an seinem Lager wachen, der Unnennbare wird ihn nochmals krönen und dem Blinden ewiges Licht geben.«

Noch einmal beugen sie sich über ihn. Die Häupter der Trauernden vereinen sich über seiner flach ausgebreiteten, ausgeatmeten Erscheinung, sie bergen das Geheimnis vor der Menge der Fremden, sie huldigen ihm inmitten der Feinde. Denn unter Feinde hat sie dieser, ihr blinder König geführt, aber ihre Treue wird die seligen Tage von einst nicht vergessen. Denn in seine rechte verödete Augenhöhle setzen sie den letzten Rest aus Salomos herrlichen Schätzen, den unbezahlbaren, reinen Smaragd, der hell unter den weißen Augenbrauen des Toten funkelt. »Weinet nicht über ihn!«

Auf das linke Augenlicht geben sie ihm ein Stück trockener Erde von Jerusalems heiliger Krume. »Grämet euch nicht über ihn!« Zwischen die hohen schönen Zähne schmiegen sie ein Blatt, ein gedörrtes, silbergraues, gepflückt im letzten Vorüberwandern von Judas unvergessenen Hügeln. »So gehe in Frieden, seine Gnade leuchte über dir!«

In den ersten Tagen des Frühlings ist Jerusalem gefallen, in der Blüte der grauen Bergakazien zerstört.

Könige und Königsbrüder und Königssöhne sind hinweggeführt, gebunden, gefangen, geblendet, verflucht.

Im zehnten Jahr der Gefangenschaft ist Daniel geboren. Er erbt kein Erbe, seine Blöße deckt kein Kleid.

Im zehnten Jahr der Gefangenschaft ist Zedekia gestorben, in der Nacht, im feuchten Nebel, in der Höhle, nahe den Ställen, wo Schlangen hausten und Nattern ihre Liegestätte bauten.

Zum höchsten Kaiser wird Jojakim gerufen. Über Zedekias Grab wird die Erde geglättet, Pferde und Elefanten schreiten schwer und stampfen die Erde ohne Mühe fest, und die Diener treten auf die Krume wie über einen gebahnten Weg.

Es löst sich in Frieden. Die alten Getreuen zerstreuen sich, die Diener gehen an ihre Arbeit im Palaste, die Kinder an ihre Spiele, die Jünglinge zurück in die Aufsicht der Haushofmeister, Weinschenken und Speisenträger, Düftebereiter und Sendboten, die Männer beugen sich weiter in ihre Sklaverei. Man kennt ihre alten Namen nicht und ruft sie mit fremden neuen Worten. Die Alten horchen nicht auf. Sie werden von keinem gerufen. Sie verkriechen sich stumm in die Winkel der Stadt, wo sie unter Fremden freudenlos leben und sterben.

 

4

Jojakim, der Bruder Zedekias, des letzten Königs über Israels Erbe, wird vor den Kaiser Nebukadnezar geführt und sieht fernher den großen, glücklichen Fürsten ihm Gnade winken. Auf Befehl des Kaisers kleidet man ihn in weite, blaue, schöne, adelige Tracht, er bekommt seinen Sitz an der Tafel des mächtigsten Kalifen unter tausend Gästen, er ißt die gleiche Speise wie er und die leicht geschürzten Mundschenken reichen aus den gleichen schwarzehernen Krügen ihm und dem Herrscher aller Lebenden zu trinken, indem sie mit ihren braunen, starken Händen seinen Becher fassen, ihn mit Schnee vom fernen Gebirge ausspülen und ihn mit Wein füllen, dessen kühler Duft ihn berauscht. Es ist Fülle in allem, Sättigung an den Tischen, Ruhe in den dunklen Schlafgemächern, Ehre, frohe Würde und Mut unter den Soldaten und fremden Trabanten. Man führt Jojakim, den König von einst, fröhlich durch die herrliche, weiße Millionenstadt, die in dreißig Ringe geteilt ist, deren jeder größer ist als Jerusalem und der ärmste reicher als des armen Juda ganzer Besitz, man geleitet ihn auf den ungeheuren Turm durch geheime, innere Treppen. Unter sich sieht er die Ferne nicht enden.

Durch die weiten, azurblauen Ärmel seines Leibrockes drängt sich warm der ruhige Abendwind. Die Stadt wird dunkel, neben ihm flammen die steilen, heiligen Feuer der Babylonier, es kracht das Messer der Opfernden im Nackenwirbel der röchelnden Lämmer, es rauscht mit bläulichem Schein das Blut auf matt glühende Roste. Sie beten zu ihrem Gott ohne Kummer, ihre freudigen Gesänge träumen später noch in des fremden Königs Traum der ersten Nacht.

Am Morgen beugen sich Diener über seine schlaffe, müde Hand und fragen nach Befehlen, sie führen ihn in Basare, und ihre starken Rücken senken sich unter den überreich gekauften Lasten, es sind Stoffe, edle Steine, saftvolle Früchte der ersten Ernte, Gewürz und Wein, Dufthölzer und Narde und gepreßtes reinstes Öl, Seide in Rollen und Linnen in Gebinden, Teppiche, gewebt in den innigsten Farben, Perlen und geschmiedete und gegossene Ketten, in ovalem Kästchen, das der oberste der leibeigenen Diener unter der Achsel trägt, wohl geschützt. Mädchen von frühester Jugend, von reinstem Glanz sind ihm zugeteilt, sie wollen ihn furchtsam liebkosen. Schatzmeister von bewährter Treue, seinen Besitz zu verwalten, Gärtner, seine Bäume zu pflegen, seinen Beeten Wasser zu geben in der dürren Zeit. Kamele schleppen das Wasser in ledernen Säcken, die schwer an ihren mageren Flanken hängen. Vertraute stehen ihm bei, Ärzte und Mundschenken sollen seiner achthaben, wenn er nachts bei Kerzenlicht trinkt.

Wohl flüstern ihm bittende Stimmen oft von Rahel, seiner liebsten Gattin. Doch er sagt: »Rahel? Ich habe keine gekannt.« Man spricht von Judas Leid und Israels Tränen. Er sagt: »Habe ich je Leid erlitten?« Man raunt von König Zedekia, dem trauten Bruder, Gefährten endenloser Nächte. Er sagt: »War nicht immer ich König der Juden?«

Die jüdischen Fremdlinge, die zerstreuten Knechte, die schüchternen Alten, die blaß aufgesprossenen Knaben im kaiserlichen Palast und seinem weiten Gelände, alle sammeln sich in verbotenen Gewölben, sie flehen zu ihrem unwilligen Gott in heimlichen Litaneien. Er steht still, hoch, ruhig, unbewegt. »Wer ist Gott?« fragt er, er spielt mit seiner goldenen Kette, er läßt seine Kleider fallen, badend versinkt er im grün umspielten Teich, um die Hitze des babylonischen Sommers zu kühlen.

Über seinen Schlaf wachen junge, holde Sklavinnen, deren jüngste, holdeste ihn umschmeichelt und seine Träume froh und wundergestaltig macht, mit leisem Summen in der rauhen Stimme singt sie ihm zu, mit silbernen Schellen an den schlanken dunklen Knöcheln schleicht sie über die weißen Steine des Saales, ihre Brust, hoch strotzend auf der weich wogenden Fläche ihres Leibes, duftet für ihn, ihre Augen, sichelförmig geschnitten, mit feuervollem grünen Glänze, der mächtig durch die dichten Augenwimpern bricht, leuchten ihm, wenn er erwacht, der in sich selbst begrabene, ewig in Dämmerung versunkene Fürst Judas. Nach zehn Jahren engsten Kerkers darf er jetzt in Freiheit gehen, kann, bei Tage und bei Nacht, die dreißig kaiserlichen Hallen, innerhalb der Mauern, im Schatten der Zinnen und Turmkränze, betreten. Seine von der Gefangenschaft verkrüppelten Füße werden gerade, seine vom harten Estrich der Schlangenhöhle versteinten Sohlen werden weich, rosig und gleiten so zart und leicht über die Wege, durch die Säle, die blau emaillierten Gänge entlang, wo Löwen, Drachen und Stiere, in farbigen Ziegeln gebildet und glitzernd in unzerstörbarem Leben, an den Wänden schreiten, endlos einander zugewandt.

Seine mageren, dürftigen Wangen werden voll und glänzend, da ihn seine Dienerinnen mit weißen Bissen füttern, mit frischer Milch tränken, seine Lippen mit feinen Gewürzen und Duftblättern kühlen. Glatt und perlengleich licht wird seine Brust, die einst mit dem grauen Haar des Kummers bewachsen war. Sein früh gebleichter Bart wird wieder schwarz. In ehernen Wellen, nach der Art der Assyrer geschnitten, mit Moschus gesalbt, mit Narde geschmeichelt, mit rein gearbeitetem Kamme gestrählt, so umrahmt er die schweren, weinfarbenen Liebeslippen des Fürsten.

An seiner entnervten Brust trägt er betäubende Blumen, elfenbeinfarbene, grünlich schimmernde, brennend gelbe und solche in wechselnden Farben wie Opale.

Er lernt von seiner Liebsten die Sprache der Chaldäer. Kommt er auf seinem hohen, feurig stampfenden Roß zurück, tritt sie freudig vor die Schwelle. Oft lächelt er und nimmt ihre Hand, während sie, halb gebeugt und aus der Tiefe ihrer sichelförmigen Augen leuchtend, ein geheimnisvolles Zittern um den hochgeschweiften Mund und die Spitzen ihrer schweren Brüste versenkt in die raschelnden, warmen Falten ihres Kleides, sich schon jetzt, an der Schwelle des Hauses mit ihm vereint. In männlich ernster Pracht steht er neben ihr, deren glitzernder Scheitel bis zu seiner Achsel reicht. Er hebt die Hand mit den grauen Zügeln. Aus seiner nackten Achselgrube bricht schwarzes, dichtes Gelock. Es keucht das Pferd nach raschem Laufe nun schon weit hinter ihnen beiden. Den Rücken ihrer mädchenhaften Hand schmiegt sie zärtlich vertrauend gegen sein wollustvoll schlagendes Herz, so gehen sie unter den dunkel getränkten Bäumen, wandern lange noch zwischen den Mauern, die Schleppe ihres lichten, seidenen Gewandes streift wassergrün über den feuchten Sand und zieht gerade Furchen neben den Spuren der Pferdehufe, endlose, zart knisternd; abendlich, tief versunken beide im Versinken des Tages hoch im kaiserlichen Parke Babylons unter schwerer werdendem Grün, unter breiten Bäumen, spitzen Pappeln, weit gebauschten Palmen, blaublühenden, goldumrindeten Fächergewächsen, gepreßten, steingrünen Sykomoren.

 

Wird Jojakim am hohen Tage zur Feier geladen, schreitet er als der erste unter den vertriebenen Herrschern hinter den Herolden mit den weißen Stäben. Seine müde, leere Königsstirn wird von der blaßgelben Seide gefächelt, die, zu steilem Zelte gefaltet und oben zu einer kleinen Krone zusammengerafft, über dem heiligen Haupte Nebukadnezars sich bläht. Denn zwischen den Herolden reitet als einziger der Kaiser der Welt, überallhin lächelt er. Der Seidenhimmel strahlt über dem glücklichsten Herrn, er funkelt im rauschenden, tausendstimmigen Gesänge, weithin goldfarben winkend, vom Jubel der Menge erschüttert.

Jojakim, Zedekias Bruder, Rahels Gatte und trauter Freund, Daniels Vater, Erbe des Stammes Davids, vergaß, wer er war. Er kehrte nicht zu Rahel zurück. Lange ist versunken, daß er einen Haufen dürrer Blätter unter den schwarzen, durch die dünnen Haare hindurch heiß anzufühlenden Scheitel der geliebten Gattin gebreitet hat, einen zweiten unter ihre wild geschwungenen Hüften, die sich aufbäumten im Wirbel der Geburt, ein drittes Häufchen ihr zu Füßen, als ob's für eine Sterbende wäre. An der Schönheit seiner jüngsten Sklavin freut er sich jetzt, er atmet so ruhevoll in ihrem Schatten, er lächelt zu ihren Spielen, sie ist noch ein Kind. Er verwickelt ihre schlanken Arme in das schwere Gesträhn seines dunklen Bartes. Oft will ihn ein Bote von Rahel mahnen, es deutet ihm ein schüchtern gehauchtes Wort von seinem einzigen Sohn, dem in der Höhle der Schlangen geborenen. Er weiß nichts von Rahel, nichts von Daniel. Manchesmal treibt es ihn nachts in der heißesten Zeit durch die kaiserlichen Gemächer, die ihm offenstehen. Der Duft von gewirkten Gewändern, wie sie die Höchsten tragen, Brodem von verbranntem Gewürz, der warme Dunst von Wein, den man mit Veilchen gekocht, der schwere Hauch der Stadt, die unten weiß durch den roten Staub flimmert. Er tritt an die Tische im äußeren Umkreis, trinkt aus den unschätzbaren gläsernen Kelchen, durch deren schimmernde Fläche er, fern von sich selbst, seine weich umfassenden, rosigen Finger erblickt. Er beugt sich über den düster roten Wein, sieht sein großes weißes Gesicht, umrandet vom dunkel wogenden Wellenmeer des Bartes. Sein Gesicht erkennt der Selige nicht. Seine Augen sind so sorgenlos, so unbekümmert aufgeschlossen wie an dem jungen königlichen Prinzen im reinen Schmelz seiner ersten Jugend, als er sein Herrschertum dem Jüngern Bruder Zedekia königlich verschenkte.

Jetzt sucht er nicht die hohe Feste Jerusalem, ihm ist so tief das Heimathaus zerstört, als hätte er es nie gesehen. Er weint nicht um die Gnade Gottes, fürchtet seinen Zorn nicht mehr. Unter den freudigen, siegreichen, sorgenlosen Babyloniern lebt er friedlich, reich und herrlich wie unter seinesgleichen, er spielt ihre Spiele, Brettspiel und Ball, er reitet auf einem sandfarbenen, hohen, wilden, schnellen Pferde zur Jagd, er liebt sehr das Saitenspiel auf der Laute mit den siebzehn Saiten. Nie weint er seiner verlassenen Gattin eine Träne nach, nie dem in der ungeheuren weißen Stadt des Lebens oder der noch ungemeßneren schwarzen Stadt des Todes verlassenen Kinde, nie spricht er von ihnen.

Er weinte nie. Er gewann an Lebenskraft. Er war nicht mehr, der er war. Wohl nannte man ihn noch mit dem alten Namen, aber er war geblendet, tiefer tot als sein Bruder Zedekia, der an der Mauer der ewig fremden Stadt begraben lag. Im Namenlosen verstoßen, sich selbst entrissen.

Er schritt morgens schon aus der kühlen Halle, seine üppigen, lichten Hände hielt er neben seine vollen Hüften, während ihm seine Sklavinnen aus ehernen, schneegekühlten, duftenden Becken das von Gesundheit glänzende Antlitz wuschen, unter kicherndem Geplauder seinen Bart kämmten, seine Füße salbten.

Oft schritt er in schleppendem Leinwandmantel die Wege herab, zwischen den Türmen, durch die Tore, unter den Zinnen, neben den ehrerbietigen, gewappneten Wachen, bis an den Teich beim Palmenhain, er trat unter die Pappeln, die den schmalen Weg windbewegt, ruhevoll rauschend umsäumten, er kam in die Gegend der Ställe, nahe an die tiefe Höhle, an deren Böschung noch die Spuren der Krokodilstatzen eingegraben waren.

Im Teiche blitzten silbern die Rückenflossen der Fische.

Er blickte hinab, er sah eine gemauerte Grube, ein leeres, aus Quadern gemauertes Grab. Er lebte, er atmete froh.

Unten raschelten Feldmäuse, sie wühlten sich durch das in kleinen Haufen geballte Laub mit ihren unsichtbaren starken Gliedmaßen. Hob sich ein Hügel, regte sich ein Stengel, knisterte ein Stücklein Holz.

Er sah sich selbst nicht mehr. Nicht die Spur der Seinen. Ohne Wehmut, ohne Kummer, friedlich, besänftigt, ausgesöhnt.

Sein strahlender, weiter, offener Blick war glücklich. Wissend war er nicht mehr.

 

5

Man führte nach sieben langen Tagen die Fürstin Rahel und ihr neugeborenes Kind aus der Höhle fort, man schleppte sie auf einem hochräderigen Ochsenkarren durch die Straßen der unabsehbar weiten Stadt Babylon. Ein gewaltiger starker Neger lenkte das Zweigespann, er schwang eine scharfe Peitsche über den Zugtieren, die bis zu den schweren Fußgelenken im roten Staube schritten. Sie zogen vorbei an den Ställen durch das äußere Tor des Palastes, sie verließen den kühlen, durchgrünten Park des Kaisers mit seinen kleinen Teichen, seinen blauen Bachgerieseln, seinem Schlosse auf den Höhen und seinen Höhlen in den Tiefen, und die Wachen des Kaisers Nebukadnezar öffneten die Tore weit.

Der Rücken der armen Mutter, der nackt sich zwischen die harten Sprossen des Karrens schmiegte, wurde blutig, ihre gelösten Haare waren der einzige Schutz, den sie über das Gesicht Daniels breiten konnte. Noch bevor das Gespann über den Abhang hinab zu der Brücke kam, stieg der Lenker des Karrens von seinem Sitze herab. Er zerriß seinen erdfarbenen Mantel, er gab ein Stück der Mutter, eines dem Kinde. Heu, das zwischen den Hinterrädern des Karrens als Futter für die Tiere aufbewahrt war, hob er hervor, schüttelte es mit seinen schwarzen Händen auseinander und bettete die Mutter weich. Licht schimmerten seine breiten Lippen im eisendunklen Gesicht. In der Hitze kräuselte sich zu hellerem Glanz sein glänzendes Haar. Er zog das Gefährt aus dem schnellen, dichten Strome der Straßenmitte in einen Hof der Karawanserei, brachte Milch in strohumflochtenen Gebinden, Früchte auf Weinblättern und kleine Klumpen gepreßten Schnees in dichtem, hohem, geriffeltem Tonkrug. Er band Seile über die Stäbe des Wagens, feuchte Tücher darüber zu spannen. Es war hoch im Sommer, es brannte der Tag in seiner wolkenlosen Glut. So kamen sie über die Brücke. Seidig ist zu ihren Füßen der Strom gewellt; es wiegen sich Dschunken und Kähne, es blähen sich safranfarbene und karminrote Segel, es beugt sich der elfenbeinfarbene Mastbaum des muschelförmigen Fischerkahns; sie heben die Netze, sie werfen die Angel, sie singen und sprechen, sie lachen und stoßen mondförmige Ruder leichthin in die Flut. Der Karren rollt weiter, es gleiten und verschwinden die Kähne unter den hohen Bögen der Brücke.

Sie kommen schwer durch dichtes Gewühl. Bettler und Aussätzige lehnen an den Wänden der Häuser, die struppigen Haare halten sie hündisch über ihre zerfressenen Gesichter gebreitet, die bunten und verblichenen Mäntel über ihre Körper geschlagen, auf denen wie lichtes Schilf grauer Grind wächst. Demütig flehen sie um Gaben, Brot oder Münze, nur mit den Zipfeln ihrer Gewänder greifen sie nach den Vorübergehenden, scheu tasten sie nach mitleidigen Seelen, sie seufzen im Dunkel ihres Elends schwer.

Der Lenker des Wagens fährt durch stillere Straßen, über weichere Wege. Er wendet sich um und fragt die Fürstin: »Weshalb weinst du?« Da sie nicht antwortet, läßt er den Karren halten, holt von den über eine Gartenmauer überhängenden Zweigen eines Strauches frische Zweige und bindet sie zu einem Fächer. Das Kind Daniel schläft im Schoße der Mutter, weich gebettet, ebenmäßig gewiegt. »Weshalb seufzt die glückliche Mutter?« fragt der schwarze Lenker.

Fernher starrt in der Mittagsglut der ungeheure Turm, der wuchtende quaderförmige Koloß, in mächtigen Steinen aufgerichtet, die Zinnen ragen mit weißglühender Last, umgürtet von neunfachen Treppen, über dem in Silberlichtern flirrenden Babylon.

»Bist du eine Witwe, dein Kind eine Waise?« fragt der schwarze Sklave.

»Ich bin Rahel, Fürstin der Juden«, sagt sie, »mein Kind wurde mir vor sieben Tagen gegeben. Mein Gatte Jojakim lebte zehn Jahre mit mir im Kerker.«

»Du bist mir nicht fremd, schöne Fürstin. Ich wohnte nahe bei dir, als Diener in den Ställen des Kaisers. Laub brachte ich dir zum Lager, Teppiche sollten es sein. Verfaulte Blumen, beschmutzte Blätter, damit du weich ruhtest in deiner großen Stunde.«

Sie fuhren vorbei an Zelten, unter denen Fische ausgebreitet waren in flachen Holzpfannen, zwischen frischen Gräsern und gespannt auf geschnitzte Stäbe. Sie sahen große, schwer gemauerte Speicher mit Getreide, Lager und Tennen, wohin man das Korn in unzählbaren Ochsenkarren brachte, mit Schaufeln warf man es zu silbernem Geriesel in das Innere der Magazine. Sie sahen die Werkstätten der Gold- und Kupferschmiede, die mit dem Lötrohr arbeiten und den Blasebalg treten und glitzernde Fäden ziehen. Sie kamen vorbei an den Teppichlagern, wo die Teppiche übereinander liegen, wie das gefallene Laub, wo man die einzelnen Blätter nicht zählt. Die Werkstätten der Tischler, Schneider, Kuchenbäcker, Salbenhändler nahmen kein Ende. Dann reisten sie vorbei an Gartenmauern, Gewölben, Plätzen ohne Zahl.

Schön geschmückte heitere Menschen trugen auf ihren wippenden Schultern eine mit Blumen bekränzte Leiche, ein Mädchen. Sie schritten schnell, frohe Lieder auf der Zunge. Ferne leuchtete in düsterem Rot ein Scheiterhaufen brennenden Holzes. Es wurde spät am Tage. Babylon nahm kein Ende. Rahel nährte ihr Kind. Sie schlummerte ein.

Als Rahel erwachte, war es Nacht. Bis an die schweren Fußgelenke schritten die Ochsen im schwarzen Staub. Sie schleppten sich müde an den Ufern des Flusses entlang, unter hoch flüsternden Palmen. Über ihnen erhob sich der ungeheure Turm, wo in höchster Höhe Opferfeuer blinkten, kaum noch dem menschlichen Blick erreichbar. Der Lenker des Karrens ging nebenher, führte die Tiere am Seil durch das Gewühl enger Straßen. Es öffnete sich ein weiter Platz. Da warteten die Karawanen vor dem Abzug in die Wüste, die Kamele knieten, damit ihnen im Flackerlicht der Fackeln Lasten aufgeladen würden und mit Riemen verschnürt. Ihre breiten Mäuler mahlten, ihre hohen Ohren lauschten, die kupfernen Schellen an ihrem dürren, abgewetzten Halse klangen tönern dumpf, nah und fern. Pferde und Esel standen in Hürden, weithin scholl ihr Wiehern, ihr Schreien, Stampfen und brünstiges Rufen. Unter einem hohen Baume machte der Wagenlenker halt. Er hob die Fürstin aus dem Wagen, bettete sie auf Heu und getrocknete Streu, die er von den Karawanentreibern erkaufte, denn Decken und Kissen hatte er nicht. Er brachte Wasser, das er aus dem Ziehbrunnen geschöpft, er reichte ihr Früchte und Fleisch, das sie nicht aß. Dann tränkte er seine Tiere, hob die Deichsel seines Wagens in die Höhe, ölte die Naben der Räder. Inzwischen war die Fürstin in Schlaf gesunken. Er umschritt das hölzerne Gefährt, begütigte die durch das Geschrei der anderen Tiere unruhig gewordenen Ochsen, legte ihnen frisches Futter vor und schlief dann zu Füßen Rahels und Daniels ein. Hinter Daniels kleinem Kopfe, der sich silberfarben nach oben bog, war ein schwaches, zartes Licht.

 

6

Am Abend des zweiten Tages wurden die Ochsen ausgeschirrt in einer häßlichen Gegend am Ende der Stadt. Der ungeheure Turm war im Abenddämmer weit entfernt zu sehen, ein eckiger dunkler Berg über dem flachen weiß blinkenden Gelände der Stadt Babylon.

Hier flossen die Gerberbäche langsam unter den Bohlen schwankender Brücken, die niedrigen Hütten standen am Ufer von stinkenden Sümpfen, in denen die Felle gar wurden. Auf der bleifarbenen Flut wiegten sich Kähne, aus aufgeblähten, zusammengenähten Fellen gefügt. Armes, elendes, gedrücktes Volk trieb sich umher.

Der Lenker des Gespanns öffnete das Tor einer aus Lehm gebauten Hütte mit dreieckigen Fenstern. Aus Tüchern ließ er der Fürstin ein Lager bereiten, sprach mit der Besitzerin des Hauses, gab ihr Münzen und nannte den Namen seines großen Herrn und den Namen der Fürstin.

Als er Abschied nahm, sagte er zu Rahel: »Scheue dich nicht vor mir. Ich werde dich nicht vergessen. Ich bin ein geringer Diener des Kaisers. Doch habe ich Haus, Beete und Brunnen erworben, Speise aus dem Palaste und Kleider für mich und für die Meinen. Fürchte dich nicht vor mir. Wir sind beide Heiden und dienen nicht dem assyrischen Baal. Mein Herr ist das Feuer. Unsere Toten werden mit Blumen bekränzt, sähest du es nicht? Mit Lachen bestattet. Feuer fürchten wir nicht. Mein Gott brennt, aber er ist rein. Er leuchtet und ist jedem offenbar, aber nicht jedem gnädig. Schlafe nach aller Mühe! Ängstige dich nicht. Ängstigt sich doch auch dein Kind nicht und streicht mit seinen kleinen Fingern durch mein Haar. Dein Gatte lebt nicht mehr. Denn einen König der Juden haben sie gestern bestattet, im innern Umkreis der Mauer unter den Bäumen begraben. Allein bist du Arme dahingeschleppt und niemand gab dir Salbe für deinen zarten Rücken, den die Stäbe des Wagens wundgerieben haben. Vergiß, Schönste, wer du warst. Bin ich auch nur ein Sklave, und der Letzte der Menschen, so bin ich immer noch ein Teppich unter deine lieblichen Füße. Ich bin nichts, aber ich bin dein. Du wirst in Frieden leben, wenn du mein Haus betrittst, du wirst dich freuen am Duft der Blumen aus meinen Beeten, du wirst dich ruhig kühlen im Wasser aus deinem eigenen Brunnen. Man nennt mich nicht mit meinem Namen im kaiserlichen Palaste. Man ruft nur: Schwarzer Knecht, gehe, schleppe du Streu. Führe das alte Gespann! Eile dich, du in der Ecke! Ich habe keine Würde im Haus des Kaisers Nebukadnezar, der dich zur Witwe gemacht hat, und dein schönes Kind zur Waise, der dich verbannt hierher ins niedere Viertel der Gerber. Doch kann ich dir einen Gatten geben, deinem Kinde einen Vater, auf dessen schwarzen Knien der weiße Prinz spielen wird.«

»Lieber Diener«, sagte Rahel, »mein armes Herz muß dir für deinen lieben Trost danken. Aber ich bin nicht Witwe, mein Knabe nicht Waise.«

»Liebste Herrin, wäre dein Gatte am Leben, käme er nicht über alle Mauern, schwämme durch alle Ströme, wo sie am tiefsten sind, nur um bei dir zu sein? Ist er der jüngere der Brüder, so rührt er sich nicht in seinem Grabe. Erwarte ihn nicht mehr. Ist es der ältere, dann vergaß er dich. An Nebukadnezars Tisch gibt es starken Wein des Vergessens. Wartetest du nicht noch einen Tag und eine Nacht ohne Kleider, ohne Hilfe mit deinem neugeborenen Kind in der Höhle, und das siebenmal, sahst zu den Steinen vergebens empor und fragst die Schlangen vergebens, ob sie ihn nicht gesehen haben und das tausendmal? Wartetest du nicht noch in dem Wagen, den Rücken blutend an die harten Stäbe gepreßt, den langen Weg herab zu dem Fluß, auf ihn, daß er dich am achten Tage noch erreiche? Konnte ich dich kleiden, warum nicht er? ich dich tränken mit Schnee und Wein, warum nicht er? Warte noch zwei Tage. Dann begrabe ihn mit seinem Bruder im gleichen Grab. Er sei für dich nicht mehr unter den Lebenden. Du hast viel geduldet. Laß es genug sein. Warte nicht mehr. Mein Gott ist stärker als eurer. Meine Gattin wird nicht so verlassen sein wie die Gattin des jüdischen Fürsten. Warte nicht länger!«

»Wartet nicht der Totengräber einen Tag um den anderen und horcht an der erkalteten Brust, daß er keine Lebenden bestatte, keinen Atmenden mit Erde ersticke, sollte da ich nicht warten können, bis mein Gatte kommt? Mein Herr vergißt die Seinen nicht.«

Der Lenker des Karrens schwieg, stellte die Tröge mit dem Tränkwasser beiseite, faßte die Seile, wandte die Köpfe der Ochsen herum, die sich nach Ruhe und einem Stalle sehnten und weithin traurig brüllten, und ging neben dem knarrenden Wagen dahin, ohne Mantel, mit flach niedergebreiteten Händen, an denen die Zugtiere rissen. Er trieb den Wagen über die Brücke und schwand in der sinkenden Dämmerung hin.

Als die Mutter spät in der schlaflosen Nacht aus der grauenvoll durchdunsteten Enge der Kammer in das offene Tor des Hauses trat, ihr Kind in den Armen, sah sie auf den engen, sumpffeuchten Straßen unter zischenden, hellen Lichtern noch zahllose Menschen nimmermüde im Handel um Felle und Leder, Klauen und Hörner feilschen.

Freudenvolk tanzte trunken und sang im Taumel laut kreischend, ferne gaukelten unter blauen Lampionen heitere Kinder in engverschlungenen Paaren, Rahel aber, die schlaflose einsame Mutter, blickte zurück, sie suchte ihre stillen Höhen, den umgrünten Berg, die weiße Burg, die kaiserliche Residenz Babylon, die neunmal von hoher Mauer umgürtete, die hoch unter den Bäumen strahlte über ihren früheren Nächten, die gewaltig ragte über ihren alten Tagen. Einst hatte sie geglaubt, das vollste Maß des Elends sei erfüllt, der härteste Bissen des Kummers gegessen. Nun aber im verwehenden Staube der Vorstadt schimmerte der Gattenlosen nirgends der Berg; nie mehr wiederzufinden, fern, unabsehbar dem sehnenden Blick, blaute die stille Lagerstätte der letzten zehn Jahre.

Ging sie nur wenige Schritte, zarte, leichte, um das schlummernde Kind nicht zu wecken, so verfing sie sich schon im gleichförmigen Zirkel der niedrigen, flach aus braunen Lehmziegeln gemauerten Hütten.

Ihr Busen wurde schwer, wußte sie, ob aus übervoller Mutterbrust, wußte sie, ob aus bekümmertem Herzen? Eine kaum mehr atembare Luft hauchten die stehenden Teiche aus und die trüb fließenden Bäche, in denen die Felle der Tiere, mit kleinen Ketten aneinandergebunden und zur Gerbung auf Jahresfrist in dieses Wasser getaucht, sich rieselnd, silberklirrend bauschten. Schloß sie die Augen, hörte sie über den tiefen, schnellen Atemzügen ihres Kindes die Nachtbäume der Höhle rieseln, Palmen, Pappeln, Sykomoren, sie vernahm das feine Silberklirren der Fesseln des Zedekia, der in einer Ecke des Kerkers tastend irrte.

Öffnete sie die schweren, müdigkeitgetränkten Lider, sah sie nur fremde Menschen, frohe und ernste Chaldäer, längst dieses furchtbaren Ortes gewöhnt, sie saßen flüsternd auf Steinen vor ihren Häusern, sie ruhten nach ihren Mahlzeiten in den kühleren Winkeln ihrer Hütten, Männer an Frauen geschmiegt, Glieder in Glieder verschlungen, Kinder, weich hingelagert zu ihren Füßen. Hunde, mager, struppigen Gehänges, schlichen scheu umher. Schreiadler, angelockt vom herben Verwesungsgeruch der Felle, flatterten mit ihren weit ausgespannten Flügeln aus Wolkenhöhe nieder, sie ließen, ganz nahe der eisenfarben schimmernden Wasserfläche, die Enden ihrer grünlichen, harten Gefieder in das faulende Gewässer herab, um sich zu baden und mit den Schnäbeln ein Stück Fleisch zu erraffen, wenn man sie nicht verjagte, dann aber, mit einem tiefen, weit hallenden Wollustlaut in den rauhen Kehlen, erhoben sie sich von dem matten Spiegel, hoch flogen sie dahin über der stiller gewordenen Stadt.

Die Mutter kehrte in das Haus zurück, das sie nur mit Mühe fand. Erschöpft, ohne Kraft auch nur zu Tränen, gekränkt bis zur Vernichtung, legte sie sich nieder, nachdem sie das Kind genährt und in das vom Wagenlenker bereitete Bett nahe dem dreieckigen Fenster, im frischeren Lufthauch zur Ruhe gebracht hatte. Man bot ihr Datteln, aber sie rochen nach Fäulnis, man gab ihr Fleisch, in kleine Stücke zerschnitten, aber es schmeckte nach Gerberlohe, bitter, und ihr Gaumen zog sich zusammen wie ein in der Sonne gedörrtes Blatt. Doch aß sie alles, damit in ihr die Nahrung für das Kind nicht verdorre. Sie verbarg sich in einem Winkel, wo sie das einzige, erdfarbene Stück Leinen wusch, das ihr Kind besaß, und dann das andere Stück des Mantels, das man ihr geschenkt hatte. Dies waren die ersten Kleider ihrer Befreiung, dies das erste Mahl der Mutter in ihrem neuen Hause, dies das erste Bett nach der Lösung aus der Schlangenhöhle im weiten, kühlen, grünen Parke. Sie schlüpfte, da die Tücher noch zum Trocknen nahe der Tür ausgespannt waren, nackt in einen staubigen Winkel, wo Hörner und Klauen von Rindern aufgeschüttet lagen. Rahels edles, schwarzumflossenes Haupt ruhte auf den unreinen Teilen. Ihre trotz der vielen elenden Jahre so klaren Wangen schmiegten sich an das geringelte, weit ausgreifende Geweih der toten Büffel. Weich war das verfaulte Laub, es war von milder, sehr vertrauter Hand unter ihre müden Glieder einst gelegt. Hier war der Gatte nicht. Im Inneren der Hörner rauschte es leise, es klagte mit raunendem Ton.

 

7

Am nächsten Morgen ließ Rahel das Kind, nachdem sie es reichlich genährt, in der Obhut des Weibes aus chaldäischem Stamm, der das Haus gehörte, wohin die Fürstin auf Geheiß des Kaisers Nebukadnezar gebracht war. Sie machte sich auf, um in geliehenem Kleide, in fremden Schuhen, unter den schweren Brüsten fest gegürtet, dem kaiserlichen Palaste zuzustreben. Denn sie hatte noch die Erinnerung an die begnadete Nacht im Herzen, sie wollte ihren Gatten wiedersehen, bei ihm zu wohnen oder ihn hierherzuführen, in die Hütten der Gerber, um da bis zum Ende zu leben: Versunken unter den Armen, arbeitend mit den Fleißigen, namenlos mit den Namenlosen, im strengen Geruch der gegerbten Felle und der stehenden Sümpfe, das saure Brot der Armut zu essen und den herben Bissen zu schlucken, der den Gaumen dörrte wie die Mittagssonne ein loses Blatt. Aber nicht mehr verbannt, nicht mehr eingekerkert, sondern frei. Nicht mehr allein: Gattin und Gatte. Nicht mehr verflucht: Vater und Mutter und Kind und Kinder und Kindeskinder bis ins späteste Alter. Nicht mehr zerstört mit Jerusalems nie genug beweinter Zerstörung: Im Frieden der langen Abende nach dem schweren Tagewerke vereint, dem bösen Blicke ihres zürnenden Gottes glücklich entronnen. Bei der Mahlzeit unter still brennendem Licht, nach getanem Gebet, ausgestreutem Speiseopfer, vergossenem Trankopfer. Nicht geblendet, nicht leidend: in der Ruhe der Nächte ausgesöhnt, alternd wie alle Lebenden, eindämmernd mit den Müden, erwachend mit den Munteren, fröhlich mit den Mutigen; ein Haus als Schutz, ein Gewerbe als Brot, ein Beet mit Blumen, ein Garten zur Kühle, ein Brunnen zum Trinken. Arbeiten und Ruhen, Schlafen und Wachen bis zum endlichen Tod mitten unter den Ihren, den Seinen, das Atemrauschen der Kinder im sterbend beruhigten Ohr.

Aber es trug die Frau, deren Lenden ausgeblutet waren, nicht so weit. Zu schwach schlug ihr Herz nach dem Jammer der letzten zehn bitteren Jahre. Spät am Abend erst war sie nur in einer andern, der Kaiserburg kaum näheren Vorstadt, da sie, des Weges und der Sprache der Einwohner unkundig, dem Laufe des sich windenden Flusses gefolgt war. Sie war im Viertel der Goldschmiede und Kupferarbeiter, die emsig spät abends noch an kleinen Tischen saßen, im Kreise um ihre Lötflammen und kleinen Ambosse und Ringkegel geschart, Meister und Gesellen.

Rahel atmete so schwer, auf den Tod entkräftet. Sie sagte: »Ich bin eine Fürstin, ich suche meinen Gatten.« Aber man wollte ihr Bettlergaben schenken. Sie bat mit Zeichen um Einlaß. Man ließ gewähren, daß sie, ein flatterndes Lächeln um die schüchternen Lippen, die Treppen emporstieg. Am wolkenlosen, zartblauen Abend ließ sie den Blick vom flachen Dach des Kupferschmiedes über die unermeßlich weite Stadt kreisen. Am anderen Ende der Welt sah sie, vom gelben, seidig gekräuselten Flusse umfangen, die grüne Hochburg, von neunfacher weißer Mauer gegürtet, mit lichten Palästen überkrönt, fern.

Näher dem Blick ragte der ungeheure Turm, düster und doch von Glanz umgleißt, in Zinnen gezackt, mit Treppen und Stufen bekleidet, einen ungeheuren Schatten von der sinkenden Sonne abwärts werfend, der riesige Häusermassen mit Finsternis deckte.

Zwischen dem Geliebten und ihr spannten sich zahllose, von Menschen wimmelnde gekreuzte Wege, Brücken, des Flusses zweimal verschlungener Lauf.

Ihr Kind wartete daheim im schmutzigen Viertel der Stadt unter dem niedern Dache, nahe dem dreieckigen Fenster, im frischeren Hauche zwischen den Sümpfen. Es atmete hoch in schnell beschwingten Strömen, schneller, höher als Menschen atmen. Es lächelte freudig, freudiger als Menschen lächeln. Sie kehrte zurück. Daniel, von den bräunlichen, durch Gerberarbeit gebeizten Händen der chaldäischen Frau gehalten, sah die Mutter an mit offenen Augen: so groß, so wissend, so fern, nicht wie ein Kind, nicht wie ein Mensch.

Für die Mutter und das Kind war von dem mildtätigen chaldäischen Weib in einer luftigeren Kammer, die nach einem kleinen Garten ging, ein besseres Lager bereitet worden. Der rote Staub der Straßen, durch die offnen Fenster eindringend, nach Blumen duftend und nach Fäulnis zugleich, von weiten Gärten hergesendet, von ruhenden Sümpfen ausgehaucht.

Die Fürstin dachte ihres Gatten. Die Mutter hatte ihr Kind Daniel im Arm, das Haupt des Knaben glättete die Falten an ihrem Halse. Ihre Pulse schlugen ruhiger. Die Wangen des Kindes waren eingehüllt in die dunklen, seidigen Haare der Mutter, seine Hände ineinander verschlungen.

Das Kind weinte nicht, seufzte nicht. Seine Glieder breiteten sich auf der atemschwer gehobenen Fläche des mütterlichen Leibes. So ganz in Frieden gelöst, in Freude besänftigt. So mußte die Mutter lächeln. Sie begann zu singen. Heimatlicher Klang, eintönige, alte, endlose Weise.

Der dunkle Staub duftete nur nach Blumen, Gärten und Kinderzeit auf heimatlichen Bergen, im Walde bei den Brüdern, einst. Die Mutter schlief sehr tief.

 

8

Die Mutter lebte Jahr um Jahr in dem Viertel der Gerber. Sie arbeitete schwer, sie schabte das faulende Fleisch von den Fellen, sie schor die welken Locken von den Vließen der Widder, sie brach das Gehörne glatt und ohne Zacken aus den schiefen Stirnen der Stiere, sie löste mit bogenförmigen Schnitten die platten, schwarzen Hufe von den Füßen der Kühe. Sie tat niedere Arbeit unter den Niederen. Der schwarze Wagenlenker brachte oft Kunde vom kaiserlichen Hofe und versprach der Fürstin, ihr die Erlaubnis zu erwirken, in den Palast zurückzukehren und ihren Gatten zu sehen. Doch verschob er es von Monat zu Monat.

Ihr Kind wurde von der chaldäischen Frau gepflegt, denn die Mutter scheute sich, es mit ihren dunkel gewordenen Händen anzufassen. Endlich erhielt sie die Erlaubnis, das Schloß zu betreten und ihrem Gemahl zu begegnen. Sie dachte ihn immer noch gefangen zu finden, da kein Wort der Botschaft an sie gelangt war und sie dem schwarzen Sklaven nicht glaubte, der Seltsames über Jojakim berichtete.

Morgens zog sie ihr schönstes Gewand an, ihre immer noch vollen schwarzen Haare waren mit engem Kamme gestrählt, mit reinstem, gelben öle gesalbt; ihre von Arbeit und vom Kummer eines so harten Lebens geschwächten Glieder waren durch lange Zeit in fließendem, blauklarem Wasser gewaschen. Sie zitterte noch in der Kühle, sie schlug ihr neues Tuch übers Gesicht, sie schämte sich, eine zarte, errötende, erblassende Braut.

Am Morgen dieses schönen Tages erwartete sie der Lenker des Wagens. Er stellte die Tröge mit dem Tränkwasser beiseite, hob die Köpfe der Ochsen. Er hatte sein Festgewand an, der Wagen war mit Laub bedeckt, mit schilfartigen Blättern bis zur Kniehöhe gefüllt, der Sitz aus rissigem Holz mit weichem Teppich gepolstert. Es war hoch im Sommer, es brannte tiefer Tag in wolkenloser Glut. Unter der Brücke, die schwankte, flössen dunkel die Bäche der Gerber, in denen sie Tag für Tag gewatet, ferne schon schimmerten die finsteren Teiche, über die sie sich nach glatten Fellen gebückt. Auf der bleifarbenen Flut wiegten sich schmutzige Kähne, aus aufgeblähten, zusammengenähten Häuten gefügt.

Die chaldäische Frau, die Pflegerin des Kindes, ging mit dem Kinde bis zur Brücke mit. Der Knabe stand still. Sein schneefarbenes Antlitz leuchtet inmitten des schmutzigen Gewässers. Er atmet schnell, als wolle er sprechen. Er lächelt zum Abschied. Er hebt seine rechte Hand, ruhig, ohne einen Laut.

Der Lenker des Wagens ging auf der andern Seite, er führte die Tiere am Seil durch das Gewühl enger Straßen. Sie kamen in den Schatten des gewaltigen Turmes, wanderten entlang des Flusses. Abends öffnete sich ihnen ein weiter Platz. Da warteten die Karawanen vor dem Abzug in die Wüste, die Kamele knieten, damit ihnen im Flackerlicht der Fackeln Lasten aufgeladen würden und mit Stricken verschnürt. Ihre breiten Mäuler mahlten, ihre hohen Ohren lauschten, die kupfernen Schellen an ihrem dürren, abgewetzten Halse klangen tönern dumpf. Unter einem hohen Baum machte der Lenker halt. Über ihnen ragte der ewige Turm, wo in höchster Höhe gelbe Opferfeuer blinkten, kaum noch dem menschlichen Blick erreichbar. Weithin brüllte in der Abenddämmerung der Schrei der Esel und der in Rudeln gesammelten Pferde, man hörte ihr müdes Wiehern, ihr unruhiges Stampfen und brünstiges Rufen. Der Wagenlenker hob mit seinen starken Armen die Fürstin aus dem Wagen, er gab ihr ausgebreitetes, tiefgrünes Heu als Lager, auch Seide unter das Haupt, seinen Mantel wickelte er um ihre schmalen Füße.

Er brachte ihr Wasser, das er aus dem Ziehbrunnen geschöpft, zum Waschen der Hände, gab ihr Früchte, in Honig gekocht, Milch mit Schnee gemischt aus schwarzem, engem, tönernem Kruge. Die Königin Rahel war müde. Sie verhüllte ihr schwarzumflossenes Haupt, sie gedachte des Tages ihrer Hochzeit in jungen, grünen Tagen. Die Gefährtinnen sangen vor dem schönen, in dichte Falten gerafften Hochzeitszelt, im Rauschen des Baldachins hörte die Braut schmeichelnde Worte des Bräutigams, die Stimmen von Vater und Mutter und ihren Segen, der Brüder und der lieben Schwestern leises Abschiedswort. Der Wagenlenker tränkte seine Tiere, die mit gehöhlter Zunge laut schmatzend tranken, er gab ihnen Futter und machte sie aus den Kummeten los. Sie ließen sich nieder auf ihre Knie und schliefen. Er hob die Deichsel seines Wagens in die Höhe, ölte die Naben der hohen Räder und wusch die Radkränze mit Wasser. Inzwischen war die Fürstin in Schlaf versunken. Er wachte zu ihren Füßen.

Am nächsten Morgen kamen sie vorbei an Gartenmauern, Gewölben, Plätzen ohne Zahl. Sie sahen die Läden der Goldschmiede und Kupferarbeiter, wo sie aus den Lötflammen ihre dünnen Fäden ziehen, sie kamen vorbei an den Teppichlagern, wo die gewirkten Teppiche wie Blätter übereinander lagen, an den Tischlern, die aus Stämmen weiße Bretter schnitten und vor deren Läden Sandelholztruhen innig dufteten. Bettler zeigten ihre Schwären, Zauberer ihre Künste, die Aussätzigen verbargen ihre weißen Wunden und griffen scheu nach den Mänteln der Reichen. Sie sahen große, schwer gemauerte Speicher mit Getreide, die auf Geheiß des Kaisers in diesen reichen Jahren für die Jahre der Dürre gefüllt wurden, bis zum Rande ihrer weiten, kühlen Hallen. Sie kommen an den seidig gekräuselten, lehmfarbenen Fluß. Hinter ihnen starrt in Mittagsglut fern der ungeheure Turm, der wuchtende, quaderförmige Koloß, vor ihnen aber grünt, noch verschleiert im Nebel der mittagswärts steigenden Wolken, der heilige Berg Babylons, der weich umflaumte Hügel, mit weißer Mauer neunfach umgürtet, mit strahlenden Palästen gekrönt. Dort stehen die geliebten Bäume, ruht die gesegnete Höhle, dort breitet sich das Dach über ihrem Liebsten, dort ist der Tisch gedeckt für ihren sehnsüchtig vermißten Gatten Jojakim.

Unter ihren Füßen, unter den ebenen Bohlen der Brücke wiegen sich Dschunken mit Kisten und Ballen, es gleiten Kähne, bis an den Rand mit Ziegeln beladen, Flöße, aus Baumstämmen gefügt, es flattern safranfarbene und tief grüne Segel mit dunkel blutfarbenem Rande, dem Zeichen des Kaisers, es beugt sich der elfenbeinfarbene Mastbaum des Fischerkahns im reinen Winde über dem Flusse. Sie heben die Netze, sie werfen die Angel, sie singen und sprechen, sie lachen und stoßen mondförmige Ruder leichthin in die Flut. Es ist eine herrliche Zeit, ein freudiges Schlagen des Herzens, ein wollustvolles Weiten der Brust, ein hochzeitsreines Ahnen zum Abend. Schneller schreiten unter der scharfen Peitsche des Lenkers die Zugtiere durch den samtfeinen, roten Staub, der nach Nelken duftet und seltenen Gewürzen. In den Häusern spielen die Zithern, es kommen zahllose Menschen in hellen und bunten Gewändern, mit Ketten geschmückt, Frauen im dunklen Kleide, nackte Kinder, steinfarbene Greisinnen. Sie reisen durch viele Gassen, über manche Plätze. Aber jetzt sehen sie das äußere Tor des Palastes, Reisige halten Wache, und Krieger in silbern genetzten Panzern strecken die Lanzen quer den Zugtieren vor die breite Brust. Dann läßt man sie durch ein seitliches Tor einziehen, sie atmen auf im grünen, hoch gewölbten Bogengang der mit den Kronen ineinander wehenden Bäume des Parkes. Der Lenker steigt herab, auf seine dunkle, warme Hand setzt die glückliche Fürstin ihren kleinen, kühlen Fuß. Die Pferde wiehern in den nahen Ställen, ihre Hufe schlagen den Boden dumpf. Ein Blatt Schilf ist an Rahels Ferse haften geblieben. Der Diener nimmt es ab. Die Fürstin atmet auf, hoch freudenvoll. Das süße Gefühl des Lebens durchströmt sie ganz. In der Ferne verschwindet der Wagen zwischen den Bäumen.

Hier ist ihr das einzige Kind geboren worden im unvergeßlichen Augenblick. Zarte Liebesworte sind ihr entflossen wie im Rausch. Sie war gesegnet unter den Frauen. Schöne und schwarze Tage waren ihr beschieden. Es gab keine Nahrung für den neugeborenen Mund, so war sie verflucht mit allen anderen des verfluchten Geschlechtes. Aber gab es keine Nahrung für den zarten, von innenher geöffneten, wie eine Kirsche blaßrot gefärbten Mund, so haben sich im Wunder, die Finsternis zu erleuchten, Tausende von breit beschuppten Fischen erhoben wie eine dichte, perlmutterfarbene, schillernde Wolke, von Licht und Glanz triefend: in diesem unvergeßlichen Herzschlag sieht sie, die Mutter, mit einer in Worten nie zu schildernden Freude, mit einem für andere nie zu ermessenden Tröste, wie von ihren Brüsten, erst von der rechten, dann von der linken, sich kleinere, in diesem Lichte ebenfalls perlmutterfarbene Springquellen von Milch rieselnd loslösen und zur wortlos erschütternden Entzückung der atemlosen Mutter, von einem leichten, nach Wein und Nelken duftenden Winde getrieben und gelenkt, dem schönen Kinde zwischen die schmale Furche der festen Purpurlippen strömen, während im Garten hier die Fische mit knisterndem Tone, wie sich senkende Schwärme wilder Möwen, wieder ins Wasser und die Dunkelheit zurückkehren. Das vergißt kein Mensch. Noch lebt im niedern Viertel daheim das silberne, begnadete Kind. Es geht so leicht über den schlammigen Boden, daß man die Spur seiner schmalen Füße nicht sieht. Gestern hob es an den Ufern des schwarzen Teiches seine kleine Hand. Es nennt Tiere und Pflanzen, Stein und Wasser, Brot und Würze mit beiden Namen, jüdischen und chaldäischen, lauscht und hört das Raunen der hohlen Gehörne, es baut Türme und kleine Brücken aus Knochen, es spielt mit allem, ohne sich zu beschmutzen und ohne sich zu verletzen. Es schläft ruhig und zuckt nicht unter Träumen. Es wandert durch das Haus, durch die Höfe, über die Brücken, bis in die nahen Felder. Immer kehrt es zurück. Es kennt nicht Furcht, Schrecken, Weinen und Zittern. Es ist schön, schöner als sie selbst, die Mutter, in ihren vergangenen Tagen.

Der Mutter sieht es still zu, wenn sie von der schweren Arbeit wiederkehrt. Ist solch eine Mutter nicht gesegnet über alle Mütter, die auf den Höhen Jerusalems wohnten? Ist sie nicht seliger, als die Fürstinnen, die auf dem Throne des David saßen, die in den Sälen des heiligen dunklen Salomo schritten?

Heute ist der Tag der Wiederkehr. Die Stunde der Wiederbegegnung.

Schon findet sie den Teich an der dritten Mauer, sie sieht die Grube, in der sie nach der Flucht aus Jerusalem zehn Jahre mit ihrem Gatten gelebt, wo sie Daniel, ihren Sohn empfangen im glühenden, vergessenen, ergossenen Augenblick, so reich und voller Gnade strömend im Angesicht der goldenen Wolke, im Schatten des blinden Königs von Jerusalem.

Die Grube war leer, feines, zartes Schilfgras zwischen den Quadern, eine Mulde zwischen den Blumen, ein kleines Grab unter den Bäumen, Palmen, Pappeln, Sykomoren. Die Luft duftete abendlich würzig, die Gräser beugten sich kaum unter ihrer mageren Gestalt, der Bach rieselte so rein um ihre Fersen. Sie sah auf, sie wandte ihr mädchenhaftes, von Schatten umspieltes, heiteres Gesicht, ferne zitterten vor ihr in Flimmerwellen die Zinnen des hohen Schlosses. Unten aber wimmelte in unentwirrbarem Gekräusel die riesige weiße Stadt, der mächtige Turm, in zehn Stockwerken gebaut, in die Abendwolken gewölbt, gleißte in düsterem Rot; hier aber schwebte Stille zwischen den feuchten, tiefgrünen Hügeln, und Vögel schlugen ihren gurrenden Kehllaut in das Knistern des Sandes. Am Rande der Wiesen gingen weiße Hirsche.

Ein schöner Mann, noch in jugendlichem Alter, betäubende Blüten an seiner breiten, ruhig geweiteten Brust, trat durch die Büsche, er spiegelte sich wortlos im schwarzen Teich, er beugte sich über die hingeschmeichelten, bunten Beete. Eine grünäugige schlanke Sklavin, in purpurfarbenem, weit die flaumbehaarten Arme umlodernden Gewande lief neben ihm her, flüsterte ihm zu, lachte zu ihm empor, faßte seine Schulter mit der leicht erhobenen Hand, innigst mit ihm vertraut, eng angeschmiegt an ihn. Ihr Fächer, aus breitblättrigen, schwarz gekräuselten Straußfedern fächelte Jojakims müde, leere Königsstirn.

Die Gattin, so verzagt, Rahel, tief erblaßt, trat zu dem Gatten, sie küßte seine Hand, die sich einst zu nie vergessener Berührung um ihre mädchenhafte Brust gepreßt. Sie blickte demütig in seine dunklen, heiter strahlenden Augen, die ihr Trost und Stärke zugefunkelt hatten, einst, in diesem Raum, spät in der Nacht, am ersten helleren Tage nach den Tränengüssen des Frühlings, zu Daniels Geburt. Sie leitete wortlos seine Hand an ihren edlen Nacken der hebräischen Fürstin, wo er sie einst gehalten hatte, in der reinen Stunde der Empfängnis, am hohen, goldenen Tag, hier, in der niederen Höhle der Schlangen vom Nil. Sie weinte so still, sie sprach so mild, sie nannte ihn mit geheimen Namen, sie rührte mit ihren dunklen, kleinen, bitter gewordenen Lippen an die duftende, rosige Höhlung seines Ohres. Dorthin flüsterte sie ihm zu, während die schöne, junge Sklavin erstaunt dastand und ihre breit anliegenden schwarzen Flechten aus ihrer niedern Stirn strich, scheu wie eine bebende, hochgliedrige, weiße Hindin.

Er aber sah Rahel ruhig an, er lächelte leer, heiter, ohne Trost. Als sie sich näher an ihn drängte, wandte er sich voll Ekel ab, da der Geruch nach den gegerbten Fellen, der beizenden Lohe und dem faulenden Fleische, zu unentrinnbarer Kette um ihren schmalen, leicht verknitterten Königinnenhals gewunden, sie auch nach allen Bädern nicht verlassen hatte.

Er wollte schnell vorbei, seine Sklavin hielt immer noch die Hand in ihren verwirrten Locken, um ihren lachenden Mund hatte sie immer noch das Staunen des jungen Rehes, scheu und vertraut, ein Tier, jung, schön, gesund, heiter, unverletzt, sommerlich umduftet, gewichtlosen Fußes, flatternden Herzens neben ihresgleichen ohne Kummer gesellt.

Er trat mit ihr an Rahels früheres Haus, er nahm ihren Kopf in seine Hand, so sahen beide in die niedrige Grube, sprachen chaldäisch schnelle zwitschernde Laute, kicherten ihr unbekümmertes Lachen, sie, die grünäugige Sklavin, entwirrte die gewundene Schleppe ihres purpurnen Seidenkleides auf der steinernen, grauen Brüstung der Höhle, da lagerten sie, mit dem Rücken Rahel zugewendet. Unten im grün umwachsenen Grab spielten Käfer und Mücken in der Tiefe, kreisend über Laub und Schilf, mit dem letzten Lichtstrahl dieses schönen, schattigen, grünumglänzten Tages gelabt. Von den Bäumen hauchte es so rein, die Funken der Abendwolken brachen sich im Flirren der Wellen im nahen Teich. Freudig wieherten die Pferde zu Hause in ihren Ställen.

Rahel lag flach ausgebreitet einsam unter dem leeren, heiteren Himmel. Es verschwand der böse Geruch der Felle, des Kotes, des Elends, der Zerstörung Jerusalems, der verdorrten weißen Blüte, Libanon.

Der König und seine Schöne scherzten, ihre Rücken bebten vor Lachen, die Falten ihrer schönen Kleider glitzerten in sieben Farben, wie Edelstein, in Kanten geschliffen.

Im Grase verborgen lag die Frau, die einst Rahel hieß und Königin war in Juda, am Ende der glücklichen Zeit. Ihre häßlich gewordenen, von der Mühsal des Lebens geschrumpften Finger raschelten zwischen den Gräsern wie Schlangen. Sie seufzte, sie atmete schwer. Über Jojakims blühendes, leuchtendes Gesicht schwankte der rieselnde Schatten der hohen, deckenden, duftenden Bäume. Sein strahlender Blick war froh und glücklich.

Spät abends erst wandte sich Jojakim, der König von einst, zurück. Seine Sklavin eilte voran über die abendfeuchten Wege, unter die verlassenen Bäume. Jojakim schritt im schnell sinkenden Dunkel an dem Teiche vorbei. Dorther rief ihn Rahels Stimme. Sie hatte sich im Wasser verborgen, ihre Füße glitten auf dem glatten Grunde des seichten Gewässers, um ihre schmalen Gelenke spielten die ruhenden Wellen. Sie sprach ihren Gatten an: »Bleibe! Bleibe!«, da ihr böser Geruch im reinen Wasser gelöst war, nun sollte er sie hören, da sie und er die einzigen schienen, ferne schon das lockende Zwitschern der schönen Sklavin im Nachtrauschen verrann. Nun stand er bei ihr, mitten unter den schwer mit Duft beladenen Pappeln und Palmen, an den Schultern umschimmert von den erleuchteten Fenstern des weißen, kaiserlichen Palastes zwischen den Säulen.

»Ich war unrein«, sagte die einsame Gestalt, »ich habe in meinen Händen das Unreine der schmutzigen Tiere getragen. Ich wollte mein Leben fristen, bis du wiederkehrst einmal. Ich wollte dein liebes Kind ernähren, damit es dich einmal sehe. Erkennst du mich? Ich will, daß du mich erkennst, erst mich und dann mein Kind, das du nur einmal gesehen hast. Bin nicht ich es, die du einmal heimgeführt hast, über die Schwelle der Hochzeit getragen, im Tempel unter dem Baldachine gesegnet? Zur guten Zeit, da wir alle noch freudig lebten, inmitten der blühenden Stadt Jerusalem. Hier ist nur eine Wüste, alle die Herrlichkeit ist eitel Staub. Wir sterben unter den Fremden.

Du erkennst mich noch, Liebster, denn hier in der offenen Grube ohne Dach, da waren wir zehn Jahre gefangen, Nacht und Tag, Hitze und Frieren, Dürsten und Jammern. Du vergißt mich nicht. Meiner Glieder Spuren waren doch eingegraben in deinem Fleisch wie die Spuren der Nattern hier im Stein, denn damals war ich noch schön. Ich durfte dich küssen, nahe, nie nahe genug, am Halse, zunächst dem pochenden Herzen. Damals waren wir jung.

Erkenne mich, ich bin Rahel, Judas letzte, vertriebene Fürstin. Daniels Mutter.

Du sollst mich nicht fliehen. Lag ich nicht zehn Jahre hier in der Grube gefangen und abermals zehn Jahre und hundert weit von dir entfernt? Ich wollte dich rufen, ich sandte dir Boten, sie trafen dich nie, jetzt kam ich selbst, heimlich, denn du lebst in der verbotenen Stadt, ich lebe im niedersten Viertel, wo sie die Felle gerben, wo sie im Schmutze baden und sich mit Fäulnis nähren, alle wie ich. Bist du es noch? Einer saß zu meinen Häupten, im Dunkel, im Schmerz, nun bist du froh und beglückt.

Jetzt ist alles lange vorbei. Darf ich noch klagen? Sieh mich an, ich hebe meinen Kopf aus dem Wasser, ich breite meine Hände nach dir. Komme näher, scheue mich nicht. Du weißt es wohl, wir sind vertrieben, alle. Wir sind verflucht, alle. Mit unserer Stadt und unserem einzigen Gott, mit unseren Sünden und mit unsrer Stadt Jerusalem sind wir vergangen. Das Herz unseres Herzens hat man aus unserm lebenden Leibe gerissen. Wir leben umsonst.

Eine Frau lag hier zu deinen Füßen, du bettetest Laub unter ihren Kopf, du legtest weiche Blätter unter meine Hüften, du schmiegtest Trost unter meine müden Fersen, als wäre ich eine Tote. Sie kamen, sie holten dich, sie kleideten dich neu, von mir wolltest du nicht lassen. Bin ich es noch? Sie sagten zu dir: Tröste dich, sie werden nicht sterben. Sie meinten mich und dein Kind. Wirst du es erkennen, wenn du es siehst? Hätte ich es doch zu dir geführt, du hättest alles vergessen, nur uns nicht, die Lieben, die Deinen. Denn es ist schön, klug und ohne Makel. Es ist wie Schnee, der in den hohen Bergen fällt.

Es ist nicht alles Speise Elend, was uns unser Gott gibt, nicht alles Trank Bitternis! Sage es doch, sprich zu mir!

Du schweigst so finster. Das Licht von oben aus dem Palaste fällt um deinen vollen, dunklen, reich gesalbten Scheitel. Erfaßt du mich nicht, erkennst du mich nicht?

Sie haben mich zu weit weggeführt von dir, zwei Tage und zwei Nächte mußte ich reisen durch die Wüste Babylon.

Und doch lebe ich, denn ich freue mich deiner, ich wartete jeden Tag. Nun erlebe ich den Tag, nun freue ich mich meiner Freude, sieh mich lächeln, höre mich kichern. Kann ich es nicht so gut wie deine Sklavin, die junge? Ich wohne am Ende der Stadt. Du siehst mein Haus nicht von hier, ich deines nicht von meiner Stätte. Ich arbeite schwer, sammle die Felle, löse sie sacht aus den Ketten, befühle die Büffelhäute, ob sie gar sind, und glätte ihre Falten, ob sie weich geworden sind. Sie liegen durch Jahre im traurigen Gewässer, so liege ich im Tränengewässer. Bin ich noch, die ich war? Mit meinen Haaren, die du einmal liebtest, bücke ich mich nieder zu dem faulenden Teiche, wo die Aasgeier ihre verfluchten Flügel baden. Wenn ich weine, sieht mich niemand. Ich breche die Hörner aus den toten Stirnen, ich greife die Augen, ich schneide die Hufe, die schwarzen, die müden. Oft schaffe ich die schwerste Arbeit zur Nacht, wenn mich niemand erkennt. Aber es kennt mich keiner. O du! Du wohnst oben, du atmest leicht und in vielen Freuden.«

»Ich kenne dich nicht«, sagte der König Jojakim. »Bist du nicht Jojakim, mein Gatte? Hast du nicht mit mir freudige Tage gesehen, finstere Jahre gelitten?«

»Ich habe Leiden nie gekannt.«

»Hast du den Thron nicht verloren, bist nicht verbannt, ist Jerusalem nicht zerstört?«

»Immer war ich der König der Juden, Herr, und gekrönt im Palast. Siehst du es nicht? Meine Stadt ist herrlich aufgebaut mit dreißig Städten.«

»Ist es nicht unser Gott, der uns beide geliebt, beide verflucht hat, er, den man nicht nennt?«

»Wer ist Gott?« sagte der König.

Er winkte ihr zum Abschied, er wich von ihr, seine Füße knisterten silbern im feuchten Sand.

Rahel folgte ihm nach, triefend von Wasser, frierend im glimmernden Lichte des aufgehenden Mondes, mit erblaßtem, tief in sich versunkenem Gesicht, mit aufgerissenen Augen, denen mehr Tränen entströmten als Wassertropfen ihrem so lange im Teiche gebadeten Gewande.

»Folge mir nicht, hier ist der Boden des Kaisers. Nur Könige betreten ihn.«

»Was sind mir Kaiser und Könige? Kann ich nicht auch Gott verfluchen, dich zu segnen? Muß ich Witwenleid tragen um dich, der du lebst? Sagtest du nicht einst: Ach Rahel! Ach Liebste! Bist du nicht Jojakim, so bin ich doch Rahel, denn ich lasse dich nicht. Wir sind tausendmal vertrieben, in die häßlichsten Winkel der fremdesten, weitesten Trümmerstätte hat uns dein strenger Kaiser verbannt. Soll ich allein dorthin zurück? Allen ist er mild, mir allein ist er hart, grausam, ohne Erbarmen. Wir blicken aus dreieckigen Fenstern, wir ducken uns unter niedere Balken, darin die Käfer bohren, daß Staub über uns fällt bei Tag und Nacht. Wir atmen so schwer, von den Sümpfen kommt nur Fäulnis. Bist du mir fremd? Hebe deine Hände nicht gegen mich auf, auf diesen Händen lag silbern in der ersten Stunde, hochatmend, Daniel, unser Kind. Vergißt das ein Mensch? Wird dessen ein Herz leer?«

»Unser Kind? Mir wurden nie Kinder geboren.«

Aus dem Tor zwischen den Türmen trat im Flackerschein der Fackeln die schöne Sklavin vor, die auf ihren Herrn gewartet hatte. Sie trug ein enges Kleid, aus silbernen und goldenen Schuppen zusammengefügt, schillernd wie ein leuchtendes Meer, in Dünung bewegt, vom Fackelglanz der Fischer erhellt.

»Bist du es nicht mehr? Aber unser Kind lebt doch noch, es ist edel, wenn auch ich im Schmutze lebe. Es wächst so rein, so hoch. Es hat deine Kraft, als du noch kräftig warst und alles trugst, um mich. Es hat meine Schönheit, als ich noch schön war und lieblich schien, für dich. Unser Kind sei seliger als ich. Um seinetwillen lebt die Welt. Sahst du es nicht? War es nicht hier? Bin ich Daniels Vater und Mutter? Ist Jojakim tot? Komm zurück! Ist nicht das Herrlichste unseres einzigen Lebens zurück} Kein Wort? Wird es jetzt Zeit zu Totengebeten, werden wir in Asche sitzen und die Fetzen des Elends und die Asche unserer Herrlichkeit über unser Haupt schütten. Jojakim hieß mein Liebster, Einziger, Gatte, Geliebter.«

»Ich habe nie eine Frau berührt außer dieser da, der Sklavin im Schuppengewande.«

»Wozu kam ich hierher? Hätte ich meinen Jammer getragen bis zu meinem letzten Tag, dich nie wiedergesehen, wiederberührt. Warte doch! Einen Augenblick warte! Einmal tröstete mich der Herr. Meine Brüste waren wie Stein. Gott schlug daran, sie sprangen als Quellen. Kann nicht alles glücklich sich wenden? Schweige nicht! Verzerre nicht deinen schönen Mund. Habe ich darum lange Jahre auf dich gewartet, nach dir gehungert und deinem Blick? Ich klage nicht. Unser Kind hat lichte Augen, schneefarbenen Körper, Augen, nicht von dieser Welt. Es ist still. Es weiß, was wir ahnen. Es atmet hoch, schneller als Menschen atmen. Es freut sich, denn es kennt mich nicht. Nie spricht es kindlich zu mir. Ist es wie Schnee von den Bergen nachts auf mein unbedecktes dunkles Haupt gefallen? Ich klage nicht. Ist es von Schlangen geboren, die vor uns in der Höhle gehaust haben? Mich hat Gott zu schwer gestraft, ich kann es nicht immer tragen.

Kann sein, wir leben zu lange. Ich bin Mädchen gewesen, ich habe um dich meine Last auf mich genommen. Du bist schön, du bist jung, du duftest nach betäubenden Blumen. Darf ich deine Hand nicht küssen, deine geglättete, elfenbeinene Haut nicht berühren? Dein Kind ist nicht wie Kinder anderer Menschen. Ich hörte es nie weinen, nie suchen und jammern, nie kroch es bettelnd nach Kinderart zu meinen Füßen im roten Staub der Gerbergasse, wenn ich ausruhte nach meinem schweren Tage.

Höre mich, Liebster, ich spreche nur noch ein einziges Wort, bete ein einziges Gebet, schwöre einen einzigen Schwur. Sprich ein Wort zu mir! Nenne meinen Namen ein einziges Mal.

Dann will ich zurückkehren, deiner in Freuden warten, solange ich lebe, und dein Kind soll deiner warten, solange ihm Gott Atem gibt und Leben verleiht. Aber wendest du dich ab, erbarmst dich meiner nicht, sprichst du nicht dieses erbärmliche Wort, deiner Lippen Abfall, deiner Seele Neige und schalen Rest, dann schwöre ich, auf Leben und Tod, beim Namen dessen, den man nicht nennt und den ich doch nenne, und möge ich selbst verloren sein und im Tode wie zu Lebzeiten verdorrt, bei Jehova: Ich scheide mich von dir. Dein Kind ist nicht mehr meines. Ist es mutterlos, dann wird es darüber lachen, daß sein Vater es nicht aufnimmt. Ich war aus Judas Stamm. Ich war eine keusche Gattin. Scheidest du dich von mir, dann scheide ich mich von dir.

Ich will einem anderen Mann folgen. Du hast nie gelebt. Jerusalem hat nie gestanden, der Libanon ist nie verdorrt, ich habe kein Kind getragen, keinen Sohn geboren.

Das ist mein Schwur. Dann gibt es ein anderes Leben als das um dich, es gibt andere Städte als Jerusalem, andere Götter als den, der dich mit Blindheit geschlagen hat und mich mit Elend, Bitternis, üblem Gestank, Tränen, Hunger und Gram.«

Er war schon fern, seine hohe Gestalt in weißem Gewande, von den silbernen und goldenen Schuppen des Kleides der schönen Sklavin umrieselt, entschimmerte in dem glänzenden Torbogen der kaiserlichen Burg, er spiegelte sich in den herrlichen Wänden, wo in unabsehbarer Reihe rote Löwen, schwarze Stiere und gelbe Drachen wandelten, dem hohen Fürsten zu schmeicheln, zu seinen Füßen gebückt, ihm dienend untertan.

Rahel aber blieb zurück, sie trat ihre Wanderung durch ganz Babylon an, zwei Tage und zwei Nächte. Sie ruhte aus in der Mitte des Weges, im Viertel der Goldschmiede und Edelsteinhändler. Sie lag schlaflos die sternenhelle Nacht hindurch auf dem flachen Dache, windgekühlt. Ihre Lippen blieben starr, sie weinte keine Träne, stöhnte keinen Seufzer, sprach kein Wort. So kehrte sie in das elende Quartier der Gerber zurück und zu ihrem Sohn Daniel.

 

9

Rahel zog Daniel zu sich, und sprach abgewandten Gesichtes zu ihm.

»Daniel, du bist mein einziges Kind. Wirst du fassen, was ich sage, wirst du glauben, was ich weiß? Ich kann nicht mehr mit dir leben, ich will nicht Witwe und einsam sein. Sieh mich an!«

Sie kehrte ihm ihr tief aufgerührtes Gesicht zu, die tränenlosen, tiefen, erdbraunen Augen in seine großen, wissenden Augen von zartestem Blau ergossen.

»Sieh mich an, Liebster. Habe ich dir das Brot des Elends in den Mund gegeben? Du bist lieblicher als ich, eines Fürsten Sohn, wenn auch keines Fürsten Erbe. Habe ich es so geführt, habe ich es befohlen? Aber deine Mutter hat vor deinem Vater deshalb Gnade nicht gefunden.

Heute nacht nur lasse mich an dich schmiegen, dich kosen, dich trösten, damit du mich tröstest. Lange Jahre lebte ich neben dir, mein liebstes, zartes, starkes, schneefarbenes Kind mit den herrlichen Sternenaugen. Ich suchte deines Vaters Stärke und meine Schönheit aus den Tagen der Prinzessin Rahel.

Nun bindet mich ein böser Schwur, ein schwerer Eid, ein eisernes Gelübde. Du siehst mich heute noch und niemals mehr. Ich habe dich nie gern mit meiner Hand ergriffen, mir schien meine Hand unrein, befleckt von der unreinen Arbeit, Gerberlohe, Klauen und Vließen, du aber bist der reine Sproß von Davids hohem Geschlecht. Ich habe geschworen, mich von dir zu scheiden, mich selbst zu vergessen auf Niewiederkehr. Deshalb laß mich diese Nacht noch zu deinen Füßen ruhen, dich sehen, berühren und fühlen. Einst tränkte ich dich mit schwarzem Wasser, ich stillte dich mit totem Laub, da öffnete sich meine harte Brust. War das unser letzter glücklicher Tag?

Ich habe meinen Eid verschworen, ich will mich von mir lösen, denn ich habe mit meinen Küssen und mit meiner Liebe deinem Vater kein Glück getragen. Ist meinetwegen sein Reich und sein Rat dahin ? Er ist unter den Gewesenen, Jerusalem ist heimatlos geworden, wenn es auch noch sein Dasein fristet unter den anderen, den glücklichen, die Gott nicht kennt, nicht segnet, nicht verflucht, nicht lohnt, nicht straft. Mir aber sagte er gestern, der einst Fürst war neben mir, der Fürstin, als wir noch ehedem stolz waren und nicht zweifelten, er sprach zu mir mit abgewandtem Gesicht, mit aufgeworfenen Lippen, mit widerwilliger Stimme, mit trotzigem Herzen: ›Wer bist du? Ich habe dich nie berührte Er faßte mich nicht an. ›Mir sind nie Kinder geboren worden.‹ Er kannte dich nicht, er war nur glücklich, als ich von ihm wich. Kannst du es fassen, der du nicht Rahel bist? Kannst du es greifen, der du trotz meines Jammers nicht weinst?

Deine Mutter wird sich morgen zwischen die Tore dieser wüsten Stadt stellen, einer der Männer dieses Landes wird deine Mutter bei einem Zipfel des Kleides fangen, wird den Schleier von ihrem Kopfe ziehen, sie entblößen, ihr zulachen und um sie werben. Auf Lebens- und Sterbenszeit wird er sich mit mir vereinen. Wird er vor mir sterben und zu den Toten herabfahren, wird deine Mutter mit ihm sterben und mit ihm zu den Toten herabfahren, damit in deiner Mutter eine treue Gattin unverbrüchlich befunden werde.

Und wird deiner Mutter Schoß noch Kinder tragen, so wird sie sagen: Ja, ihr seid meine einzigen Kinder. Meine weißesten, meine holdesten, meine glücklichsten, ich habe andere Kinder nie getragen, eines anderen Knaben Mund nie liebkost. Wer ist Daniel? Ich kenne ihn nicht. Damit eine treue Mutter in Rahel gefunden werde. In mir, Rahel, Prinzessin von Juda einst, nun Bettlerin und Dienerin in den Gassen der Gerber.

Und mag er als ungläubiger Chaldäer nur seinem eitlen Gott glauben und ihm Wasser tragen in breiten Schalen und Früchte aufstellen in hohen Gestellen und Fleisch schlachten und Blut ausschütten, und mag sich ihm das Feuer, das er an Gottes Statt anbetet, wie ein Hund oder wie eine unselige Mutter zu seinen Füßen niederlegen, oder gar in der Tiefe eines Teiches sich bergen und aus dem Schilf und Gras heraus flüstern, flackern und bitten, so will auch ich mit ihm zu seinen eitlen Göttern beten, mich seinem Feuer schmeichelnd nähern und seinem Götzen die Füße küssen, ihm Wein bringen und Gaben ausbreiten, opfern und anbeten, wie er es tut, damit eine treue Dienerin Gottes in deiner Mutter aufsteht, ihm, dem anderen zuliebe, in Eintracht, Frieden und innigstem Vereine.

Wer war treu, wenn nicht Rahel ihrem Gatten Jojakim? Im Glück und Elend auch. Aber das soll nicht sein. Es muß eurem Gott ein Greuel sein. Deshalb habe ich eurem Gotte abgeschworen, ich wandere aus den Ländern der zehn Stämme Judas.

Es mag sein, es riecht hier übel. Hat es sogar deine Stimme erstickt, so daß ich sie nicht höre, hat es dein Auge verdüstert, so daß du nicht mit meinem Jammer weinst?

Besser wäre es gewesen, am ersten Tage zu sterben, du mit mir vereint, als sie uns herschleppten, auf den Ochsenwagen geladen, wie totes Vieh, dessen man viel herschleppt des Leders wegen.

Besser wäre es gewesen, dich zu deinem Vater tot zu bringen, denn deiner hätte er sich erbarmt, dein liebes Gesicht hätte ihm wohl gefallen. Anders als ich.

Mag sein, wir leben zu lange.

Jerusalem ist gefallen, die hohe kaiserliche Burg Babylon haben sie mit den Edelsteinen unserer Schlösser ausgeschmückt.

Im Frühling fiel Jerusalem, zur Zeit, da die Akazien blühen. Hier hört die herrliche Zeit der Heiden niemals auf.

Besser wäre es, dort tot zu sein, als hier lebendig. Denn Gott hofft nicht mehr auf uns.

Besser ist es, kinderlos zu sein, das üppige Weib mit grünen Augen, scharlachfarbenem Hemde, dem Oberkleide, aus Gold und Silber geschuppt und in Falten bis an die Erde und im Duft wie ein junger blühender Baum. Was soll ich, die ohne Reiz im Alter hinschwindet? So bin ich voll Bitternis. Sprich nicht, du kannst mich nicht trösten.

Warum halte ich mich noch, daß ich dir nicht fluche? Bist du nicht sein Fleisch und Blut? Wäre ich nie zurückgekehrt, wo nur Gram in der Grube gepflanzt ist und Kummer in dem nahen Teiche sich spiegelt. Ich hätte nichts ersehnt, beide wären wir geblieben, was wir sind, verachtet, aber gesättigt. Erniedrigt, aber ohne Groll. Wir wären alt geworden, das dienende Weib, ich und ihr weißer, schöner Sohn, du, namenlos beide, da es besser ist, namenlos zu sein, als Judas Namen zu tragen.

Man verbirgt sich vor seinem Zorn, man fühlt sich sicher in den Löchern und Winkeln, der Sohn an die Mutter gedrängt, beide. Mußte dies über uns kommen? Du bist ohne Schuld. Zarter schritt nie ein Kind durch diesen schlammigen Grund, süßer hauchte kein Atem durch diese verpesteten Gassen. Dein Blick ist so licht, so wissend, so groß. Wußtest du auch, daß es Väter gibt, denen dein Gott ihr Leben während des Lebens genommen hat, daß sie noch lachen und sich wundern, wenn man sie ruft, sie wenden sich nicht zurück, sie achten dessen nicht, daß man sie bei ihrem Namen greifen will. Hat man sie geschlagen, gepeitscht mit blutigen Striemen, so kichern sie nur und flüstern: ich habe Leiden nie gekannt. Ich aber halte mich nicht. Hat es mich geschlagen, so will ich schlagen. Bist du seit ehegestern nacht zur vaterlosen Waise geworden, so sollst du auch zur mutterlosen Waise werden. Hat mich der Herr mit eitel Trübsal angetan, nach der Verbannung Judas noch einmal verbannt, nach allen Strafen noch einmal gestraft, so sei wie ich.

Jammere wie ich. Seufze den Gespenstern nach. Sitze in Totengebeten versunken um die, die noch leben.

Decke dein helles, schön gelocktes Haupt mit einer finstern Mütze aus Asche, und weine um mich, wie ich um dich, denn so soll es sein.

Da ich nicht fluche, so laß mich nur lachen. Denn es ist nur Rahels Staub, der spricht. Es ist nur deiner Mutter unsinniger Schatten, der sich über dich breitet, jetzt, da der Morgen erwacht, das Licht uns beiden im Aufgang begegnet.

Du sollst keinen Bissen mehr essen aus meiner Hand. Wirst mir nichts mehr in deiner irdenen Schale zu trinken übrig lassen, wie du es immer getan hast bis jetzt. Bist du von deinem Gott gesegnet, wird es dir zum Segen, bist du aber verflucht, wie wir alle es waren, dann wird es dir zum Gift, zur Galle, zum Gram, zur Grube voll Würmer und in Unrat vermischt. So will auch ich Gericht halten über mein Fleisch und Blut. Denn ich bin als Königin geboren. Ich und meine Brüder, mein Vater und meine Mutter und die lieben Ahnen, alle, die mit Jerusalem gestürzt sind, die geendet haben mit der heiligsten Stadt, laß mich sprechen, klagen, erinnern, was ich einmal war, wir waren nur Erde und von dieser Welt, wir waren eitel in ihrer Eitelkeit, aber doch satt an irdischer Speise und froh in ihrem Frühling, wenn wir in Judas glatt gespannten, lichten Zelten saßen, auf den unvergessenen Hügeln, gekühlt von den regenfeuchten, klaren Winden. Wir dachten, wir leben so ewig. Nun sind wir, wo niemand uns neidet, keiner uns um Almosen anfleht. Aber ich will dessen kein Teil mehr sein. Habe ich gesündigt, habe ich gebüßt. Habe ich getragen, so will ich ledig sein. Kann ich dich lassen? Kannst du ohne Mutter erwachen, und dein Vater im Palaste soll sagen: wer bist du, Schöner, mit dem schneefarbenen Gesicht, weshalb kenne ich dich nicht? Denn mir sind Kinder nie geboren worden. Wirst du es glauben, kannst du es fassen: deine Mutter, Rahel, Jojakims treue Gattin, liebt Daniel, ihren Sohn. Da sie ihn liebt, löst sie sich mit ihrem Fluch, mit ihrer Bitternis, mit ihren Eiden, den falschen wie auch den wahren, auf immer von dir, Daniel. Sei eines anderen Sohn, einer anderen Mutter geliebte Last. Höre mich, vergiß es nicht. Habe, Liebster, kein Teil mehr an uns. Du sollst ein anderer sein als einer von denen, deren die Erde müde ist, sie zu tragen, deren die Totengrube müde ist, sie zu bergen.

Lebe nicht wie wir. Leide nicht wie wir. Stirb nicht wie wir.

Gehe von uns. Ich gehe von dir.

Scheide dich von uns, ich scheide mich von dir.

Du sollst mir nicht zürnen, du sollst mich segnen.

Deine Mutter tut, was keine Mutter in Juda getan hat um ihres Kindes willen.

Hätte Jehova sich so von deinem Volk geschieden, hätte er es so verlassen, wäre er so von ihm gegangen, wir wären noch in Judas schönbewaldeten Fluren, wir äßen noch Brot aus unserer Väter Erde. Wir wären das törichte, gesunde, strotzende Kraut des Bodens, das glücklich blüht und seinen Namen nicht weiß.

Daniel! Nie Daniel mehr!

So will ich namenlos sein für dich, von diesem dunklen Morgen an.

Du sollst nicht mehr sprechen, sieh mich nur an, ich weiß, was du sagst. Bist du denn nicht meines Herzens reinstes Herz?

Wir sind vertrieben, alle. Du nicht.

Wir sind verflucht, alle. Du nicht.

Wir sind Gott Fremde, warten vergebens, daß er uns wiedererkennt. Aber du bist in seiner Hut, dich faßt er da, wo er mild ist, ja, er nährt dich, wo er süß ist, dich tränkt er da, wo er kühl ist. In deinem Munde wurde das schwarz verfaulte Laub zu gutem, weißem Brot. Meine bösen Brüste sprangen. Es duftete nach Nelken und Wein.

So lebe in seinem Leben.

Ich warte nicht mehr, bis es Abend wird.

Ich gehe, mein Bleibendes bleibt bei dir.«

 

10

Daniel geht tiefer zwischen die Felder, auf eine gestürzte Garbe legt er sein schönes, licht umlocktes Haupt, seine Haare zittern in den zitternden Grannen, sein reiner Atem vereint sich mit dem reinen Atem des Getreides, so liegt er still. Er betrachtet ohne Müdigkeit, ohne Sehnen, makellos in seiner holden, streng umschlossenen, mild bereiften Kindheit die Abendgestirne. Die Winzer kommen unter ihren Körben mit Reben, die Ziegelbrenner steigen aus den Toren der Ziegelöfen, wo warm ein rotes Licht brennt. Greise weisen mit ihren Stöcken gegen den Himmel, wo ein neues Sternbild kreist, im eigenen Lichthof, wie von runden Wölkchen umkleidet, unter dem Diadem der zwölf Gefährten des Tierkreises ist es zu sehen, in fünf Farben funkelnd, von keinem Sternkundigen zu deuten. Alle Himmelsgestirne weiß der Knabe, die Tiere erkennt er am Ruf, die Pflanzen an Blättern, Wurzel und Kern im Gehäuse. Die Sprachen der vielen Stämme, die in Babylon wohnen, versteht er alle, die Schriften zieht er nach, wenn er sie einmal gesehen hat, denn er nimmt Wissen an von allen, die ihn lehren.

Er ruht nach durchwachten Nächten schön unter Weiden, er pflückt Früchte im verlassenen Garten, bricht die Kolben von Mais aus dem Felde, um sie in seinen schmalen, blau gewirkten Gürtel zu zwängen, der seine engen, hohen Hüften umspannt. Unter den Hügeln verschwindet die Stadt. Um einen kleinen Brunnen dreht sich zu dem eintönigen Gesänge eines schwarzen Treibers abendlich ein müder Stier. Das Wasser fließt rein um Daniels Füße, die wie aus Stein geschnittenen, die Zehen sind wie mit dem Meißel aus Silber gebildet.

Es ist Herbst, ein reiches Jahr, die Flüsse kommen reich von den Gebirgen in die Ebene, nach den bösen Geschicken leben alle eine gesegnete Zeit.

Am zweiten Tage kehrte er zurück. Er schlief in einem kleinen Gelaß. Winzige, schießschartenähnliche Öffnungen ließen Luft in die kühle Kammer. Matter, abgestumpfter Schritteklang müder Kamele, die die Lasten gegerbter Felle in das Innere der Stadt tragen, bei Nacht, im kühleren Hauche. Es knarrten die ledernen Säcke an den Seiten der knöchernen Rippen, dumpf schallten die Schellen aus Messing um ihre mageren, langen Hälse. Unter leisem Pfeifengetön gingen sie vom nahen Brunnen.

Der Knabe richtete sich vor dem Schlafe noch einmal auf. Über den ruhelosen Straßen erhob sich aus dem roten Straßenstaub der zart grün geschminkte Himmel früher Nacht. In blendendem Lichte stieg die scharfe Zacke des zunehmenden Mondes empor, zu schwebendem Wandeln, zu lautlosem Gleiten hoch über dem von rotem Dampf und Feuern umhauchten Turme Babylons. Es verströmte in der Abendstille plätschernd die Brunnenquelle, es rauschte heimatlich der nahe Hain, es dufteten durch die Fäulnis der Verwesung die blau blühenden, hochgewachsenen Bäume.

Er war aller Menschen Schüler, keines Menschen Sohn.

Zu seinem Unterhalt mußte er arbeiten. Als unmündiger Knabe ging er in das Innere der Stadt, half den Kupferdrehern, den Panzerschmieden, hielt mit seinen kleinen Händen die aus Erz gewebten Netze, die aus Kupfer gegliederten Schuppen. Er trat den Blasebalg in der geschwärzten Werkstatt und aß seine Speise, die über den Holzkohlen der Esse geröstet war. In seinem hellen, gelockten Haar knisterten die Späne des schwarzen, grünen, silbernen Metalls.

Längst war seine Mutter verschwunden. Kaum daß bisweilen in der Dämmerung eine verschleierte Frau ihm begegnete: mit demütiger Gebärde schlug sie ihr sandfarbenes Witwenkleid um ihre mageren Glieder, das Ende des rauhen Tuches berührte leise raschelnd die hohe Gestalt des schönen Knaben. Seine Augen, von zartestem Blau, mit unzerstörbarem Glänze brennend im silbernen Gesicht, suchten den Blick der Frau und ihre scheuen Augensterne; doch bloß schwarze Locken, von grauen Strähnen durchzogen, hingen wie ein grob gewirkter Schleier vor ihrem Gesicht hinab, sie drückte ihren Kopf voll Kummer gegen die aufquellende Brust. Schon verrann sie in der Menge, die über die schwankenden Brücken in die Quartiere der Gerber strömte.

In den Armen des Knaben war viel Kraft, seine Schultern konnte keine Last zusammendrücken. Sein Atem hob sich schnell und hoch, wie die flaumbekleidete Brust eines starken Vogels sich hebt beim lautlosen Schwunge über den Gebirgen. In seinem Innern war starke Freude, deshalb konnte er alles ertragen. Er mußte vieles ertragen, denn er lebte ohne Vater und Mutter und arbeitete schweren Dienst.

In der Nähe seiner Werkstatt gaukelten die Schatten der Palmen über den roten Staub der Straße. Die Rinde der windschwankenden Bäume war zerschlissen von den Haltestricken der ungeduldigen Lasttiere, denn hier ging die große, ebene Karawanenstraße, die aus dem glücklichen Arabien in das glücklichere Babylon führt. Der Knabe hörte an seinem Werktische das Feilschen und Lärmen der Kaufleute in den Basaren, doch galt ihm Geld nichts, er lauschte in den späten Mittagsstunden den Gesängen der Trunkenen und abends dem Kichern der Verliebten und dem Stöhnen der Begehrenden, aber es war ihm nur wie das Rauschen des Wassers, das Stöhnen des Brunnenrades und das Klirren der Kette. Schöne Mädchen trugen ovale Krüge Wassers hoch auf ihren schwarz gleißenden Köpfen, purpurn gekleidet schwebten sie von dem Brunnen ins Innere der dumpf hauchenden Gassen.

Daniels klare, weite Augen von reinstem Kristall funkelten im Dämmer der Arbeitsstube über den Abfällen der heiligen Geräte, den gewaltigen Lenden der zerspaltenen Stiere, den abgebrochenen Nacken und gewellten Mähnen der zerstörten Löwen, welche die siegreichen Chaldäer aus dem Tempel Jerusalems nach Babylon getragen hatten. Aus diesen Stücken schmolzen er und der alte Meister dicke, glimmernde Barren, dann rollten sie die Stücke unter die Arbeitsschemel, sammelten Erz für die Arbeit künftiger Jahre. Dann lernte er dünne, dreimal geringelte Fußspangen schmieden, doppelt zugespitzte Angelhaken für die Fischer, die am Ufer des lehmfarbenen, seidig gekräuselten Flusses wohnten, Nadeln mit geschlitztem Öhr für die Teppichweber, flache Schalen für Salz, Büchsen für edle Narde und anderes Gewürz, Becher für Wein, mit Buchstaben gezeichnet, Gürtelschnallen, spiegelnd geglättet. So arbeitete er vom Morgen zum Abend. Vor seinem mit Metallsplittern besprühten Werktische stand er festen Fußes, mit unverrückten Knien, faßte die Meißel beim hölzernen Griff, formte die flacheren Ringe am steinernen Richtkegel, er zog die dünnsten Fäden aus der farblosen, heißen Lötflamme. Aber er tat es nicht der Spangen willen, nicht den Gürteln und Angelspitzen zuliebe, sondern er nahm das Metall in die Hand und faßte die Barren unter dem Tische, als wäre es heilige Gerstenkrume, zum Opferbrote zu formen, er schürte das Essenfeuer, als wäre es heiliges Opferfeuer, in reinster Frühe zu zünden. Er bedurfte der Priester nicht, nicht der Gesalbten, nicht der heiligen Stätte. Er mußte Gott nicht suchen, er nannte ihn weder in Worten, noch Schreien, noch Seufzen, noch in Gebeten. Sein Glaube war Freude. Die Schrecklichkeit Gottes war ihm noch fern.

Seine Hand war mild gegen die Armen, er sorgte wie ein Sohn für die chaldäische Frau, er war sanft gegen die Traurigen und ahnte der Tiere traurig verzaubertes Herz und berührte sie mit Zärtlichkeit.

Es freute ihn sein hochbeschwingtes, ruhevolles Atmen, das bloße Schauen war ihm Wollust, das Schlagen des Herzens ein Kuß von innen her, eine Zärtlichkeit aus dem innersten Innern des Lebens. Er zweifelte nie. Das Gewicht der Sorge hatte er abgeschüttelt, Sehnsucht zehrte nie an ihm. Die Schwere der Welt hatte er abgetan, bevor sie ihn drückte. So konnte er nie ermatten. Er hatte als Kind die Maße ausgemessen, die Lasten verteilt. Er durchforschte die Weisheit der Schriften und ihr Neues kam nie zu Ende. Nie wurde er bitter, sein Mund kannte keine Traurigkeit, seine schnell hauchende Brust keine Betrübnis. Seine Hände waren nicht mit Ketten doppelt gebunden. Es rauschen die Bäume im Regen des Frühlings, die Palmen schütteln ihre fächerförmig gebreiteten Blätter, es zirpt das Feuer in der Esse, es knarrt der Blasebalg, und das Messer knirscht beim Schneiden des Erzes. Ihm wird alles zum Trost, aus jeder Speise ißt er Freude. Daniel, der letzte Erbe des von Gott verblendeten Geschlechtes, ist nicht verblendet.

Die armen, vertriebenen Juden beten in verfallenen Tempeln, sie beugen sich, sie schlagen ihre abgemergelte Brust inmitten der herrlichen, blühenden, fremden Stadt Babylon. Sie heben von dem elenden Estrich ihres Tempels Sand, der von dem zerbröckelnden Lehmdache fällt, und den Mörtel, der aus den Fugen rieselt, nehmen sie zwischen ihre Finger und streuen den Staub zur ersehnten Versöhnung vergeblich über ihre rauhen Haare und klagen sehr. Dieser aber lebte unter Menschen, ohne daß Menschliches an ihm war, außer seiner Gestalt. Noch hatte Gott ihm nicht an das Innerste gerührt, und das Vergangene war dunkel für ihn wie das Kommende. Aber er hoffte nicht, worauf Menschen hoffen. Fürchtete nicht, was Menschen fürchten. Litt nicht, was Menschen leiden. Wer sich in Gottes Gerechtigkeit begibt, kann nicht die Gerechtigkeit der Menschen erkennen. Er ist nicht betrübt, die Asche beschmutzt ihn nicht, der Mörtel bindet sich nicht an seinem lichten, herrlich gelockten Haupthaar. Dieser schöne, hohe, glühende Knabe mit dem vogelgleich eilenden Atem liebte die Menschen nicht, noch haßte er sie, sondern er vollendete täglich sein Werk ohne Gier, er tat Gutes, wo er konnte, und keines Menschen Leid haftete an ihm. Denn was heilig ist, ist das Menschenlose. Er nennt Gott nicht mit Namen, noch ruft er ihn mit Bitten, denn der Heilige ist Gott nahe über die Worte heraus.

Sein Vater hatte sich gelöst von dieser Welt, er lebte unter fremdem Himmel, eine vertriebene Wolke. Aber wie Daniel sich von seinem Volke gelöst hatte, war nicht Menschenart.

Nach vollendetem Tagewerk geht der Jüngling an den Rand der Stadt, er versinkt tiefer in die Felder, auf eine gestürzte Garbe legt er sein schönes, licht umlocktes Haupt, seine Haare zittern in den zitternden Grannen, sein reiner Atem vermischt sich mit dem reinen Atem des Getreides, so liegt er still. Er betrachtet ohne Müdigkeit, ohne Sehnen, makellos in seiner holden, stark aufgesprossenen Jünglingskraft die klaren Abendgestirne. Die Winzer kommen unter ihren Körben mit Reben, aus deren Innern der Saft blutfarben dringt, von berauschendem Dufte umwittert. Es ist Herbst, vor den Regengüssen, eine wolkenlose, leichte Zeit.

Von Frieden gesättigt, kehrt der Stille zurück, der Bescheidene schmiegt sich in sein kleines Gemach, der Stolze birgt sich in dem engen Raum mit dreieckigem Fenster. Er ist wie alle Menschen und sein Name nur einer unter abertausend. Von der Decke rieselt im Dunkeln der Staub, es ticken die Würmer in den ausgetrockneten Balken.

Daniel hatte keine Träume. Daniel, die vater-, die mutterlose Waise, hatte nicht Mitleid mit sich. Er suchte seine Mutter nie. Er nahm sein Schicksal hin, ohne Zürnen, Ungeduld, sein Atem kam aus dem Innersten seines Innern, doch war er leicht, schnell, schneller als Menschenatem ist, nie hatte er Mühe. Sein Antlitz mit den purpurnen, fest umrissenen Lippen war unbewegt, denn er forschte nicht nach Gerechtigkeit, berührte nicht die Waage des Guten und Bösen. Seine Stirn, die sich so lange über die Bank der Metalldreher gebeugt hatte, die von den Funken der Schmiedeesse angesengt war, blieb ruhig, furchenlos, Schneefarben, voller Frieden. Ungerührt, unberührt, wissend, ohne Sünde, voller Licht.

Wie er nachts dalag, keinen rufend, von niemand gerufen, in der schmalwinkligen, blau getünchten Kammer, wie er im kühl durchdufteten Räume schlief mit leicht erhöhtem Haupte und seine schmalgliedrigen, kraftvollen Hände flach neben ihm lagen auf Palmblättern, raschelndem Laub, dem dürftigsten Lager, da wehten über ihn und über sein versunkenes Gesicht und sein tief befriedetes Leben wie blasser Wind dahin: das Ziehen der Karawanen in die Wüste und das Heimkehren zurück aus ihr, das Erlangen von Schätzen und das Verlieren, das Schmieden von ehernen Stieren und das Zerschmelzen, Zermalmen, Zerschneiden und neue Schmieden zu anderem Gerät, das im Sande knisternde Schreiten der Maultiere im Paßschritt, das unruhige Kläffen der Hunde zu ihren Füßen, der weiße Mond, die silberne Zacke, ausglühend über der nie in ihrem rötlichen Staube verlöschenden Stadt und das nie im rötlichen Staube verlöschende Unglück der zehn Stämme Judas, ihr Weinen und Grämen und ihre unnütz gekrönten Könige, ihre mit Sünden erbauten Gottespaläste und Gottes vergebliche Bitten um der Juden Gnade, und der Juden vergebliches Flehen um ihres verleugneten Herrn unwillige Güte, und die von dem unseligen Gott mit Blumen gepeitschten unseligen Völker der unseligen Erde, und des friedenlosen Gottes Recht, Unrecht, Gewalt, Milde, Geben, Nehmen, Verderben und Retten aus Not, Verzeihen, Versprechen, Verkünden und Versagen, Verzweifeln an allem, Leben, Siechen, Siegen und Strotzen von Kraft, verzagt sein und voller Freude und Streben und Sterben. Daniels Gott nennen die Namen nicht.

Über Daniels tief versunkenem Gesicht und seinem tief befriedeten Leben wehten wie blasser Wind, hoch um Mitternacht, dahin: die geliebte Mutter, die trübe, mit dem schwarz umflossenen Haupte, mit ihrer durch aschenfarbenes Haar verdeckten Stirne, mit dem scheuen, elenden Blick der betrübten Prinzessin Judas. Wie Rahel, die Trauteste, Stillste, Gütigste, ihren Sohn sucht mit dem flehenden Blick, Gott gleich, der seine verlorenen Söhne sucht, wie sie sich, schon zwischen den Toren des Abschieds, nach ihm, dem einzig Geliebten, umwenden will, von ihren furchtbaren Eiden gebunden, von ihrer furchtbaren Verzweiflung überströmt, wie Gott verzweifelnd an Judas Leben, Stadt und Herrlichkeit, und gekettet an seinen glühenden Fluch, wie sie, das Herz voll Wut, den Blick voll Kummer, sich doch an ihn klammert, sich doch scheu von ihm entfernt, immer noch in ihren eklen Gerbergeruch gekleidet, dennoch ihrer unverlierbaren Schönheit gewiß, sie, die schönste Prinzessin von einst auf den schönsten Gefilden Judas, in den kühlsten Tälern unter den Zedernbergen Libanons –, da sieht er, Daniel, sich zum erstenmal, er schwebt über seiner Erscheinung, erinnernd, erkennend.

Aber an der Tiefe von Daniels aufgelöstem, träumelosen Schlafe verging die unselige Welt ins Wesenlose. Dieser Jüngling, schneefarben im schneefarbenen Lichte des frühesten Morgens, ruhte nicht allein auf dem auseinandergespreiteten Bündel getrockneter Palmblätter, er war nicht eingehüllt allein in den harten Teppich grob geflochtener Fasern, er ruhte sicher auf dem Urgründe des Inmitten.

Was wir ahnen, wußte er.

Er war der Friede, friedlicher als Gott, glücklicher als Gott und als alle Menschen, selige, unselige von den ersten Tagen Judas bis zu der letzten Zeit, angefangen von den Seinen, Vater und Mutter, bis zu den hohen Stammvätern, denen erst im Tode wurde, was diesen Lebenden lächeln machte.

 

11

Als Daniel am nächsten Tage an seinem Werktische stand, hörte er einen Mann an der aus Bohlen gefügten Tür pochen. Eine Stimme rief: »öffne mir, aber sieh mich nicht an!« Durch die geschlossenen Augenlider Daniels brach beim Betreten der Schwelle hochströmendes Licht, in sieben Farben funkelnd, in drei verschlungenen Kreisen verflochten. Er fühlte sich obenher von einer ungeahnten sanften Berührung umschlossen, wie ein Apfel, den eine Hand in seiner ganzen Fülle umschließt, sein Herz wogte in schmerzvoller Freudigkeit, als wäre es von einer Zunge bis ins letzte umschmeichelt.

»Bedecke deine Augen, fasse mein Kleid nicht an, ruhe schweigend zu meinen Füßen, denn ich bin von einem Hohen gesandt und soll dir Liebliches verkünden. Fürchte dich nicht. Höre und folge, sei getrost, denn ein Mächtiger hat mir befohlen. Bleibe allein, denn dazu hast du meiner gewartet bis heute, vom Vater verleugnet, von der Mutter verlassen, um meine Einsamkeit zu erhellen, spricht der Herr, der mich sendet.

Du bist ein Mensch in deiner Gestalt, den hohen, weißen Gliedern, den klaren, blauen Augen von reinem Kristall, dem stillen, kummerlosen Herzen.

Du sollst kein Mensch sein, es sei denn in deiner äußeren Gestalt. Dich nicht mit Menschentränen lösen, nicht mit Menschenlachen berauschen.

Aber du sollst sehen, was kein Mensch gesehen, und hören, was kein Mensch aus Evas Schoß gehört hat.

Du sollst sein: die Welt, die man mit Augen schaut, mit Lauschen hört, mit Worten faßt, und was über ihr ist und was unter ihr ist. Denn des Herrn Himmel haben viele Kreise.

Die Zeit soll vor dir auseinanderweichen wie ein geteilter Granatapfel. Ich will dich deinen eigenen Augen zeigen, wie du warst als Kind, dich dir offenbaren, wie du wirst als Greis. Erkenne dich, damit du mich erkennst. Du sollst ungebleichten Haares durch die Jahre schreiten. Nie endet, was Daniel hieß.

Vertraue mir, Liebster. Ich bin nicht der Göttergott, hier an der Schwelle wartet nur ein niederer Bote, der junge Sohn tritt in die Werkstatt des jüngeren Bruders. Ich spreche mit Menschenträumen aus dem Traum. Ich deute mit Menschengebärden aus den Gräbern. In meiner Rechten, die die Erzballen hält, ist, was war. In meiner Linken, die das Feuer aus der Esse in ihrer Höhlung faßt, ist, was kommt. Beides, Vergangenes und Zukünftiges, sollst du in deiner Hand einschließen, die bisher den Meißel führte und die Eisenbarren wälzte und die Flammenzungen der Lötfeuer führte. Nichts soll dir verborgen bleiben.

Bücke dich, breite deinen stolzen Rücken dar, denn deine Last wird nicht leicht sein. Lachen werden deine Lippen nicht kennen, und deine Zähne sich nicht im frohen Spott entblößen.

Unter ihresgleichen leben alle, Mensch unter Menschen, Tote unter Toten, Tiere unter Tieren, Verfluchte unter Verfluchten und die Satten unter Satten am brechenden Tische.

Gott ist allein. Sei du es auch.

Du sollst künden, nicht zeugen.

Laß andere sich den Schönen gesellen, andere sich in Wollust ergießen, andere sich verlieren und lebenden, liebenden Herzens seufzen in der glühenden Umschlingung. Blicke nicht hin, neide ihnen ihre wollustvollen Schmerzen nicht und ihr schluchzendes Lachen und ihr girrendes Vergehen.

Es will sich ein Hoher in dir spiegeln. Berühre nichts. Rein in der Verwesung, kalt in der Wollust, eisig vor dem Tode und stark unter der Hand des Würgeengels. Nicht der Tod noch der Oberste der Bösen sollen dich in Ketten legen. Bin nicht ich es, dessen linke Hand Tod heißt und dessen abgewandtes Herz Fürst der Bösen? Du aber nimm mich als Knaben, als Freund, als lieblichen Gefährten.

Ich habe zwei Menschen geschaffen, die nicht aus dem Knäuel derer sind, wie ihrer die Welt zum Erbrechen überdrüssig geworden ist, die ungeerntet faulen mögen auf den überreifen Feldern der Zeit. Das seid ihr, Nebukadnezar, Fürst von Babylon, und du, Daniel, Erbe ohne Erbe, Diener des Erzschmiedes mit dem Meißel in der Hand, den Flügeln des Blasebalges unter den Fersen, die lichten Haare von dunklen Metallsplittern besät.

Du, Daniel, Jojakims Sohn und sein Sohn nicht, Rahels Liebe und Liebe nicht, du sollst ein Herr sein neben mir, dem Herrn. Frage alles, was über der Erdkrume ist, es wird dir folgen und sein Geheimnis sagen. Alles Leben, das außer dem Fleisch lebt, alles Blut, das außerhalb der Adern strömt. Wenn du kommst, wird es leuchten, und wenn es auch hundert Jahre und Myriaden Monde in den Grabesboden versickert wäre und die Würmer vergangen sind bis ins letzte Geschlecht, die sich nach Würmerart daran gesättigt haben. Vor dir soll es frisch zu leuchten beginnen und frei mit Zungen reden.

Die Tore der Träume sollen sich vor dir öffnen, mögen sie auch längst vergessen sein. Das Gedachte soll in den Angeln der Ahnungen sich drehen, wenn nur deine Stärke es berühren will. Du wirst wissen, was niemand weiß, nur ich, dein Gott und Herr.

Der andere Herr aber über das, was auf der Erdkrume im feuchten Brodem wächst und geile Sprossen treibt, was rot blüht und grau verblüht, sich verwirrt und entwirrt, geboren wird unter Stöhnen, was zeugt unter Stöhnen und stirbt unter Stöhnen, darüber mag der andere Heerlisten ausschreiben, damit es ihm Untertan sei auf jeden Wink. Reiche und Arme, Reiter und Reisige, Königreiche und Provinzen von den Gletscherbergen bis zu den kochenden Meeren, Bäume und Halme, Tiere, frohe und trübe, wilde und sanfte. Über die Wollust der Frauen wie über den Stolz zertretener Könige habe ich ihn gesetzt. In Reihen müssen die Könige dienend schreiten und die Prinzen wie Perlen aufgereiht um ihn wandeln. Die Frauen mögen sich nach ihm verzehren. Das Aufgehen der Blätter in feuchten Knospen unter dem Frühlingsgewitter an den Ufern des Flusses sei ihm eigen und alles, was an dessen pappelumstandenen Ufern geht, zwei Wegreisen im Umfang. Er mag sein Wort und Gebot setzen über die Stadt, die weiße Millionenstadt Babylon, so weit das Auge gelangt und der Wunsch treibt. Über Gut und Blut, Perlen, Gold, Brot, Würze und Wein, Wappen und Waffen, Ruhm, Ehre, kalten Verstand und strengstes Recht, Kranksein, Schmerzenerdulden und Schmerzenerzeugen, Leiden und Toben, Sichberauschen am dunklen Wein und am dunkleren Blute und über das Erwachen, und über die Arbeit der Tage und die Mühen der Beamten, über Wirken, Schreiben und Bilden, Brückeschlagen, Würdenverteilen und Schätzeverwalten, darüber sei der andere Herr.

Das Lagern der Steine auf dem gemauerten Grunde und das Aufrichten der Türme nach Senkel und Maß sei sein Werk und seine Majestät. Herr über Land, Meer, Lebendes, in welcher Ordnung es lebe und sich ordne, darüber habe ich dem andern das zersprungene Siegel gegeben und habe ihn mit der tönernen Krone gekrönt und Zedekias Krone zermalmt um seinetwillen, und seinetwegen haben sie dem letzten Fürsten meiner Stadt mit hänfernen Stricken die Stirn umwunden und seinen leeren Mund mit Brocken Erde gefüttert. Er ist Nebukadnezar, der Kaiser dieser weiten, schönen Stadt, wie sie Menschen nie erbaut haben, und Gründer dieser Türme, wie man sie niemals gegen den Himmel gerichtet hat, seit Menschengedenken und Menschenvergessen.

Du aber, Daniel, vermische dich nicht mit ihm. Wärme dich an seinem Sandelholzfeuer nicht. Trage ihm keine Bohlen zu seinen stolzen Brücken, mauere keine Steine an seine prächtigen Paläste mit den strebenden Pfeilern und Säulen.

Laß ihn allein, wenn er dich ruft. Deute ihm seine Gesichte, aber bleibe allein.

Erleuchte ihm seine dumpfen, düster funkelnden Träume, aber halte deinen Atem zurück, bleibe allein. Liebe ihn nicht, und nichts anderes, das aus dem schwarzen Schlund des unersättlichen Schoßes einer Menschenmutter gekommen ist. Liebe nichts, nur mich. Kein Tier, keine Pflanze, sei es Hain, mit schönen Mauern umrandet und zwischen kühlen Bächen auf dem grünen, hohen Berge, sei es Gras, wie es sich tausendfältig zeigt auf dem ebenen Grunde. Wende dein Herz nicht liebend nach dem Pochen der Pulse und lausche nicht nach dem Strömen von Blut, das lockend in den weißen Armen von Menschen strömt. Sei niemandes Liebling, niemandes Vater, keines Lebenden Ahne. Heilig ist das Menschenlose. Höre es und folge mir nach. Denn ich bin sehr allein, öffne deine Augen, die großen, die klaren, die blauen. Es ist Nacht geworden um deinetwillen. Ich habe meinen Glanz aufgenommen und die Säume meiner Strahlen an mich gerafft, damit du deine Augen öffnen mögest und doch nicht erblindest.

Du, Daniel, sei mein, wie ich dein bin, von dieser Nacht, ersten Nacht außer den Tagen, du, der Sohn aus den Geschlechtern Judas, außer der Erbschaft ihrer Verblendung. Denn du sollst nicht sein Sohn sein, Jojakims, der seinen Namen nicht mehr hört, wenn die Eigene seines Herzens ihn ruft, sich nicht umwendet, wenn Rahel nach ihm jammert und aus den Wellen des Teiches nach ihm greift. So sei du vaterlos, ich will es, es ist meinetwillen. Vertraue mir, Daniel, sei getrost. Berühre nicht Nebukadnezar, erkenne deinen Vater nicht, auch wenn er dich erkennt. Dafür will ich dich in doppeltes Gewand kleiden. Alle Räume sollen dich zur gleichen Zeit umfangen, du sollst sein wie ich, hier und dort zugleich.

Du sollst keine Mutter haben auf der Erde. Und wenn sie vorübergeht und sie streife dich mit dem Zipfel ihres sandfarbenen Witwengewandes und taste nach dir, wie die Aussätzigen tasten und die Grindigen schüchtern betteln, dann wende dich nicht zurück. Ihr Glück, ihre Seligkeit sei Zurück. Aber das Teil Daniels ist es nicht. Weiche ihr aus dem Wege, verhärte dein Herz, das Heilige hat keinen Teil an Mitleid, Erbarmen, Tränen, Seufzen und Erinnern.

Ich will dir Mutter sein.

Ein Mensch sei mein. Ein einziger, der mein ist mit allen Fibern seines Innern und mit allen Fasern seines Fleisches.

Liebster, lausche mir, ich spreche aus dem Dunkel, aus den niedern Winkeln deiner Werkstatt kommt mein Wort. Du bist aufgezogen mit Todeswasser, was von den Bäumen verwelkt fiel, und was die Stuten des Fürsten zerstampft hatten, das konnte dich nähren und laben. Fische sprangen aus dem Wasser, die sich sonst nie aus dem Innern des Teiches heben. Dir zuliebe verließen sie ihr Haus und wollten dir leuchten.

Was du jetzt siehst, ist kein Traum, und du sollst nicht zweifeln. Sei mein, bis ins letzte Geheime deines Innern, wo die Wünsche keine Worte haben und die Gebete keinen Namen. Der Worte bin ich überdrüssig geworden und Gebete können meine Gunst nicht erkaufen. Sei mein und keines anderen sonst.

Bis heute warst du ein Mensch unter den Verbannten in den Weilern von Babylon, nahe den Sümpfen. Ein schönes, silberweißes Kind, so hielten dich zwei Könige auf ihren Händen. Ein spielender Knabe im roten Staub, im schwarzen Schlamm der Gerbergassen, rein in aller Verwesung. Ein hochgewachsener Jüngling, ruhend nachts auf den harten Fasern grobgewebter Teppiche, am Tage sich mühend mit geschmolzenem Metall, mit gezogenen Fäden. Ein Arbeiter mit spärlichem Lohn in der Karawanenstraße, nahe den Palmenhainen, unfern den Brunnen. Jetzt sei ein anderer als bisher. Ich will wahr sein zu dir. In keiner Menschenseele habe ich mich gespiegelt bis zu deiner Zeit.

Denn du bist der Zwirn, aus dem Teppich gerissen, der Splitter, aus dem ganzen ehernen Meer mit der Feile geritzt.

Du sollst mein Jenseits sein. Das sei dein Trost.

Ich werde dich nicht von deinem Leben nehmen. Freue dich meiner. Frage nicht: wohnen denn Götter unter den Menschen? öffne deine Augen weit. Atme tief und ergreife meinen Hauch. Lasse mich nicht! Denn du bist kein Mensch mehr. Du steigst auf den Stufen zwischen der Erde und den sieben Himmeln, den meinen. Sei ein Mann und gerüstet vom Scheitel bis zur Sohle, mit unverrückten Knien, unerschütterbarem Herzen. Erbleiche nicht, zage nicht. Du bist kein Mensch mehr. Du steigst auf den Stufen zwischen der Erde und den sieben Höllen, den meinen.

Denn ich bin auch der Kalif der bösen Engel, der Herr der Schrecklichkeiten, vor denen sich das arme Herz zusammenkrampft und der Atem zischend die sterbende Brust verläßt.

Mein ist die Ewigkeit und ihre Furchtbarkeit ohne Maß, ihr Grauen ohne Grund und Trost. Zittere nicht vor meinen düsteren Brauen, wenn sie in Gewittern stürmen, verschließe nicht dein schönes Ohr, wenn ich schreie in Schrecken vor meinen eigenen Schrecken. Das Ewige ist dir nicht kund und nicht der ewige Fall und die dunklen Räume zwischen den schwarzen Höllen und den lichten Himmeln, die man nicht mit Maßen mißt, noch mit Gewichten wägt.

Dir aber will ich leise tönen, dich sanft fassen. Noch hast du keine Träne um Jerusalem geweint, meine Schöne, die ich mir geschaffen habe zwischen den Hügeln. Ich will dich sachte an den Schultern, unter den zart beflaumten Achseln aufnehmen, dich heben und nicht mehr niederlassen. Der Leidende ist mir fern, da ich die Welt geschaffen habe und die dreizehn Firmamente gezeugt. Sei du ein Froher unter meinen leer gewordenen Himmeln.

Ich war einst alles: Geist, Flamme, Rauch und Blut. Ruhen und Rollen. Seit Urzeiten zerrissen. Nun will ich zurückkehren, mich mit mir vereinen. Ich will dich segnen und du sollst mich segnen. Sei stille jetzt. Erhebe dich, in des Elisa Mantel gekleidet.

Du sollst leben. Künden, nicht zeugen. Sehen, vor und zurück, leuchten mit den kalten Flammen deiner Augen, aber nicht lösen. Geringes nicht und nicht Gewaltiges, unter dessen Knoten die ganze Welt erwürgt stöhnt. Sei stille.

Werde wie ich. Wissend das Böse und das Gute: und nichts berührend. Bleibe getreu. Denn ich will in der Welt sein in deiner Gestalt.

 

Erhebe dich nun, gürte dein Kleid, besteige die hohe kaiserliche Burg. Du sollst ihm, dem Herrscher der Welt, begegnen und der Mächtigste soll deinem Wort still lauschen. In dieser Nacht träumt er einen Traum, der mir aus meiner linken Hand glitt, während meine Rechte auf deinem hell umflaumten Haupte ruhte, Daniel. Die Mauer meines abgewandten Herzens ließ ich ihn sehen, so daß er mit dem Schrecklichen kämpft und dessen nicht Herr wird, mag sein Schwert auch alles Lebende unterworfen haben bis zu dieser Nacht.

Gehe hin und fürchte dich nicht. Hat doch bis jetzt dein Herz Zagen nicht gekannt. Ich will dir deinen Anfang zeigen, deinen ersten Tag unter Menschen. Also nimm Abschied von Daniel, dem Sohne Rahels, dem Samen Jojakims.

Ich will dir deinen letzten Tag zeigen unter Menschen, da du der einzige bist, den ich dem Tode entreiße und den Würmern aus dem gierigen Schlünde raffe. Denn niemals soll vergehen, was Daniel hieß.

Aber was zwischen diesen Tagen liegt, dem ersten und dem letzten, das sei dein, wähle nach deiner Wahl, herrsche nach deinem eigenen königlichen Gebot.

Ich habe mich verschleiert, damit du mich liebst. Ich habe meine Allmacht abgetan, daß du mir in gelösten Schritten folgst.

Es wird Tag, es beginnt ein frohes Hoffen, ein leichteres Atmen.

So scheide ich von dir.«

 

Erstdruck: Einzelausgabe im Verlag »Die Schmiede«, Berlin 1924.


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