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Erzählung in Anekdoten
Eusebius, ein Mann in höherem Alter, der außer seinem Bruder und früherem Geschäftsteilhaber Alexander nur recht entfernte, aber zahlreiche und fast durchwegs bedürftige Verwandte hatte, war im Alter von über 60 Jahren aus Amerika zurückgekehrt. Er brachte viel Geld mit. Wieviel es war, hat man erst nach seinem Tode, nach über 20 Jahren erfahren. Er war ein dicker, freundlicher, zutunlicher, oft sogar demütiger und unterwürfiger alter Herr, der einen stillen, aber zähen Kampf um seine »Mittel« (das Wort Geld nahm er höchst selten in den Mund) zu führen hatte, und zwar in erster Linie gegen die Verwandtschaft, die er auf die Folter zu spannen wußte durch seine scheinbare Gutmütigkeit, seine Bereitschaft zu guten Ratschlägen und zu herzlichen Segenswünschen, dann gegen die Geistlichkeit, der er nach Kräften auswich in einer Art Furcht, vielleicht in einem Rest von Ehrfurcht aus seiner Jugend, und zum Schluß verteidigte er tapfer seine Mittel gegen zwei blutjunge und sehr hübsche Großnichten, und das alles mit so vortrefflichem Erfolg, daß gemäß seinem Willen und entsprechend seinen Ansichten über die menschliche Natur keine menschliche Seele der Leiche folgte, als diese, auf seinen letzten Wunsch, aus dem gerichtsärztlichen Institut der Stadt P. nach dem Friedhof gebracht wurde.
Er liebte die Musik, besonders das Klavierspiel, war aber nicht dazu zu bewegen, ein Klavier zu mieten, geschweige denn eines zu kaufen. Einer der Großneffen, ein tüchtiger, aber etwas sauflustiger und stets von drei bis vier anspruchsvollen weiblichen Gefährten heimgesuchter Komponist, schwärmte ihm einmal von den Schumannschen Davidsbündlertänzen vor, in welchen auch ein Musikstück über einen Eusebius enthalten sein sollte. Der Alte wiegte zweifelnd den Kopf, lachte und zeigte seine schönen goldenen Zähne. Der Musiker, der in bedrohlichen Geldnöten war, borgte sich bei seinen Damen etwas Geld zusammen, lieh ein Pianino für vier Wochen, ließ es zu dem Großonkel schaffen und spielte ihm nicht nur die Eusebiusstücke von Schumann, sondern auch eigene Kompositionen so prachtvoll vor, daß der Großonkel (der den ganzen Jammer des Großneffen genau kannte) gerührt wurde, dem Musiker um den Hals fiel, ihm die »begnadeten« Hände küßte und dann in sein Kabinett ging, mit einem dicken gelben Kuvert zurückkehrte und es dem Musikus übergab. Als dieser in überströmenden Worten danken wollte, lehnte der reiche Mann demütig alle Lobes- und Dankessprüche ab und nahm dem Großneffen das Versprechen ab, das Kuvert erst daheim zu öffnen. Dann nahmen sie, immer noch gerührt, Abschied voneinander, und der alte kahlköpfige Mann (der einst mit stählernen Nadeln sein Riesenvermögen verdient haben sollte) strich über den Tasten ein langgestrecktes dunkelgrünes Samtläppchen zurecht, als wolle er die vergilbten Elfenbeintasten streicheln. Der Teufel muß den Neffen geritten haben, daß er bereits nach einer halben Stunde (und nicht wenig angeheitert) wieder erschien und dem versonnen im Dunkeln dasitzenden Großoheim das aufgerissene Kuvert wies, in welchem bloß ein einziger Silbergulden versteckt gewesen war, aber so raffiniert in Seidenpapier eingehüllt, daß man ihn von außen nicht durchfühlen konnte. »Du hast ihn doch noch?« fragte der Großoheim, in Angst, der musikalische Großneffe könne diese Summe bereits vertrunken haben. Aber der Neffe hatte lieber Schulden beim Wirt gemacht, um den geizigen Wohltäter zu beschämen. »Nun gut«, sagte der Großonkel. »Du wirst mir doch nicht böse sein, daß ich deine hehre Kunst so niedrig eingeschätzt habe, aber ich hatte sonst kein gewechseltes Geld im Hause, nun spiele mir noch etwas Schönes vor, vielleicht die Mondscheinsonate von Beethoven ...« Der Neffe sah in diesen Worten eine Art Reue, setzte sich bereitwillig noch einmal an das Klavier, spielte die Mondscheinsonate, dann die Sonate Les adieux und zum Schluß die Mondscheinsonate noch einmal. Zum Abschied empfing er wieder ein Kuvert, fest verschlossen und leicht wiegend, also kein Metallgeld enthaltend. »Gibst du mir dein Musikerehrenwort, daß du das Kuvert nicht früher öffnest, bevor du daheim bist?«
Der Großneffe gab es. Daheim entdeckte er, daß der Alte den Silbergulden nur gegen einen Papiergulden ausgetauscht hatte. Selbst das Seidenpapier hatte er dazugepackt, als wolle er den Bittsteller höhnen. Der junge Mensch kehrte wutschnaubend noch nachts zurück. Er trommelte auf die Tür, aber sie blieb verschlossen, und durch sie hindurch hörte der Musiker den kunstliebenden Alten außerordentlich leise und zart auf dem von fremdem Geld beschafften Klavier – nicht unbegabt – die ersten Takte der Mondscheinsonate zusammensuchen, und er mußte so darüber lachen, daß er beinahe die dunkle Treppe herabgestürzt wäre. Die Freundschaft nahm also noch kein Ende. Eusebius liebte es, wenn die Menschen zu ihm kamen. Kindlicherweise war er stolz darauf, daß er von den armen Teufeln nichts verlangte. »Man darf vom Menschen nichts verlangen«, sagte er, und was die Leihkosten für das Pianino betraf, versprach er, die Summe bis »ganz hoch hinauf abgerundet« nach seinem Tode dem Musikus wiederzuerstatten. Vielleicht hätte er es getan. Aber er war noch keine 78 Jahre alt geworden, als der Musikus dem Elend, dem Alkohol und seinen Lieben erlegen war mit noch nicht ganz 46.
Ein anderer Großneffe war Volontärarzt an einer Chirurgischen Klinik, oder wollte es wenigstens werden. Da nun diese Stelle unbezahlt war, wandte sich der junge bildhübsche Mann an den alten Herrn, der ihn freundlich empfing. Der Greis hörte es sich geduldig an, wenn der junge Schwärmer ihm von den künftigen, blutigen, aber rettenden Diensten an der leidenden Menschheit erzählte, wozu er sich dank der Freigebigkeit des Großonkels heranzubilden hoffte. Der Alte billigte das ideale Streben, war aber gegen eine lange und kostspielige Ausbildung. »Folge meinem Rat!« sagte er, »vertraue dir selbst! Man ist entweder ein tüchtiger Chirurg oder man ist es nicht. Geh unter die Menschen und bilde dich!« Der junge Mensch wandte errötend ein, daß man zu so einem delikaten Beruf Übung brauche. »Wenn, angenommenerweise, der liebe Herr Großonkel krank würde und sich operieren lassen müsse, würde er sich dann einem jungen Anfänger anvertrauen?« »Kind, Kind«, flötete der Großonkel, »glaube mir altem dummen Mann. Mut ist alles. Ich sehe, du hast die Berufung. Geld brauchst du nicht.« »Aber du würdest dich mir bei aller Berufung doch nicht anvertrauen«, wandte der starrköpfige junge Mann ein. »Vielleicht nein!« antwortete der Alte milde. »Wer heißt dich mit unsereinem anfangen? Habe ich angefangen, mit Rothschild und Rockefeller Geschäfte zu machen?« Sie standen schon in der Nähe der Tür, und der Alte versuchte, den Jungen sanft herauszuschieben aus der Wohnung, denn manchmal fürchtete er sich vor den Menschen. »Fange an!« rief er hell. »Fange an mit kleinen Leuten, mit Dienstmädchen, mit Häuslerinnen, mit Trödlern auf dem Markt, auch mit Soldaten, die sind froh, wenn sie einem Mann wie dir unter die Hände kommen. Unsereins laß! Unsereins laß!« Und damit schob er ihn ab.
Eusebius langweilte sich oft und spielte gern Karten. Es soll hauptsächlich aus dem Grunde gewesen sein, immer ein paar geduldige Partner für das Kartenspiel bei sich zu haben, daß er seine Großnichten am Vorabend seines Todes zu sich nahm, der Tor. Er hätte sich viel Kummer ersparen und hundert Jahre alt werden können, wäre er nur etwas menschenwürdiger mit den anderen Kartenpartnern umgegangen. Aber abgesehen davon, daß er (ein kluger Mann) ungewöhnlich gut spielte und alle Karten »offen« in seinem Kopfe hatte, spielte er stets nur auf Verrechnung. Am Ende der Woche rechnete er ab. (Nicht mit den Großnichten, hier war die Abrechnung sehr traurig.) War er im Vorteil, mußten die Partner »blechen«. War er im Verlust, sagte er, man hätte nur um die Ehre gespielt. Als einige dagegen rebellierten, sagte er beleidigt: »Ich bleibe euch 77 Kreuzer schuldig und gebe euch dafür einen Rat, der unter Brüdern 1000 Gulden wert ist.
Denn wenn Reiche und Arme zusammen spielen, geht es niemals anders zu. Ihr aber seid blöd, und deshalb bleibt ihr arm. Wer hat, dem wird gegeben, und mit Recht!«
Die armen Verwandten kamen trotzdem wieder, spielten nächtelang Karten mit Eusebius, der dank seines Alters mit 6 Stunden Schlaf auskam, versuchten aber, ihn beim Spiel zu betrügen, obwohl sie doch wußten, daß ihnen auch ein großer Gewinn auf dem Papier nichts nützte, da Eusebius nun einmal bei Lebzeiten nicht zahlen wollte. Um ihn zu ärgern, trampelten sie dann mit großem Getöse die Treppe hinab, weckten die Nachbarn und erweckten solche Unzufriedenheit im Hause, daß Eusebius das riesige, von bald 200 Mietern bewohnte Haus kaufen mußte. Nun liebte er Häuserbesitz nicht. Er liebte eigentlich nur das »ruhige«, in Staatsrenten oder in verschiedenen Sparkassen angelegte Geld. Gerade weil sein Bruder Alexander das Geld auf die Wanderschaft schickte, das heißt, es in vielen neuen und zweifelhaften Unternehmungen angelegt hatte, hatte er sich von ihm getrennt. Nun hatte auch er einen, wenn auch nur winzigen Teil seiner Habe auf die Wanderschaft schicken müssen. »Kann man Ziegelsteine essen? Kann man sich mit Schieferdächern kleiden? Was mach' ich mit Türklinken?« Das verzieh er den Verwandten schwer. »Seid ihr denn besser als ich?« raunte er ihnen bitterböse, aber in zuckersüßem Ton, fast flötend zu, als sie zum erstenmal im »eigenen« Hause wieder um den Kartentisch herum saßen, »ihr seid nicht besser als ich, nur ärmer, ihr kapitalistisches Gesindel!« Und als die Verwandten sich empörten, setzte er fort: »Gut, ich bin für euch das Aas. Aber was seid ihr anderes als Hyänen?« Die Verwandten knurrten, gaben aber keine Antwort und begannen die Karten zu mischen, den alten kleinen Griffel zu spitzen und das graue Schiefertäfelchen zu reinigen, auf dem ihre zweifelhaften Gewinne und nur zu kostspieligen Verluste verzeichnet wurden. Sie mußten dem Alten sein Glück lassen, aber sie freuten sich auf seinen Tod, obwohl sie ihn nicht alle überleben sollten, denn Geld erhält zäh.
Der Geistliche seines Sprengels bemühte sich sehr um sein Seelenheil und um die künftige Rettung seines unsterblichen Teils aus den Qualen des Fegefeuers und der Hölle. Er riet Eusebius, wenigstens die Hälfte seines Vermögens der Kirche oder religiösen wohltätigen Stiftungen zu hinterlassen. »Alles gebe ich oder nichts!« antwortete Eusebius. Der Geistliche strahlte sanft und verabredete mit Eusebius einen Besuch in einem Hospital, um das Herz des Alten zu rühren. Dies gelang ihm auch, besonders in dem Augenblick, als ein armes, sehr krankes Kind dem Eusebius, als er an dem Bettchen stand, ein winziges Püppchen schenkte. Vielleicht hatte es in seinem Fieber den dicken Eusebius mit seinem mageren Vater verwechselt. Der Geistliche wollte die Rührung des Eusebius ausnutzen und drängte in ihn. Eusebius war sofort abgekühlt, versprach aber dem Pfarrer, eine Dotation in Erwägung zu ziehen, wenn dieser ihm einige Fragen beantworte. Der Geistliche nickte, wohlgerüstet, wie er war. »Hochwürden, ist Gott reich oder arm?« »Gott ist reich, sehr reich, ihm gehört alles!« sagte der Pfarrer. »Warum braucht er da mein kleines Pinkel (Bündelchen)?« sagte er, sich auf die linke Brustseite schlagend, wo er die dicke Brieftasche trug. Und als ihm der Geistliche mit den Höllenstrafen drohte, sagte er: »Oh nein, Hochwürden, da bin ich jetzt ganz beruhigt! Wenn ich weiß, daß der liebe Gott reich ist, dann geht es mir drüben nicht schlecht. Denn die Millionäre tun sich untereinander nichts an.« Und seine goldenen Zähne glänzten wie das Morgenrot. Aber auf das Drängen des Pfarrers ließ er sich wenigstens herbei, einem sehr armen Verwandten, der eine riesige Kinderschar, unter anderem auch zwei niedliche Töchter, besaß und der ein eifriger Kirchenbesucher war, eine monatliche Unterstützung von 70 Gulden zuzuwenden. »Gott wird es Ihnen danken«, sagte der Pfarrer gerührt. »Mischen Sie sich nicht in seine Angelegenheiten!« antwortete Eusebius, der im Augenblicke, wo er so viel Geld aus den Händen lassen sollte, nichts mehr von seiner Demut an sich hatte.
Eusebius hätte dem kranken Kinde, das sich ihm gegenüber so großmütig gezeigt hatte, vielleicht eine größere Summe zukommen lassen, er konnte aber nie erfahren, was aus dem Kinde geworden war. Der arme Vetter dagegen kam am ersten Montag jeden Monats und war so überschwenglich mit den Berichten über sein häusliches Elend, daß der Alte es vorzog, die Geldsumme (die er auf 100 Gulden monatlich hatte erhöhen müssen, als noch ein Zwillingspärchen in der Wiege sich eingestellt hatte) dem armen Bittsteller durch einen schmalen Spalt der Tür zu überreichen. Diese beiden Wohltaten schienen aber Eusebius kein Glück gebracht zu haben. Bei dem Krach der landwirtschaftlichen Sparkasse in Hostomeric verlor er nicht weniger als 300000 Gulden. Unglückseligerweise war es an dem ersten Montag eines Monats, als Eusebius die Nachricht erfahren hatte, und diesmal ließ er den Bittsteller ein, gab ihm das bereits vorbereitete Kuvert, sagte ihm aber, als der Arme demütig dankte, nicht der Vetter, sondern er selbst hätte ihm zu danken, da ihm der Vetter endlich die Gelegenheit gegeben hätte, Wohltun zu üben. Der Vetter stutzte ob dieser Demut und Zutunlichkeit, setzte sich erblassend hin und erfuhr zu seinem Schrecken, daß er von jetzt an nichts mehr erhalten solle, das Wohltun hätte dem Eusebius keine Zinsen getragen, im Gegenteil. »Tröste dich, Vetterlein«, sagte der Alte gütevoll, und seine Goldzähne schimmerten wie das milde Abendrot im dämmerigen Zimmer – es war Winter und der Nebel lag vor den Fenstern –, »was hast du viel verloren?« »Aber es war mein ganzes Einkommen!« versicherte mit zitternder Stimme der Vetter. Der Alte brachte ein Glas Wasser und warf sogar eines der Zuckerstückchen hinein, das er gestern abend aus dem Kaffeehaus heimgebracht, gratis. »Im Jahr sind es 1200, vier bis fünf Jahre hätte ich vielleicht noch zu leben, also hast du einen Pappenstiel verloren, im ganzen per saldo 6000 Gulden, höchstens, ich aber – halte dich fest! – 300000 Gulden.« »Aber es bleibt Ihnen noch weit über eine Million Gulden!« »Heute! Aber was wird morgen sein. Kann nicht auch die Sparkasse von Hodonin Bankrott machen, die von Brünn, von Prag, von Reichenberg, Czernowitz und Wien?« »Was soll ich tun?« klagte der Arme. »Das gleiche, was du getan hättest, wenn ich nicht auf der Welt gewesen wäre. Gott hat's gegeben, Gott hat's genommen, der Name Gottes sei gelobt!« Als sich der Arme damit nicht zufriedengeben wollte, kramte der Alte in seinem Schrank und brachte keuchend, weil ihm das Bücken angesichts seines Fettes schwerfiel, einige ganz vergilbte, aber sonst gut erhaltene Kragen. Der Arme nahm sie zögernd in die Hand, drehte sie hin und her. Schließlich gab er sie dem Geber zurück, er hatte nämlich nur die Kragenweite 36, Eusebius aber 41V 2. »Laß einen kleinen Saum einnähen«, riet der Reiche. »Du hast ja Töchter, die sollen die Kragen rückwärts auftrennen und ein paar Zentimeter herausschneiden. Das werden die dummen Fratzen doch verstehen?« Dem Armen schien ein tröstender Gedanke gekommen zu sein. »Ich schicke sie Ihnen, lieber Herr Großonkel, sie werden die Kragen abholen kommen, morgen um diese Zeit vielleicht, Resi und Rosi schicke ich!« (Diese waren die hübschesten seiner zahlreichen Mädchen.) »Nicht um diese Zeit!« sagte Eusebius. »Schicke sie abends so gegen sechs oder besser noch um acht, nach dem Abendessen.« »Herr Großoheim können unbesorgt sein, die Fratzen essen fast nichts, aber sie spielen Karten und sind sehr lustig und lassen Ihnen jetzt schon die Hand küssen!« Und damit empfahl er sich eilig, in Angst, der Alte könne sich gegen den Besuch der Großnichten wehren. Beinahe hätte er sogar das kostbare Kuvert mit dem letzten Monatsgelde vergessen, und der Alte mußte es ihm bis auf die Straße nachtragen. Er wohnte nämlich im zweiten Stock, obwohl es sein eigenes Haus war ...
Resi und Rosi, 17½ und 19 Jahre alt, die eine blond, die andere hellbraun, kamen mit einiger Verspätung, gefielen aber dem Alten sehr. Er spielte mit ihnen Karten, sie zeigten ihm das Pokerspiel, das er, der doch aus Amerika kam, nur vom Hörensagen kannte und das ihm viel mehr Abwechslung und Aufregung verschaffte als das Tarockspiel um einen zehntel Kreuzer, das er bis jetzt gespielt hatte. Nach kurzer Zeit weihten sie ihn in ihre Geheimnisse ein, ließen sich von ihm beschenken, und die Jüngere machte ihm Augen, während die Ältere ihm von ihrer Liebe zu einem herrlichen Mann erzählte, dem ehemaligen Volontärarzt, der inzwischen die Chirurgie an den Nagel gehängt und Armenarzt geworden war, aber noch zu wenig verdiente, um Rosi heimführen zu können. Übrigens schien es, als ob die andere Schwester diese Verbindung nicht gern sähe. Im Beginn des Sommers nahm er die beiden Großnichten zu sich ins Haus, und sie, in der ersten Dankbarkeit, verwöhnten den alten Mann so, daß er bereute, nicht rechtzeitig geheiratet zu haben. Aber es hatte ihn immer der Gedanke abgeschreckt, jedes Jahr seinem Weibe neue Kleider kaufen zu müssen und ebenso seinen Kindern, während er, wenn es mit einer einmaligen Pauschalzahlung abzutun gewesen wäre, sich längst dazu entschlossen hätte. Die Nichten waren entzückend gekleidet, sie begannen sogar ein wenig niedlichen Schmuck zu tragen. Erst viel später erfuhr der Alte, daß sie auf seinen Namen Schulden gemacht hatten und weiter machten, denn er wagte ihnen nichts zu verbieten. Er mußte jetzt viele Gäste bei sich sehen, auch den Armenarzt, mußte sie bewirten. Die Großnichten bemächtigten sich bald auch der Verwaltung des großen Zinshauses, verstießen die alten treuen Mieter und nahmen nur noch Verwandtschaft an ihrer Stelle auf. Diese zahlte natürlich nichts, ließ aber schöne Tapeten legen, sogar Badezimmer einrichten. Abends schlichen die Mädchen oft fort. Eusebius mußte ins Kaffeehaus »Zum silbernen Türken« gehen, denn er ertrug die Einsamkeit in dem jetzt sehr unruhig gewordenen Hause nicht mehr, wo aus allen Türen und Wänden entweder Lachen oder Zank oder Kindergeschrei hervordrang. Im Kaffeehause setzte er sich in eine Ecke, holte die Lesebrille hervor und versuchte zu lesen, sehnte sich aber im Grunde heim und zu den zwei Schwestern. Er stöhnte. Der Oberkellner, bei dem er nicht in Gnade stand, weil er stets nur 2 statt 5 Kreuzer Trinkgeld gab und weil der Zucker und selbst die Semmeln nicht immer sicher vor Eusebius waren, näherte sich ihm auf seinen schleichenden Plattfüßen. Als aber Eusebius beginnen wollte, sein Leid zu klagen, sagte der Kellner streng: »Herr Eusebius, wenn Sie stöhnen wollen, gehen Sie lieber nicht in unser Kaffeehaus. Übrigens haben gestern zwei Kaisersemmeln gefehlt!« Millionäre lassen sich aber nicht erpressen, das Trinkgeld fiel an diesem Abend ganz aus, und mit besonderem Genuß aß Eusebius auf dem Heimweg zwei etwas altbackene Kaisersemmeln, mit seinen Goldzähnen vorsichtig umgehend, auf. Daheim überfielen ihn die Schwestern weinend und schluchzend, angeblich in Unruhe um ihn. In Wirklichkeit wollten sie ihn aber bewegen, einer von ihnen eine Mitgift zu geben, damit sie den schönen Armenarzt heiraten könne. Eusebius war mit dem Geldopfer, 1000 Gulden, einverstanden, wenn er seine Ruhe und eines von den Fräulein behielt. Aber welche sollte den Arzt bekommen? Eusebius wollte die Jüngere behalten, in der richtigen Erwägung, daß die Ältere, allein bei ihm zurückgeblieben, leicht giftig werden könne. Als daher die Schwestern ihm die Wahl überließen und ihn baten, den Namen der glücklichen Braut auf ein Zettelchen zu schreiben, malte er in zittrigen Großvaterzügen ROSI auf. Nachher flüsterte er aber Resi ins niedliche, von gebrannten Löckchen umschmeichelte Ohr, eigentlich hätte er an sie gedacht und sich bloß verschrieben. Sie sah ihn trotzdem nicht sehr freundlich an. Die Hochzeit fand bald statt. Der Geistliche segnete das junge Paar ein. Aus den 1000 Gulden Mitgift waren 4500 geworden, da der Arzt gewaltige Schulden hatte. Der Frieden kehrte nicht zurück. Der Arzt wohnte jetzt auch im Hause. Die Schwestern sahen sich täglich, fast stündlich, denn sie liebten einander. Also stritten sie, kratzten einander blutig, bewarfen sich mit dem guten alten Porzellan, küßten sich aber nachher gerührt und erleichtert. Eusebius hatte keinen ruhigen Augenblick mehr.
Plötzlich wurde seine Resi krank, es sollte Wassersucht sein, als sie aber mit dem Arzt durchgebrannt war, stellte es sich heraus, daß sie ein Pfand der Liebe von ihrem Schwager in ihrem Schoße trug. Die treulos verlassene Rosi zog bei Eusebius wieder ein. Sie trug Trauer, aß fast nichts mehr, kochte nicht und hinderte auch den armen alten Mann zu essen, so daß ihm seine früher knapp sitzenden Halskragen nun um den eingefallenen Hals zusammenschlurrten. Nachts weckte sie ihn mit Gejammer nach dem treulosen Mann, und als der alte Mann ihr riet, sich endlich zu trösten, nahm sie die Gelegenheit wahr, sich mit einem anderen Großneffen im Hause anzufreunden, ihn lange Tages-, bald aber auch Nachtstunden bei sich zu behalten. Das Paar bedrängte den verzweifelnden Eusebius, zu ihren Gunsten ein Testament zu machen. Eusebius versprach's. Aber statt daß das hartherzige Paar seine Liebesfreuden an einem anderen Ort abgemacht hätte, störte es den so schwer einschlafenden alten Mann jetzt durch Juchzen und Lachen, statt wie früher durch Jammern und Weinen, aus dem schönsten Schlaf auf. Seine besten Anzüge trug jetzt schon der Geliebte, seine kostbare Uhr war vom Nachtkästchen verschwunden, in dem Türspalt der eisernen Kasse steckte die abgebrochene Schneide einer Hacke. Die solide Kasse hatte widerstanden, aber wenn der alte Herr morgens von dem Paar mit einem vielsagenden Blick » was, du lebst immer noch?« begrüßt wurde, fühlte er sich seines Lebens nicht mehr sicher.
Zu dieser Zeit kehrte Resi mit einem Säugling auf dem Arm zurück, aber ohne ihren Geliebten, den Armenarzt. Zwischen den beiden Schwestern entspannen sich so furchtbare Kämpfe, daß der alte Mann ihnen seine Wohnung überließ und sich in zwei winzige Zimmerchen flüchtete, die unter dem Dach seines Hauses gelegen waren. Aber auch hier war er nicht ungestört. Der Armenarzt war zurückgekommen, hatte sich mit seiner Gattin Rosi versöhnt, von Resi und dem Kind wollte er nichts mehr wissen. Rosi wollte aber auch jetzt von ihrem neuen Freund, dem »herzigen Franz«, nicht lassen, so daß sie jetzt zwei Männer, die unglückliche Resi aber keinen Mann, dafür aber ein Kind besaß. Alle, die 2 Männer, die 2 Frauen, das Kind und der Rest der im Hause wohnhaften Verwandtschaft, bedrängten den Alten in seinem Gehäuse derart, daß er sich nur nachts herauswagte, um in einer kleinen Wirtschaft sich kümmerlich und traurig zu sättigen. Er faßte einen Entschluß. Er besaß noch aus seinen amerikanischen Zeiten ein altes Jagdgewehr und drei oder vier Patronen, bei denen aber die Kugeln fehlten. Man hatte vor Jahren, noch in Gesellschaft des Bruders, zu Neujahr aus ihnen Blei gegossen, und das Orakel hatte viel Geld versprochen. Neue Patronen zu kaufen, verbat dem Eusebius seine Sparsamkeit, aber das sollte das kleinste Hindernis sein, seinen Plan durchzuführen. Er ließ sich von dem Besitzer des Restaurants ein paar Briefbogen geben, »aus Gefälligkeit«. Er setzte sich, als eines Tages die Verwandtschaft wieder angerückt war und vor der geschlossenen, dreifach verriegelten Tür tobte, an den wackligen Tisch (ein guter, schöner geschnitzter Eichentisch diente jetzt als Wickeltisch für den Säugling unten in der Wohnung) und schrieb mit so fester Schrift, als er nur konnte, seinen letzten Willen in Form eines rechtskräftigen Testaments, das zugleich einen Abschiedsbrief an seinen um 20 Jahre jüngeren, unermeßlich reich gewordenen Bruder und Nähnadelfabrikanten in Amerika darstellte.
Zuerst stellte er das genaue Inventar seines Eigentums fest, das sich unten in der eisernen Kasse befand, berechnete sein Vermögen, das trotz des Kraches der Sparkasse sich auf fast 2 Millionen österreichischer Gulden belief, bestimmte einen Notar zum Testamentsvollstrecker und setzte dann in säuberlichen Paragraphen fort:
1.) Ich bin 81 und ½ Jahre alt, bei klarem Verstand und ohne besondere körperliche Molestierungen. Ich bin nach Aussage meiner zahlreichen Verwandten sogar besonders gut erhalten. Essen schmeckt gut. Trotzdem will ich die Geduld des lieben Gottes nicht länger auf die Probe stellen.
2.) Ich war glücklich. Ich war reich. Wer aber der Wohltätigkeit einen Finger reicht, kommt darin um. Wenn ich mich nicht durch das liebliche Geschenk des fünfjährigen Fräulein Agnes Hofschultner im Wilhelminenspital, Zimmer 32, Bett 7, hätte rühren lassen, wäre mein Leben per saldo noch besser abzuschließen. Aber was einmal geschehen ist, ist geschehen. Mir ist es nicht gut bekommen, und dem holdseligen Mädchen Agnes auch nicht. Denn ich fürchte, es lebt nicht mehr, das Fräulein. Wenn ein unschuldiges Kind von 5 Jahren so elendiglich sterben muß, wozu soll ein alter, abgetakelter Mann wie ich von 81 noch lange leben? Deshalb wünsche ich, daß mir das Püppchen, das sich im obersten Fach des Nachttisches befindet, ins Grab mitgegeben wird, ebenso mein schwarzer Gehrock, der im Schranke unten hängt, die grauen Handschuhe, meine weiße Krawatte – Plastron – und die frisch besohlten Schuhe. Dagegen vermache ich meine goldene Doppelmantel-Repetieruhr meinem Großneffen Franz Pernhuber. Sollte er sie sich schon vorher ausgeliehen haben, ist ihm daraus kein Vorwurf zu machen, sie soll ihm nur gute Stunden schlagen. Dem Großneffen-Armenarzt wünsche ich viel Krankheiten, sonst nichts. Bargeld und Papiere sowie das schuldenfreie Haus vermache ich jedoch zur Gänze meinem geliebten Bruder Alexander und seinen Rechtsnachfolgern. Bei seinem immensen Vermögen wird er den Zuwachs zwar nicht sehr spüren. Wer hat, dem wird gegeben. Er hat nie etwas von mir verlangt! Ich ... (Hier folgt eine durchstrichene, unleserliche Zeile).
3.) Dem Zahl- respektive Oberkellner Moritz im Café »Zum silbernen Türken« ist der Betrag von 42 Kreuzern für 21 Stück dem Semmelkörbchen entnommene Backwaren zu vergüten und ist auf Verlangen dieser Betrag von 42 Kreuzern auf 5 Gulden nach oben abzurunden, indessen soll es dem Oberkellner bei Androhung des Verlustes dieses Legates verboten sein, meinem Sarge zu folgen. Seine Physiognomie hat mir stets mißfallen, die meinige ihm.
4.) Mein herrliches, massives goldenes Gebiß von 32 Zähnen, das eine Meisterleistung echt amerikanischer Zahnheilkunde ist und mich seinerzeit 785 Dollar gekostet hat, ist zu retten. Es soll nichts unnötig verloren gehen! Ich vermache dasselbe meiner Großnichte Rosi, die sich desselben erfreuen möge.
5.) Sollte die Kirche mir ein religiöses Begräbnis verweigern, kann ich nichts dagegen unternehmen, hoffe aber, mit dem CHEF mich direkt auszugleichen. Ich bin gewesen wie alle anderen, und es kehre jeder demütig vor seiner eigenen Tür.
6.) Alle seit dem 1. Januar 1903 in mein Haus eingezogenen Mieter sind daher zum nächsten Ersten zu exmittieren, ob sie mit mir verwandt sind oder nicht. Von Pfändungen ist abzusehen.
7.) Das Recht auf die Portiers- oder Hausbesorgerstelle in meinem Hause gebührt lebenslänglich meiner Großnichte Resi und ihrem Kinde Egon-Alfons. Hausbesorger wird man immer brauchen, solange es Hausherren wird geben, es ist also eine Art Pension, als Schutz vor äußerster Not.
8.) Ich sterbe nicht aus Verzweiflung, sondern in der Hoffnung, mich so besser zu stellen als so.
9.) Ich grüße und küsse in Gedanken meinen Bruder Alexander. Mein schönster Traum wäre es, ihn hinter meinem Sarge zu wissen. Er ist der einzige, der den Eusebius in mir geachtet hat. Nie hat er etwas verlangt.
10.) Bei dem Leichenbegräbnis hat die Mondscheinsonate oder etwas Gleichartiges gespielt zu werden.
Geendet und gefertigt / eigenhändig, Perchtoldsdorf in Österreich,
Eusebius
Da der Alte den Lauf des Gewehres in Ermanglung einer teueren, unnötig kostspieligen Kugel mit Wasser gefüllt hatte, blieb von seinem wirklich teueren und kostspieligen goldenen Gebiß so gut wie nichts auf Erden, und Rosi, die Besitzerin zweier Männer, ging hier leer aus.
Auch in dem Hauptzweck des Testaments, das große Vermögen dem bereits unermeßlich reichen Bruder zu vererben, hatte Eusebius kein Glück. Denn es kam einem armen, »abgezumpelt« einherkommenden, alten mageren Mann mit ganz kleinem Köfferchen zugute, der 48 Stunden nach dem plötzlichen Tode des Eusebius eingetroffen war. Der ehemalige Nähnadelfabrikant hatte sein Unternehmen drüben immer kühner und wilder ausgedehnt, bis es eines Tages zusammengebrochen war. Die Hartherzigkeit seines Bruders Eusebius kennend, hatte er nicht gewagt, ihm zu schreiben. Ihm persönlich ein Almosen abzuschlagen, so glaubte er, war aber Eusebius nicht imstande. Nun traf er, zu seinem Glück, den Erblasser nicht mehr lebend an. Er hätte der Leiche folgen können, als sie aus dem gerichtsärztlichen Institut zur Beerdigung freigegeben wurde. Er tat es nicht. Reiche Leute haben immer ihre Gründe.
Dagegen wurde das kleine Püppchen dem armen alten Mann in den Sarg mitgegeben. Das »holdselige Fräulein« Agnes hatte es seinerzeit beim Erwachen aus dem fiebrigen Schlafe sehr vermißt. Sie hatte nie geahnt, daß sie die einzige gewesen war, die dem armen Millionär je etwas ohne Berechnung geschenkt hatte. Der Geistliche wußte wohl, daß Agneschen längst genesen war und daß sie in sehr ärmlichen Verhältnissen lebte mit ihrem Vater und sieben Geschwisterchen. Aber der geistliche Herr hatte dies dem Eusebius verschwiegen. Er hatte immer noch auf eine Bekehrung des Reichen gehofft, und er glaubte, ein Gulden, den dieser für sein ewiges Heil spende, wiege schwerer vor dem Richterstuhl des Himmels als ein Haufen Gold, den man einem dummen skrofulösen kleinen Mädchen aus dem Wilhelminenspital in den Schoß werfe. Aber von all dem hat Eusebius nichts mehr erfahren und sich – in der Tat – durch seinen Tod allerhand Unannehmlichkeiten und Enttäuschungen erspart.
Erstdruck: »Das Wort« 2, Moskau 1937