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Ein Fragment
Nikolaus Sered war alles mögliche in seinem Leben gewesen, nur das nicht, was zu werden er sich gewünscht hatte. Sein Vater, der Besitzer eines Wirtshauses »an der Maut«, also vor den Toren Prags, hatte ihn, den ältesten Sohn, noch in den guten Zeiten in das Realgymnasium geschickt. Als aber in den Jahren vor dem großen Krieg der Lastwagentransport mit schweren Pferdegespannen abnahm, sank der Besuch in kurzer Zeit so sehr, daß Nikolaus die Schulaufgaben fast ungestört in dem leeren Wirtshaussaal machen konnte, den man ohnedies beleuchten mußte. Auf dem alten, aber noch guten Billard übte er sich mit seinem Bruder, der nicht so groß war wie das Queue, das er handhabte, in allen Arten kunstvoller Stöße. Seit dieser Zeit brauchten sie beide am Billard nichts mehr zuzulernen. Der Vater war meist am Nachmittag abwesend. Die Stimmung wechselte. Manchmal war viel Geld da, und der arbeitslose Wirt lud seine Freunde und sogar ein paar frühere Angestellte ein zu Gratisbier, warmer Wurst und zu langen Tarockpartien. Ein paar Tage herrschte dann Freude und Friede im Haus. Der jüngere Bruder, Johann, Hanusch genannt, lag seit langem dem Vater und dem älteren Bruder in den Ohren, man möge ihm erlauben, in die k. u. k. Kadettenanstalt einzutreten, und der Vater, von den beiden Jungen bestürmt, gewährte an einem schönen Herbsttage die Bitte, geruhig lächelnd und in der Hosentasche mit Silbergulden klimpernd. Aus der Tasche seiner speckigen flaschengrünen Joppe ragte seine Zeitung, in welcher die wichtigsten Flachrennen des Rennplatzes in Kuchelbad mit Rotstift angezeichnet waren. Der Wirt spielte, er wettete mutig, anfangs mit Glück, dann mit wechselndem Erfolg, und schließlich kam er von einer Unglückssträhne nicht mehr los.
Nikolaus hatte zu den besten Schülern seiner Klasse gehört. Aber jetzt empfand er das als notwendig, was weder der Vater noch der Bruder von ihm zu verlangen wagten. An seinem Geburtstag (den er sich schon vorher als Termin gesetzt hatte) gab er seinen Entschluß bekannt, die Schule zu verlassen und Kellnerlehrling zu werden. Daß er im väterlichen, vertrauten »Geschäft« die Lehrjahre abmachen konnte, erleichterte ihm diesen Entschluß, den er nie bereute, sehr. Als er nach einigen Jahren die Gesellenprüfung bestanden hatte, hatte sich das Wirtshaus bereits wieder etwas erholt. Der Bruder war bereits seit langem in die Kadettenschule aufgenommen.
Kurz vor dem Krieg erkrankte der Vater und starb, die Mutter überließ das Wirtshaus dem älteren Sohn, der es mit einem früheren Angestellten auf Rechnung der Familie weiterführte, den jüngeren Bruder möglichst weitgehend unterstützte und vor lauter Arbeit nichts von dem herankommenden Weltunheil ahnte.
Der Herzensbruder Hanusch, schön, gesund, hochbegabt, wurde im August 1914 mit Rang 12 als Kadettenoffiziersstellvertreter in Wienerneustadt ausgemustert. Er kam nach einem tränenlosen, aber furchtbaren Abschied von Mutter und Bruder an die russische Front, an einen verhältnismäßig ruhigen Abschnitt. Auch Nikolaus wurde eingezogen, als Infanterist ausgebildet, aber in der Offiziersküche zurückbehalten, da er ziemlich schwächlich war und man einen zum Servieren gut »abgerichteten« ehrlichen Menschen hier gut brauchen konnte.
Erst im vierten Jahre des Krieges kam er ins Feld, und zwar als Blessiertenträger. Als solcher machte er, vom Glück begünstigt, unverwundet eine Menge blutiger Gefechte, zuerst in Polen, dann in Albanien, mit. Einen Nachtangriff mit aufgestelltem Bajonett und Handgranaten vergaß er nie. Der Bruder war inzwischen bei Zagora am Isonzo schwer verwundet worden.
Das väterliche Geschäft war zu einem Spottpreis in die Hände des Geschäftsführers übergegangen.
Als der Krieg zu Ende war, standen beide Brüder ohne Geld da. Nikolaus war zwar bis zum Gerippe abgemagert, aber gesund. Der Herzensbruder »hatte es auf der Brust«. Es sollte die Folge eines Lungenschusses sein, hieß es, es war aber die Schwindsucht.
Nikolaus versuchte, auf jede mögliche Weise zu Geld zu kommen. Er verkaufte, was er noch aus Friedenszeiten hatte, die goldene Uhr und Kette des Vaters, seine Bücher, die er mit vieler Liebe gesammelt und mit größter Sorgfalt aufbewahrt hatte. Er wandte sich sogar an die Mutter, die sich inzwischen wieder verheiratet hatte und ein Kind erwartete. Sie konnte oder wollte nichts für die Söhne aus erster Ehe tun. Hanusch hatte alle Lebenskraft eingebüßt. Nikolaus mußte ihm alle die Hoffnungen geben, an deren Erfüllung er selbst nicht mehr glaubte. Er bewarb sich wieder um eine Stellung als Kellner, so sehr ihm dieser Beruf widerstrebte, denn sein Ziel war von jeher ein anderes gewesen. Aber die freien Plätze waren dünn gesät, es war keine gute Zeit für Wirte, Kellner und Gäste, es war weder Friede noch Krieg. Was sollte er tun? Er wartete. Kein Angebot kam. Um nicht zu verhungern und um dem armen Bruder, der im Militärkrankenhaus lag, ab und zu eine kleine Erleichterung verschaffen zu können, war Sered jetzt zu jeder Arbeit bereit. Er übernahm eine Vertretung von Büchern, Konversationslexika, Atlanten und Texten der Kunstgeschichte, Gebetbüchern, illustrierten Bibeln, Gesamtausgaben, Kochbüchern, aber die Menschen kauften anfangs nur ungern und zögernd, in Angst, sich auf Ratenzahlungen einlassen zu müssen. Später erkannten sie, daß man mit Büchern in der Inflation einen guten Kauf machte. Aber das Geschäft war jetzt nur zu gut und vorteilhaft für sie, wenn sie nämlich die Raten in entwertetem Gelde möglichst spät bezahlten. Die Verkaufsagentur, bei der Sered angestellt war, ging in einem Meer wertloser Papierzettel bei ganz geleertem Lager zugrunde, und Sered stand auf der Straße. Der Bruder war jetzt schon so schwach, daß er sich gar nichts mehr wünschte. Er klagte nicht einmal. Die Medaillen und Kreuze aus dem Weltkrieg hatte er an Zimmergenossen verschenkt. Er wollte nicht mehr weiterleben. Dennoch gab Sered die Hoffnung nicht auf. Er wanderte von Wirtschaft zu Wirtschaft, auf der Suche nach einer Stellung, vergebens. Einmal half er vor einem Vorstadtswirtshaus einem Eisträger bei seiner Arbeit, nicht weil dieser zu schwach gewesen wäre, die schweren Eisblöcke auf der Schulter aus dem Wagen in den Bierkeller zu schaffen, sondern weil der Eisträger zu sehr angeheitert war und ihm die Blöcke, einer nach dem anderen, herabglitten, auf dem Boden zerschellend. Aus Dankbarkeit verschaffte der Eisträger, angesichts dieser Hilfsbereitschaft allmählich nüchtern werdend, Sered einen Aushilfsposten. Sered schleppte die fast 1 Meter langen, vierkantigen, schweren Eisblöcke auf seinen Schultern, abwechselnd auf der linken und rechten. Der Frost drang ihm trotz der untergelegten rissigen Säcke in die Gelenke. Vor Schmerzen hätte er manchmal aufgestöhnt, aber er mußte froh sein, daß er arbeiten konnte. Man gewöhne sich an den Frost, und er tue einem sogar bald lind und wohl, besonders, wenn man innerlich etwas einheize, versprach der Kollege. Aber bevor es so weit kam, hatte Sered eine schwere Schultergelenksentzündung, und als er einigermaßen geheilt oder gebessert war, war der Herzensbruder in aller Stille gestorben. Für sein Grabmal spendete die Mutter eine schöne Summe. Alle seine Auszeichnungen wurden genannt, und auch der Umstand wurde erwähnt, er sei als Opfer des Krieges ums Leben gekommen.
Sered war so glücklich, bald eine neue Stelle erhalten zu können. Zu dem Fabrikanten, bei dem er vor seiner Erkrankung als Eisträger gearbeitet hatte, zurückzukehren, war unmöglich. Denn schon bei dem Gedanken an Eisblöcke verspürte Sered, wie blitzartige Schmerzen seine linke Schulter durchzuckten. Am liebsten hätte er den linken Arm in einer Schlinge getragen, aber seine neue Beschäftigung, Privatsekretär eines halbblinden, sehr reichen und frommen Privatiers namens Roland Kuppka, zwang ihn, seine beiden Arme kräftig zu gebrauchen. Am rechten Arm führte er den alten Herrn, der sich von Sered mit Genuß schleppen ließ und ewig jammerte, andererseits aber nicht mit heiligen Versprechungen eines großen Legates kargte. An dem anderen Arm zerrte ein kleiner, aber sehr wilder und ungebärdiger Hund, dessen Fell am Halse fast gänzlich abgescheuert war, so sehr drängte das Tier aus dem Geschirr heraus.
Die Augen des Herrn Roland, groß und steingrau, konnten kaum die Finger einer vorgehaltenen Hand unterscheiden. Der Alte war zum Beispiel nicht imstande, nach dem Abendgebet die Schlafpantoffeln von dem Privatsekretär, der zugleich Krankenwärter, Kammerdiener, Koch und Briefeschreiber war, entgegenzunehmen, so daß dieser sich vor den Alten hinknien mußte, um ihm die Schlapfen anzustreifen. Von anderen Diensten ganz zu schweigen. »Wir alten Knacker sind wieder zu Kinderlein geworden«, sagte der Herr und lachte.
Trotz aller Mühe und Plage harrte Sered bei dem frommen, sparsamen, rotwangigen Greis aus, ja, er konnte sich nach einiger Zeit nicht enthalten, ihm gut zu sein, ebenso wie dem ungebärdigen Hund. Aber eines Abends, gerade als Sered dem alten Mann die Socken von den fetten elfenbeinfarbenen, wohlgegliederten Füßen zog, fiel dieser ihm von oben her um den Hals, – nicht aus Zärtlichkeit, sondern weil er vom Schlage getroffen war. Früherer Weisungen eingedenk, telephonierte Sered nicht dem Arzt zuerst, sondern dem Geistlichen.
Dies sollte sich ihm lohnen. Roland hatte sein ganzes Vermögen, ohne das kleinste andere Legat, der Kirche hinterlassen, und Sered wäre bettelarm und noch dazu mit der Last des Hundes fortgegangen, wenn nicht der Geistliche sich seiner erbarmt und ihm ein letztes Vierteljahresgehalt und freies Wohnen in der Villa »bis auf Widerruf« aus eigener Machtvollkommenheit zugebilligt hätte. Jetzt hätte Sered daran denken können, seine Laufbahn als Schriftsteller zu beginnen, von der er seit seiner Jugend geträumt hatte. Aber er bereitete sich durch eine gar zu fleißige und verehrungsvolle Lektüre aller Meisterwerke dazu vor. Je länger er las, desto verzagter wurde er.
Seine alte Mutter lebte noch. Aber er sah sie selten. Der Bruder, den er sehr geliebt hatte, war an der Schwindsucht gestorben. Roland Kuppka war dahingegangen. Freunde hatte er nicht. Seine einzige Gesellschaft war der Hund, der sich sonderbarerweise das Zerren an der Leine und das Vorwärtsdrängen abgewöhnt hatte und am liebsten auf dem Arm getragen werden wollte. Bei schlechtem Wetter tat ihm Sered den Gefallen, bei gutem aber zog er ihn hinter sich her. Sered sprach nicht, der Hund bellte nicht. Sered aß wenig und mit Unlust, der Hund aber verlangte täglich mehr und mehr zu fressen, und ein großer Teil von Sereds dürftigen Ersparnissen (das Gehalt, das Kuppka in barem Geld gezahlt hatte, war ja immer sehr gering gewesen) ging auf gehackte Leber, gemahlene Kalbsknochen, Milz und Lunge, Hundebisquit und andere Leckerbissen des Hundes.
Immer neue und immer schönere Bücher drückten Sereds Mut immer tiefer. Sie taten ihm weh, so sehr bewunderte er sie. Um sich vor dem Gefühl seiner eignen Nichtigkeit zu retten, stand er abends auf von dem Tisch und den weiß-gelblichen Blättern, rief den Hund und ging mit ihm an die Luft. Mit gesenktem Blick, den schmalen Rücken gebückt, die Hände in die Tiefen seiner Taschen vergraben und die Hundeleine abwechselnd in der linken und der rechten Hand – ( denn in beiden Schultergelenken hatte er jetzt Schmerzen, die rechte Schulter hatte das Rheuma von der linken gelernt), so wanderte der plötzlich wie zum Greise gewordene Sered durch die Vororte Prags. Er dachte an das erste Kapitel der »Madame Bovary« und seufzte jetzt, der Hund jaulte, hob den Kopf und riß die Augen auf, um das Mitleid seines Herrn zu erwecken. Schließlich hob ihn Sered von der Erde auf, staubte ihm die Pfoten etwas ab und versenkte das kleine, warme, hastig atmende Tier in eine Falte seines Mantels über seiner Brust. Dem Hund war jetzt gut zumute, und er leckte sich die Schnauze, bevor er einschlief. Die Nähe dieses lebenden, schweigsamen Wesens tat dem armen Sered wohl.
Er hatte in dieser Zeit eine ältere, unschöne, strenge und sehr kinderreiche Witwe kennengelernt. An diese richtete er Abend für Abend lange Briefe, die so ergreifend waren, daß die Witwe sie mit Stolz weinend ihren fast erwachsenen Kindern zeigte. Diese waren aber noch strenger (und unschöner) als sie, und sie verboten ihr den Umgang mit dem stellungslosen Sered, nach dessen Lebensumständen und Vermögen und Aussichten sie sich genau erkundigt hatten. Niemals bekam Sered eine Antwort auf die vielen Briefe, die trotzdem mit Sehnsucht erwartet, mit Rührung gelesen und bis zum Tode aufbewahrt wurden, mit gelben Bändchen umwickelt, in dem gleichen Kästchen, in dem die Witwe ihr Myrtenkränzchen und die Schulzeugnisse ihrer strengen Kinder aufbewahrte. Denn auch unter Witwen gibt es Madame Bovarys.
Inzwischen wurde es Herbst. Der Hund wurde mürrischer, fraß nicht mehr so viel, knurrte, in einem dunklen Winkel versteckt, und fletschte, was ihm an Zähnen noch geblieben war. Er wollte überhaupt nicht mehr zu Fuß gehen, nur noch getragen werden. Er war sehr schwer geworden, aber das, was Sered für Fett an ihm gehalten hatte, war Wasser.
Der Tierarzt kam, erstaunt blickte er sich in der großen, düsteren Villa um, die von einem Besuche zum anderen immer weniger Möbel aufwies. Die Klosterverwaltung ließ die Sachen abholen, um sie zu verkaufen oder an Bedürftige zu verschenken. Aber er kam in das Haus, wo er einen mageren schweigsamen Mann inmitten vieler Bücher in Gesellschaft eines Hundes von hohem Alter höchst zweifelhafter Rasse antraf, dem trotz allen guten Willens nicht zu helfen war.
Sered wollte von einer »erbarmungsvollen Spritze«, die dem Leiden (und Leben) des Tieres ein Ende gemacht hätte, nichts wissen. Er folgte lieber, ohne zu verzweifeln, den im Grunde sehr skeptischen Ratschlägen des Arztes. Er zwang den Hund mit Strenge (unter Tränen!) zum Laufen, ließ sich von ihm kratzen und beißen und konnte das Tier doch nicht retten. Schrecklich war es für ihn anzusehen, wie eines Abends der Hund keuchend, die Zunge aus dem Maule, auf dem Rücken lag und wie sich in den schieferfarbenen Augen der schwarze Stern der Pupille während des Todeskampfes erweiterte, ab und zu von einem grünen Blitz durchzuckt, was dem Hundefreund ein Zeichen dafür sein sollte, daß das Tier noch nicht verloren war und vor allem, daß es ihn, Sered, noch zu erkennen vermochte. Er hatte den Hund, der wie ein Stück lauwarmes, in Fell gehülltes Fleisch dalag, abends in sein Bett genommen, um sicher zu sein, daß ihm nichts zustoße. Er wollte den kommenden Tod nicht sehen. Er liebte das Tier mit allen seinen Schwächen, und wo er liebte, zog er es vor, nicht zu denken.
Auf dem Nachtkästchen lag der schöne weiße Notizblock des Arztes, den dieser vergessen hatte, und ein Bleistift daneben. Eine tiefe Lust zu schreiben überfiel Sered, aber der Hund hatte sich aufgerichtet (zum letztenmal), und Sered verbitterte dem Tier die letzten Augenblicke, indem er ihm etwas Medizin in das gewaltsam geöffnete, schon den Atem des Todes aushauchende Maul zu schütten versuchte. Am nächsten Morgen war der Hund tot, und Sered begrub ihn mit seinem Mantel, seinem Geschirr, in eine Decke eingehüllt, unter den entlaubten, im Regen schwarz glänzenden Bäumen des Gartens. Aus dem Nebenhause sah ihm ein junges, schlankes Geschöpf mit blondem Gelock mit Anteilnahme zu.
Er hatte den Kopf gesenkt. Er stampfte mit dem Fuß die Erde auf dem Hundegrabe fest. Es hatte zu regnen aufgehört. Er verließ dann das Haus, die Hundeleine aus alter Gewohnheit in der Hand und die Hand in der linken Manteltasche.
Er wollte und mußte die Villa verlassen, sie erschien ihm jetzt fürchterlich, er konnte sich nicht vorstellen, daß er sie ganz allein bewohnen solle, umgeben bloß von den Erinnerungen an seinen Bruder, an den reichen toten Mann und den kleinen Hund, bei dem sich das Fett des Lebens in das Wasser des Todes verwandelt hatte. Er fürchtete sich jetzt vor der Versuchung, schreiben zu müssen, so sehr sie ihn lockte. Denn der Augenblick war nahe. Er empfand eine Art wollustiger Angst, etwas Jungfräuliches, aber auch etwas Verderbtes. Sollte er es wagen? Er war gewohnt, mit anderen und für andere zu leben.
Vielleicht ahnte er jetzt die sublimierte Sehnsucht des Schriftstellers, der die ganze Welt (und sich selbst dazu) zum Gegenstand, zum Objekt macht, um dann, mit dem Schreibblock in der einen und der Feder in der anderen Hand, das einzige, allesmächtige Subjekt darzustellen, das Zentrum des frei schaffenden Geistes. Zeugen, sich schaffend, der Wollust hingegeben mit allen Fasern – aber allein, allein mit sich, mit seinem noch ganz unbekannten, kräftereichen Ich und seiner Phantasie.
In der verlassenen Villa Kuppkas war seines Bleibens nicht mehr. Die Erinnerungen an die beiden Greise, die er trotz (oder wegen) ihrer Undankbarkeit so sehr geliebt hatte, ließen es ihn nicht mehr hier aushalten, und nach der Bestattung des Hundes machte er sich auf, ein neues Quartier zu suchen. Wenn er außerdem noch eine Kellnerstelle fand, die ihm das Brot sicherte, dann konnte er daran gehen, hoffte er, seinen Lebenstraum, das Romanschreiben, zu verwirklichen. Aber was sollte das alles ohne eine einzige vertraute, vertrauende Seele? Und wo sollte er, mit bald 40 Jahren, in dem großen Prag so etwas finden?
Er war in Gedanken aus der Vorstadt bis zum Karlsplatz und dann zum Moldaukai gekommen, wo er an einer Zinskaserne ein Kabinett »nur für eine ledige Person!« am Haustor angeschlagen sah. Sollte er heute mieten, seinem traurigen Leben einen anderen, froheren Rahmen geben? Es war Freitag, sein Glückstag. Er stieg die vielen Treppen empor und wurde von einer älteren, robusten Frau mit roten Händen empfangen, die ihn unter Entschuldigungen in ein auf die Straße hinausgehendes kleines Zimmerchen führte, wo in einem Bett, scheinbar schlafend, die Bettdecke bis an den Hals heraufgerafft, mit der Brille über den geschlossenen Augen, ein junger Mensch lag, wohl ein Student, und wo das Fenster weit geöffnet war, ungeachtet des Regens und der Kälte. Unter dem Fenster stand ein Bottich mit Seifenwasser und dampfte. Die Frau hatte das Fenster gewaschen, damit, wie sie boshaft grinsend sagte, für den neuen Mieter alles blitzblank sei. In Wahrheit aber, wie Sered sofort erriet, tat sie es nur, um den bisherigen Mieter zu ärgern und ihm den Aufenthalt in dem Raum zu vergällen.
Kaum hatte sich Sered ein wenig umgesehen und einige Worte der Entschuldigung, weil er ihn geweckt hatte, an den armen hübschen Studenten im Bett gerichtet, als die Klingel von neuem ertönte; ein neuer Anwärter auf das Zimmerchen, das in der Nähe der medizinischen Anstalten lag, hatte sich gemeldet. Sered, der seinem innersten Gefühl folgte, ließ den neuen Anwärter gar nicht erst eintreten. Er rief die Frau herein, fragte nach dem Preise, zahlte an und nahm das Zimmer.
Nachher setzte er sich unter neuen Entschuldigungen an das Bett. Auf dem Nachttischchen lagen medizinische Werke, wie es schien, solche, die Geisteskrankheiten behandelten. Er erfuhr jetzt von dem bisherigen Mieter, daß die Wirtin ihn »in unchristlicher Art und Weise ausgezogen und übervorteilt hatte, wie ein Lamm«. Nach Lamm sah der Student (der nicht so furchtbar jung war) eigentlich nicht aus. Aber die zwei Männer kamen in ein wunderbares Gespräch, und nach einer Stunde verließ Sered das Kabinett mit einer Menge rosaroter Versatzzettel, kam nach einer weiteren Stunde wieder mit Anzug, dem Mantel und der Uhr des früheren Mieters, Lajos Clark Kral.
Von diesem Augenblick angefangen, hatte Sered endlich einen Freund, ja, einen Lebensgefährten, mit dem und für den er lebte. Am gleichen Abend nahm er die Stelle des Zahlkellners in dem Nachtcafé »Zum Kätzlein« an, obwohl der Lohn gering und die Arbeitsbedingungen nur sehr undeutlich und großzügig umschrieben waren.
Unter anderem sollte er verschiedenen weiblichen Stammgästen Unterricht im Billardspiel erteilen, natürlich nicht bezahlte Lektionen. Er sollte sich eben nur um sie kümmern, sie abhalten, Löcher in das kostbare grüne Tuch zu stoßen, und sie freundlich, ohne Intimitäten behandeln, und sie von Zeit zu Zeit auffordern, eine Kleinigkeit zu nehmen und sich gegenseitig nicht die Augen auszukratzen, denn dem Wirt lag daran, daß sie regelmäßig kamen.
Der Grund, weshalb Kral, der alte Student, im Elend war, und weshalb er, trotz seiner Kenntnisse, niemals zu den Prüfungen und damit zu dem Beruf zugelassen wurde, lag weit zurück. Sered erfuhr ihn (wie übrigens auch alles andere aus Krals Leben) noch vor dem Antritt seiner Stellung im »Kätzlein«. Kral, der in nüchternem Zustande gemessen war, zeigte, wenn er getrunken oder »angeheizt« hatte, ein ganz verändertes Wesen. Nach außen hin schien wenig an ihm verändert. Wohlgesetzt und logisch nach wie vor kamen die Worte aus seinem Munde, und seine Hände zitterten kaum. Aber eine Art bösen Geistes war über ihm.
Weil er mit seinen Bosheiten und Sticheleien oft recht hatte (wenn auch lange nicht immer!), verzieh man ihm oft nicht, was man sonst Trunkenen lachend immer verzeiht. Deshalb war er in seinem Zimmerchen, angesichts der knurrigen Wirtin, allein geblieben, ohne Mantel, ohne Uhr und ohne Freund und Brot. So war es Kral schon einige Jahre vor dem Kriege gegangen, als er in einer kalten Nacht auf einer schönen alten Moldaubrücke einen tschechischen Polizisten – deutsch ansprach. Als der Brave in kläglichem Gestotter antwortete, begann ihn Kral in ebenso giftiger wie treffender Weise wegen des Verrates an der verfolgten, unterdrückten tschechischen Nation zu hänseln, was sich der Polizist, sich ängstlich nach allen Seiten umsehend, geduldig gefallen ließ, denn er war im Herzen fanatischer Tscheche. Ein loyaler Österreicher aber war er nur im Dienst, für seine »kaiserlich-königliche Gage«. Er schämte sich, daß er Kral nichts antworten konnte, als dieser ihn, scheinbar mit Teilnahme, fragte, ob er bei einem Prager Straßenauflaufe auf dem »Graben« (wie solche damals nicht selten waren) auf seine Landsleute mit dem Säbel einhauen oder auf dem Wenzelsplatz mit dem schönen neuen Dienstrevolver auf die slawischen Brüder schießen würde? Der friedliche Polizist, der eine große Familie zu ernähren hatte, dachte an kein Blutvergießen. Der Weltkrieg war noch fern. Kral, immer mephistophelischer stichelnd, nahm sachte dem Polizisten den schwarzen Pickelhelm vom Kopfe, spuckte kräftig auf den Österreich-ungarischen Doppeladler, der in goldglänzendem Messing auf dem Blech des Helmes angebracht war, und warf den Helm über das schneebedeckte Geländer der alten Brücke in die Tiefe. Zum Glück oder Unglück kam in diesem Augenblick die Ablösung. Der Polizist hatte einen blutroten Kopf, aber keinen Helm mehr. Kral wurde verhaftet. Die Pickelhaube wurde zwar wiedergefunden, denn der Fluß war zugefroren, und sie hatte nichts als eine Schramme abbekommen, aber dies wurde nicht zugunsten Krals ausgelegt. Er wurde zu sechs Wochen Arrest verurteilt, saß sie ab und sollte von der Universität relegiert werden. Durch Fürsprache eines Abgeordneten wurde dies zwar von Kral abgewendet. Aber er mußte zähneknirschend ein Gnadengesuch an die Regierung in Wien einreichen, um zu den medizinischen Prüfungen zugelassen zu werden, ein nur scheinbar reuevolles Schriftstück voller verborgener Stiche und Tücken, Spott und Hohn auf das morsche Österreich, das selbst nach dem Ende des Weltkrieges nicht erledigt war und sich auch jetzt noch, lange Jahre nachher, 1927, im Stadium der Schwebe befand.
Wie oft dachte jetzt Sered, der in Kral nichts als ein armes Opfer altösterreichischer Willkür sah, daran, wie er dem Sohn seiner Wahl, dem Bruder seines Herzens, helfen könne. In dem Caféhaus zum »Kätzlein« verkehrten viele höhere Beamte, ältere Hof rate im Ruhestand, vom reichen Finanzoberinspektor Burger-Pal und seiner Vorleserin Melitta zu schweigen: sie kamen nicht mit ihren Frauen, sondern mit Damen »jüngeren, leichteren Kalibers«. Sicher hätte der eine oder andere, nach langjährigen Erfahrungen im Labyrinth der Wiener Verwaltungsgerichte, einen Rat, einen »Schlich« erteilen können, und Kral drängte seinen Freund, er solle seine »Beziehungen« ausnutzen.
Aber konnte er denn? Nicht seinetwegen kamen die älteren Herren zum »Kätzlein«. Wie hätte Sered einen Burger-Pal stören können, wenn dieser seine Vorleserin mit den Augen verschlang, wenn sie, den Kopf mit den vielen seidenweichen hellblonden Pudellöckchen zurückgeworfen und mit den winzigen Zähnen die etwas kurze Oberlippe benagend, am Billard dastand und wartete, bis ihre Gegnerin einen Stoß verfehlt hatte. Dann aber sandte sie unter ihren langen dichten Wimpern einen halb fragenden, halb bittenden Blick ihrer aurikelfarbenen Augen zu dem ernsten und sachlichen Sered und schickte sich an, einen schweren Ball zu erreichen. In Gedanken berechnete sie auf diese und jene Weise, wobei er deutlich diese Gedanken in dem kleinen Gesichtchen arbeiten sah.
Sered hatte seinem Freund, dem alten Studenten Lajos Clark Kral (das Geheimnis der zwei fremden und für einen fanatischen Tschechen erstaunlichen Vornamen Lajos und Clark hatte Sered noch nicht lüften können), etwas versprochen: Er wollte ihn mit einem einflußreichen Stammgast des Cafés »Zum Kätzlein« bekannt machen, dem Finanzoberinspektor im Ruhestande Burger-Pal, und zwar sollte dies an einem freien Abend Sereds geschehen, ganz zwanglos. Sered hatte der jungen »Vorleserin« Burger-Pals, Melitta, zugesagt, ihr an diesem Abend eine unentgeltliche Lektion am Billard, auf dem er selbst Meister war, zu erteilen, und während Melitta und Sered am grünen Tisch beschäftigt waren, sollte Kral den einflußreichen Burger-Pal in ein Gespräch verwickeln und sollte ihn dazu bestimmen, seine Beziehungen zu seinen Gunsten zu verwenden.
Auf dem Wege zum Café erzählte Kral seinem Freunde einiges wenige aus seiner Vergangenheit, über die er sich im allgemeinen nie ganz offenbart hatte. Es war von der Jugend des Kral die Rede, der aus Karpatorußland stammte. Als Kind war er von reichen Amerikanern oder, besser gesagt, ungarischen Millionären, die sich amerikanisiert hatten, adoptiert worden. Sered lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit. In ihm war die Neugierde, die Lebensgier (auf fremdes Leben, erzählbares) erwacht. Kral sprach jetzt, nicht ohne Bitterkeit, davon, daß er von dem Gelde der ungarischen Amerikaner noch nichts gesehen habe, aber die zwei verdammten Vornamen, den ungarischen Lajos und den amerikanischen Clark, habe er nun einmal bei seiner Adoption auf sich nehmen müssen.
Leider kam Kral nicht dazu, seinen Erinnerungen weiter nachzugehen, sie waren im Café angekommen, und Sered, diesmal ausnahmsweise nicht als Kellner, sondern als Gast, ja sogar als Gastgeber, kam mitten durch das gut besuchte Lokal an den Tisch, wo Burger-Pal und Melitta saßen. Er war gerade im Begriff, Kral dem Finanzoberinspektor vorzustellen, als ein ältlicher, magerer, etwas ausgefranster Schriftsteller namens Wlastimil von Kolin eintrat, eine abgeschabte und dick aufgeblasene Ledermappe unterm Arm.
Es hatte Sered von jeher gereizt, diesen Wlastimil von Kolin (dessen bürgerlicher Name nicht ganz so vornehm und wohlklingend sein sollte) kennenzulernen, denn alles, was mit Schriftstellerei zusammenhing, reizte ihn gewaltig. Es war und blieb sein Lebenstraum mehr als er wußte, mehr als Freundschaft oder gar Liebe; Aber bis jetzt war es unmöglich gewesen. Ein Zahlkellner im Dienst, immer auf den Beinen, und ein den Kopf hinter Zeitungen und Broschüren versteckender, spartanischer und trinkgeldunlustiger Gast – wie hätten sie zusammenkommen können? Aber heute war es anders, denn Sered war außer Dienst und Wlastimil schien sehr geneigt, sich zu ihm an den Tisch zu setzen. Durfte er: Aufdringlich war er nicht, viel eher zu stolz, tugendhaft und hochfahrend. Es muß nur ein einziger Blick gewesen sein, mit dem Sered den Roderich einlud, sich zu ihnen zu gesellen. Und Wlastimil war heute viel mehr als sonst geneigt, der Einsamkeit zu entgehen und sich der Gesellschaft anzuschließen, denn er hatte einen Mißerfolg erlitten und wollte sich zerstreuen. Er gab also Sered seine magere, feine, aber nicht ganz saubere Hand, ließ sich von ihm den anderen Gästen der Tischrunde vorstellen und setzte sich zu ihnen, sehr zum Mißvergnügen Krals, der eben mit Burger-Pal ins Gespräch kommen wollte, und ebenso zum Mißvergnügen Melittas, die gern mit Sered eine Stunde am Billard allein gewesen wäre. Es trat ein verlegenes Schweigen ein, das endlich der Inspektor brach, indem er fragte, was Wlastimil in der dicken Mappe habe, vielleicht Suezkanalaktien. »Geheimnisse!« antwortete Wlastimil ernst. »Ob sie nicht zu verkaufen seien ?« fragte Burger-Pal. Der Dichter nahm die Ironie ernst und sagte, sicherlich seien sie zu verkaufen, aber erst müsse jemand da sein, der sie bezahlen könne. Burger-Pal, der vielfacher Millionär war, meinte, an Bargeld hapere es hier am Tisch bei den schweren Zeiten, aber wenn Wlastimil seine Geheimnisse gegen Naturallieferungen hergeben wolle, ließe sich darüber reden. Burger-Pal machte sich, im Vollgefühl seiner Geldmacht, oft den Spaß, arme Kreaturen zum Narren zu halten. Andererseits gierte er, Sered, mehr denn je danach, die Geheimnisse zu erfahren, die der alte Schriftsteller in seiner Mappe hatte, und er ermunterte Burger-Pal zu dem Geschäft. Das Richtige aber wäre gewesen, aufzustehen und mit Melitta ans Billard zu gehen und die Carambolpartie zu beginnen, denn er sah, daß Kral näher an den Burger-Pal heranrückte. Aber die Lust, mehr von Wlastimil zu erfahren, lockte ihn zu sehr. Die Bedingungen, unter welchen der Schriftsteller seine Geheimnisse ausliefern sollte, ließen sich mit Sereds Hilfe sehr schnell ordnen: Er sollte auf Burger-Pals Kosten essen, trinken und rauchen dürfen, soviel er wollte und konnte, und dafür versprach er, der Tafelrunde das Geheimnis mitzuteilen, wie man mit Hilfe eines Federstiels zu einer Krone und einer Feder zu zehn Hellern zu Weltruhm und Millionen komme. In der Mappe waren freilich keinerlei derartige Geheimnisse, sondern dort schlummerte nur ein allen Verlegern nur zu bekannter Roman, der in den Augen seines Vaters einzigartig und erschütternd war, und in den Augen der Verleger nur einen Fehler hatte (wenn man den schmeichlerischen, das Geld anbetenden und geizigen, feigen und banalen Verlegern glaubte): nämlich den, viel zu gut und zu fein für das breite Publikum zu sein, das bemitleidenswert sei in seinem schlechten Geschmack, aber auf das man angewiesen sei, leider. Die Geheimnisse, das »Buch der Welt« zu schreiben und sich mit einem Schlage aus einem abgeschabten, verkannten Federfuchser zu einer »Weltgröße des Geistes« zu erheben, waren aber trotzdem da, und sie befanden sich im Kopfe des Schriftstellers, wie die Rezepte im Kopfe eines großen Arztes. Es sollten eine Art zehn Gebote sein, die er jetzt für eine Anzahl Kaffees, Kümmelliköre, Kontuschovskas, Tees mit Rum, Zigarren, belegte Brote und heiße Würstchen preiszugeben gedachte. Vergebens sandte Kral seinem Freunde Sered einen verzweifelten Blick zu. Sered sah ihn nicht einmal, er war Auge und Ohr für die Eröffnungen des Wlastimil von Kolin. Dieser begann damit, daß er sagte, es sei ganz einfach, zu schreiben. Man müsse sich sogar wundern, daß nicht eine Unzahl von Menschen, die doch täglich etwas »Hochinteressantes« erleben, dies niederschrieben und Fleisch und Blut werden ließen. Und sei es nur, um sich und seine Zeit im Spiegel zu sehen. (Melitta zog ihr versilbertes, ovales, von Puder bestaubtes Handspiegelchen heraus, puderte ihre etwas zu kurze Nase und zeigte sich und Sered ihre niedlichen, blendend weißen Zähne zwischen den vollen, kirschfarbenen Lippen.) Aber die große Schwierigkeit, so setzte Wlastimil seine Lektion fort, bestehe darin, daß es abscheulich schwer sei, daß alles, was einem am »stillen Schreibtisch der Gott zu sagen anbefehle«, das Ohr des Lesers erreiche oder vielmehr dessen Auge und die Sinnesorgane bezwinge. Der talentlose Dilettant unterscheide sich vom wahren Meister dadurch, daß er das für interessant und darstellenswert und fesselnd halte, was dem blöden Laien selbstverständlich und langweilig erscheine und umgekehrt. Jetzt kamen die ersten Getränke, Zigarren und belegten Brote für ihn an, und während er sich labte, sein Mißgeschick machte ihn hungrig und durstig und sogar der Völlerei geneigt, fragte Burger-Pal, ob diese Eröffnung bereits zu den versprochenen zehn Geboten zu zählen sei. »Nein, noch nicht«, sagte Wlastimil, mit seinen mageren, schlecht rasierten Wangen wollüstig kauend. Dies sei vorerst gratis, die Gebote kämen erst. Auch jetzt wäre es noch Zeit gewesen, daß sich Sered seiner Freundespflichten erinnert hätte, von der Liebe erst gar nicht zu reden. Melitta stieß ihn von rechts, Kral von links an, aber er wich und wankte nicht. Er hätte sich sagen können, daß ein Wlastimil immer wiederkehre, aber nicht die Gelegenheit für Kral, von dem Finanzoberinspektor die Hilfe zu erbitten, deren er sehr bedurfte. Denn trotz allen guten Willens seines Freundes war er im Elend: er wollte arbeiten und konnte es nicht.
Jetzt zog Wlastimil, sich bequem zurücklehnend und die Mappe mit dem totgeborenen Roman mit seinen Händen liebkosend, die ersten Züge aus einer guten, nur etwas zu schwarzen Zigarre, ließ seine Blicke von Sered zu Kral und von Melitta zu Burger-Pal wandern, als überlege er, an wen er sich im besonderen wenden solle. Er hätte sich an den reichen alten Schelm oder an den herzenssanften Sered halten können, im Notfall auch an die zierliche Melitta, die tatsächlich (außer anderem) zum Vorlesen bestimmt war, die viele Bücher kannte und liebte. Aber lebensfremd, wie er war (und diese Lebensfremdheit war der eigentliche Grund der Leere seiner »viel zu feinen« Bücher und das größte Hindernis für den ihm selbst ganz unbegreiflichen Mangel an Glück und Erfolg), wandte er sich gerade an den, dem seine zehn Gebote oder Paragraphen ein Greuel waren und der nur darauf wartete, daß er abziehe und ihm das Feld bei dem künftigen Gönner überlasse, Kral. Er, Wlastimil, holte jetzt eine abgenützte, etwas fettige kleine Zündholzschachtel aus der Westentasche. Nicht um seiner Zigarre Feuer zu geben, denn diese brannte bereits, und Melitta bekam für ihre Zigarette Feuer von dem jetzt ritterlichen Kral, sondern um daran das erste Gebot seiner Kunstlehre zu demonstrieren. »Sehen Sie diese Zündholzschachtel?« fragte er. Niemand antwortete, denn es war klar. Sered verschlang das Schächtelchen mit den Augen, fand es aber im Grunde so wie alle anderen. »Nun«, sagte Wlastimil, mit Arroganz die schmalen Schultern hochziehend, »wenn ich ans Schreiben geh, dann stell ich dies Schächtelchen auf vor mir.« »Als Fetisch wohl?« fragte Kral. »Im Gegenteil«, antwortete Wlastimil mit Nachdruck. »Nichts Krankhaftes, nichts Perverses. Ganz im Gegenteil, ich schreibe fürs Volk. Ich stelle die Schachtel hin vor mich auf meinen Schreibtisch, am oberen Rande des Manuskriptes, und denke mir, es ist ein Kind.« – »Die Schachtel?« rief Burger-Pal voll Hohn, »um Himmels willen! Und damit ist schon jemals einer zu Geld und Namen gekommen?« – »Nur Geduld«, sagte Wlastimil, als müsse er den lernbegierigen Eifer des Burger-Pal dämpfen. »Ich stelle mir kraft meiner Gabe, der angeborenen Phantasiegabe, vor, dies Schächtelchen sei ein Kind, ein mir lauschendes, mich, den Schöpfer des Märleins, nach dem ewigen Werwiewarum fragendes Kind.« – »Nach was fragt in drei Teufels Namen das arme Wurm?« zischte Kral voll verhaltener Wut, denn er ahnte, der Abend würde Wlastimil und nicht ihm gehören. »Nach dem Wer, dem Wie, dem Warum, das ist alles, mein lieber Herr, ich habe den Namen nicht richtig verstanden.« – »Einerlei! Nur weiter!« hetzte der alte Student. Melitta lachte und Burger-Pal freute sich, denn er liebte es, anzusehen, wenn sich Menschen in seiner Gegenwart haßten. »Es ist ein Kind im Alter von zehn, höchstens zwölf Jahren. Ich erzähle ihm alles. Ich beantworte seine Fragen, ich mache es mit meinen Mären betrunken, ich lasse vor seinen blanken Äuglein die Puppen tanzen.« »Aber wenn es darunter einschläft, das Kind«, fragte Kral nachdenklich. »Ja, mein lieber Herr, hier haben Sie den richtigen Punkt getroffen. Ich schreibe, ich dichte, ich schöpfe. Es ist spät, das Zimmer ist still, die Feder kritzelt, was tun, damit mir mein Zuhörer nicht einschläft? Fessel das Kind, bring ihm in aller Einfachheit bei, was es nicht weiß, aber wissen möchte, laß es Spazierengehen in deiner Landschaft, laß es die Verbrecher verfolgen und laß die Klugen Entdeckungen machen und mit dem Elend kämpfen, ein teures Weib im Bunde, die Betrübten weinen und die Verliebten sich Treue schwören. Mache ihm alles klar, hell, verständlich, Wlastimil von Kolin, sage ich mir, laß ihn nicht zur Besinnung kommen, laß ihn sich verzehren in der Spannung, bis daß der Morgen graut.« – »Wieso ihn?« fragte Kral sanft, »heißt es nicht es?« – »Es, wieso?« – »Nun, das Kind.« – »Sie haben recht, mein guter Herr –, und das war also die erste Lektion. Alles fürs Kind. Was das Kind nicht versteht, versteht unser Publikum im Zeitungsroman in Fortsetzungen auch nicht. Wenn das Kind bei meiner Erzählung einschläft, bleibt der Verleger auf der Auflage sitzen und mahnt mich, ich solle ihm den Vorschuß zurückzahlen.« Jetzt machte er eine Pause, ließ sich neue Erfrischungen aller Art kommen und schlang mit einer Art Wut alles in so unglaublich kurzer Zeit in sich hinein, daß Sered kaum noch den spartanischen Stammgast in dem Schlemmer von jetzt wiedererkannte. Dann setzte er fort, sich zum zweiten Male der Zündholzschachtel bedienend. Er entnahm ihr zwei Zündhölzer und sagte: »Sehen Sie sich diese Hölzchen genau an. Was sehen Sie an ihnen? Nichts!« beantwortete er sich selbst die Frage. »Nun reibe ich ihnen die Köpfchen aneinander. Was erfolgt, Wlastimil? Nichts. Ist es interessant, das anzusehen? Nein, Wlastimil, und das Kind schläft schon ein, schnarcht und brummt: Kann man sie aneinanderheften, das Zündholz Adam etwa an das Zündholz Eva? Nein, Wlastimil, es geht dir nicht und geht absolut nicht. Aber was mache ich jetzt? Ich zünde eines an. Und dann presse ich das andere Hölzchen mit dem Köpfchen an das bereits brennende. Was geschieht, Wlastimil? Es entzündet sich auch, fängt Feuer mit Lust, es prasselt, es zischt schön, und das Kind wacht auf, und es lacht vor Entzücken und Angst! Adam und Eva haben einander gefunden, und was kommt jetzt? Ich merke, die zwei Hölzchen hängen schon aneinander, auf Tod und Leben, sie verbrennen aneinander, in wildem Schmerz und süßem Weh, aber sie bleiben aneinander gebunden, bis sie zu Asche werden und selbst als Asche, als kleine Reste einer großen Leidenschaft, sind sie noch eins. Die Tränen fließen, die Tragödie ist zu Ende, und die Herzen der Leser zittern nach. Die kalten Zündhölzer sind öde. Die brennenden sind spannend.« Mit steigender Wut hatte Kral die Lektion des alten Schriftstellers angehört. Sein Plan, sich an Burger-Pal heranzumachen, war gescheitert, und niemand anderer war daran schuld als sein Freund Sered, der nun mit leuchtenden Augen, die blassen Lippen mit seiner Zunge vor Vergnügen benetzend, den Offenbarungen des Dichters lauschte.
Kral hatte viel getrunken, und wie immer machte ihn der Rausch böse, kalt und treffend. Er faßte Sered ins Auge, hielt ihm das Zündholzschächtelchen vor die Nase: »Daraus wirst du das Romanschreiben nicht lernen, braver Sered«, sagte er und warf das Schächtelchen zu Boden. Und mit einem Blick auf den erblassenden Wlastimil, der jetzt in Sered einen künftigen Konkurrenten erkannte, setzte er fort: »Alles Unsinn! Lerne lügen, Sered!« Sered errötete, tief beschämt. Sein kostbares, keusch gehütetes Geheimnis war gelüftet – vor seinem Chef, vor seinen alten Gästen. Wlastimil hatte sich gebückt, um sein Schächtelchen aufzuheben. Als er wieder auftauchte, war er leichenblaß. Er hatte zuviel getrunken, gegessen, gesprochen. Er bat noch um ein Getränk, das billigste, das es im »Kätzlein« gab, ein Glas kaltes Wasser.
Als sich Sered an den Tisch setzte, auf dem, im Lichte der tief heruntergezogenen altmodischen Petroleumlampe, seine blanken, glatten, weißen Blätter und eine neue, spitze, pfauenblaue Stahlfeder glänzten, kam ihm keineswegs der Rat des alten Schriftstellers ins Gedächtnis, eine Streichholzschachtel als Symbol eines seiner Erzählung lauschenden Kindes vor sich hinzustellen, sondern er dachte nur an das Leben, im besonderen an die Kindheit seines Freundes Kral, das Thema seines Romanes. Das Kind Lajos in seinem Karpatendorfe, von wo es nachher die reichen Amerikaner fortholen werden.
In seiner Wiege ... Schon hatte Sered diese drei Worte niedergeschrieben, als er sich besann. Nur zu wohlbekannt aus den vielen Gesprächen seines Freundes war ihm die herzzerreißende Armut seiner Eltern, das einzige Motiv übrigens, das erklärte, warum sich die Mutter des kleinen Knaben von diesem trennte, ohne dadurch die höchst notwendige Sympathie des Lesers zu verlieren. In einer solchen Armut gab es vielleicht gar keine Wiege, sondern nur etwas wie einen an drei Stricken aufgehängten Korb, den die Mutter schaukelt, während sie strickt.
Schonend, als wolle er ihnen nicht unnütz wehe tun, strich der sanfte Sered diese drei Worte aus, nahm sich aber vor, von nun an alles in einem Zuge hinzuschreiben.
In seinem Herzen fühlte er eine warme Sympathie mit der ganzen Welt. Er empfand bis in seine Tiefe seine Freundschaft für Kral und dazu ein Gefühl der Macht, der geistigen, freudigen Stärke: nun war er nicht mehr Zahlkellner im »Kätzlein«, sondern souveräner Herr des Schicksals und konnte alle Wünsche seines Freundes bewilligen, ihn Doktor, Professor, ja sogar Universitätsdirektor werden lassen, ja ihn über dessen eigene Wünsche großartig emporsteigen lassen, ihn schöner, erfolgreicher, glücklicher werden lassen, als es je ein Mensch seiner Art werden konnte im traurigen Fluß des erbärmlichen Alltagslebens, in dem Kral oft, um sich etwas Alkohol oder Speise zu gönnen, die Taschen seines Freundes Sered vergeblich nach »vergessenen« Fünfkronenstücken durchsuchte ... Es war ihm jetzt, als hätte sich Freund Lajos Kral hinter ihn, den Schreibenden gestellt und sähe ihm voll Lust, Hoffnung und Freude über die Schulter, jene unselige rechte Schulter, die noch von den alten Eisträgertagen her schmerzte.
Ohne daß er es merkte, hatte sich das erste Blatt bereits mit einer breiten Säule regelmäßig ablaufender Zeilen gefüllt, nun war es bis an den untersten Rand eng beschrieben. Es kostete Mühe, sich davon zu trennen, er wußte nicht, war es besser, ein neues Blatt anzufangen, statt noch die Ränder rechts und links auszufüllen. Dann legte er mit aller Vorsicht das Blatt auf Krals Bett und begann das zweite. Sered schilderte das Hüttchen der Eltern Krals, am Rande des dick verschneiten Waldes, am Ende des kleinen Weilers in Karpatorußland. Das Dach, gedeckt mit im Laufe der Zeit schwarz gewordenem Schilf, war jetzt unter einer hohen Schicht körnigen und makellos weißen Schnees verborgen, es reichte fast bis auf den Erdboden herab, es war (der erste Vergleich, der dem Sered einfiel), wie wenn sich ein armer alter Mann, sich seines Alters und seiner Armut schämend, eine weiße Mütze tief über das schmalgewordene lehmfarbene Gesicht stülpt. Kommt der Sommer, kommen bessere Zeiten, wirft er lustig die Mütze in die Luft, den Schwalben nach, und sein schwarzes, dichtes Haar erscheint auf seinem Kopfe, jetzt aber ist es tief im Winter, kurz vor oder nach Weihnachten. Wenn zu Mittag die Sonne auf dem höchsten Stand ist, inmitten des blaugrünen Frosthimmels, dann beginnt sacht der Schnee zu schmelzen, denn die Sonne ist stark hier in der reinen Luft, die Wassertropfen rinnen leise raunend von dem niedrigen First. In der nächsten Nacht, beim Scheine des aus den Eichen- und Buchenwäldern aufsteigenden kupferroten, breitbackigen Mondes, erstarren sie zu Eiszapfen, silbernen, glitzernden Stäbchen. Und wenn Krals Vater (wie nenne ich ihn?), der Holzfäller, von einem ockergelben, zerrauften, lebhaft gackernden Huhn gefolgt, morgens vor die Hütte tritt, bricht er die Eiszapfen nachdenklich ab, lutscht sie ein wenig, läßt sie zwischen den Händen schmelzen, dann wirft er sie hinter sich, geht hinter das Haus, seine Notdurft verrichten, und dann marschiert er singend und taktmäßig in die Hände klatschend um das Haus herum, wie um sich an seinem Besitze zu erfreuen. (Ich nenne ihn auf alle Fälle Frantischek, Fränzchen, das klingt immer gut, dachte Sered, Franz hat etwas Väterliches, glaube ich.) Er sieht nach dem Walde hin (viel Laubbäume, jetzt kahl, und etwas Tanne und Kiefer dazwischen, steingrün unter dem Schnee), der jetzt so friedlich aussieht und doch von Wölfen, Bären, Wildkatzen, Füchsen und Luchsen bewohnt ist, und der stundenlang über die Berge sich hinzieht bis an die Grenze. Gefährlich sind aber nur die Wölfe, noch in der letzten Nacht hat man sie heulen gehört wie die verlorenen Seelen, ganz nahe sind sie herangekommen, sie schreien aus Hunger. Sie sind stark, aber nicht mutig, wie die Hunde jagen sie am liebsten in Rudeln und warten die Nacht ab. Welch wohliges Gefühl für Frantischek während dieser langen Winternächte, wenn er, oben auf dem Herde liegend, sich noch einmal aufsetzt, sich den Pelz über den Kopf zieht, das kräuselige Fell nach außen, und es sich unter den Kopf bettet, und wenn draußen die Wölfe heulen, die weder einen Herd besitzen noch Pelz als Kopfkissen haben, noch eine Frau in einem wirklichen Bett aus Brettern mit einer Matratze aus frischem Maisstroh, noch ein Kind in einer Wiege, das heißt, in einem schön geflochtenen Weidenkorb, an der niedrigen Decke aufgehängt, zwischen Herd und Bett, – an drei kräftigen Schnüren, – ja, er lebt gerne und freut sich auf die Arbeit und sieht schon den Baum vor sich, der morgen unter den Hieben seiner Axt krachend und den Schnee abschüttelnd zusammenstürzen wird. – Und es ist festes, trockenes Holz, dessen letztes Scheit im braven Herd unter ihm gerade jetzt, unter einem lustigen Paffen sich entzündet ... Die Wölfe heulen aus Hunger, und, die Wahrheit zu gestehen, auch er hat noch etwas Hunger, nicht der Rede wert, aber der dumme Magen knurrt, und er kann nicht einschlafen, und das Kind greint, und die Seile knarren, so wirft es sich hin und her, und auch hier wird es vielleicht etwas von der Art wie Hunger sein, und die Mutter liegt zwar ruhig, und ihr schönes, ovales Gesicht wird rötlich angehaucht von dem aufflammenden Eichenscheite im Herd. Und sie hat die Augen mit den langen dichten Wimpern geschlossen, und sie tut, als schlafe sie, und sie macht sogar etwas Geräusch, als schnarche sie, alles, um ihn zu beruhigen, dieses Herz von einem Herzen, die heilige Jungfrau Maria behüte und beschütze sie, aber er, der Vater Frantischek Kral, der Mann der Ludmilla Kral, der Vater des kleinen Jungen, weiß, daß auch sie sich nicht ganz satt essen kann ... (Sered fiel ein, es wäre vielleicht noch charakteristischer für die Armut der drei Menschen, wenn das Kind nicht in einem Korbe, sondern in einem alten Frauenhemd hin- und hergeschaukelt würde, aber er hat sich vorgenommen, vorerst nichts zu ändern.) Der Vater schläft jetzt ein, der Wind geht leiser (erwähnen, wie der Wind über den Schnee streicht, so, als streiche man ein Zündhölzchen an der Reibfläche einer Streichholzschachtel), die Wölfe sind wieder verstummt, sie ziehen umher, hinauf und hinab, durch die Schlucht, die Schneisen, zeigen ihre Fußspuren, man kennt sie gut –, sie wittern die Behausungen der Menschen und die Ställe des Viehs im Dorfe, und manchmal scharren sie an den Verschlagen der Ställe, die Hunde kämpfen mit ihnen ... Am nächsten Morgen ist wieder schönes, stilles Wetter, der Vater will zur Arbeit, aber er geht nicht fort, ohne aus dem Dorfe in einem Steinguttopf etwas Milch und in einer blauen Tüte ein Pfündchen Mais geholt zu haben, die Frau zerstößt den Mais in einem alten Mörser, die Milch beginnt zu kochen mit dem Mais zusammen, der Duft erfüllt das ganze Zimmer, einige Maiskörner hat der Vater beiseite getan, er streut sie dem Huhn hin, das sie flink aufpickt, goldene Flecken auf dem gestampften Lehm des Estrichs, das Huhn gackert, als wolle es mehr, bevor es sich dann in seinen Verschlag begibt, als wolle es legen, aber niemand läßt sich täuschen zu dieser Zeit! Die Mutter nimmt das Kind an die Brust, die dicken, blonden, fest geflochtenen, mit einem Seidenband geknüpften Zöpfe kommen ihr immer ganz ungelegen über die Schultern hinabgeschlüpft und legen sich zwischen die Brust und das Mündchen des Kindes, und die Mutter schüttelt den Kopf, zerstreut in die Glut des Ofens blickend. Der Vater kehrt mit dem Reisigbesen den Estrich, und der Staub glitzert im Sonnenblick ... Sie hat noch von gestern her ein Stück gelbliches Maisbrot aufgehoben, sie schiebt es dem Mann zu, der es stolz zurückweist, an seiner kalten Pfeife ziehend, sie soll es essen, sie braucht Kraft für zwei. Sie nimmt an, für ihre Brust, nicht für sich, und beginnt zu kauen, und ihre schönen, perlartig aneinandergereihten Zähne beißen fest und glücklich in das herrliche Brot, sie hält ihre Hand unter das Kinn, um die letzten Brösel aufzufangen, Brot, heilige Gottesgabe, nicht für Hühner oder Mäuse bestimmt. Jetzt nimmt sie ihre Arbeit vor, legt aber vorher das Kind in eine trockene Windel und setzt sich ans Fenster, wo das Licht durch das lukenartige Fenster am stärksten und klarsten hereinbricht, auch das Licht ist eine Gottesgabe, eine heilige, sie bekreuzt sich, dann wühlt sie im Körbchen unter den vielfarbigen Seiden- und den Gold- und Silberknäuelchen; mit feinen, mühsamen Stickereien verdient sie in der Winterzeit das viele teure Brot und die Milch für ihren Mann, für sich und für ihr schönes, gesundes, starkes, immer hungriges Kind, Lajos, den ersten Sohn, ihren Stolz, die höchste Gottesgabe ...
Nun macht Sered einen Absatz. Besser noch, er wird das nächste Kapitel mit römisch II bezeichnen, und dieses Kapitel wird viel schöner und dramatischer sein als das erste, denn es soll den Besuch eines österreichischen Erzherzogs und dann den der amerikanischen Wolfsjägermillionäre schildern. Schreiben ist eine schöne Sache.
Erstdruck: »Pariser Tageszeitung« vom 26./27.2. und 7./8.5.1939