Josef Wenter
Monsieur, der Kuckuck, der Sonderbare
Josef Wenter

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Geheimes

Vom Buchenwald herüber kam helles Ziwieh und Tirililie. Dünnes Piepen war dazwischen. Die Bachstelze, die am Rand des Weihers spazierte, horchte auf. Diese Stimmen kamen ihr bekannt vor.

Jetzt erschien am Rande des Waldes, aus dem der Bach floß, eine gelbe Gebirgsstelze. Die trippelte am Ufer hin und her und sicherte.

»Ziwieh! Ihr könnt kommen!« rief sie.

Da flatterten vier kleine gelbe Stelzchen herbei und ließen sich neben ihr nieder. Sie hatten noch dünne Stimmchen und benahmen sich sehr unbeholfen.

»Ach, ist's hier schön!«

»Viel hübscher als unter der dunkeln Hasel!«

»Schau, ich hab was!«

»Das ist zu groß für dich!« rief eine kräftige Stimme. Der Gebirgsstelz nahm dem Kleinen den Waldsandläufer aus dem Schnabel, hackte ihn ein paar Mal gegen einen Stein, zerlegte ihn und rief die anderen Kinder. Jedes der vier bekam ein Häppchen.

Das Kleinste stelzte flatternd aufs Wasser zu. Dort zickzackte eine Motte. Aber die Mutter paßte auf. Ein leichter Streich mit dem Flügel trieb den Abenteurer zurück. Dann flatterte sie auf und holte die Motte. Er bekam sie allein.

»Such Würmchen! Da! Unter dem Stein! Im Gras! Es gibt kleine Schnecken. Die schmecken fein und machen stark.« 35

»Mottenfang und Wasserflug ist nichts für kleine Burschen!« sagte der Gebirgsstelz.

»Nichts für kleine Burschen!« piepten die Geschwister. Der Älteste hackte an einem winzigen Regenwurm.

»Tirilie! Tirililie!« kam es vom Tümpel herüber.

Die Gebirgsstelze horchte auf.

»Tirilililie!« rief es nochmals.

»Ist das nicht –«, fragte der Gebirgsstelz.

»Ja, sie ist es. Ich erkenne den Bach wieder, an dem ich ihr Lebwohl gesagt habe. Bleibe bei den Kindern! Ich bin bald wieder da!«

Dann hob sie sich auf und flog in schönen Bogen, die wie die Wellen sanften Wassers rund waren, dem Weiher zu, wo die Bachstelze sie freudig begrüßte.

»Nun, gefällt es Ihnen hier? Habe ich nicht gut geraten?«

»Ach ja«, sagte die Bachstelze. »Es ist recht hübsch hier. Aber unten im Dorf ist mir wohler. Wenn ich das Waislein durchhabe, wollen wir wieder hinunter.«

»Waislein?« – Die Gebirgsstelze verstand nicht.

»Ja! Leider! Aber ich habe ihn trotzdem sehr lieb.«

»Ich verstehe nicht«, sagte die Gebirgsstelze. »Haben Sie Ihren Mann verloren?«

»Oh nein! Aber er ist nur ein Ziehsohn!«

»Haben Sie keine eigenen Kinder?«

»Diesmal leider nicht. Es war eine große Überraschung!« Die Bachstelze schaute hinauf zur Haselstaude, wo das Nest war.

Der Gelbstelze ging eine Ahnung auf. »Oh, oh!« sagte sie. 36 »Daß ich Sie auf diesen Fall nicht vorbereitet habe, tut mir leid. Wir Wäldler sind immer darauf gefaßt. Aber wir können nichts dagegen machen.«

»Gefaßt?« Die Bachstelze verstand nicht. »Ja, geschieht denn das öfter?«

»Aber natürlich«, sagte die Gebirgsstelze, »sonst gäbe es doch lange keine Gauche mehr.«

»Ein Gauch? Ein Gauch also«! rief die Bachstelze. »Einen kleinen Gauch ziehen wir groß! Oh, wie ist das merkwürdig!«

,.Ja, haben Sie denn das nicht gleich gewußt? Kennen Sie den Kuckuck nicht?« Die Gebirgsstelze war sehr erstaunt.

»Woher sollte ich den Kuckuck kennen?« sagte die Bachstelze. »Unsere Sippe lebt doch nicht in Wäldern. Und zu den Menschen kommt er nicht. Gehört habe ich ihn oft. Er ist so schön und so schlank wie seine Stimme. Ich bin jetzt sehr stolz, daß ich einen Sohn von ihr im Neste habe.«

»Nun, wir Wäldler sind darauf nicht erpicht«, sagte die Gebirgsstelze. »Aber wie kam es denn? Erzählen Sie doch!«

»Ach, das ist bald erzählt«, sagte die Bachstelze.

»Eines Morgens hörten wir die Waldleute zetern. Wir dachten, der Graue wäre da oder das Wiesel. Mein Mann flog hin, und ich besann mich, daß es wohl das Beste wäre, ihm zu folgen, damit mich kein Räuber im Nest wittert. Ich spreche also die Rune über meine vier Eier. Kennen Sie die?« 37

»Freilich! Sie stammt ja aus unserer großen Familie.« Und die Gebirgsstelze sagte feierlich:

Räuber im Pelz,
Räuber im Fittig.
Vorbei, vorüber!
Hel macht's euch strittig!

»Mir hat sie nicht geholfen«, sagte die Bachstelze. »Als ich zu in einem Manne kam, war er mit allen Waldleuten um einen Baum geschart, auf dem ein grauer Vogel saß, den wir nicht kannten. Alle haßten auf ihn, aber er strich nicht ab.«

»Natürlich«, sagte die Gebirgsstelze, »das war ja der Mann!«

»Welcher Mann?«

»Der Gauch!«

Der Bachstelze blieb der Schnabel offen vor Erstaunen. »Das war er?«

»Natürlich! Das macht er oft, wenn er eben zufällig dazu kommt, bevor sie legt. Denn die zwei sind ja selten beieinander, müssen Sie wissen. Sie hat doch in jedem Revier einen anderen Mann. Ist er aber zufällig in der Nähe und merkt, daß sie legen will, dann bäumt er irgendwo, wo ihn die Waldleute gut sehen. Die kommen dann über ihn, als ob er der Kauz wäre. Inzwischen hat sie Zeit und legt in ein Nest, das ihr gerade paßt, oder legt ins Gras und trägt das Ei im Schnabel in ein fremdes Nest. Denn ein eigenes hat sie nicht. Eine sonderbare Familie, sage ich Ihnen. Ich weiß nicht, ob Sie sehr stolz sein sollen auf Ihren Ziehsohn.« Lange schwieg die Bachstelze. Was es alles gab in den Wäldern, auf der weiten 38 Welt! Nein, ehe sie das mit sich ausmachte, ehe sie das Leben dieser Gauche verstehen würde, müßte gewiß ein Meerflug dazwischen liegen.

»Eine merkwürdige Frau, diese Gauchin!« sagte die Gebirgsstelze. »Meine Mutter hat erzählt, daß sie Gimpeleier, Meiseneier, Pieper-, Würger-, Drosseleier, fast alle Eier, die die Vogelleute haben, legen kann. Immer aber kommt ein kleiner Gauch heraus. Und die Mütter mögen ihn oft lieber als ihre eigenen Kinder.«

Die Bachstelze schwieg noch immer und blickte zur Haselstaude hinüber.

»Es wird so sein, wie es eine alte Gauchin meinem Ahn offenbart hat. Hoch oben, an einem Waldwasser, hat sie mit Hüpfen den Altweibersommer hingebracht. Ein Flügel war ihr gebrochen. Sonst hätte sie nie mit einem aus unserer Sippe geredet. Sie wissen nicht, wie hochmütig diese Familie ist. Sie reden nur mit ihresgleichen, und auch dann nur das Notwendigste. Es sind stolze, eigenbrödlerische Leute.«

»Was sprach sie denn?« Die Bachstelze war schlank vor Neugier.

»Der Ahn hat sie gefragt, von wo sie herkäme. Da hat sie ihn angeschaut von oben bis unten, dann von unten bis oben, und hat dann mit herrischer Stimme gesagt: ›Aus Nirgendwoweit! Aber geboren bin ich im Neste eines Rotkropfes. Weil ich von Rotkröpfen ernährt bin, habe ich Rotkröpfen meine Kinder anvertraut. Ich habe sie mit der Eischale ihrer Frauen getäuscht. Wäre ich aber von einem Weibe deiner Art ernährt 39 worden, dann hätte ich der Sippe der Stelzen meine Kinder anvertraut, und so fort, bis in die äußersten Äste meines erlauchten Stammbaumes.‹«

»Was ist das für eine fremdfremde Sprache! Wie ist das geheimnisvoll!« sagte die Bachstelze.

»Der Ahn ist zornig geworden bei der hochfahrenden Rede. – ›Baut selber! Zieht eure Kinder selbst auf, wie andere anständige Vogelleute!‹ hat er geschrien!«

»›Was ist das: anständig? – Wir haben anderes Gesetz! Beneidet uns nicht!‹ – So hat die Gauchin langsam und ernsthaft gesagt und dabei den Ahn mit ihren Goldaugen durch und durch geschaut, daß er kleinlaut abgezogen ist. Vor der Meerfahrt ist er noch einmal zu dem Waldwasser hinauf geraten. Da ist die Gauchin tot unter einer Wetterfichte gelegen, und aus den Höhlen, in denen das goldene Aug' gelebt hat, sind Ameisen gekrochen.«

Die Bachstelze schwieg. Daß die Gauchin gesagt hatte: beneidet uns nicht! darüber dachte sie nach. Und verstand, weshalb sie den kleinen Gauch zärtlicher liebte als ihre eigenen Kinder; sich mehr um ihn sorgte. Mitleid! Sie sind heimatlos, sagte sie zu sich selber.

Ging ihr eine Ahnung auf von der erhabenen und nie verlorenen Heimatlosigkeit hochgeborener Seelen? Und daß diese nur jene Liebe erwecken und ertragen, die aus Mitleiden aufblüht; und an deren fernem Geleucht und Gedüft ihr Genügen finden?

Plötzlich fiel es ihr ein. Aber sie wurde nicht klar, ob sie das geträumt hatte, oder ob es dämmernde 40 Wirklichkeit war. Am Geburtstag des Gauchs hatte sich das begeben. Sie war schon halb eingenickt über dem Findelkind. Sie hörte das Wehen der Fledermaus über der Haselstaude, und daß am Bachufer der Zaunkönig noch herumteckte.

Aus dem Tümpel herüber tropfte das bescheidene Liebeslied der Unke, und das Rotkehlchen geisterte am Bachufer. Noch einen Kreis und immer noch einen zogen johlend die trunkenen Mauersegler um den Abendstern im grünverdämmernden Himmel.

Da war es hinaufgehuscht auf die Jungfichte, die mühselig ihr Dasein gegen Hasel und Erle behauptete. Ein schlanker Schatten. Dann ein tiefes Kurrh, das sehr weich und zärtlich geklungen hatte und sehr fremd. Und dann kam es in fremdfremder Sprache.

Mutter feit dich!
Stolz leit' dich!
Heimlos bleibe!
Freunde meide!
Einsam bist du!
Freudvoll lebst du!
Liebe erschüttert dich!
Ferne umwittert dich!
Aus Nirgendwoweit
Dein Geschlecht dich feit! 41

 


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