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Weit war der Gauch im Schreck davongefahren und landete jetzt in lichteren Buchenbezirken. Er bäumte dort und äugte verstört und ängstlich umher. Der scharfe Knall der Kugelbüchse, den er wie einen heftigen Schlag 147 auf sein helles Gehör empfunden hatte, lag schwer und dumpf, einem schwarzen Stein gleich, in seinem Gemüt. Das Furchtbare und Geheimnisvolle des Menschen, der mit einer Hand Würmer schenkte und mit der anderen so entsetzliche Schläge tat, verwirrte ihm alle seine Erlebnisse.
Jetzt verstand er die Scheu aller Vogelleute, er begriff den Zorn der Zeisige, die geschrien hatten: böser Mensch, böser Mensch! Er verstand den Warnruf seiner Pflegemutter und die Angst des Rotschwänzchens vor den Netzen und klebrigen Ästen. Er hörte den Riesenvogel durch die Luft stöhnen und sah den Dohlenherzog wirbelnd zerschellen. Er wußte jetzt, daß ein solch entsetzlicher Schlag den Adler zu einem traurigen Einsamen gemacht hatte, und sann darüber, ob der Alte mit dem Gehörn und dem verschossenen Rock wohl dem Schlage ausweichen konnte. Die traurige Rede des Schwarzspechts vom kranken Menschen, der auf andere Menschen Dampf gemacht hatte, kam ihm ins Gedächtnis und auch, daß der Schwermütige von »unserem toten Herrn« geredet hatte.
Herr! Das also war der Herr über Leben und Tod der Vogelleute und der Haarleute, der geheimnisvolle und furchtbare, der mitleidige und tötliche Mensch!
Und der Gauch ward die Furcht vor dem Menschen inne. Doch auf dem Grunde seines Gemüts lebte das stolze Gefühl der Hörigkeit diesem gewaltig großen Herrn, das in der melancholischen Flöte des Schwarzspechts geschwungen hatte. Aber Furcht 148 würde es überschatten lebenslang, und Freiheit war weit vom Menschen.
Er hörte einen Zug wilder Gänse über sich. Die klingelten meerwärts. Er sah den Mann an der Spitze des Keils, drei Kleine rechts, vier links, die Gänsemutter schloß den Zug.
»Brät! Brät! Brät!«
»Klingling! Rudert brav, Kinder!«
»Tun wir! Tun wir!«
»Haben den Wind im Rücken! Der hilft uns schön!«
»Bringt Schnee! Bringt Schnee!«
»Tut nicht weh! Morgen hinter Bergen geborgen!«
»Habt warme Röcklein an!«
»Dort ist das Gras schön fett!«
»Laßt mich führen! Laßt mich führen!«
»Langsam, Kinder, langsam! Mutter will voraus!«
»Mutter, Mutter, bist du da?«
»Ja, ja, ja!«
»Wartet, wartet! Schön in die Reihe!«
»Schnabel im Wind der vorderen Flügel!«
»So ist's recht! So ist's recht!«
»Weiter! weiter! Der Mond ist schon da!«
»Ade, ade! Sommerland ade!«
»Klinglingling!«
»Brät, brät, brät!«
Dann wurde das Gerede undeutlich; nur das Geklingel hörte der Gauch noch aus dem grauen Gewölk. Aber er merkte sich den Weg, den die Wildgänse gefahren waren.
Eine Grille hob zu singen an. Die war willkommenes Abendfutter. Monsieur schlüpfte 149 behutsam abwärts, denn sie saß vorsichtig in der Türe ihres Dunkelhäuschens. Sie hörte ihn nicht; sie war vertieft in die Strophen, die sie jeden Tag anders sang.
»Will Abend werden
Über der Erden.
Sommer ist fort,
Ist an anderem Ort.
Welt wird leer
Und Luft ist schwer.
Nichts zu essen mehr;
Kalter Wind fährt her.
Noch den Vollmond seh'n,
Dann schlafen geh'n!
In mein kleines Haus.
Wind und Welt bleibt draus.
Wo ich Winters schlief,
War es still und tief.
War so warm und fein,
Schlief glückselig ein.
Liebe Sonne, ade!
Lieber Mond, ade!
Lieber Wald, liebes Feld,
Lieber Rain, liebe Welt,
Ade, ade, ade!«
Sie wollte wieder von vorne anfangen, da ward sie schrecklich hart um den Leib gefaßt.
»Zieerrp!« schrie sie laut auf.
Dann wußte sie nichts mehr und hatte der Welt Ade gesagt. 150
Nachdem Monsieur das beendet hatte, turnte er wieder gemächlich die Buche aufwärts; denn es war hier gut sein, weil nun eine andere Grille anhub, und noch eine und wieder eine.
Aber in halber Höhe der Buche blieb er erstaunt auf dem Aste sitzen. Was er da erblickte, war zu sonderbar.
Da war ein Loch in dem Stamm, das einst wahrscheinlich der Grüne gemacht hatte, und in dem Loch tauchte einer auf, verschwand, tauchte wieder auf, verschwand, tauchte, und das in einem fort, daß dem Gauch wirbelig wurde.
»Kurrh! Wer sind Sie?« rief er, als der Mann wieder auftauchte.
Fort war der.
Kam aber gleich wieder.
»Wie heißen Sie?«
»Bubu!« – Und weg war er.
Monsieur kraute sich den Kopf. Hatte der sich vorgestellt?
Da erschien der Höhlenmann wieder.
»Bleiben Sie doch hier!«
»Bubu!«
Fort war er.
Monsieur sann. Bubu! Diese Flöte war ihm neu. Viel dunkler als die des Schwarzspechts, aber bummelwitzig klang sie; als ob er schrecken wollte und sich über den Erschrockenen lustig machte. Hieß der Mann Bubu? Wahrscheinlich hatte er sich vorgestellt.
Da war er wieder.
»Kuwitt, kuwitt?« sagte er. 151
»Nichts! Ich möchte Sie nur kennen lernen!« sagte der Gauch, der diese hellere Flöte des Mannes als eine höfliche Frage verstanden hatte.
»Bubu!«
Er war fort.
»Tröpfchen!« brummte Monsieur. »Heißt er nun Kuwitt oder Bubu?«
Da war er wieder.
»Gehen Sie schlafen, Mann!« fitzte er und knappte einen kleinen, aber bösen Schnabel. »Es ist Zeit für Ihresgleichen!« – Dann war er fort.
»Dunnerkiel«, dachte der Gauch. »So ein Männchen und redet spitz wie ein Wieselzahn! Und hat zwei Flöten! Den muß ich mir besser ansehen!«
»Sind Sie noch immer da? Ich möchte ausfliegen!« – Er war wieder aufgetaucht.
»Fliegen Sie doch! Ich hindere Sie nicht!«
»Kuwitt! Das sagen Sie so! Die Tagleute flicken mir immer was am Zeug!«
»Haben Sie ein schlechtes Gewissen?«
»Bubu!«
Weg war er.
Jetzt fiel dem Gauch ein, daß seine Pflegemutter vom Käuzchen geredet hatte, das nachts die Vogelleute von den Schlafbäumen hole.
Er war wieder da.
»Sie haben mich sehr gekränkt! Ich bin nicht so!«
»Wie sind Sie denn?«
Monsieur rückte zur Vorsicht ein wenig vom Baumloch ab.
»Anders! Ganz anders!« 152
»Freut mich! Aber was essen Sie denn am liebsten?« – Jetzt hatte Monsieur die Gewissensfrage gestellt.
»Mäuschen! Mäuschen! Mäuschen!« sagte der Kleine und begann fast zu singen vor gutem Gewissen.
»Na, dann kommen Sie doch heraus!«
»Bubu!« –
Aber er kam gleich wieder.
»Werden Sie mich nicht hassen?« fragte er mißtrauisch.
»Fällt mir gar nicht ein! Sie gefallen mir!«
Der Kleine überlegte; dann faßte er Vertrauen.
»Wissen Sie, junge Vögel esse ich auch. Aber ganz selten! Ich traue mich nicht an die Nester. Die Alten sind immer dabei.«
»Aha«, dachte der Gauch, »das dicke Ende kommt nach!« – »Junge Vögel gehen mich nichts an, Kleiner«, sagte er dann kurz. »Ich war wohl selbst einmal jung« – er warf sich in seine Herrengeste – »aber das ist länger her. Eigene Kinder aufzuziehen, beabsichtige ich nicht. Ich tauge nicht dazu!«
»Kuwitt! Sie sind ein Gauch! Ja? Sind Sie ein Gauch?«
»Warum soll ich kein Gauch sein? Haben Sie etwas dagegen einzuwenden?«
Das kam rasselnd aus Monsieurs herrischem Schnabel.
»Im Gegenteil! Ganz im Gegenteil! Natürlich sollen Sie ein Gauch sein! Gauche liebe ich! Die kümmern sich überhaupt nicht um uns!« 153
»Da mögen Sie recht haben!« – Das klang hochfahrend genug.
Aber der Kleine merkte es nicht.
»Bubu! Lassen Sie sich anschauen! Lassen Sie sich anschauen! Ich habe noch keinen Gauch gesehen! Immer nur gehört!«
»Kommen Sie doch endlich heraus!«
»Bubu!«
Weg war er.
»So ein Tröpfchen!« dachte Monsieur. »Aber er muß doch ein schlechtes Gewissen haben!«
»Wissen Sie«, er war wieder da – ich habe große Vettern, die schleichen nachts im Wald herum und suchen die schlafenden Tagleute. Und weil ich mit denen verwandt bin, hassen mich die Tagleute, und wenn sie mich finden, geht es mir schlecht! Sehr schlecht!« – Er bekam traurige Augen und knappte mit dem Schnabel vor Kummer. – »Ich bin doch so klein, und man tut mir unrecht. Die paar Flaumvögelchen, vielleicht drei, vier im ganzen Sommer! Und dafür darf ich fast nie an der Sonne sitzen, weil alle über mich herfallen! Und ich habe doch auch gerne schön warm! Dann sagen sie, meine Augen vertrügen die Sonne nicht! Das ist nicht wahr, ist gelogen!«
»Wie heißen Sie denn?«
»Wichtel! Bei den Menschen, die mich kennen und mich lieb haben, heiße ich Wichtel! Die anderen, die mich wegen meiner Verwandten verleumden, nennen mich Steinkauz! Ich heiße lieber Wichtel! Ist das nicht ein hübscher Name?«
»Also komme endlich heraus, Wichtel!« 154
»Sind keine Drosseln da?« – Er äugte rollend nach allen Seiten.
»Keine!«
»Und Zeisige?«
»Die sind schon fort!«
»Keine Rotkehlchen?«
»Die sind ja ganz sanft!«
»Das sagen Sie so! Die können sehr böse sein! Und gehen immer so spät schlafen! Wenn sie mich sehen, rufen sie Pititititit, dann kommen gleich die anderen Tagleute!«
»Kannst ruhig herauskommen, Wichtel! Es ist niemand da!«
»Bubu!«
Dann schloff er flink heraus und saß auf dem Ast vor der Höhle.
»Kuwitt! Kuwitt!« sagte er fröhlich, als er die tiefe Dämmerung sah, und daß nichts sich rührte, was Federn hatte.
»Hübsch bist du!« sagte Monsieur. Er mußte das putzige Kerlchen duzen. 155
»Bin ich!« – Er plusterte sich, daß die weichen grauen und braunen Federn sich freuten, klappte mit dem Schnabel, schlug die kleinen Schwingen und rollte die Augen lustig in die Runde.
Monsieur staunte über die zierlichen Füße, die in engen Höschen steckten, und er war froh, daß das Männchen so klein war; denn die Zehen waren schrecklich bewaffnet.
»Wir haben gleiche Augen!« sagte der Wichtel.
»Deine sind viel schöner und viel größer!« Monsieur gab das ehrlich zu.
»Sie haben aber einen schöneren Schwanz!«
»Habe ich!« – Monsieur fächerte.
»Bubu!« – Der Wichtel staunte und klappte.
»Meiner ist ein Maucherl.«
»Krah! Krah!« – Eine Krähe suchte den Schlafbaum.
Wo war denn der Kleine hin? Er saß doch eben da? Monsieur äugte und staunte tief.
Da, neben ihm saß etwas, das einmal der Wichtel war. Jetzt war es ein dürrer Buchenast. Das war Hexerei. Der Gauch fürchtete sich und wollte abstreichen.
»Bleiben Sie!« zischte der Ast.
»Krah! Krah!« – Der Schlafbaum gefiel der Krähe nicht. Sie strich ab.
Jetzt wurde der Ast lebendig. Der Wichtel machte wieder sein langes Gesicht rund, tat die Augen auf, legte die ausgestreckten Ohren wieder an den Kopf und zog den rechten Arm, den er wie einen gebrochenen Zweig steif und dürr ausgestreckt hatte, an sich. 156
»Bubu!« sagte er vergnügt. »Das mache ich immer so. Dann kennt mich manchmal keiner!«
Monsieur bekam große Achtung vor dem Männchen und nahm sich vor, es mit »Sie« anzureden.
»Oh, ich kann Gesichter schneiden!« kicherte es.
»Also los! Schneiden Sie!«
Es sah sehr drollig aus, was jetzt der Kleine aus seinem Lärvchen machte.
»Kurrh!« sagte der Gauch. »Sie sind wirklich ein Spaßvogel!«
»Hören Sie nichts?« flüsterte der Wichtel plötzlich.
»Nichts!« sagte der Gauch und äugte. Als er den Kleinen wieder ansah, erschrak er. Vor ihm saß einer, der hatte kein Gesicht mehr.
Aber jetzt kam das Gesicht wieder.
»Haben Sie sich nicht den Hals ausgedreht?« fragte Monsieur verblüfft.
»Wieso? Das ist mir angeboren!« Wieder hatte er das Gesicht im Rücken und der Gauch sah nur ein Federhäubchen.
Jetzt verdrehte der Kleine plötzlich die Augen, dann machte er sie ganz zu, knickte ein, verrenkte den Hals, als ob er erwürgt würde, und stieß gurgelnde Töne aus.
»Was fehlt Ihnen, sind Sie krank?« Monsieur bekam Mitleid.
Der Kleine würgte immerzu; dann spie er einen Ballen Haut und Knochen aus.
»Fehlt Ihnen etwas?«
»Nein! Durchaus nichts! Ich räume nur auf, bevor ich zum Abendessen gehe!« 157
»Du bist schlecht erzogen!« sagte Monsieur angewidert. Jetzt redete er wieder von oben herab mit dem Männchen.
»Wieso?« fragte es kühl. »Das ist mir auch angeboren. Da sollten Sie erst meinen großen Onkel, den Uhu, sehen! Ich wünsche es Ihnen zwar nicht! Aber wenn der aufräumt, davon wird eine ganze Mäusefamilie satt.«
»Pfui Deubel!«
»Ja, das ist nicht zu ändern. Wir machen es alle so und werden alt dabei!«
»Sss!« Vom Rain herauf.
»Bubu! Einen Augenblick!« flüsterte der Wichtel aufgeregt und war von dem Ast hinabgeflogen.
»Saperlot! Den hört man überhaupt nicht, wenn er fliegt«, sagte Monsieur zu sich. »Schließlich, ich verstehe auch, heimlich zu sein. Aber solche Leisetuerei –«
Da war er wieder. Aber er war nicht allein gekommen. Etwas schrie, und ein nacktes Schweifchen pendelte hilflos.
»Sie sind hier nicht besonders fett. Ich trudle später in die Obstgärten hinüber. Dort sind sie sehr schmackhaft. Überhaupt ist in der Nähe des Menschen alles gut. Ich mag den Menschen leiden.«
»Hm!« sagte der Gauch und erinnerte sich an verschiedenes.
»Quick, quick!« Die Maus schrie kläglich.
»Das lebt ja noch!« rief der Gauch.
»Natürlich! Tote Mäuse esse ich niemals!«
»Bring' sie doch endlich um!« 158
»Kommt alles! Es reizt mir sehr den Appetit, wenn sie pfeift und sich ein wenig sträubt.« Er knappte mit dem Schnabel; es klang lüstern und grausam. Dann hob er den Fuß auf, starrte mit großen Augen auf die sich windende Maus in seinem Fang und biß ihr den Kopf ab. Mit einem einzigen Knack.
»Wie gesagt, nicht besonders«, gurgelte er und schlang. Dann stopfte er sich das übrige samt Füßen und Schweif in den Schlund und würgte so umständlich und schrecklich, daß der Gauch mit kurzem: »Gesegnete Mahlzeit« abstrich. Er hatte trotz allem dabei Appetit bekommen.
Er rüttelte auf den Rain hinab und fand zwei Grillen, eine grüne Heuschrecke und einen dicken Regenwurm. Dann suchte er den höheren Wald auf.
Der Steinkauz hatte bald mit dem rechten, bald mit dem linken Auge dem Davonfliegenden nachgeblinzelt. Als er wieder reden konnte, sagte er. »Bubu! Gleichfalls!« und machte einen Knicks. Trotzdem: ihm war, daß er sich auf die Dauer mit einem Tagmann, selbst wenn der keine eigenen Kinder aufzog, doch nicht gut verstehen würde.
Als Monsieur auf seinem Schlafbaum saß, hörte er das vergnügte, helle »Kuwitt, kuwitt« vom Dorfe herüber. Er dachte, daß es doch keinen Sinn habe, nachts vergnügt zu sein und zu flöten; und daß es viel schöner sei, bei Tage zu leben. Auch war ihm, daß er sich mit dem Nachtmännchen auf die Dauer doch nicht gut verstehen könnte, trotzdem es ihm niemals Kinder stehlen würde. 159
Überhaupt! Wozu sollte er sich mit Tag- oder Nachtleuten verstehen? Er, aus dem erlauchten Geschlecht der Gauche! War es nicht ein auserwähltes Geschick, jenseits aller Mühsal und Begrenzung durch Familie und Versippung, in kühner Freiheit die Erdenwälder zu durchstürmen? Das Glück des freien Schweifens, oh, es war bestimmt Auserwählung! Gewiß: zu Zeiten fühlte man sich allein. Und wurde schweigsam und scheu. Und sah beklommen, doch ohne Verständnis, wie es die anderen trieben. Und litt. Das war nicht zu ändern.
Satt, aber unlustig schlüpfte der Gauch von Baum zu Baum. Keiner taugte ihm. Feucht waren sie und rochen nicht mehr lebendig, wie zur Sommerzeit. In der Buche trieb sich der Eichkater spät abends noch herum und der unverträgliche Siebenschläfer fing sein Geschäft an, wenn der andere aufhörte. Der Häher schimpfte infam, wenn er gestört wurde, und die Krähen bäumten nicht mehr verläßlich. Es dauerte immer länger, bis er zu seinem Frühstück kam, und die Nacht wurde so herrschsüchtig, daß er kaum mit dem Abendschmaus zurecht kam, da war sie schon hereingerückt. Nein, die Welt hier wurde zusehends unfreundlicher zu ihm.
Ein Ahorn gefiel ihm halbwegs. Zwar hatte er bei Tage auf ihm einige rote Blätter gesehen, die ihn mißtrauisch machten. Früher waren die nicht da. Sollte der Mensch da etwas Heimliches vorhaben? Die Erzählungen weitgereister Vogelleute kamen Monsieur in Erinnerung. Aber die roten 160 Blätter rührten sich wie die anderen im Winde. Er bäumte vorsichtig.
Da fauchte ihn etwas an. Er stob auf; sah nichts.
Rüttelte neugierig.
Es fauchte wieder. Anders, als Haarleute fauchen. Das erkannte er gleich. Es konnte ein Vetter des Wichtels sein, dachte er. Aber sicher kein großer, denn es fauchte sehr dünn.
»Suchen Sie sich einen anderen Ast! Hier ist mein Platz!« Das war eine kümmerliche, verschlafene Stimme.
»Fällt mir nicht ein! Der Ast gefällt mir!« entrüstete sich der Gauch. Die Stimme reizte ihn wegen ihrer Harmlosigkeit.
»Meinethalb!« seufzte der Schlaftrunkene und schien einzunicken.
Monsieur hockte auf dem benachbarten Ast und wunderte sich, als er jetzt den Mann sah, der wie ein Rindenstück aussah und nicht wie ein anderer saß, sondern der Länge nach auf der Borke lag, als ob er keine Füße hätte, und mit unbedecktem Kopf schlief.
»Was es alles gibt, wenn man zu lange in der Sommerwelt bleibt«, dachte der Gauch.
Er wußte nicht, daß er immer zu früh schlafen gegangen war. Sonst hätte er diese Leute in der späten Sommerdämmerung längst gesehen.
»Einen Bart hat er auch«, wunderte sich Monsieur, »fast wie der Schwarzspecht. Und Haare um die Augen, wie der Mensch. Einen Rock trägt er, wie der Wichtel, aber ein Maucherl von Schnabel. Was es alles gibt!« 161
Es wurde dunkler.
Jetzt wachte der Schlafende auf, reckte einen spitzen, schlanken Flügel, dann den anderen. Er schien fliegen zu wollen.
»Alles verkehrt!« dachte der Gauch. »Andere Leute gehen jetzt schlafen!«
Jetzt gähnte der, daß Monsieur erschrak.
»Da hat ja ein ganzer Mistkäfer Platz!« sagte er staunend.
»Hat er auch!« sagte der Unscheinbare. »Und im Mai ein ganzer Maikäfer! Jawohl!«
»Und so eine verschlafene Stimme zu einem so großen Kropf! Freut Sie das?«
»Wozu sollte ich singen? Die Nachtleute schreien bloß. Aber das will ich nicht. Ich spinne ein wenig. Das ist für mich genug.«
Es klang recht kümmerlich und reizte den Gauch.
»Fauchen tun Sie wie der Eichkater!« sagte er.
»Oh, kaum! Aber was soll ich machen, wenn mich die Tagleute nicht in Ruhe lassen?«
»Sie haben ja keine Füße!« Das kam wegwerfend.
»Nur wenig. Da haben Sie recht. Wenn ich schlafe, liege ich beinahe, und wenn ich wache, fliege ich. Das ist für mich genug.«
»Sie sind bescheiden!« spottete der Gauch. Er war wieder gereizt.
»Bescheiden? Was ist das? Ich lebe und bin glücklich!«
»Tropf!« dachte Monsieur. Laut sagte er. »Was haben Sie für große Augen! Fast wie der Wichtel.«
»Oh, Sie tun mir unrecht! Ich bin nicht so!« 162
»Ich wollte Sie nicht kränken!« entschuldigte sich der Gauch.
Aber sie war empfindlich.
»Ich heiße Nachtschwalbe! Schlafen Sie wohl!«
Da war sie fort. Lautlos. Wie ein Schatten war sie über den Boden gehuscht und ins Dunkel geschwunden. Man hatte keinen Flügelschlag gehört. Nur manchmal ein tonloses Gurren, das sehr gespenstisch klang.
Der Gauch ärgerte sich, daß er die stille Frau gekränkt hatte. Er ärgerte sich heute über alles.
Da schimpfte ihn einer, der von droben aus der Buchenkrone herkam. Was er sagte, war undeutlich, denn er hatte eine kehlige Stimme. Das hatte dem Gauch gerade noch gefehlt zu seiner Mißlaune. »Schweigen Sie!«, schrie er hinauf. Daß da kein Schnabel schimpfte, hatte er gleich erkannt.
Da fuhr es den Stamm herunter, daß man die Zehen auf der Rinde klappern hörte, fauchte wütend und saß steif vor Zorn auf dem Sitzast des Gauchs. Der war ein wenig höher geflattert. Haarleuten hielt er Stand, wenn er sehr gereizt ward. »Ich bin da! Ich bin da!« fauchte der Haarige, »Und wo ich bin, da ist kein anderer! Fahren Sie ab, Schnabelhans, Würmerfresser, Mistbohrer!«
»Stellen Sie sich vor, ehe Sie mit einem Gauch reden, Sie windiger Stammrutscher, übler Haarköter!«
Monsieur vergaß im Zorn auf seine erlauchte Art. »Gauch? Ha, Gauch! Wissen Sie, daß Sie gut schmecken, gelbäugiger Federkerl? Im Mai habe ich einen Bruder von Ihnen verzehrt! Vielleicht 163 war es auch eine Schwester, falls es bei Ihrer Stromersippe so etwas gibt. Im Geschmack wird wenig Unterschied sein! Was? Gik! Gik! Gik!« gellte der Haarige höhnisch. »Bei Blattmönchs drüben im Ahorn war das. Ausgezeichnet, sage ich Ihnen! Fast wie eine Jungdrossel! Bloß ein wenig mürber! Nun ja, Hochmut hält mürbe und mager! Gik, gik!«
Teufel, was war das für eine Sorte. Monsieur zitterte vor Wut und Alteration. Abzustreichen, dazu war er heute nicht gefaßt genug. Hier half auch kein Stolz. Keine Haltung verfing. Das war niederste Gattung, gegen die nur Gewalt etwas ausrichtete. Aber zu einem Augenangriff war es zu dunkel. Der andere hatte überdem Nachtaugen, das schloß der Gauch aus dessen Lebendigkeit.
»Ich will Ihnen etwas sagen –« Monsieur zwang sich zu kalter Ruhe.
»Sagen Sie, sagen Sie!« höhnte der Haarige, »aber rasch! Ich habe keine Zeit! Und wahrscheinlich wird es mich gar nicht interessieren!«
»Sie sind ein Feigling!« herrschte der Gauch.
»Bin ich! Natürlich! Weil ich nachts die Tagleute fresse! Sonst noch was?«
»Sie sind ein völlig unnützer Kerl! Ich kenne Sie jetzt genau!«
»Freut mich! Freut mich! Natürlich bin ich unnütz! Darum lebe ich ja so lustig! Und zu was sind Sie nütze, wenn ich fragen darf?« Er überschlug sich vor Boshaftigkeit.
»Ich glaube, nicht einmal die Krähen mögen Sie, so sehr stinken Sie, Sie Siebenschläfer, Sie Fettwanst!« 164
Jetzt hatte Monsieur ins Schwarze getroffen.
»Fschchch!« fauchte der Haarige. Diesen Spottnamen konnte er nicht leiden. Durchaus nicht deshalb, weil er wirklich sieben Monate schlief. Darauf freute er sich sogar. Sondern, weil er sieben Monate lang anderen Haarleuten, besonders den verhaßten Eichkatzen, den Tisch räumen mußte.
»Fschchch! Ihr schmeißt die Eier aus den Nestern, und ich warte ein paar Tage länger, bis Federn da sind. Ich schlafe und ihr stromert! Das ist alles! Fahr ab jetzt! Fahr ab! Ich habe hier Geschäfte! Und will Ruhe haben! Mach dich fort! Es ist höchste Zeit, daß du hinter die Berge verschwindest, gelbäugiger Würmerfresser!«
Er rutschte fauchend den Stamm hinunter.
»Und du in deinen Freß- und Schlafkoben, wo du vom eigenen Fett lebst, schnarchst und übel riechst! Pfui Deubel! Siebenschläfer, dummer, fetter, stinkender Siebenschläferköter!«
Damit strich der Gauch ab, tief beschämt, daß er sich soweit hatte hinreißen lassen, Schimpf mit Schimpf zu beantworten. Er bäumte struppig auf einer schwarzen Fichte und hörte noch das höhnische Knurren des Haarkerls, der Bucheckern in seine Winterhöhle schleppte.
Der Wind stieß von Norden her und jagte zerfetztes Gewölk an der Mondsichel vorüber. Tiefes Rauschen ging durch die Wälder und verstummte wieder. Dann stand der Mond rein und kalt über den leeren Breiten. 165