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III

Wäre diese meine Geschichte erfunden, so hätte ich jetzt die Pflicht, eine gutpointierte Lösung zu ersinnen und die Gleichung der Charakterstudie restlos und überraschend aufgehn zu lassen. Aber die Mathematik des Schicksals ist keine Schulaufgabe. Ich dichte nichts hinzu, nehme nichts hinweg und gebe keine Erklärungen. Das Leben schleicht verzweifelt undramatisch, es verkrümelt, es zerbröckelt alles und läßt es fallen aus langsamer Hand.

 

Ein und ein halbes Jahr später feierte man die Eröffnung der großen ›Internationalen Kunstausstellung‹ in den giardini pubblici.

Ich bin, wie gesagt, kein Freund von Museen und Galerien. Welche Barbarei ist eine mit Bildern dicht behängte Wand. Aus zwanzig sinnlos aufgeklappten Schächten starren zwanzigmal Landschaften, Köpfe, Kreuzigungen und Viktualien-Arrangements aus ihrer Welt in die unsrige, die durch das bißchen Oberlicht nicht zur Genüge verzaubert ist. Zwanzig Farbnaturen schießen, wetteifernd, ihre Strahlen auf den betäubten Beschauer, ein hitziger Kampf, dessen Opfer der Unschuldige ist. Zwanzig Seelen, zarte, verklärte, freche, üppige, haßerfüllte, singen nebeneinander ihr Lied, und der Jahrmarkt der Farben zwingt selbst die feinste dazu, sich zu überschreien. Man möchte oft diese Fenster in eine andre Welt wütend zuschlagen, aber es gelingt nicht einmal, den Blick an ihnen vorbei in das Leere der Wand zu retten.

Ganz anders hingegen ist es mit dem Eröffnungstag einer Kunstschau bestellt. Er hat seine eigene festliche Erotik, wie sie in anderm Sinn sonst nur das Theater kennt.

Was kümmert uns die Kunst? Was geht uns das Streben, das ›Ringen‹ der vielen Maler an, die sich, unerkannt, durch die Menge drängen und in bleicher Erwartung, jetzt und zu keiner besseren Stunde, ihren Dank ernten wollen? Wir sind keine Kritiker. Wir bringen in unserm Kopf nicht die durchkorrigierten Bürstenabzüge irgendwelcher Theorien oder Vorurteile mit. Wir wenden den Blick lässig zu diesem und jenem Bild und warten, ob seine Farben die Frage in uns beantworten.

Aber wichtiger ist draußen der blaue, goldene Frühlingstag, wichtiger die traurige Entzückung in all unsern Gliedern, denn wir wissen uns älter geworden um ein Jahr und beginnen schon die Zeit zu zählen.

Die Menge dreht uns, wie das Wasser ein abgerissenes Blatt dreht. Wir schließen die Augen und atmen durch den leichten Öl- und Parfumnebel hindurch den zimmetvermengten Weinduft des Weibes. Und dem Weibe auch ist Kleid und Hut, zum erstenmal getragen, wichtiger als alle Kunst und alles Ringen um Probleme.

Wir aber öffnen die Augen wieder und nippen die blonde oder dunkle Blume vom Kelche der Frauen ...

Ich war in den belgischen Pavillon geraten, in den großen Mittelsaal, wo die Kollektion jenes berühmten Malers hing, dessen Namen ich aus begreiflichen Gründen nicht nenne. »Ein Maler, Maler, Maler!« Ich dachte der Worte Saverios. Ja, hier war ein beschränktes, aber strotzendes Leben der Kunst aufgeopfert ohne Rest. Nun leuchtete es rings wie das wiedergeborene Sonnenlicht von den Wänden.

Was jetzt geschah, überraschte mich nicht. Ich hatte mich im Gegenteil darüber gewundert, daß es mir so lange erspart geblieben war. Plötzlich hatte ich ein unangenehmes Gefühl im Rücken. Ich bitte diesen Ausdruck zu verzeihen, aber er ist wahr: ich spürte es hinter mir schielen. Mondhaus hatte mich erwischt.

»Qualität?! Was?!« rief er und hängte sich in mich ein. Leider bin ich – eine Schwäche, die ich mir bitter vorwerfe – gegen überlegene Zudringlichkeit wehrlos. Mehr noch! Freche Menschen wie Mondhaus lähmen mich; sie machen mich, wie sehr ich auch gegen das unsympathische Netz zapple, zum Mitverschworenen ihrer Gemeinheit. Es gelang mir also nicht, den freundschaftlich untergeschobenen Arm loszuwerden. Ich, der ich nichts von Malerei verstehe, mußte mit Mondhaus, der in seinem Element zu sein glaubte, brüderlich vereint, den Rundgang durch diesen Saal machen. Er hatte gewiß den Auftrag, über die Ausstellung zu reportieren, und war willens, mich als Prüfstein für die Wirkung seiner feuilletonistischen Einfälle zu benützen. Bezeichnend war, daß er, über die Bilder redend, diese kaum mit einem Blick streifte:

»Fabelhaft! Hier sehen Sie zehn Jahre riesiger Arbeit. Was dieser dumpfe Quadratschädel aus sich herauspreßt! Kaum zu glauben! Man sieht ordentlich den Bizeps seines Willens. Und jetzt hat er sogar auch die Architektur heraus. Lieber Freund, den hat kein Expressionismus, kein Kubismus, kein Futurismus, kein Neo-Klassizismus nervös gemacht. Er hat ja gar keine Nerven. Wie ein Lastpferd geht er vorwärts mit seinen beschlagenen Hufen ...«

Mondhaus hielt plötzlich an:

»Unter uns gesagt, finden Sie diese ganze Art nicht schrecklich langweilig? Diese knallenden Portraits menschlicher Gesichts-Schlachtfelder! Diese Temperamentslandschaften! Diese ewigen Stilleben mit dem hochgezerrten Tischhorizont à la Cezanne! Diese polychromen Riesenpopos kuhwarmer Weiber! Der Mann stammt halt noch aus der Generation, welche die Überzeugung als große Geistestat in die Welt geschrien hat, daß eine gut gemalte Zwiebel besser sei als eine mäßig gemalte Madonna. Die Zeit ist endgültig vorüber.«

Mondhaus mußte bemerkt haben, daß mir sein Klugschwatz und Kaffeehauswitz zuwider war, denn er regte sich auf:

»Na hören Sie!? Selbstverständlich ist eine kitschige Madonna wertvoller als die genialste Zwiebel! Mit der ›absoluten Kunst‹ ist es vorbei. Wir pfeifen auf die ästhetischen Sorgen der Herrschaften. ›Kunst‹, ›Persönlichkeit‹, ›Originalität‹, das ist alles ödes Neunzehntes Jahrhundert, genau so wie etwa ›Empfindsamkeit und Tugend‹ Achtzehntes Jahrhundert war. Die gestrigen Ideale stinken penetrant. Jetzt kommt ...«

Aber da schlug er sich auf den Mund:

»Wissen Sie schon, daß Saverio in San Clemente ist?«

»San Clemente?«

»Ja! Saverio S. ist interniert. Im Irrenhaus! Verlorener Fall!«

Ich warf seinen Arm von mir. Er aber schielte überlegen: »Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen damals gesagt habe? Wer hat recht gehabt? Angeschmiert hat er uns. Niemals ist er in die Schweiz gereist, sondern ...«

»Nach Treviso ...«

»Nach Treviso? Wieso nach Treviso? Übrigens nach Treviso oder anderswohin, darauf kommt es nicht an. Er ist zeitweilig verschwunden, hat sich zurückgezogen und wie ein Wilder gekämpft.«

»Woher wissen Sie davon?«

»Auf meine Kombinationen können Sie sich immer verlassen!«

»Und ist er wirklich verloren?«

Mondhaus erledigte Saverios Schicksal mit einer kleinen Geste. Sofort aber kehrte seine Selbstgefälligkeit zurück:

»Ich kann wirklich stolz sein. Alle hat er geblufft, nur mich nicht. Denken Sie an meine Worte! Die Villa hat natürlich nicht ihm gehört ...«

»Also er ist doch der Agent von Barbieri?«

Mondhaus versuchte mitleidig dreinzusehn:

»Herr! So einfach ist das wieder nicht. Er hat den Hausherrn gemimt, um uns durch schlechtes Spiel einzureden, er wäre der Agent. Aber Barbieri schwört, daß er niemals etwas mit dem Verkauf eines Stückes zu tun hatte, daß er heimtückischerweise meist das Geschäft verhindert habe. Für den Betrieb des Alten dürfte Saverios Internierung ein Glück sein. Ich kombiniere: Barbieri hat ihm aus einem besonderen Grund, der noch zu eruieren ist, einen Schlupfwinkel geboten und dafür mußte Saverio Fremde empfangen und herumführen. Sie wissen ja, daß Leute wie Barbieri mit Vorliebe ihren Besitz verschleiern. Da mußte ihm doch ein Mensch gelegen kommen, dessen Haupteigenschaft das Verschleiern war. Aber ahnen Sie, wie Saverio existiert hat? – Ich habe schon meine Leute, wenn ich eine Wahrheit konstatieren will, dazu bin ich Journalist. In dieser Sache ist der Portier des Hauses mein Gewährsmann. – Also, Saverio hat weder die ›Räumlichkeiten‹ des Palazzo bewohnt, noch auch das Atelier, sondern eine elende Dienstbotenkammer oben in der Mansarde. Sein Essen hat er sich meist selber auf einem Spiritusbrenner gekocht. Und wissen Sie, worauf er schlief? Auf einer Wachtstubenpritsche mit zwei Pferdedecken darüber! Das ist unwiderruflich festgestellt!«

Ich wollte eine Frage tun. Aber Mondhaus duldete keinen Einwurf:

»Sie wollen natürlich fragen, warum der Mann so gelebt hat? Gedulden Sie sich! Meine Konfidenten haben mir vorläufig berichtet, daß die armen Leute der halben Gegend von ihm gelebt haben. Halten Sie es fest: Er spielte den Elegant und hauste wie ein Trappist. Für sich brauchte er keinen Soldo und hatte unzweifelhaft Geld, sogar viel Geld! Aber jetzt kommt das Wichtigste: Er hat so getan, als posiere er den Maler. Und die Herrschaften ringsum sind glatt auf die Pose der Pose hereingefallen. Das kommt daher, weil man schlimmstenfalls an Leute mit doppeltem Boden gewöhnt ist. Aber Saverio hat nicht wenig Böden mehr. Ich bin mir immer klar darüber gewesen. Sie selber waren ja dabei, wie ich ihm das kleine, dunkle Bild entlockt habe. Leider bin ich in diesem Jahr höchst okkupiert gewesen, sonst hätte ich die Sache schon vor der Katastrophe aufgeklärt. Nun, Sie sind Zeuge dafür, daß ich auf dem rechten Wege war. Denn Saverio ist ein Künstler. Und was für einer!«

Das war zu viel. Mich packte die Wut:

»Wofür bin ich Zeuge? Ich bin Zeuge, daß er Sie selbst am gründlichsten geblufft hat. Denn, ungefragt, haben Sie mir versichert, daß Saverio ein Maler sei, so wie Sie und ich.«

Mondhaus unterbrach sich traurig, als mache ihm mein Geisteszustand Sorgen, dann erklärte er langsam:

»Sie sind ein Autor und haben tatsächlich Phantasie.«

Diese Frechheit nicht gezüchtigt zu haben, treibt mir noch jetzt das Blut zu Kopf. Mondhaus verkroch sich erschrocken:

»Damit machen wir den armen Saverio nicht gesund. Ich weiß nur, daß er gearbeitet hat wie ein Rasender. Er wird eine unübersehbare Leistung hinterlassen. Man hat mir von Hunderten Leinwänden berichtet, aber auch von viel Graphik und Plastik. Die Herrschaften werden sehr vorsichtig zu Werke gehn müssen, um die Sachen, wegen ihrer Anzahl schon, nicht zu entwerten ...«

Es war furchtbar. Der Unglückliche lebte noch, und dieser Mensch hier zog den Marktwert seines Nachlasses in Rechnung. Wir waren, ich weiß nicht wie, in den ungarischen Pavillon geraten. Ich aber sah nicht mehr die Farben der Frauen, die Farben der Bilder. Es bedrückte, ja kränkte mich, daß Mondhaus die Arbeiten Saverios zu Gesicht bekommen haben konnte. Ich fragte ihn danach. Er war erstaunt:

»Gesehn?! Ich glaube, Sie unterschätzen Barbieri und die Contessa Fagarazzi. Was übrigens die Fagarazzi anbelangt, verpflichte ich mich, binnen wenigen Tagen herauszubringen, ob Saverio mit ihr wirklich verheiratet ist, oder ob sie seine Geliebte oder gar nur Vertraute. Daß sie Französin und nicht Italienerin ist, dürften sogar Sie wissen. Vielleicht hat sie Saverio schon vor ihrer Ehe mit Fagarazzi in Paris gekannt. Woher aber ihr Leiden stammt, wissen Sie gewiß nicht. Sie hat zwei Jahre lang die Sprache verloren gehabt. Es gehört ja auch nicht gerade zu den Lebensfreuden, den Gatten von der Fensterschnalle, an der er sich erhängt hat, abzuschneiden ...«

Der Schwätzer unterbrach seine Schauergeschichte:

»Gesehn?! Ich habe doch meine Quellen, meine Informationen und mehr als das! Übrigens, hören Sie, ich brauche ein Bild gar nicht eine Stunde lang anzustarren, ebensowenig als ich ein Buch wirklich lesen muß, um zu wissen, was damit los ist. Das ist mein Talent! Bei einem Buch genügt es mir schon, wenn ich es berühre oder anblättre.«

Wir gingen jetzt durch den polnischen Pavillon. Ich erkannte es an den Namen der Maler, die auf den Täfelchen unter den Bildern standen. Mondhaus hatte noch nicht die geringste Pause gemacht:

»Sie wollen über die Kunst Saverios Näheres erfahren! Vor fünf Jahren hätten die Eingeweihten das vielleicht ›höheren Kitsch‹ genannt oder ›literarische Malerei‹. Denn diesem Saverio sind alle Atelierschmerzen fremd. Ihm kam es nicht auf ›Kunst‹ an. Sie war ihm nichts als Umgangs- oder Verständigungssprache, die er glatt beherrschte. Der analytische Raptus unseres Zeitalters ließ ihn völlig kalt. Der Gegenstand, das war es! Die Sache, jawohl mein Lieber, da mögen Sie sich wundern, soviel Sie wollen! In Paris weiß man es längst. Und in allen kleinen Schaufenstern der Rue de la Boëtie können Sie ihn finden, den magischen Realismus, der die neue Parole ist. Keine Nurmalerei, keine Auflösungen mehr, keine Verzerrungen, sondern die Dinge selbst, wie sie sind und was sie erzählen, doch zugleich auch ihr Jenseits ...«

Dieses vorlaute Feuilleton, das so glatt dahinfloß, verursachte mir starke Kopfschmerzen. Und doch, ich konnte nicht davonrennen. Mondhaus wurde jetzt pathetisch:

»Und das, verehrter Herr, hat der arme Saverio schon vor zwanzig Jahren gemalt. Beruhigen Sie sich, ich spreche nicht nur aus reiner Intuition. Es gibt eine verschollene Broschüre über ihn. Er selber hat sie verschwinden lassen. Aber wozu wäre ich Kunsthistoriker, wenn ich nicht verschollene Broschüren aufzutreiben wüßte? Vielleicht wird sie mir einmal zur Grundlage einer Publikation dienen. Es ist ein Ausstellungskatalog. Hier! Sehn Sie!«

Und er reichte mir das gelbe Heft, von dessen Titelblatt die Hälfte fehlte. Der verstümmelte Name darauf war nicht der Saverios. Mondhaus strahlte wie ein siegreicher Detektiv:

»Saverios heutiger Name ist ein Pseudonym. Das ist polizeilich ermittelt. Ob dies hier sein echter, ursprünglicher Name ist, was ich keinesfalls glaube, wird noch festgestellt werden. Die Abbildungen aber sind identifiziert. Wir kommen zum wesentlichsten Punkt meiner Forscherhypothese.«

Ein andrer Name! Das also war der Grund, weswegen Saverio den Beweis seines Künstlertums mir sogleich wieder entrissen hatte. Warum verändert ein Mensch seinen Namen? Dafür gibt es manche Veranlassung; Verleugnung der Herkunft zum Beispiel. Mondhaus nahm meine eigenen Gedanken auf:

»Der erste Name weicht vom zweiten nur wenig ab. Das gibt zu denken. Nun hat vor zwanzig Jahren dieser erste Name in Pariser Malerkreisen eine gewisse Berühmtheit genossen. Die Ähnlichkeit des zweiten beweist, daß sich Saverio nur schwer von seinem Ruhm trennen konnte. Er hat es aber doch getan oder tun müssen ... Was ist Ihre Meinung?«

Ich starrte das zerrissene Titelblatt an. Ich las das Wort ›Exposition‹, ›Œuvre‹, ›Paris‹, den verstümmelten Namen; dies alles verriet mir nichts. Mondhaus ließ seinen Scharfsinn weiterspielen:

»Ich will meinen eigenen Untersuchungen nicht vorgreifen. Aber darüber besteht kein Zweifel mehr, daß es in Saverios Leben einen Bruch, eine dunkle Stelle gibt. Er dürfte etwas auf dem Gewissen haben, ich kombiniere, etwas Entehrendes, Kriminelles ...«

Ich sah deutlich eine weißgetünchte Mansardenkammer vor mir mit einer Wachtstubenpritsche. Mondhaus fragte:

»Wollen Sie sich denn die Reproduktionen nicht ansehn?«

Ich war schon nahe daran zu gehorchen und den Katalog aufzuschlagen. Aber im letzten Augenblick hielt mich eine Scheu zurück, aus diesen schamlosen Händen zu empfangen, was Saverios schamkranker Wille mir verweigert hatte. Ich gab rasch das gelbe Heft zurück, grüßte ungeschickt und ließ Mondhaus stehn.

 

Wenn man aus den feierlich-gedämpften Räumen trat, wurde man jäh vom erbarmungslosen Licht überwältigt. Die Musik strahlte von ihrem Pavillon her die gelbe Sonnenwärme satter Blechharmonien in den Frühling. Grelle Kleider, Beine, Hüte, Sonnenschirme zogen dicht über die Wege dahin wie die farbigen Kreise und Flecken vor dem Auge eines Einschlafenden. Die Lagune selbst war ein ungeheurer Spiegelreflektor. Ich verlor das Bewußtsein und rettete mich in die Gassen.

Doch auch im Schatten wollte ich nicht recht zu mir kommen. Es war ja herrlich, nichts denken zu müssen, nur glückselig zu atmen und seinen hintaumelnden Menschen im Leben zu baden. Ich durchirrte die Stadt in vielen Quergängen, ich vergaß meine Mahlzeit.

Endlich fand ich mich auf dem Landungsponton des Dampfers nach F. Da wußte ich, daß dies alles nur ein Umweg gewesen war. Denn eine große Sehnsucht hatte mich gepackt, das Geheimnis Saverios aus seinen Bildern zu erfahren. Diese Sehnsucht hatte nichts zu tun mit Kunstinteresse und Psychologen-Neugier, – diese Eigenschaften besitze ich nur in bescheidenem Maße –, sie war eine tiefe Unruhe, irgend ein Hunger in mir, der nach Befriedigung verlangte, als stünde mein eigenes Wesen mit Saverio in einem schmerzhaften Zusammenhang. Jetzt gleich wollte ich die Sehnsucht stillen. Morgen, wer weiß, würde sie schwächer sein. Und mir war leid um sie.

Mondhaus hatte das Rätsel selbst nicht angerührt. Einige Tatsachen wurden von ihm vielleicht durchschaut, aber eben nur durchschaut. Plumpere Irrtümer hatte er mit feineren vertauscht, mehr nicht. Das meiste kannte er, nach seinem eigenen Geständnis, nur aus Berichten anderer. Seine Annahme, daß Saverio seinen früheren Namen gewechselt habe, weil er ihn durch ein Verbrechen unmöglich gemacht habe, war mir einen Augenblick lang nahegegangen. Aber sehr bald spürte ich in dieser Erklärung die romantische Reportage, die in Mondhausens ›Italienische Briefe‹ ausgezeichnet paßte. Wenn Saverio wirklich in jenem Palast auf einer Pritsche geschlafen und heimlich das Leben eines Asketen geführt hatte, konnte das nicht eine Selbstverurteilung sein? Aber auch dieses Wort ist ja nur ein neues Labyrinth. Ich glaubte in dieser Stunde fest daran, daß ich einzig Angesicht zu Angesicht mit dem Werke Saverios die Wahrheit würde erfühlen können. Fast tat es mir jetzt leid, in einer übertriebenen Gewissensanwandlung den Ausstellungskatalog zurückgewiesen zu haben. Doch zweifle ich nicht im mindesten daran, daß Mondhaus, was die unermüdliche Arbeit des Malers anbelangt, recht berichtet war, und daß mir diese Arbeit in Barbieris Palast zugänglich sein werde.

Es war schon ziemlich spät, als ich mich in der Ortschaft jenseits der Lagune nach dem Hause durchfragte. Ich hatte kein besseres Nachmittagslicht zu gewärtigen als jenes, in welchem Saverio damals sein Bild verborgen hatte. Mit jedem Schritt aber, der mich näherbrachte, wuchs in mir eine angstvolle Beklemmung. Es war, als ob Saverio von seiner Krankenkammer in San Clemente aus eine Macht gegen mich organisiere, Hemmungen aussende, die Grenze zu überschreiten, die er mir gesetzt. Er hatte mich nicht eingeladen, ihn noch einmal zu besuchen. Und auf dieser Nichteinladung schien er zu bestehn. Ich aber nahm mir vor, nicht zurückzuweichen, das Verbot zu umgehn, und, wen immer ich im Hause vorfinde, nachdrücklich zu bitten, mir die Besichtigung von Saverios Bildern zu gestatten. Ich muß bekennen, daß dieser Entschluß einen beschämenden Aufwand von Mut kostete. Übrigens fällt es mir niemals leicht, ein fremdes Haus zu betreten. Noch heute verursacht mir das Läuten an einer unbekannten Wohnungstür Herzklopfen.

Das Haus selbst hatte einen ziemlich großen Vorgarten, der aber, wie mir gleich auffiel, in diesem Jahr traurig gehalten war. Ehe ich über diesen Verfall noch einen Gedanken fassen konnte, bemerkte ich vor dem Haustor eine Gruppe ungewöhnlicher Erscheinungen.

Ein langaufgeschossener Mensch plapperte und schimpfte mit einer gicksenden Kastratenstimme. Als ich näher kam, erkannte ich, daß es ein Blinder war. Er bewegte hastig sein papierfarbenes Gesicht auf ruhelosem Halsstengel hin und her, und seine blassen perlmuttrigen Pupillen zitterten verzweifelt. Die braune Uniformjoppe irgend eines Blinden- oder Siecheninstituts war viel zu kurz für seine riesigen Arme. Hinter ihm stand ein altes Weib, die Führerin wohl, der über die Achsel eine Ziehharmonika hing, und dann ein paar Gassenjungen, die an der Komik des Gezeters ihre Freude hatten.

Der Ärmste verhandelte mit einem Burschen in Hemdärmeln, der im Portal stand und den Eindruck eines zu Amt und Würden gelangten Rowdys machte. Er wehrte gelassen den plärrenden Blinden ab, der mit seiner hohen Stimme auf irgend einen Rechtsanspruch zu bestehen schien. Ich hörte immer wieder das Wort »Padrone«. Was der alte Padrone geboten, müsse der neue auch bieten, und er solle nur zufrieden sein, wenn man nicht mehr verlange, wie es sich eigentlich gehöre. Ordnung müsse sein, und prellen lasse er sich nicht, schrie der Blinde.

Das zweifelhafte Hausfaktotum erklärte hierauf, der verrückte Schwindel sei nun zu Ende, und er werde für gründliche Säuberung sorgen. Das Unglück scheine ein gutgehendes Unternehmen zu sein! Er sei auch arm und werde nicht gefüttert, müsse sich den ganzen Tag plagen und beziehe nur dafür, daß er eine schwache Lunge habe, kein Einkommen.

Der Lange jammerte auf. Um ihm den Mund zu stopfen, steckte der Bursche ihm eine Macedonia-Zigarette zwischen die Zähne. Der Unglückliche begann so gierig zu paffen, wie ich es nie gesehn hatte, hörte aber dabei, kunstfertig zugleich rauchend und redend, mit dem gicksenden Querulieren nicht auf.

Mir klangen die Worte im Ohr: »Die armen Leute der halben Gegend haben von ihm gelebt.«

Oder war es ein Modell?

Aus dem Hause schrie es jetzt:

»Toni!«

Der Bursche verschwand im Portal.

Ich folgte.


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