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Während der Nacht – ich lag bis zum Morgen schlaflos – faßte ich den Entschluß, Saverio in San Clemente zu besuchen. Vielleicht war sein Geist nicht zerstört, sondern nur gelockert, vielleicht würde er sich mir jetzt offenbaren. In den tröpfelnden Stunden dieser Nacht war die geistige Qual des Nichts-Wissens bis zur Krankheit gewachsen.
Aber der Morgen kam, ich war todmüde, es regnete, und ich fand in mir die Kraft nicht, meinen Entschluß auszuführen.
Der nächste Tag strahlte in solcher Schönheit, daß ich den Gegenstimmen in mir nachgab, die mich warnten, diese Lebenspracht durch einen Irrenhausbesuch zu verfinstern.
Am dritten Morgen standen plötzlich viele Bedenken vor mir: Ich hatte kein Recht, einem Kranken das Rätsel entreißen zu wollen, das er bei gesunden Sinnen ängstlich verbarg. Auch könnte meine Visite schädliche Folgen für ihn haben. Vielleicht war dieser Wahnsinn nur ein Kampfmittel in dem erbitterten Kriege zwischen Saverio, der Contessa und einem mächtigen Ausbeuter. Würde da der Einbruch eines fremden Menschen nicht Unheil stiften? Und wie sollte ich, ein Ahnungsloser und Unbeteiligter, helfen können?
Am Sonntag endlich wußte ich, daß ich mich fürchte und Ausreden suche, um den Weg nach San Clemente zu vermeiden.
Kurz darauf wurde ich von einer Schicksalswendung betroffen, die für einige Tage all meine Kräfte in Anspruch nahm. Als ich zurückkehrte, war der Fall Saverio in unheimlicher Weise für mich abgeblaßt. Mir standen auf einmal eine Reihe von Erklärungen zur Verfügung, und gegen das Wort ›Geheimnis‹ empfand ich einen rationalistischen Haß. Auch konnte ich nur mit schwerem Unbehagen an meinen Aufenthalt im Hause Barbieris denken.
Ich habe Saverio nicht wieder gesehn. Ich weiß nicht, ob er im Irrenhause gestorben ist, oder heute noch lebt. Mondhaus, dem ich vor meiner endgültigen Abreise aus Italien nur ein einziges Mal noch in einer großen Gesellschaft begegnete, war von einer andern Affäre leidenschaftlich eingenommen und hatte irgend einen jungen Mann zum neuen Opfer seiner schielenden Eindringlichkeit erkoren. Der sprunghafte Mensch schien seinen ganzen Forschereifer in Sachen Saverio S. ad acta gelegt zu haben. Wir sprachen nicht drei Worte miteinander. Mir aber machte es ein sonderbar-schmerzhaftes Vergnügen, keine Frage über den Maler zu stellen.
Das Leben zerbröckelt und verkrümelt alles und läßt es fallen aus langsamer Hand. Das Leben? Wir selbst! Oh über das Gleichgültigwerden, oh über das Nichtbegreifenkönnen früherer Spannungen! Unter den vielen Gründen, über diese ›Zeitlichkeit‹ selber wahnsinnig zu werden, der tiefste!
Wenn ich nach einigen Jahren, jetzt, heute, zu dieser Stunde einen Anschlag auf der Straße läse: ›Ausstellung der nachgelassenen Bilder des Malers Saverio S.‹, ginge ich hin?
Ich weiß es nicht!
Vor mir auf dem Tisch, wo ich dies niederschreibe, liegt eine Zeitung. Ihr Feuilleton bringt einen ›Italienischen Brief‹ von Stefan Mondhaus. Dieser Brief wirft einen kurzen Blick auf die neuen Korporationsgesetze der Halbinsel, beschreibt eine Festaufführung in der Arena von Verona und schließt mit einem Lobgesang auf den neuentdeckten Cimabue, der nach einer abenteuerlichen Odyssee endlich in dem patriotischen Hafen eines heimischen Sammlers gelandet ist:
»Sprechet nicht von ›Stil‹, ›Dekor‹, ›Rhythmus‹, rettet Euch nicht in abgeleierte Phrasen, sondern werft Euch in die Knie vor der zerschmetternden Frömmigkeit und Einheit eines Jahrhunderts, das zu verstehen wir nicht würdig sind.«
Ich aber denke nicht an die göttliche Tafel des Cimabue. Ich schaue ein farblos-dunkles Männerbildnis, von dem ich nicht weiß, ob ich es einst wirklich gesehen habe. Dennoch könnte ich es bis in die Feinheiten der Technik deutlich beschreiben.
Die Konturen des Kopfes – ich sehe sie das leidende Antlitz rasch fließend umkreisen – waren durch ein gelbliches, knöchernes Weiß leuchtend gemacht.