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Elftes Kapitel

Worin der Priester an mir einen starken Exorzismus vollzieht, der meinen leiblichen und seelischen Status unverändert läßt, was ihm klar beweist, daß ich kein Kakodämon bin oder einen solchen enthalte.

 

Es war ein mäßig großer, kahler, kalter, nüchterner Raum, nicht ganz unterirdisch wie die Häuser der Menschen, sondern zur Hälfte die Erdoberfläche überragend, so daß er Tageslicht aus hellgrünen Rundfenstern erhielt. Bei uns würde man sagen: Die Kapelle lag tief unterhalb des Straßenniveaus. Da es aber in der Panopolis keine Straßen gab, sondern nur den graugräsigen Universalrasen, würde ein solcher Ausdruck ohne Sinn bleiben. Daß der kahle Raum eine katholische Kirche war, dafür zeugte inmitten aller Nüchternheit der Hochaltar, der durch die Jahrzehntausende seine Form streng bewahrt hatte und von einer hohen, goldstrahligen Monstranz gekrönt war. Daß es sich hier nur um eine große Kapelle, und zwar um die Privatkapelle des Großbischofs handelte, dafür spricht nichts anderes als mein erster persönlicher Eindruck. Mag sein, daß die Metropolitan-Kathedrale des Kirchenfürsten ebenso ungeschmückt war wie seine Privatkapelle, jedenfalls ich, in einer barocken Umgebung aufgewachsen, konnte mich schwer an die völlige Bildlosigkeit dieser mentalen Kirche gewöhnen. Heute, das heißt heute, da ich diese Zeilen aufs Papier werfe, neige ich zur Annahme, der Klerus habe in seiner dogmatischen Verteidigung der göttlichen Ebenbildlichkeit des Menschen lieber auf jederlei Bildwerk verzichtet, als eine »abstrakte« oder gar »analytische« Kunst, wie sie wieder einmal blühte, über die Kirchenschwelle zu lassen.

Der architektonisch symbolische Grundriß der Kreuzesform war derselbe geblieben wie zur Zeit der romanischen, gotischen und barocken Kirchen. Was mich fremdartig berührte, war das Fehlen jeglichen Kirchengestühls, das den Andächtigen hätte Platz bieten können, der Messe kniend beizuwohnen. Das mäßig große Schiff dieser Bischofskirche erstreckte sich als ein leerer Raum, der in der Mitte etwa durch ein hohes, prächtig ornamental gearbeitetes Gitter aus dunkel altsilbrigem Metall in zwei Abschnitte geteilt war. Den Sinn dieser Teilung verstand ich noch nicht. Ich mußte aber an das Zeitalter der primitiven Kirche denken, wo die christlichen Gemeinden zum Teil aus den schon Getauften bestanden und zum Teil aus den Katechumenen, die zur Aufnahme in Christum vorbereitet wurden, aber noch Heiden waren. Beide Teile, Getaufte und Katechumenen, nahmen in einem ähnlich wie hier durch eine Scheidewand getrennten Raume am Gottesdienst teil.

Von meinem kleinen Kuttenmann geführt, näherte ich mich dem Gitter, in dem eine schmale eigene Pforte offen stand. Ehe ich diese aber noch erreicht hatte, fühlte ich mich sanft zurückgehalten. Und jetzt fiel es wie Schuppen von meinen astigmatischen Augen. Der erhöhte Podest, auf dem der Altar sich erhob, war nicht leer, wie mir's beim Eintritt vorgekommen war. In den Chorbänken zu beiden Seiten des Allerheiligsten saßen schwarze Patres, die zweifellos zu demselben Orden gehörten wie der Laienbruder, der meinen Freitanz mit Lala unterbrochen, das Fest der Bräute gestört und mich auf Befehl des Großbischofs hierhergeführt hatte. Ich habe gesagt, die Mönche saßen. Dies ist weder ein Lapsus memoriae noch ein Lapsus calami. Ich schreibe es nicht nieder aus Vergeßlichkeit oder Irrtum. Ich habe jene Väter wirklich sitzen gesehn. Die Priester der christkatholischen Kirche, welche alle Zeitalter überdauert hatte, nahmen keinen Anstoß an der gebrochenen Linie, wie es die Affektation der mentalen Manier vorschrieb. Inmitten der Mönche thronte auf seinem erhöhten Herrschersitz der Großbischof in zartgrünen Meßgewändern, die sich nicht von jenen unterschieden, die ich kannte. Sein Antlitz leuchtete groß, deutlich und regungslos im nüchternen Tag dieser Kirche. Es war ein glattes, aber ein altes Antlitz, und der Anblick dieses edel einbekannten Alters erfüllte mich mit sonderbarer Befriedigung. Der kleinen Gitterpforte, vor der ich stand, hatten sich jetzt drei der Väter genähert. Ihre Gestalten waren viel größer als die der durchschnittlichen Zeitgenossen, jedoch überaus schmal. Sie erreichten fast die Größe des Arbeiters, bildeten aber sonst den schärfsten Gegensatz zu dieser Gestalt. Der in der Mitte schritt, war der größte von den dreien und auch der älteste, obwohl durchaus nicht alt. Schmälere, vergeistigtere Gesichter, so scheint es mir jetzt, habe ich nie gesehen. An den Gesichtern der Geistlichen konnte man den Hochgrad der Asketik ablesen, welchen das heiligmäßige Leben in der so anders gearteten astromentalen Welt erreicht hatte. Die beiden jüngeren Mönche, rechts und links von dem, der die größte Gestalt und die asketisch feinsten Züge besaß, hielten jeder eine brennende Kerze in der Hand. Ich war aber viel zu sonderbar erregt, um diesen brennenden Kerzen dieselbe freundschaftliche Empfindsamkeit schenken zu können wie sonst allem Altvertrauten, das sich ins Elfte Weltengroßjahr der Jungfrau verirrt hatte. Der älteste von den drei Priestern, der die Stola trug, hatte auf seiner linken Handfläche ein winziges Büchlein liegen, nicht größer als eine Briefmarke, doch in seiner Rechten trug er den Weihwassersprenger. Er sah mich aufmerksam und traurig durchdringend an, bevor er ziemlich leise das Gloria hallen ließ:

»Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto.«

Nachdem er sich feierlich selbst bekreuzt hatte, wandte er sich mit gewöhnlicher und höflicher Stimme an mich:

»Wenn es möglich ist, so bitte ich, sich zu bekreuzen.«

Ich schlug gehorsam ein Kreuz, obwohl ich mich über die Form der Aufforderung sehr wunderte. Warum sollte es mir unmöglich sein, mich zu bekreuzen? Der Mönch beobachtete aufmerksam prüfend, wie ich Stirn, Brust und beide Schultern mit meinem rechten Zeigefinger berührte. Es schien ihm einiges Staunen zu verursachen, daß die Gebärde gelang, ohne mißliche Folgen für mich zu haben. Vom Hochsitz des Bischofs her erklang ein langgezogenes »Oremus«.

Diesem folgte leises Gebetstönen.

»In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti«, begann der Sprecher von neuem, und dann fragte er in solenn liturgischem Tonfall mich ins Gesicht: »Quis tu es? – Wer bist du?«

Ich antwortete laut und deutlich, wie ich so oft im Leben auf diese inquisitorische, wenn auch weniger liturgisch stilisierte Frage geantwortet hatte, in Schulzimmern, in Kasernzimmern, in Amtszimmern, in Polizeistuben, auf Zeugenbänken, auf Konsulaten und Grenzübertrittsstellen, wenn mich ein Land verjagt hatte und das andere keine Eile zeigte, mich aufzunehmen. Die beiden jüngern Mönche traten langsam durch die Gitterpforte auf mich zu, flankierten mich und näherten von rechts und links die brennenden Kerzen meinem Gesicht, so daß es deutlicher gesehn werden konnte, wodurch aber meine eigene Erregung wuchs. Der amtierende Priester stand jetzt inmitten der Gitterpforte, die er oben mit seinem Kopf berührte, nicht mehr als drei Schritte von mir entfernt.

»Quounde venis? – Von wannen kommst du?« fragte er, während er diesmal seinen Kopf gebeugt hielt.

Obwohl ich mich durch nichts verhalten fühlte, Rede und Antwort zu stehn, und einen wachsenden Ärger über dieses unerwartete geistliche Gericht empfand, das mich um den Freitanz mit Lala im Parke des Arbeiters gebracht hatte, war es mir doch ganz und gar unmöglich zu schweigen, was ich mir einen Augenblick lang vorgenommen, und ich entgegnete nicht nur wahrheitsgemäß, sondern auch ausführlich:

»Ich erschien am gestrigen Nachmittage, etwa um die vierte Stunde in dieser Welt. Ich habe keine Erinnerung und keine Ahnung, auf welche Weise es geschah, daß ich erschien. Es könnte am ehesten sein, daß ich aus irgendeinem dunkeln mittelalterlichen Torgang herausgetreten bin, in somnolentem Zustand einen mehr oder weniger langen Weg zurückgelegt habe, um schließlich irgendwo auf dem mir völlig ungewohnten eisengrauen Rasen meinem alten Freunde B.H. zu begegnen, den ich sofort erkannte, und der mich sofort erkannte, obwohl ich mindestens eine halbe Stunde lang unsichtbar gewesen bin, und zwar auch für mich selbst. Das ist die volle Wahrheit, auf die ich jeden Eid leisten kann. Über das ›Wie‹ dieser technisch hochentwickelten Nekromantie, deren Opfer ich bin, werden mir die hochwürdigen Patres zweifellos eher Auskunft geben können als ich ihnen ...«

In meinen Worten muß irgendein ironisch bitterer, ja frecher Trotz mitgeschwungen haben. Das merkte ich dem Schweigen der geistlichen Versammlung an. Die Köpfe schienen sich tiefer zu senken, als wäre die Hoffnung im Schwinden, daß diese Geschichte erfreulich ausgehen könne. In dem versunkenen Schweigen rundum schritt der Priester, der mich verhört hatte, zum Hochaltar zurück, vor dem er sich niederwarf, um in dieser Prostration lange zu verharren. Wiederum erschallte das langgezogene »Oremus« und darauf das gregorianische Gebetstönen:

»Deus coeli, Deus terrae, Deus Angelorum,
Deus Archangelorum, Deus Prophetarum,
Deus Apostolorum, Deus Martyrum, Deus
Virginum, Deus, qui potestatem habes
donare vitam post mortem.
Humiliter majestati gloriae
tuae supplicamus, ut famulum tuum
de immundis spiritibus liberare digneris.
Per Christum Dominum nostrum.«

Als das Gebet beendet war, erhob sich der Sprecher, schritt langsam auf mich zu, blieb dicht an der Gittertür stehn und rief mich an, – ich will nicht sagen, schrie mich an – mit lauter, mahnender Stimme, jede einzelne Silbe staccato akzentuierend, als müsse er sich nicht allein mir verständlich machen, sondern mehr noch dem Wesen, das sich in mir versteckte:

»Im Namen des Vaters, des Sohnes, des Heiligen Geistes! Wenn du dem Dämon angehörst, dem Verdreher von Anfang an, dem Verderber des Menschengeschlechtes, wenn in dir ein Geist steckt vom bösen Geiste, so befehle ich ihm im Namen Jesu Christi unseres Herrn: Hebe dich hinweg, fahr aus, zeuch von hinnen, fleuch von dannen, damit der, in den du dich kleidest, wieder werde, was er nach Gottes Willen war: Discede seductor! Cede, cede Deo! Exi scelerate!«

Ich versichere dem erstaunten Leser, dem dergleichen, was hier geschieht, das erste Mal unter die Augen kommt, daß es selbst für den aufgeklärtesten und liberalsten Menschen keine Kleinigkeit ist, so mir nichts dir nichts wie ich, zum Objekt eines Exorzismus, einer Teufelsaustreibung zu werden. Ich war mir meiner Unschuld so ziemlich bewußt. Doch was bedeutet Unschuld? Und was heißt Bewußtsein? Weiß die Seele so genau, ob sie auf Seiten des Guten oder auf Seiten des Bösen eingereiht ist? Jedermann, auch der Teufel selbst, hegt und hätschelt in sich das aufrichtige Gefühl, daß genau dort wo er steht, das Gute sich befinde oder zumindest die gerechte Sache, welche für den Bösen ja das einzig begreiflich Gute ist. Das Selbstbewußtsein kann sich ebensowenig für ganz und gar nichtswürdig verwerfen, als der Lebenswille sich ganz und gar negieren kann. Das heißt, der Lebenswille kann sich einzig und allein negieren im Akt der Selbstaufhebung, des Selbstmords. Und ebenso kann das Selbstbewußtsein sich einzig und allein negieren im dauernden Reueakt der büßenden Heiligung, wodurch es aber, was dieses Wort schon verrät, aufhört, der Ausdruck des Bösen zu sein. Im allgemeinen jedoch deckt sich das Selbstbewußtsein im hohen Maße mit dem Selbsterbarmen. Selbsterbarmen hat einen vortrefflich pikanten Geschmack, wie alles, was sauersüß schmeckt. Das Selbsterbarmen freilich war erst eine viel spätere Reaktion in mir. Im Anfang glaubte ich, der Boden werfe sich unter meinen Füßen wie brennender Pappendeckel. Es rann mir kalt den Rücken herab. Das freischweifende Schuld-Innewerden in mir begann zu vibrieren, und die Möglichkeit, daß ich Geist vom bösen Geiste bin, schien von Augenblick zu Augenblick deutlichere Gewißheit zu sein. Ich erwartete, daß ich mitsamt meinem Frack, dem goldenen Orden, der lila Handgelenkschleife und meinem guten alten atmenden Körper zu Boden schrumpfen und mich in einen Haufen ekelhaft rötlichbrauner Würmer verwandeln werde. Ich sah den Pater Exorzisten ebenso gespannt an wie er mich. Die dunkle Frage: Was wird geschehen, konnte nicht einmal er aus seinen disziplinierten Augen bannen. Es geschah nichts. Ich blieb ruhig stehn, zweifellos mit äußerst erschrockenem und verdutztem Gesichtsausdruck. In diesem Augenblick fühlte ich, daß mich vier Tropfen des geweihten Wassers, genau als Endpunkte des Kreuzes, auf Stirn, Wangen und Mund getroffen hatten. Sie waren doppelt dazu bestimmt, sowohl die Standhaftigkeit des Bösen in mir zu schwächen, als auch die Standhaftigkeit des Guten in mir zu stärken. Der Pater Exorzist, der eine Zeitlang die Erfolglosigkeit seines ersten Ansturms gegen den in mir verkörperten Dämon abgewartet hatte, hob von neuem mit der Anrufung des dreieinigen Gottes an, worauf er ins Detail der Beschwörung ging, und zwar genau wie folgt:

»Wenn du bist aus der Jüngerschaft des Simon Magus, wenn du dich zählst zu Basilides, der da verkündet die Herrschaft Archons, des ersten Engels im untersten Geisterreich, wenn du dem Valentinus hörig bist, welcher predigt, diese Welt sei bloß abbildlich und nicht wirklich, weil vom Demiurgen erschaffen, wenn du dem Marcion Beifall zollst, nach dem der Schöpfer nur Gerechtigkeit kennt, nicht aber Liebe, wenn du es mit den Ophiten treibst, welche den Sohn Ialdabaots und der Sophia in der Hausschlange verehren, die sich um die heilige Hostie ringelt und ihr Gift auf den eucharistischen Herrn träufelt, wenn du mit den entfesselten Horden gezogen bist und weiterziehst, der Kainiten, Sethiten, Adamiten und der Manichäer, die da an zwei Götter glauben, einen ormuzdisch hellen und einen arimanisch dunklen, und wenn du ihren verfluchten Nachfolgern zujubelst, den Priscillianern, den Paulicianern, den Bogomilen in den Gebirgstälern des Hämus, den Messalianern, den Eucheten, den Neo-Enthusiasten, den Borboriten, die sich selbst die Schmutzigen nennen, weil sie ihren Samen auf das Himmelsbrot vergießen, wenn dein Weg war und ist der Weg der unzüchtigen Nikolaiten, der Carpokratianer, der Montanisten, der Valesier, die sich selbst verstümmeln, der Patricianer und Circumcellionen, die in pessimistischer Tollwut nicht nur sich, sondern auch andre verstümmeln, und wenn du gar Gemeinschaft hieltest mit den Katharrern, die sich, stinkend vor Hochmut, die Reinen nennen, obwohl ihr wahrer Name von Catto, dem Höllenkater, stammt, dem sie anbetend die Rückseite küssen – dann hebe dich hinweg, fahr aus, fleuch von hinnen, zeuch von dannen, discede seductor! Cede, cede Domino, demore! Exi scelerate! ...« und so weiter.

Ich wurde gefaßter und ruhiger von Wort zu Wort, von Namen zu Namen, der an mein Ohr schlug. Schnell verschwand auch das pikante Selbsterbarmen, das sauersüße, das mich wegen meines ungeheuerlichen Schicksals ergriffen hatte, erst nämlich aus dem Todesschlaf zitiert und dann auch noch exorziert zu werden. Mein Sündenbewußtsein und mein Sündenregister war freilich anderer, subtilerer und persönlicherer Art als dieses, welches in einer Aufzählung der gnostischen und postgnostischen Häresien bestand, die in einer seltsamen Vermischung der frühkirchlichen Theologie mit neuplatonischen Philosophemen ihren Ursprung hatten. War es aber ein Zufall, daß der Pater Exorzist den bösen Geist, den er in mir vermutete, mit diesen verschollenen Irrlehren in Verbindung brachte? Nein, es konnte kein Zufall sein. Was war es nur damit? Da, jetzt ging es mir auf. In den letzten Tagen und Nächten vor meinem Einschlafen hatte ich ein sehr altes vergilbtes Werk über die Gnostiker mit größter Spannung gelesen. Ich hätte zum Beispiel dem Pater Exorzisten auf die Frage: »Wenn du dem Valentinus hörig bist«, aufrichtig und warmherzig erwidern müssen: »Hörig bin ich dem Valentinus nicht, hochwürdiger Herr. Von Ihrem entfernten Standpunkt aus scheint Ihnen sein und mein Zeitalter zusammenzufallen, aber das ist nichts als falsche Perspektive. Unter meinen Zeitgenossen kannten nur einige gelehrte Theologen und Spezialforscher seinen Namen. Das schließt aber nicht aus, daß ich in jenem alten Buch, auf seine ganz und gar vergessene Lehre stoßend, seltsam ergriffen war von diesem edlen, abgründigen und hochpoetischen Geist. Verwunderlich, hochwürdiger Herr, ist es nur, daß Sie von dieser meiner flüchtigen Ergriffenheit der letzten Tage meines Lebens gewußt haben und darauf Ihren Versuch bauten, den Bösen in mir zu beschwören. Ich kann Ihnen aber versichern, daß mein Interesse an den Gnostikern und an Valentinus rein akademischer Natur war, und daß wir es in der Ketzerei unendlich viel weiter gebracht haben als die Katharrer mit ihrem armseligen Catto, dem Höllenkater, den sie auf den Hintern küßten.« Natürlich sagte ich keines von diesen naseweisen Worten, sondern stand stramm wie ein Soldat beim Rapport. Wie sehr ich den Pater Exorzist aber unterschätzt hatte, sollte ich sogleich erfahren. Sein Wissen war ganz und gar grenzenlos, und welchem Jahrzehnt des letzten Jahrhunderttausends ich immer angehört haben mochte, er wäre nicht verlegen geworden in der Geschichte der Ketzerei. Nur selten warf er einen Blick in das winzige Büchlein, das aufgeschlagen auf seiner flachen Hand lag. Schlag auf Schlag erklangen die Namen der Häretiker und Häresien, mit denen ich, oder der beschworene Dämon in mir, gemeinsame Sache gemacht haben mochte. Obwohl nicht ganz unerfahren in diesem historischen Stoff, waren mir, der ich ihnen doch so viel näher stand als der Pater Exorzist, viele der zitierten Namen fremd. Als zum Beispiel ein hypothetischer Konditionalsatz mir die Mitgliedschaft einer Sekte zumutete, die am Ende des zwölften Jahrhunderts nichts Vernünftigeres zu tun hatte, als nächtens Unzucht mit der Herodias zu treiben, konnte ich nicht umhin, den Kopf zu schütteln, und als wir schließlich bei den Waldensern und ihren Schwarzen Messen angelangt waren, bekam ich fast einen Schwindelanfall. Zwei Minuten lang fürchtete ich, daß ich wirklich zu den Waldensern gezählt haben könnte, und daß nun die göttliche Rache dreinfahren werde. Aber Schwindel und Kopfschmerz blieben unverändert, und somit auch ich selbst. Ich schloß die Augen und hörte eine Zeitlang weg, um Kraft zu gewinnen, diesen gründlichen Exorzismus zu überstehn. Nach einer längeren Geistesabwesenheit weckten mich neue und vertrautere Namen. Ich erkannte, wie weit wir, das heißt der Beschwörer und der Beschworene, in der Geschichte der Häresien vorgedrungen waren, und daß ich kaum mehr fürchten mußte, ein böser Geist zu sein, da ich selbst mit einigen der unerbittlich aufmarschierenden Irrlehren im Kampf gestanden hatte:

»... gehörst du«, hallte es groß und eintönig in mein Ohr, »zu Voltaire und zu den andern, welche unter dem Worte ›menschliche Gerechtigkeit‹ die teuflische Überhebung ihres eigenen Stolzes an die Stelle Gottes setzen und nicht wissen, daß Gerechtigkeit ohne Gnade das Feuer der Hölle selbst ist, – bist du durchdrungen von den Lehren Immanuel Kants und seiner philosophischen Nachfolger, welche die geschöpfliche Vernunft mit der göttlichen Vernunft verwechseln und darum behaupten, ihre Philosophie und Wissenschaft sei voraussetzungslos kritisch, – ziehst du mit den wilden Heeren Saint Simons, Proudhons, Karl Marxens, Friedrich Engels' und Wladimir Iljitsch Lenins, welche erfunden haben den häßlichsten Menschenhaß unter dem Vorwand wissenschaftlich eisgekühlter Menschenliebe, sie, die mit dem verräterischen und grauenhaften Worte ›Masse‹ beschimpfen die zur Erlösung und Gottesschau bestimmten Seelen und das Volk der Armen und Gefangenen dadurch befreien, daß sie es in einen noch tieferen und kälteren Kerker stoßen, dessen Tyrannen und Schließer freilich sie selbst sind, – schlägst du dich zum volkreichen Stamme derer, die Darwin, Huxley und Haeckel nachfolgen, zum Stamm der Naturschwärmer, den man einteilt in die ›Sandalenträger‹ und in die ›Galoschenträger‹, zu jenen, die die göttlichen Tiefen der Natur mit einer Lotterie verwechseln, in welcher immer nur ›der Stärkere‹ das Los des Überlebens zieht, – findest du dich zusammen nächtlicherweile mit Okkultisten, Salonbuddhisten und Theosophen, welche im unreinen Mischtopf die heiligsten Geheimnisse mit ihrem eigenen Aberwitz zusammenbrauen, – findest du dich zusammen täglicherweile mit Siegmund Freud und seinen Psychoanalytikern, die, in die weißen Kittel von Ärzten verkleidet, die Abgöttin des Geschlechtskitzels Libido, welche nichts ist als die alte Astaroth, zur Beherrscherin des Herrschers machen, des Logos, – hängst du an den Philosophen, die sich Positivisten nennen, weil sie von nichts als vom großen Negativum überzeugt sind, an Auguste Comte und Spencer, an dem Verneiner Gottes aus Wehleidigkeit, Schopenhauer, und an dem Aufrührer Nietzsche, der von Anfang zum Ende, er reiße und tobe wie er wolle, ans Kreuz des Gekreuzigten mit Eisenketten geschmiedet ist, weshalb er genannt sei der Kettenhund Christi, der die Gläubigen verbellt, – betest du gar zu jenem Stefan George, und sein Name stehe für alle von Herrschsucht berstenden Kalligraphen, die anstatt in Sack und Asche, mit stark geschweiften Röcken, gebauschten Krawatten und falschen Danteköpfen einherwandeln und ihre Schultern und Hüften drehn, wobei sie einen kranken Lustknaben öffentlich zum Heiland machen und die blecherne Geistesarmut in kostbaren Gefäßen umherreichen, während die von ihnen Verführten dem rohesten und blutigsten aller Teufel schließlich ins Garn gehn, – und trittst du an die Seite Reinhold Ebermann Kotitzkys, des Orthobiotikers, der nach all diesen kam und predigte, das Leben sei des Lebens einziger Grund, und das Paradies liege im harmonischen Stoffwechsel ...«

Hier konnte ich mich nicht länger beherrschen. Ich hob abwehrend die Hände hoch, trat zwischen den beiden Kerzenträgern vor und unterbrach den Pater Exorzist mit starker Stimme:

»Sie brauchen sich nicht weiter zu bemühen, Hochwürden. Nein, nein und immer wieder nein ist meine Antwort. Was aber Reinhold Ebermann Kotitzky, den großen Orthobiotiker, anbelangt, so kam er nicht nur nach Stefan George, sondern auch nach mir. Ich kenne weder seinen Namen noch seine Ketzerei. Für die vergangene Zukunft darf man nicht einmal mich in meiner Hilflosigkeit verantwortlich machen.«

»Oremus«, klang es jetzt langgezogen vom Bischofsstuhl, und ein stärkeres und ausführlicheres Chorgetön erfolgte. Ich aber bebte vor Unmut, so daß mir die Tränen in die Augen traten, und ich den Pater Exorzist mit seinen Gehilfen nicht mehr sehen konnte. Erst als der Großbischof im milden Grün mich tröstend in seine Arme schloß, begann ich mich langsam zu beruhigen.

»Euer Lordschaft«, brachte ich hervor, noch immer um Fassung kämpfend, »ich habe nichts dagegen, daß man mich für einen potentiellen bösen Geist hält – jeder Mensch, der etwas Geist hat, ist ein potentieller böser Geist. Was aber hat meine schwere Sündigkeit, mein täglicher Abfall von Gott, meine Untreue gegen die Menschen, meine Übertretung der Gebote mit dieser verdammten Geschichte der Häresien zu tun, in der ich soeben eine allzulange Lektion erhielt?«

»Mein lieber Sohn«, erwiderte der Großbischof mit Sanftmut, »als Sie gestern abend das Geodrom betraten, hat die weltliche Behörde, wie es der Brauch will, Ihren Seeleninhalt geprüft« (es klang genau wie ›Mageninhalt‹). »Dabei stieß man auf die Namen von Basilides, Valentinus und andrer Irrlehrer ... Sie müssen bedenken, Ihre Existenz in dieser Welt ist, gelinde gesagt, sehr ungewöhnlich ...«

»Basilides, Valentinus, es war meine letzte Lektüre im Leben, weiter nichts«, versetzte ich heftig und drohte wieder meine Ruhe zu verlieren. »Ist das die Heiligkeit des Privatlebens im mentalen Zeitalter? Und erkennt die Kirche den Kakodämon heute an nichts Charakteristischerem als an absurden und verschollenen Irrtümern?«

»Es gibt nichts Charakteristischeres, mein Sohn«, sagte der Großbischof ziemlich leise, »denn der Irrtum entspringt dem Bösen wie das Böse dem Irrtum.«

 

»Und dazu kommt noch eines«, murmelte der Bischof, indem er die beiden Türen seiner Bibliothek, in die er mich geführt hatte, vorsichtig verschloß, »ja, ja, noch eines, mein Herr und Freund. Unser Pater Diözesanexorzist ist, was Ihnen nicht unbekannt blieb, ein gewaltiger Gelehrter. Er hat Anstoß daran genommen, daß man Sie allgemein mit dem Titel Seigneur anredet.«

»Ich habe mir diesen Titel nicht ausgesucht, Euer Lordschaft«, entgegnete ich ziemlich ärgerlich. »Ich war selbst erstaunt und nicht gerade angenehm berührt davon, als man mich gestern zum erstenmal mit ihm beehrte. Ich weiß sehr wohl, daß der Titel Monseigneur nur einem Prälaten der römischen Kirche zukommt und nicht einer armen Seele, wie ich es bin ...«

»Das ist es nicht, mein lieber Sohn«, unterbrach mich der Bischof mit einer Handbewegung gegen die Wände des Raums. »Es gibt aber ein Werkchen in meinem Sephirodrom, dessen Original etwa zu Ihren Lebzeiten erschienen sein dürfte, so zwischen Vierzehnhundert und Fünfzehnhundert post Christum incarnatum. Das Büchlein betitelt sich ›Fortalitium Fidei‹, und der Verfasser, Alphonse de Spina, schildert in dem Kapitel ›Täuschung der Weiber durch den Dämon‹ den Greueldienst, den man damals mit dem großen Bock, Elboche de Bitche, in finstern Neumondnächten trieb, wobei man ihn ›Seigneur‹ oder ›Monsignore‹ nannte.«

Ich brach in lautes und unziemendes Gelächter aus, in das, nach einer erstaunten Weile, der Kirchenfürst gutmütig einstimmte:

»Nun Sie haben wirklich nichts vom Elboche de Bitche oder einem andern dämonischen Tier an sich«, sagte er endlich, »das haben wir schnell erkannt; es sei denn, daß Ihr schwarzer Rock mit seinem schwanzartigen Ende anfangs unsern Verdacht erregt hat. Im übrigen: alle guten Geister loben Gott. Ich heiße Sie willkommen, mein lieber Sohn.«

Der Großbischof holte aus einem Wandschränkchen, nicht ohne Zärtlichkeit, eine Karaffe, in der zweifellos goldener Wein schimmerte, und einen Korb mit flachem, weißem Fladenbrot.

»Sie werden dergleichen nirgends anders vorgesetzt bekommen«, lächelte er und stellte die Gottesgaben auf einen niedrigen Tisch. Er hatte recht. Wein und Weizen wurden nur noch auf den episkopalen Plantagen gezogen. Ein Teil der Frucht wurde zur Konsekration bestimmt, der andre unter den Klerus verteilt.

Ich nippte vom Wein, der feuriger war als jeder weiße Burgunder, den ich kannte, ich aß vom Brote, denn ach, in mir war ein sehr großes Verlangen nach Wein und Brot, wie nach allen Gütern, die meiner eigenen Zeit angehörten. (Ich versuchte gar nicht, meinen geistlichen Wirt darüber aufzuklären, daß ich nicht dem vierzehnten bis fünfzehnten, sondern dem zwanzigsten Jahrhundert angehörte, hatte doch selbst der hochgelahrte Pater Exorzist mich kläglich falsch lokalisiert, das heißt temporisiert.) Auch daß der Bischof und ich inmitten des Sephirodroms auf Lehnstühlen saßen, ohne dadurch als unmanierlich aufzufallen, war eine große Bequemlichkeit, die ich bewußt genoß. Mehr als alles andere aber erfreute mich die Umgebung von Büchern, von Geisteswerken, eine gewiß feingesiebte literarische Auswahl der vergangenen Jahrtausende und Jahrzehntausende, die dieser Raum in Schränken, Behältern, Regalen und Körben beherbergte. – »Das ist aber sehr sonderbar, was Sie mir da zu glauben zumuten«, hält der scharfsinnige Leser, der mit gutem Recht auf meine Finger sieht, mir hier entgegen: »Die gesamte Weltliteratur seit mehr als hunderttausend Jahren soll in der Privatbibliothek eines Prälaten Platz finden, worunter sich auch noch solche ausgefallenen Raritäten wie jenes Fortalitium Fidei befindet? Alle Achtung vor dem Elften Weltengroßjahr der Jungfrau. Solche Dinge werden Sie mir aber nicht einreden!« – Darauf habe ich wahrheitsgemäß zu antworten: Es gab zwar eine Handvoll uralter Originalausgaben in dieser Bibliothek, in denen auch mein und das Auge des Lesers Bücher erkannt hätte. Freilich, keine dieser antiken Originalausgaben war viel älter als fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Jahre. Dies war ungefähr die Grenze der Haltbarkeit des allerbesten Materials, in welchem sich der schriftlich festgehaltene Geist zu verewigen meint. Die meisten Werke für die gebildete Leserwelt, ich meine natürlich die relativ modernen Ausgaben, waren in einer mir unbegreiflichen Imaginotypie publiziert, in winzigen Bändchen (briefmarkengroß) oder auf schmalen Röllchen (wie Mikrofilmstreifen), alles in einer Bilderschrift der Zusammenfassungen und Auslassungen, die so viel Raum ersparte, daß zum Beispiel ein ganzes Kapitel der Bibel in einem einzigen, dem Arabischen ähnelnden, vielverschlungenen Liniengebilde enthalten war. Die moderne Imaginotypie oder Fulgurotypie (Blitzschrift) beruhte auf der beinahe ins Übermenschliche entwickelten Fähigkeit des mentalen Intellekts, sich Vorstellungsreihen zu eigen zu machen, indem man sie übersprang. Nur die allabendliche Zeitung der zusammenhüpfenden Sterne erschien in einer demotisch extensiven Schrift, so daß nicht nur das einfältigste Zeitkind, sondern selbst ich sie zu lesen imstande war. Vor des Großbischofs Büchlein und Röllchen hingegen erwies ich mich als dunkelster Analphabet, was ich ihm auch sofort eingestand.

»Dafür beherrschen Sie das Griechische, Lateinische und Hebräische«, überschätzte seine Gnaden meine Fähigkeiten, »was so manche unter unsern gelehrten Klerikern nur vorgeben, zu verstehn«, und er fügte mit einem Blick nach der Tür hinzu: »Den hochwürdigen Pater Exorzist nehme ich selbstverständlich aus.«

Des Kirchenfürsten volles aber schönes Greisengesicht (es war trotz mentalen Jugendanscheins ein echtes Greisengesicht), sank nachdenklich auf die Brust. Ich fühlte, daß er mit sich kämpfte:

»Sie werden, mein lieber Sohn, gewiß einige Fragen an mich zu stellen haben«, begann er nach einem längeren und unentschlossenen Schweigen.

»Wenn ich Eure Lordschaft damit nicht belästige«, nahm ich den Faden auf.

»Nachher, nachher«, winkte er ab. »Zuerst habe ich eine Frage an Sie zu richten, ja ich an Sie. Ich weiß, daß ich mit dieser Frage die Grenzen meiner Befugnisse beinahe überschreite und etwas zur Kenntnis nehme, was ich als Bischof keinesfalls zur Kenntnis nehmen dürfte. Doch schließlich, Sie sitzen vor mir in Fleisch und Blut. Und ich bin nicht nur der Hirte meiner zahlreichen Ovetten, sondern ... sondern ... wie haben Sie doch vorhin von sich selbst gesagt, mein lieber Sohn? ... eine arme Seele ... Ja, das bin ich, und ich darf mich auch so nennen. Sie aber, mein Kind, obwohl dem Anschein nach viel jünger, Sie sind eine arme Seele von weit mehr Erfahrung als ich ... das heißt ...«

Und nun senkte er seine Stimme zu einem Hauch, und es dünkte mir, er wolle die folgenden Worte vor den Ohren des allhörenden Pater Exorzist verbergen:

»Beantworten Sie mir bitte diese Frage, mein Kind ... Wie ist es, wenn man tot ist?«

Ich schwieg betroffen. Auch der Großbischof zeigte sich bestürzt und begann, seine Stirn verlegen zu reiben:

»Ich habe mich ein wenig unpassend ausgedrückt, mein Kind, ich weiß es«, stotterte er. »Der Glaube belehrt uns in den Lehrsätzen der Eschatologie klipp und klar über das Schicksal, welches unsre armen Seelen zu gewärtigen haben, wenn Gott ihnen die Bürde des Leibes abgenommen hat. Fern sei es von mir, an den ewigen Wahrheiten der letzten Dinge zu deuteln oder mit verwerflicher Neugier enträtseln zu wollen, was der Herr in gnädiger Weisheit dem sterblichen Bewußtsein entzieht. Immerhin aber geschieht es selbst in unserem schamlos sündigen Zeitalter nicht alle Tage, daß jemand erscheint, der drüben schon zu Hause war ...« Er seufzte schwer auf und fügte dann sorgenvoll hinzu: »Sie wissen wahrscheinlich noch nicht, mein Freund, daß die zentrale Sünde meiner Zeitgenossen in tiefem Zusammenhang mit dieser Frage steht, die ich soeben an Sie gerichtet habe ...«

»Euer Lordschaft, ich will versuchen, eine Antwort auf Ihre Frage zu finden«, entgegnete ich bereitwillig, »obwohl ich selbst noch keine Zeit hatte, mir die Tatsachen meines Einschlafens und Wiedererwachens und dessen, was dazwischen liegt, klar ins Gedächtnis zu rufen. Ich hatte nicht nur keine Zeit dazu, sondern eine gewisse Scheu hielt mich zurück, darüber nachzudenken, bis vielleicht auf gestern abend, wo ich mich im Kampfe ums Wachbleiben dieser Frage in unkontrollierten Assoziationen näherte ... Ja, es war eine große Scheu ...«

»Dann gehorchen Sie Ihrer Scheu«, sagte der Bischof, »und lassen Sie uns das Thema wechseln ...«

»Nein, nein, Señor Gran Obispo«, sagte ich voll Eifer, »einmal muß es doch geschehn, daß ich mit diesem Problem ins reine komme, und bei wem könnte ich mehr Vertrauen, Hilfe und Gnade finden als bei Euer Lordschaft ...«

Nach diesen Worten lehnte ich mich weit zurück, ließ unaufgefordert meine Schultern fallen, und es kam mir in den Sinn, wie merkwürdig es doch war, daß nicht nur ich dieses fremdartige Zeitalter erforschte, sondern letzteres vielleicht noch eindringlicher mich. Immer wieder stand ich vor derselben Schwierigkeit wie nach dem Festmahl in Io-Fagòrs Hause, wo ich darüber Bericht erstatten mußte, auf welche Weise unsereins einst die Zeit erlebt hatte. Und nun sollte ich gar vor diesem edlen und sanften Theologen und Kirchenfürsten über das Erlebnis, tot zu sein, Zeugnis ablegen, und zwar möglichst, ohne seine gläubigen Empfindungen zu verletzen. Das Merkwürdige war, daß ich in den ersten Minuten über den Zustand, tot zu sein, nicht nur nichts zu sagen wußte, sondern zu meinem Schrecken bemerkte, daß mein Geist wie gelähmt war. Aha, dachte ich, just relax. Nur kein Krampf. Man muß sich gehn und laufen lassen. Und dann stieg es langsam in mir zur Oberfläche, gleich den unterirdischen Flüssen des zerrissenen Karstgebirges:

»Vor allem, Euer Lordschaft«, begann ich meinen Versuch, »dort ist das Einschlafen und hier ist das Aufwachen. Was dazwischen liegt, ist jedenfalls nicht das Nichts. Soviel kann ich ohne jede Schwierigkeit sagen. Was dazwischenliegt, ist eine Dauer. Wenn ich aber auf diese Dauer zurückblicke, die sich faktisch über mehr als hunderttausend Jahre erstreckt, so muß ich nach aufrichtiger Selbstprüfung gestehn: diese hunderttausend Jahre haben nicht etwa, wie die Laienwelt es sich vorstellt, einen zeitlosen Augenblick lang gewährt, oder irgendeine Art von Ewigkeit; nein, in meiner subjektiven Empfindung betrug diese Dauer ungefähr fünf bis sechs Stunden ...«

Der Großbischof hob den Kopf, sah mich prüfend an, sagte aber nichts. Er hatte, im Gegensatz zu den milden Mondaugen des Geoarchonten, milde Sonnenaugen. Diese Augen gaben mir ein Zeichen, ich möge fortfahren:

»Leider ist jenes Einschlafen«, drang ich weiter in meinem Versuch vor, »jener Actus Moriendi in meinem gegenwärtigen Bewußtsein ebensosehr verwischt wie der Vorgang des Aufwachens, von dem ich dem hochwürdigen Pater Exorzist in der Kirche auf Treu und Glauben berichtet habe, was ich weiß. Etwas in mir mutmaßt, daß ich ungefähr an derselben geographischen Stelle wieder ins Leben getreten bin, an der ich es verließ. Wie ich es aber verließ, ob unter Qualen oder in sanfter Loslösung, ob in einsamem Kampf oder Hand in Hand mit der geliebten Frau, das ist mir vollständig entfallen. Vielleicht ist das letzte Gefühl, das der Welt galt und an das ich mich erinnere, die Bestürzung, daß ich Schmerz bereiten muß und daß ich eine staubbedeckte, in falscher Ordnung zusammengeschobene Unordnung zurücklasse. Zugleich aber war in diesem Gefühl der Bestürzung etwas eitel Angenehmes, als sei das, was nun an mir und mit mir geschieht, eine Art von persönlicher Heldentat, für die mir eine erhöhte Anerkennung von Seiten der Meinigen gebühre. Daran kann ich mich, oder glaube ich mich erinnern zu können. Was nun folgte, war ein Drama der Einsamkeit in mehreren Akten.«

»Da sind wir nun bei der Einsamkeit«, nickte der Bischof, als kenne er die Melodie, und plötzlich schwante mir, daß ich ihm da gar nichts Neues erzähle, sondern von ihm einer Prüfung unterzogen werde, und zwar einer weit feineren und raffinierteren als jener, der mich der hochgestrenge Pater Exorzist unterworfen hatte. Ich aber ließ mich nicht beirren, sondern bemühte mich weiter um die reine und wahre Deutung dessen, durch das ich gegangen war.

»Der Tod«, fuhr ich fort, »vor allem der Tod im ersten Stadium ist durchaus kein reines Nichtsein, was ich ja schon gemeldet habe, sondern nur ein Anschein von Nichtsein, wegen des Fehlens der Gegensätze. Es ist wahr, das Bewußtsein hört allmählich auf, es verkümmert, es verdorrt mit all seinen nervendurchfaserten Wurzeln, die tief unter der Oberfläche liegen. Doch auch dies ist nur ein Anschein, und zwar der scheinhafteste von allen, denn nicht das Bewußtsein verkümmert, sondern nur die Dualität im Bewußtsein, die Fülle des Dus im Ich, das reflektierende Vis-à-vis in der Existenz. Das Ego steht sich nicht mehr selbst gegenüber, wodurch allein es seiner innewerden kann, wie ein Menschengesicht seiner erst im Spiegel so recht innewird. Das Ich verschwindet in sich selbst, im Ich.«

»So ist es«, nickte der Großbischof und schloß die Augen, halb aus Befriedigung, halb aus Mißbilligung meiner abstrakten Ausdrucksweise.

»Wie aber kommt es zu diesem Verschwinden des Ego im Ego?« fragte ich mutiger mich selbst. »Mit dem natürlichen Leben werden der Seele die Bilder entzogen. Sie erhält keine Nahrung durch Bilder mehr. Psychologisch geschaut ist ja das Leben nichts anderes als eine ununterbrochene Bilderflucht, vom ersten Erwachen des Säuglings bis zum letzten Einschlafen des Moribunden. Der Tod als Erlebnis der Seele ist zuerst ein großes Bilderwelken. Alles, was noch kürzlich an uns vorüberflog, fällt nieder und ist nicht mehr. Wenn man zu meiner Zeit in einem stillstehenden Eisenbahnzug saß ... Mache ich mich mit solchen Parabeln verständlich, Euer Lordschaft?«

»Sie machen sich verständlich, mein Kind ... Fürchten Sie nichts.«

»Wenn man also im stillstehenden Eisenbahnzug saß, an dem ein anderer vorüberfuhr, so hatte man die täuschende Empfindung, jener stehe still und man selbst fahre. Diese Täuschung ist nun aufgehoben. Nichts fährt am Reinen Ich mehr vorüber. Nichts ist da, gegen das es sich abheben könnte. Wie der Geometer und Physiker uns lehrt, daß ein einzelner Punkt im Raum nicht errechnet werden kann ohne einen Bezugspunkt, so kann das Reine Ich sich nicht selbst erleben. Und damit tritt es in das zweite Stadium des Todes, welches das grenzenlose Alleinsein ohne jeden Bezugspunkt und ohne jeden Hintergrund genannt werden könnte.«

»Das grenzenlose Alleinsein«, wiederholte langsam der Bischof, indem er wahrhaftig wie ein wohlwollender Prüfer meine Darstellung kurz zusammenfaßte, um mich auf den richtigen Weg zu bringen:

»Wenn die Bilder an der Seele nicht mehr vorüberziehn, wenn mit ihnen alles verfinstert ist, zu dem die Seele du sagen könnte, und schließlich gar kein begrenztes Gegenüber mehr bleibt, durch welches sie ihrer selbst innewird, ja, was fängt sie da an, die arme Seele? ...«

»Ich verstehe Euer Lordschaft nicht recht«, zögerte ich.

»Ich habe gehofft, lieber Sohn«, versetzte der Großbischof, leicht beschattet, »Sie würden der ganzen Wahrheit Ausdruck verleihen können. Totsein heißt in der natürlichen Ordnung gewiß ein grenzenloses Alleinsein. Bedeutet aber in der übernatürlichen Ordnung dieses grenzenlose Alleinsein nicht ein grenzenloses Zuzweitsein? Denn gerade dadurch, daß die bewegten Spiele des zeitlichen Vis-à-vis versinken, jene Spiele, die das irdische Bewußtsein erst schaffen, indem sie es ablenken von seinem wahren Ziel, gerade dadurch, daß die schattengemusterte Mauer zwischen Seele und Sonne zusammenstürzt, wird diese geistige Sonne, das ewige Licht, der dreieinige Gott, selbst zum dauernden Gegenüber, zum Inbegriff des Dus, durch welches das Reine Ich sein neues schrankenloses, ekstatisches Bewußtsein erhält ...«

»Euer Lordschaft«, sagte ich tief betroffen, »hätte meine arme Seele dieses neue schrankenlose, ekstatische Bewußtsein gewonnen, so säße ich nicht hier. Ich kann nur in vollster Aufrichtigkeit von meiner persönlichen Todeserfahrung sprechen, ohne etwas hinzuzutun oder auszulassen, wozu ja bei solchen hochinteressanten Gegenständen die Versuchung nicht gering ist. Es ist nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, daß ich mich weder an die faktische Bewußtlosigkeit meiner armen Seele noch an ihr Zuzweitsein mit Gott erinnern, oder es zumindest nicht reproduzieren kann, denn beides entzieht sich sogar der Protoglossa. Ist es übrigens nicht eine notwendige Voraussetzung des Lebens, daß die Seele sich nicht an ihr Zuzweitsein mit Gott vor der Geburt und nach dem Tode erinnern kann? Ich halte es durchaus nicht für ausgeschlossen, daß meine arme Seele während der letzten hunderttausend Erdumläufe um die Sonne an einem Orte der Pein geweilt haben mag, eine Existenzart, für die es keinen Vergleich und deshalb auch kein Gedächtnis gibt. Was mir wirklich geschah in den wenigen Stunden, zu denen die hunderttausend Erdumläufe zusammenschmolzen, alles dessen ich mich objektiv entsinne, und was ich als Erlebnis des Todes in mir behalten habe, war ... Nun, der Gegenzug auf dem Nebengeleise war verschwunden, und nun setzte sich der eigene Zug, in dem ich selbst saß, in Bewegung, zum erstenmal. Wie soll ich's nur ausdrücken, Euer Lordschaft? Ich selbst war das unendlich Regungslose, das unendlich Apathische, das unendlich Ruhende, das von einem unbeschreiblich Bewegten voll Ziel, Intention, Energie, ja geradezu voll Räderlärm ins Weite gefahren wurde. Es war so, als würde erst der Tote, dem nicht mehr die geschäftige Aktivität seines Körpers, Blutkreislauf, Stoffwechsel, innere Sekretion, Atem die Sinne verdumpft, von der vibrierenden Aktivität des Planeten und des ganzen Kosmos getragen werden ...«

Bei diesen Worten – ich war noch lange nicht zu Ende – erhob sich brüsk der Großbischof, und sein mildes Antlitz war sehr ernst:

»Sie sind niemals tot gewesen, mein Herr«, und es klang beinahe verächtlich oder zumindest wie ein Vorwurf.

»Aber wie wäre es dann möglich ...« wandte ich ein. Eine müde Handbewegung brachte mich zum Schweigen:

»Sie haben in Ihrer Darstellung des Totseins ganz richtig begonnen. Dann aber haben Sie trotz hinreichendem Tiefsinn und mehr als hinreichender Wortgewandtheit einen Zustand beschrieben, der prämortal ist und bleibt ...«

»Ich habe in jedem Wort die Wahrheit gesprochen, Euer Lordschaft.«

»Sie haben zweifellos die Wahrheit gesprochen, lieber Sohn. Diese Wahrheit aber ist: Sie waren niemals tot.«

»Wie aber komme ich dann hierher, ins Elfte Weltengroßjahr der Jungfrau«, fragte ich ziemlich erstaunt, »in diese ferne mentale Epoche der Weltgeschichte, ohne vorher tot gewesen zu sein?«

»Das müssen Sie mit sich selbst ins reine bringen oder, besser, mit Ihren Freunden«, meinte der Großbischof.

Wir hatten uns wieder niedergesetzt. Ich trank langsam und den Duft genießend mein zweites Glas Wein aus:

»Ich trinke«, sagte ich nachdenklich, nachdem ich das Glas abgesetzt hatte, »ich trinke, folglich bin ich.«

»Diese Feststellung ist sehr berechtigt«, nickte der Großbischof, »aber auch ich trinke.«

»Was wollen Euer Lordschaft damit andeuten?« kam es mir mißtrauisch über die Lippen.

»Daß nur einer von uns beiden trinken kann, mein Kind.«

Und er beugte sein bleiches Haupt, das keine Mitra mehr trug, sondern ein hellgrünes Prälatenkäppchen, so weit vor, daß er mir ganz nahe kam; und dann fügte er hinzu:

»Ja, daß sogar nur einer von uns beiden träumen kann, er trinke, entweder Sie oder ich ...«

Eine Anwandlung von Wärme und Bewunderung für diesen Priester bewegte mich zu den Worten:

»Ich weiß, daß von uns beiden nur Sie echt sind, Señor Gran Obispo.«

Er betrachtete mich gramvoll, ehe er gestand:

»Und ich wünschte mir von Herzen, daß ich nichts andres wäre als eine Ausgeburt Ihrer sträflich lebhaften Bilderflucht.«

»Das heißt ja beinahe dem Valentinus und seinem Demiurgen ein Zugeständnis machen«, rief ich und sprang unmanierlichermaßen auf meine Füße. »Darf ein katholischer Fürst der dritten, der spiritualen Kirche an seiner eigenen Realität zweifeln? Heißt das nicht den Pater Exorzist verstimmen? Ist die Überzeugung, daß diese Welt diese Welt ist, nicht die erste Grundlage des Glaubens?«

Ein schwerer Blick des Großbischofs zwang mich in meinen Lehnstuhl zurück. Ich schlug mir selbst auf den Mund:

»Vergebung und Erbarmen, Euer Lordschaft. Wer bin ich, daß ich solches zu reden wage? Ich wollte nur das Erstaunen eines Primitiven darüber ausdrücken, daß Euer Lordschaft mit einer unendlich verbesserten und fortgeschrittenen Welt unzufrieden zu sein scheinen, in welcher Sie das Glück haben, zu sein und zu herrschen.«

»Unendlich verbesserte und fortgeschrittene Welt«, wiederholte der Großbischof in schleppender Kadenz.

»Euer Lordschaft mögen bedenken«, nahm ich das Wort, »wie sich der Tag eines Erzbischofs zu meiner Zeit, im neunzehnten, zwanzigsten Jahrhundert abspielte. Die Sorge um zehntausend verwahrloste, verlauste, rachitische Kinder beschwerte sein Herz, die in greulichen Baracken und Zinskasernen aufwuchsen und in den Jahren der Pubertät keine andre Wahl hatten, als elende Lohnsklaven zu werden oder Huren und Gangster. Tuberkulose, Syphilis und moralischer Nihilismus zehrten am Mark der Jugend. Ganze Städte und halbe Generationen hatten die Kriege pulverisiert. Übriggeblieben war ein schwarzer Nebel von Haß und Vorwurf, wie niedergeschlagener Kohlenqualm der Hölle, der über den Völkern lag. Man lebte in einer Welt verschlampter Sackgassen. Die Eiseskälte des materialistischen Geistes machte es unmöglich, die kleinste Frage zu lösen, schon dadurch, weil sie von Beginn an falsch gestellt war. Und inmitten dieser geistigen und physischen Ruinenwelt mußte die Kirche und mußten ihre Priester für die Wahrheit kämpfen, und der letzte Papst, den ich kannte, der in Sankt Petri Reihe Pastor Angelicus hieß, schlief im dritten Stockwerk des Vatikans auf der nackten Erde, um Buße zu tun für meine Zeitgenossen. – Wie aber ist es jetzt, Euer Lordschaft? Ein Arbeiter und seine Familie ernährt die ganze Menschheit. Der Krieg ist nichts andres mehr als ein verwittert gespenstisches Denkmal, ein verrostetes Astrolab in einem Loch. Armut, körperliches und geistiges Elend sind zu mythologischen Begriffen geworden. Die Kirche hat nicht nur als Beweis ihrer übernatürlichen Gründung und Sendung die Äonen überdauert, sondern ihre ursprüngliche Einheit wiederhergestellt, eine Verwirklichung von Christi Voraussage, die mir meine ehemaligen Zeitgenossen am wenigsten glauben würden, dürfte ich ihnen davon berichten. – Und Sie, Hochwürdigster, Sie wollen nicht gelten lassen und leugnen mir in den Mund hinein, daß die Welt sich unendlich verbessert hat und übers Glaubliche hinaus fortgeschritten ist?«

»Was Sie Fortschritt nennen, bester Sohn«, sagte Seine Gnaden mit müder Stimme, »ist nur der verzweifelte Aberglaube, daß etwas, das fällt, in die Höhe fallen könnte.«

»Euer Lordschaft möge Nachsicht mit mir haben, der ich noch kein astromentaler Mensch bin. Dieses Paradoxon aber verstehe ich nicht ohne Kommentar.«

»Es ist kein Paradoxon«, sagte der Bischof, »sondern eine einfache Parabel.«

Er machte eine kleine Pause, ehe er, die Fingerspitzen gegeneinander stellend, die folgende Frage an mich richtete:

»Sind wir uns darüber einig, daß unsre Voreltern im Paradies gesündigt haben?«

»Das scheinen unsre Voreltern wohl getan zu haben«, erwiderte ich, »sonst müßte man nicht immer wieder von vorne anfangen.«

»Nun, wenn wir uns über dieses Erste einig sind«, fuhr der Großbischof fort, »so müssen wir uns auch über das Zweite, Dritte und Vierte einig sein. Wir sind uns also auch einig darüber, daß die ganze menschliche Geschichte die Geschichte der Folgen des Sündenfalls ist, das heißt die Geschichte der immer weiter fortschreitenden Entfernung von Gott. Mögen im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert die Zustände noch so bejammerungswürdig gewesen sein, sie waren noch immer um hundert Abgründe, um hundert Jahrtausende besser als die heutigen, die Ihnen so sehr imponieren, mein Kind. Denn genau um diese Zeit sind wir tiefer gefallen und weiter von Gott entfernt.«

»Wie, Euer Lordschaft«, staunte ich, fast erbittert, »die gewaltige Anstrengung des Menschen, den Erzengelsfluch der Arbeit und der Zerstreuung zu überwinden, die Erde immer wohnbarer und sich selbst immer intelligenter zu machen, diese Anstrengung wäre keine Rückkehr, sondern ein immer kälterer und frecherer Abfall von Gott?«

»Die alten Zivilisationen, von denen Sie sprachen, mein Sohn«, entgegnete der Großbischof, »haben wenigstens das Leiden und den Tod auf sich genommen und damit dem Fluch des Erzengels Rechnung getragen. Die heutige Zivilisation aber, in der Sie sich bewegen, die sich selbst die astromentale nennt, ist der betrügerische und raffinierte Versuch, jenem Fluch durch tückische Machenschaften zu entgehen, jenem Fluch, der uns da befiehlt, das Brot der Erde im Schweiße unsres Angesichtes und mit Sorgen zu essen und demütig zum Staube zurückzukehren, der wir sind.«

Der alte Mann versank in schwermütiges, ja schmerzliches Nachsinnen, so daß ich eine lange Zeit nicht zu sprechen wagte. Hielt er wirklich die mentale Zivilisation für einen unerlaubten Versuch des Menschen, die Natur auf eigene, falsche Rechnung zu transfigurieren, zu verklären? Neugierig hingen meine Augen an seinen Händen. Ich hätte gar zu gerne gewußt, ob seine Handflächen auch so linienlos unbelebt waren wie die von Schaufensterpuppen. Ich konnte aber nichts entziffern, denn zu Fäusten geballt lagen ihm die wächsernen Hände im Schoß. Plötzlich seufzte er tief auf und murmelte, seinen Gedanken zum Abschluß bringend:

»Ja, zum Staub zurückkehren und der Auferstehung warten ...«

Da konnte ich mich nicht zurückhalten und stellte die pointierte Frage:

»Haben Euer Lordschaft vielleicht jetzt an den Weg gedacht, von dem meine Hausgenossen rühmen, er werde freiwillig und zu Fuß zurückgelegt?«

Der Bischof gab keine Antwort. Seine Lider hatten sich gesenkt. Die Augen waren von violetten Schatten bedeckt, hinter welchen, ähnlich wie beim Geoarchonten, die astromentale Lebenstätigkeit des Schlafes zu arbeiten schien. (War auch sie nur eine weitere Entfernung von Gott?) Ich hatte mich erhoben und wollte schon auf Zehenspitzen aus dem Sephirodrom schleichen. Die sanfte Stimme des Priesters aber rief mich zurück:

»Mein Sohn, wie es sich auch mit Ihrem ›Ich trinke, also bin ich‹ verhalten mag, bitte legen Sie Ihre Hand auf die meine, zu einem heiligen Versprechen.«

Ich gehorchte und legte meine Hand ganz leise auf die seinige.

»Versprechen Sie mir«, murmelte er, indem er sich umblickte, »versprechen Sie, daß Sie um Rat und Hilfe kommen werden, wenn ein gewisses Ansinnen, Sie verstehen mich, jemals an Sie gestellt werden sollte ...«


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