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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Worin das vorige Kapitel in den Margueritenfeldern fortgesetzt wird, auf verbotene Abwege gerät, die zu den Rübenmännchen führen, zu den Kataboliten und endlich ins Mnemodrom, in den See der Entinnerung.

 

Daß die rund sechsundzwanzig Billionen Zellen meines wiederzusammengesetzten Körpers einem andern irdischen Äon angehörten als dem Elften Weltengroßjahr der Jungfrau, war hier unten im Wintergarten möglicherweise meine Rettung. Ich weiß nicht, ob ich das Wort »allergisch« an dieser Stelle richtig verwende, da es aber jedermann im Munde führt, so wage ich's. Ich reagierte allergisch auf die Retrogenese, die Rückentwicklung. Während B.H. als astromentaler Erdenbürger, der er war, nicht hatte Widerstand leisten können und wohl auch gar nicht wollen, so empörten sich in mir, dem Gaste aus der Urwelt, alle jene sechsundzwanzig Billionen Zellen gegen eine Zumutung, die ihnen wesensfremd war und verhaßt. Ich bin überzeugt davon: mein Körper wäre nicht rückentwickelbar gewesen. Der konzentrierteste retrogenetische Humus wäre an ihm zuschanden geworden. Es gab für mich hier unten nur eine Alternative: entweder gelingt meine Flucht, oder ich muß ein trauriges Leben fortsetzen als »Nummernzähler« auf den Straßen der Unterwelt oder höchstenfalls als Badediener. Ich wußte es. Der Animator wußte es noch nicht, obwohl er schon wußte, daß es mit mir »nicht leicht« sein werde. Ich hatte es selbst nicht leicht mit mir hier unten in dieser zeitlosen Dauer, in diesem wurmartig peristaltischen Nacheinander, wo es keine andere Uhr gab als die Körperuhr. Mein dubioser Körper, der das Kometenturnen spielend überdauert hatte, litt an der Bruthitze, an der sauerstoffarmen Luft, an dem ungeheuerlichen Barometerdruck bis zur Unerträglichkeit. Nur meiner urzeitlichen Energie und meinem frenetischen Widerwillen dagegen, der Rückbildung unterworfen zu werden, hatte ich es zu verdanken, daß ich nicht in denselben Zustand verfiel wie der arme B.H. Und noch ein Gedanke gab mir dann und wann Mut: ich war auserwählt, eine Tartarophanie, eine Anschauung der Unterwelt zu erleben, wie sie nicht einmal die Verfasser der Odyssee und der Äneide beschrieben hatten. Jene gaben in ihren unterirdischen Visionen die allgemeinen Vorstellungen ihres Zeitalters wieder. Ich aber besuchte eine Unterwelt ohne Muster und Vorbild, einen von Menschen geschaffenen Tartarus, den die intelligentesten Köpfe meiner eigenen Zeit nicht vorerträumt hatten. Wenn ich auch während meines Besuches keine Klarheit darüber besaß, daß ich einst werde einen Rechenschaftsbericht über meine Reise ablegen dürfen, so wirkte doch der bloße Wunsch, das Erlebte zu erzählen, wie ein lebensfördernder Antrieb. Es war ja hier unten – und das muß ich trotz meiner heftigsten Widerstände anerkennen – der ewige Traum der Menschheit vom »überwundenen Tode« in hohem Grade erfüllt. Das Sterben war jedenfalls überwunden, und zwar in einer Art und Weise, die einem Geiste des zwanzigsten Jahrhunderts wie mir unter den gegebenen Umständen keineswegs als traumhaft absurd erschien, lag die Erfüllung doch ganz auf der naturalistischen Linie. Das organische Wachstum mit einem Retourbillett zu versehen, das gehörte durchaus nicht auf das Gebiet des Wunders, sondern auf das Gebiet einer hochentwickelten Naturwissenschaft.

Inzwischen ging mein Kampf mit dem Animator ohne Pause fort. Ich sah es dem weißbekittelten Pluto an, wie ihn die prickelnde Aussicht bewegte, einen »Widerspenstigen« wie mich zur Strecke zu bringen. Das waren ja die erwünschten Abwechslungen seines Berufs. Dabei aber verrechnete er sich und beging Fehler. Er zog zum Beispiel meine hartnäckige Körpernatur nicht in Betracht, die noch dem neunzehnten Jahrhundert entstammte und nicht der verfeinerten, aber geschwächten astromentalen Gegenwart. So hoffte er, mich durch lange Wege zu zermürben und zu erschöpfen. Ich aber, ein alter Flaneur, war an ganz andere Spaziergänge gewöhnt, und mehr als das, die Verhältnisse hier unten ließen sich in Bewegung besser ertragen als in Ruhe. Unser Hotelzimmer war gefährlicher für meinen Zustand als die endlosen Margueritenfelder, die wir nun erreicht hatten. Und dann noch folgendes: Der Animator hoffte, durch häufige Verabreichung des kognakartigen Elixiers, das uns zu kredenzen er den Badedienern immer wieder befahl, mich betrunken oder schlaff zu machen. Das Gegenteil aber geschah, ich weiß nicht, wieso. Meinem Körper, der gewiß noch organische Erinnerungen an Gin und Rum und Whisky in sich trug, half unter den abnormalen Bedingungen des Hohlraums jenes Elixier zur Steigerung seiner Kräfte, während es echte astromentale Physiken vermutlich niederzuwerfen pflegte.

Obwohl meine Lage dennoch fast hoffnungslos war, erfüllte mich eine Getrostheit, die ich schwer begründen kann. Vielleicht läßt sich dieses mein unlogisches Sicherheitsgefühl auf meine heimliche Überzeugung zurückführen, daß nicht nur die Badediener, sondern alle stygischen Bediensteten hier, wie ich es schon einmal formuliert habe, Kolosse auf tönernen Beinen waren und nichts anderes. So hoch sie mich auch überragten, so breitspurig, stiernackig und möbelpackerartig sie auch daherstapften, mein Instinkt erkannte trotzdem, daß ihre mächtigen Erscheinungen mit ihren Muskelkräften nicht in Einklang standen. Obwohl ich weder Faust- noch Ringkämpfer war, traute ich mir wohl zu, sie in Schach zu halten. Sie waren und blieben Schattenexistenzen, zu denen sie das lange Leben im Hohlraum der Erde gemacht hatte.

Die Wolken in der unermeßlichen Höhe schienen trüber geworden zu sein, und auch das Nebelreißen und Nieseln hatte sich in deutlicheren Sprühregen verwandelt. Vor meinen Blicken dehnten sich unendlich die Margueritenfelder. Es waren sehr hochstenglige, gerade, zumeist weiße, dann und wann aber auch gelbe Margueriten mit handtellergroßen Blütenköpfen, die nebeneinander regungslos wuchsen, Millionen und Abermillionen. Sie entsprossen den männlichen und weiblichen Blastocysten, die man im rechten Augenblick der Retrogenese aus ihren Amnionshöhlen geholt und hierher umgepflanzt hatte. Wenn man sich recht zu Gemüte führte, daß diese weiten Flächen aufrechter Blüten die Toten waren, ganze menschliche Generationen von Toten, die diese letzte reinlichste Metamorphose durchgemacht hatten, so war es ein ergreifendes, ein feierliches Bild, obwohl auch hier die sonderbare Öde und Monotonie aller astromentalen Erscheinungen beklemmend vorherrschte. Doch selbst ein Widerspenstiger wie ich mußte zugeben, daß es schöner und bewußter war, als Marguerite in die Margueritenfelder einzugehen, als irgendwo knapp unter der Erdoberfläche verscharrt zu werden und zu verfaulen.

»Warum gerade Margueriten?« fragte ich den Animator.

»Sind sie nicht eine schöne, schlichte Spezies für den wertlosesten Rest, der vom Menschen übrigbleibt?« erwiderte er mit einer Gegenfrage. Und er fügte kichernd hinzu: »Sie heißen auch Orakelblumen, weil man sie befragt, ob Feinsliebchen vom Ammenhügel dich liebt, ein wenig oder gar nicht. Der Weg zum Ammenhügel steht immer frei, Seigneur ...«

»Das ist nicht der Grund«, sagte ich barsch.

»Das ist er auch nicht, Seigneur. Wir sind seit einigen Dauern und Weilen ein bißchen heruntergekommen. Im Anfang pflanzte man und zog echte Sonnenblumen, groß wie Räder, beinahe schon wieder richtige Individuen. Wir Menschen sind Sonnenkinder und darum frieren wir so sehr und so oft. Die Margueriten sind die Resultate eines Kompromisses. Wir können unserm Personal von Gärtnern und Obergärtnern die langen Wege nicht zumuten, und echte Sonnenblumen nehmen doppelt soviel Raum ein ...«

Wir gingen auf einem ziemlich breiten Pfad durch die Felder.

Ich stützte B.H., der dumpf vor sich hintrottete. Der Animator vor uns drehte sich um. Der Ton seiner Worte, so schien es mir, enthielt einen leisen Spott:

»Wie befinden sich die Herrschaften?«

»Exzellent, brillant«, rief ich mit voller Stimme. »Wir werden nicht hinsinken und die Margueritenwelt mit unserm Blute rot färben.«

»Sie haben gesehen, Seigneur, was seit undenklichen Zeiten nur wenige gesehn haben«, erklärte der Weißbekittelte mit einer leichten Verbeugung.

»Wir werden auch unserm Animator ewig dankbar sein dafür.«

Ich ließ diesen lügnerischen Satz geradezu als Juchzer erschallen. Da raffte auch B.H. sich zusammen. Es rasselte in seiner Brust wie in einer Einwurfmaschine und seine Stimme ahmte die meine nach:

»Ewig dankbar ... Ewig dankbar.«

»So, und nun werden die Herren gewiß den Wunsch haben, heimzukehren und heiaheia zu machen anstatt der Ruhelosigkeit zu pflegen (sic!) ...«

»Keine Idee«, jodelte ich energisch. »Wir beginnen uns gerade wohlzufühlen. Wir sind olympische Besieger des Schlafes, wir zwei ...«

Ich schlug ein strackes Tempo an und schritt weit aus, denn in der Dämmerferne hatte ich eine hohe Mauer bemerkt, ohne Zweifel die Grenzmauer, und gerade diese wollte ich erreichen. Das aber, was geschah, war für mich ziemlich überraschend. Weder der Animator noch auch Badediener Eins und Zwei konnten mit mir Schritt halten, obwohl ich doch auch noch B.H. mitzuschleppen hatte. Sie begannen zu keuchen, dann zu quengeln und fielen immer mehr zurück. Diese Überlegenheit erfüllte mich geradezu mit triumphierender Wonne. Sie bewies mir, daß eher ich imstande war, die Kräfte meiner Wächter und Verfolger auszupumpen als sie die meinen. Wo ein schmaler Feldrain einmündete, der quer zur Grenzmauer führte, machte ich halt, um die andern in voller Frische zu erwarten. Es war ein wohltätiger Spaß für mich, den Animator und seine beiden Hilfskolosse bleich und atemlos heranschwanken und vorantorkeln zu sehen.

»Das ist nicht rätlich, Seigneur, gar nicht rätlich«, ächzte der Kleine, »bei Ihrem Herzen ...«

»Sie vergessen, cher Maître«, lachte ich, »daß ich ein wüster Barbar bin, dem es gar nichts ausmacht, wenn sein Herz plötzlich zu schlagen aufhört ... Ich bin nicht so wehleidig und fürchte den Tod viel weniger als Ihre werten astromentalen Zeitgenossen ...«

»Nicht einmal in den Mund nehmen dürfte ein Kulturmensch solch ein nacktes und unanständiges Wort wie das mit T. Das Herz soll aufhören zu schlagen, wenn man wieder dreimal sieben Tage alt geworden ist ... Ein bißchen neue Herzstärkung gefällig, Seigneur?«

»Her damit! Und ein tüchtiger Schluck diesmal ...«

Der Animator sah mich staunend an, denn ich trank prahlerisch aus dem Kruge, der noch immer nicht leer war.

»Vergeben Sie mir noch einmal meine nackte Ausdrucksweise, cher Maître«, sagte ich, nachdem ich den Krug zurückgegeben hatte und wieder stramm ausschritt. »Was würde mit mir geschehen, wenn ich tot hinfiele?«

»Gar nichts Schönes würde geschehen mit Ihnen«, klagte er. »Man würde Sie zu den Kataboliten bringen ...«

»Herrgott noch einmal, was ist das schon wieder, diese Kataboliten?«

»Seien Sie glücklich, Seigneur, daß Sie es nie erfahren werden, was das schon wieder ist, diese Kataboliten.«

»Ich aber habe den festen Wunsch, ja die unbeugsame Absicht, gerade das zu erfahren.«

»Bedaure, Seigneur, die Verfassung verbietet es.«

»Im Djebel hat man mir nichts vorenthalten, nicht einmal die obersten Welträtsel und den wichtigsten Augenblick meines Lebens«, sagte ich. Damit aber hatte ich eine wunde Stelle im Herzen des Animators berührt:

»Im Djebel hat man's gut«, brauste er auf. »Im Djebel ist man vornehm. Im Djebel wird nicht einmal geforscht, sondern ›ziellose Weisheit‹ betrieben. Die Chronosophie ist ausgepichter Selbstgenuß. Sie befahren die kosmischen Räume nur zu dem Zwecke, um über ihr albernes Staunen zu staunen und stolz darauf zu sein, wenn sie sich bis zum Erbrechen fremdfühlen. Und was sind das schon für gelöste Welträtsel? Das Universum ist mit sich selbst verheiratet. Schon die Bibel erzählt, daß Eva als Rippe im Adam steckt. Wir hier unten im Mutterschoß sind nicht halb so fein. Wir führen nur Gutes im Schilde. Wir dienen der Menschheit. Wir forschen nicht ziellos, sondern mit bestimmten nützlichen Zwecken. Wir treiben angewandte Wissenschaft. Wir nehmen es auf uns, praktisch zu sein, praktisch, praktisch ...«

»Und doch besteh ich auf den Kataboliten«, erklärte ich trocken.

»Die Vorschriften gelten auch für Sie, Seigneur. Ich kann nichts dagegen tun ...«

Wir hatten eines der Margueritenfelder durchquert. Die Toten dufteten sonderbar leimig, fad an Kamillen erinnernd. Nun bekamen wir den breiten Weg unter die Füße, der entlang der Grenzmauer lief. Es war eine völlig glatte, recht hohe Mauer, aus einer Art von translucenter Plastik errichtet, wie man sie schon zu meiner Zeit gekannt hatte. Ich glaube, daß nicht einmal Io-Knirps, der Sternentänzer, die Gewandtheit besessen hätte, diese Mauer zu überklettern. Inzwischen hatte der Animator eine neue Taktik ersonnen, um es zu verhindern, daß ich wieder einmal ein strackes Tempo anschlage und damit seine und seiner Leute Körperkräfte in Verlegenheit bringe. An der Tête unseres Häufleins marschierten nun gemächlich die Badediener, mit ihren schlappen Fettrücken den Weg versperrend. Dann kam er selbst, der Führer unserer Besichtigung, knieweich schlendernd. Den Schluß aber bildeten wir, B.H. und ich.

Diese neue Marschformation jedoch sollte sich zu meinen Gunsten auswirken. Ich begann zu schleichen, mit ganz kurzen Schritten, so daß sich der Abstand zwischen mir und dem Animator immer vergrößerte. Zu meiner Freude nämlich hatte ich in der Grenzmauer eine Art von Abflußkanal oder vergittertem Schlupfloch entdeckt. Ich mußte dafür meinen astigmatischen Augen danken, die in der Not noch niemals schlecht funktioniert hatten. Es war in jedem Fall wichtig, diesen Punkt zu markieren. Ich folgte nur den alten Mythen und Märchen, als ich mich jetzt schnell am Feldrand hinkniete und mit dem roten Garn des Mädchens vom Ammenhügel ein ganzes Büschel der blühenden Margueriten zusammenband. Ich brauchte nur wenige Sekunden zu diesem Werk. Dann stand ich auf, versteckte den großen Garnknäuel wieder und ließ ihn, während wir langsam uns dahintrollten, sich hinter mir als roten Faden abspulen. Der Animator hatte nichts bemerkt. Ich zeigte mich überaus beschäftigt mit meinem Freunde B.H., der meines Zuspruchs und der Ermutigung auch höchst bedürftig war, denn er konnte kaum mehr gehen und bat mich:

»Laß mich liegen ... Es ist doch recht angenehm ...«

»Ich laß dich nicht liegen«, puffte ich ihn in die Seite, »und es ist sehr, sehr unangenehm ...«

»Findest du's wirklich so unangenehm?« lallte er, »ich glaub dir's nicht, lauter Ehrgeiz ...«

»Auch du findest es unangenehm, sehr unangenehm, B.H.«, flüsterte ich suggestiv. »Auch du willst lieber ehrlich sterben als rückentwickelt werden. Das ist noch lange kein Ehrgeiz! Hätte ich ein scharfes Messer und etwas Verbandzeug bei mir, würde ich dich zur Ader lassen. So aber mußt du mir glauben und vertrauen ...«

»Jetzt sind sie alle schon kleine Kinderchen«, stammelte B.H. mit Tränen in den Augen, »meine Freunde Io-Fagòr und Io-Rasa und die Ahnfrau und die ehrenwerten Junggesellen unseres Haushalts, und nur ich muß noch immer erwachsen sein ...«

»Du wirst erwachsen bleiben, darauf gebe ich dir mein Wort, B.H. ... Los! Nimm dich zusammen!«

»Aber ich möchte auch ein kleines Kindchen werden wie die andern. Es ist doch wunder-wundervoll, wieder ein kleines Kindchen zu werden. Du verstehst unsere Kultur nicht, F.W., du bist noch zu motorisch ...«

»Danke Gott, B.H., daß ich motorisch bin ...«

»Die Herren haben Schwierigkeiten miteinander«, drehte sich der Animator uns zu, wobei er jedoch nur ein Achtel seines Profils zeigte, »einer von den Herren möchte wahrscheinlich ruhen? Goldene Ruhe, süße Ruhe, sorglose Ruhe, Spiel der Spiele, Beschäftigtsein ohne Regung ... Wir müssen uns leider noch ein bißchen Bewegung machen, mit Schritt und Tritt, frierend in Regen und Kälte, ehe wir das Dach erreichen ...«

Dieser zähneklappernd heuchlerische Singsang des Animators verriet ihn. Er fühlte sich nah seinem Ziele, und deshalb suchte er den Weg zu verlängern, um B.H.s letzte Kraft zu brechen und meinen Widerstand zu zermürben. Die eigene Hinterlist genießend, stellte ich mich nun auch zu Tode erschöpft, obwohl ich mich in diesem Augenblicke stärker und willensfreier fühlte als die ganze Zeit vorher:

»Voraus, Maître, gehen Sie nur voraus«, bat ich im Konsonanten verschleifenden Tone eines Schwerbeschwipsten, »wir kommen schon nach ... Schön langsam kommen wir nach ... Geheimes zu reden haben wir, mein Freund und ich ... Dis-kre-ti-on, wenn ich bitten darf ...«

»Diskretion, wem Diskretion gebührt«, lächelte der Animator in seiner falschen, leicht angefaulten Phraseologie, »ich bin der letzte, der Sie stört oder antreibt ...«

Nun packte ich B.H. bei seinen Handgelenken und schüttelte ihn mit aller Kraft. Das half. Er schien aus seinem Jammer erwachen zu wollen:

»Siehst du nicht, daß ich kämpfe«, flüsterte ich. »Hilf mir doch! Mach mir's wenigstens nicht schwerer!«

Der Abstand zwischen unsern Wächtern und uns hatte sich vergrößert. Diese hatten einer Warnungstafel keine Beachtung geschenkt, die einen kleinen Seitenpfad bewachte, der von dem Grenzweg weg wiederum querfeldein in die Margueriten führte, die hier besonders hoch wuchsen. Der Animator schien unser ganz sicher zu sein, weil er streng auf Diskretion hielt und sich nicht umdrehte. Ich sprach immer lauter auf B.H. ein. Zuletzt sang ich sogar:

»Immer nur langsam voran,
Daß der Schönauer Landsturm
nachfolgen kann.«

Auf der Warnungstafel stand in extenso folgendes geschrieben: »Diesen verbotenen Weg zu betreten ist nur den diensttuenden Animatoren gestattet!« Ich weiß nicht, was es war, das mich zu dem jähen und gar nicht wohlüberlegten Beschluß kommen ließ, gerade hier unsern voranschlapfenden Wächtern einen Haken zu schlagen. Zum Teil war es zweifellos die Hoffnung, unter den hohen Blütenköpfen der Toten, die uns hier bis an die Brust, ja manchmal bis ans Kinn gingen, ein Versteck zu finden. Da nur der Animator allein den verbotenen Weg betreten durfte, wurden wir zugleich auch die Badediener los. Doch mehr als alle logischen Gründe, wie genau erinnere ich mich dessen, wirkte auf mich die mächtige Lockung, einen verbotenen Weg im Wintergarten zu gehen und am Ziele dieses Weges vermutlich das Verbotenste des Verbotenen zu erblicken. Ich preßte den Finger auf den Mund, um B.H. Schweigen zu befehlen. Dann zog ich ihn kräftig mit der Hand hinter mir her, und wir begannen beide zu laufen. Der rote Faden, aus meiner Hosentasche sich abspulend, lief noch ein langes, langes Stück mit uns. Als nur mehr ein Rest des Ballens übrig war, warf ich ihn in die Margueriten. Wir konnten unsere Verfolger ebensowenig mehr sehen wie sie uns. Anstatt aber haltzumachen und uns wegabseits in die Margueriten zu legen, liefen wir wie die Tollen weiter und weiter. Nach einer Weile begann sich die Fläche etwas zu senken. Es war mir, als hörte ich nicht weit von hier das Stimmengewirre eines Streits. Es hätte ganz gut eine Wirtshausprügelei sein können, irgendwo in weiter Ferne oder sogar der Marktlärm einer verborgenen orientalischen Stadt. Doch das galt nur für die erste Minute, denn danach entschleierten sich distinkte Menschenstimmen. Irgend etwas aber schien mit diesen Menschenstimmen nicht in Ordnung zu sein. Obwohl sie zweifellos heiseren, erwachsenen Männerkehlen angehörten, so schrillten sie doch im höchsten Diskant und waren, wie soll ich's nur ausdrücken, es waren zwerghafte Stimmen.

 

Wir überquerten zuletzt eine Stelle von abgewelkten Margueriten. Obwohl diese Totenreste doch völlig bedeutungslos waren, boten sie einen unsagbar traurigen Anblick. Dann standen wir ... Und ich bin wieder in Verlegenheit zu sagen, wovor wir standen. Es war eine Art umgepflügter Rübenacker, der sich vor unsern Augen weit und breit dehnte, sehr weit und sehr breit.

Und aus diesem Acker stieg, zugleich mit einem in den Furchen kriechenden Nebel, jenes streitbare Gewirre menschlicher Stimmen auf.

Die meisten meiner ehemaligen Zeitgenossen, zu denen ich aus der prekären Situation im Wintergarten heimkehren durfte, kennen vermutlich die komischen Karikaturfilme von Donald, dem kämpferischen Enterich, und haben sein aufbegehrendes Zorngeschnatter im Ohr, worin Tierlaut und Menschenlaut grotesk gemischt sind. Man denke sich nun dieses krächzende, pfeifende, immer übersteigerte Zorngeschnatter verkleinert, gewissermaßen herabgeschraubt, zugleich aber mit fünftausend multipliziert, und dann wird man eine Vorstellung von dem haben, was wir zu hören bekamen, lange ehe wir noch etwas sahen.

Dieses leise und doch scharfe, schwächliche und doch schrillkreischende Aufbegehren menschlicher Wut, das von dem weiten Rübenacker aufstieg, ließ mich alles vergessen. Ich dachte nicht mehr an die Gefahr, in der ich mich selbst befand, wenigstens so lange nicht, bis ich das Phänomen erforscht hatte, was gewiß zwei ganze Minuten in Anspruch nahm. Ich mußte, aufrichtig gesprochen, mich erst hinknien, um zu erkennen, daß ich wirklich eine Art Rübenfeld vor Augen hatte, obwohl dieses Wort nur ein hinkender Vergleich ist. Die Vorstellung »Rübenacker« bildete sich daher, daß die bewußten Phänomena in ziemlich weiten und regelmäßigen Abständen und Reihen eingepflanzt waren, und zwar in sauber gehäufelte Erdbrüstchen aus retrogenetischem Humus. Aus diesen Erdbrüstchen sproß langes undeutliches Blätterzeug, in welchem die eigentlichen Rüben steckten. Es waren sehr ausgewachsene Rüben, die nicht nur unter der Erde wucherten, wie es sich gehört hätte, sondern größtenteils über der Erde in ihrem Blätterschutz. Man mußte erst eine ganze Weile lang scharf hinschauen, um zu erkennen, daß die umgrünten, zornschnatternden Rüben wilde, greise Männchen waren, die sich aus ihrer Verwurzelung in der Scholle loszureißen trachteten. Ihre Länge betrug ungefähr zwanzig oder fünfundzwanzig Zentimeter. Sie ruderten wie verrückt mit ihren freien Armen und drehten ihren Körper im Veitstanz hin und her. Der obere Teil des Körpers war kräftig und entwickelt, der untere Teil sehr wenig differenziert. Die Gesichtchen hingegen waren wie bei Tanagrafiguren voll ausgebildet, ur-uralt, zerrissen von Runzeln und Falten. Aus den kahlen Kopfplatten wuchsen dem und jenem grüne Halme. Allen aber sproßten zausig-weiße dünne Kinnbärtchen. Die Äuglein funkelten von rasendem Haß, und aus den schwarzen, abscheulichen Mündern, die sie weit aufsperrten, schnatterten ringsum die unflätigsten Worte, die ich jemals auf einem Fleck und in kurzer Zeit vernommen hatte: »Fettarsch, Scheißsack, Giftfurz, Fickdieurgroßmutter«, das war noch das Gelindeste, was ich dem Entrichgeschnatter entnahm.

»Was ist das, was ist das«, stöhnte B.H. neben mir.

»Das ist möglicherweise unsere Zukunft«, sagte ich.

»Nein, nein«, schrie er auf, »ich will ein Kindchen werden, aber nicht das.«

»Kannst du's verhindern, B.H.? Das ist das Risiko der Rückentwicklung, gegen das es keine Assekuranz gibt. Das sind die mißlungenen Fälle, – um die zu erkennen, brauchen wir keinen Animator. Ob's die Kataboliten sind, kann ich dir freilich nicht sagen ...«

»Und dieses Zoten und Schweinigeln ...«

»Man kann sich's nur so erklären«, erwog ich, »daß der seelische Dreck, der sich in hundertachtzig astromentalen Kulturjahren angesammelt hat, endlich herausmuß. Es ist die Rückseite des feinen Benehmens und der eleganten Menschlichkeit ...«

»Oh, F.W., ich will nicht, ich will nicht. Warum bin ich so schwach?«

Ich schloß den Freund in meine Arme. Es war wie ein brüderlicher Schwur, alles zu tun, um ihn und mich zu retten.

In diesem Augenblick wurde das Zorngeschnatter der Rübengreise zu einem einzigen Schrei, den unsre Gegenwart hervorrief. In diesem Schrei aber unterschied ich zu meinen Füßen immer öfter ein krächzendes Wort. Und das Wort hieß »Seigneur«. Ich beugte mich rasch zu einer der Pflanzen nieder und zog niemanden andern aus der Erde als den Wortführer des Hauses Io-Fagòr, den voltaire-ähnlichen Beherrscher der astromentalen Causerie, dem dieses Pech widerfahren war, anstatt zum Embryo, in wenigen Stunden zum Rübenmännchen zu werden. Ich hielt das Rübenmännchen um die Hüfte gefaßt, voll Ekel. Keine Spur von Rübe. Es war nacktes, fieberndes Menschenfleisch, bei aller Kleinheit. Das große schwarze Mundloch geiferte. Speichel und Tränen rannen in den Zausbart und tropften auf meine Hand. An folgende Worte, aus enger Kehle geschrillt, erinnere ich mich: »Das bin ich, Seigneur, Sie sollen mich sehen, Sie sollen mich riechen. Ich bin betrogen, ein Lebenlang betrogen. Und über die Idee des Wintergartens habe ich meine schönsten Causerien gehalten. Ich möchte Ihnen Worte zurufen, die ich nicht einmal als Philologe gekannt habe: Nachtkacke, Eiterbrunz und Sterbeschleim. Kein Seigneur bist du, sondern ein gottverstunkenes Ödem, Krebs, Tumor ... Geben Sie mich zurück, zurück ...«

»Geben Sie ihn mir«, sagte der Animator, der unversehens neben uns stand, nahm mir das Rübenmännchen aus der Hand und pflanzte es wieder an seine Stelle ein, wo der Wortführer in das gewaltige Zorngeschnatter der tausend andern mißlungenen Fälle neuerdings einstimmte. Nachdem er behutsam die Erde um den eingeschrumpften Causeur aufgehäuft hatte, erhob er sich und sah mich an:

»Sie haben nicht mir geschadet«, sagte er, »sondern sich selbst.«

»Womit habe ich mir geschadet«, fragte ich trotzig.

»Je mehr Sie sich hineinverwickeln, um so tiefer verfallen Sie. Wer Verbotenes sieht, gehört schon zu dem Verbotenen. Ich trockne meine Hände in Unschuld ...«

»Sind das die Kataboliten, Animator?«

»Nein. Aber nachdem Sie so unzuverlässig gehandelt haben, werden Sie auch die Kataboliten zu sehen bekommen.«

»Warum lassen Sie diese Zerrbilder Gottes erbarmungslos leiden?« schrie ich und stampfte auf.

»Weil einige unter ihnen noch eine Chance haben«, lispelte er scharf. »Es wird sich zeigen. Dann bekommen sie ihre Schlummerdouche ...«

»Wie ist so etwas nur möglich«, ergrimmte ich. »Wie kann es die Verfassung nur zulassen, daß der berühmte freiwillige Weg angetreten wird, ohne daß man die Freiwilligen von den furchtbaren Möglichkeiten unterrichtet, die ihnen bevorstehen? In Dunkel ist die Welt gehüllt. Und Ihr verdichtet das Dunkel. Ich verstehe jetzt Io-Joels Haß ...«

»Die Risken haben mit der Verfassung nichts zu tun«, sagte der Animator, »sie liegen im einzelnen Individuum. Wir sind nicht schuldig. Das Individuum ist schuldig ...«

»Was wollen Sie von den armen Individuen«, schrie ich außer mir, »Sie gehen nur in die Falle ...«

»Haben Sie die Aufschrift nicht gelesen, Seigneur, das Wort des großen Weisen: ›Das, was du bist, ist schon Strafe oder Lohn für das, was du bist‹ ...«

»Ich protestiere! Das Mißlingen der Rückentwicklung kann nur auf die Ungeschicklichkeit der Funktionäre zurückzuführen sein. Warum sollte sonst ein Individuum zur braven Marguerite werden und das andere zur teuflischen Rübe? Die meisten Individuen sind doch nur Typen ...«

Den letzten Satz sprach ich schon mit schlechtem Gewissen und gab daher dem Animator die Gelegenheit, seine oft erprobte moralische Entrüstung neu anzuwenden:

»Sie sind kein frommer Mann, Seigneur. Sie sind ein Nihilist. Ich aber diene in meinem Werk, das Tag und Nacht nicht kennt, der unsterblichen Seele. Individuen sind keine Typen. Individuen sind einmalige und unwiederholbare Schöpfungen. Es sind Unikate, mein Herr. Dafür liefert der Wintergarten den unabstreitbaren Beweis, denn unter den zehntausenden Fällen, die ich rückentwickelt habe, gab es keine einzige Wiederholung. Und selbst diese Unglücklichen hier bekommen die Chance, das Häßliche aus ihrem Bewußtsein auszustoßen, ehe sie ins Schweigen eingehen.«

Ich fühlte mich tief getroffen durch die Worte des Animators, so daß ich meine Augen schloß und meinen Kopf senkte vor seelischem Elend, das mich erfüllte. Er hatte mich einen »Nihilisten« gescholten. Nun war doch mein ganzes Leben, seitdem ich denken konnte, ein Kampf gegen den Nihilismus, den ich als Kind des neunzehnten Jahrhunderts in mir trug. Hatte ich ihn nicht längst schon überwunden? Oder war meine Seele noch immer voll Irrtums? Der Teufel selbst mußte kommen, um mir zu beweisen, daß ich ein Ketzer sei. Mein Glaube an die Unzerstörbarkeit des Wesens war nicht rein. Ich hatte Typus und Individuum durcheinander gemischt. Gewiß war es mir vorbehalten, ein Rübenmännchen zu werden wie der Wortführer. O Gott, hilf mir, daß ich dich nicht mehr lästern muß. Ich hielt mich fest an die Hand meines armen Freundes angeklammert, als das Zetergeschrei hinter uns immer schwächer wurde, und wir wiederum ein Trottoir roulant unter den Füßen spürten, ein rumpelndes und polterndes diesmal, das ohne Zweifel nur für das Dienstpersonal bestimmt war.

 

Mein Herz und meine Hand werden mir immer schwerer, da ich nun beschreiben soll, was wir in dem langen, langen Abzugsgraben sahen, auf dessen hohem Damm wir entlangrollten. Ich hadere mit meinem Schicksal, das mich ins Elfte Weltengroßjahr der Jungfrau versetzt hatte, mich einen Blick tun ließ ins Kleine Intermundium, mich in den Wintergarten führte, wo der Mensch das Elend des Sterbens überwunden zu haben wähnte, und das mir doch nicht erlaubte, einen frohen Kranz heimzubringen, gewunden aus purer Schönheit und leuchtender Hoffnung. Wäre die Menschheit meines, d. i. des zwanzigsten Jahrhunderts nicht bedürftiger der Schönheit und Hoffnung, als der trüben Wahrheit, daß alles Irdische immer wieder in Katastrophen endet und immer wieder neu aufgebaut werden muß? An dieser Wahrheit litten wir ja gerade durch eigene Erfahrung. Wahrscheinlich hatte man in mir den falschen Berichterstatter ausgesandt. Wie sehr mich dieser Zweifel auch quält, es hilft nichts, ich bin ich und kein anderer, ich muß verkünden, was meine Augen sahen, meine Ohren hörten und mein Geist begriff.

Ich will nicht behaupten, daß die Kataboliten einen schlimmeren oder auch nur einen halb so schlimmen Anblick boten, wie das, was so mancher meiner Zeitgenossen in den Greuellagern von Buchenwald oder Maidanek bezeugt hat. Dieser Vergleich (der schreiend falsch ist) bezieht sich nur auf ganz äußerliche Ähnlichkeiten, denn die Kataboliten waren durchaus keine Mord- und Folteropfer, sondern, wie die Rübenmännchen ihrerseits, nichts als mißlungene Rückentwicklungen, die auf der Strecke liegengeblieben waren. Ich kann nicht einmal sagen, wie hoch der Prozentsatz dieser Fehlprozesse zählte, und ob er groß genug war, einen wirklichen Einwand gegen die Idee des Wintergartens zu bilden. Die subjektive Seite dieser Idee, die Verwandlung des Sterbens in ein wonnevolles Erlebnis, wurde davon vermutlich kaum betroffen.

»Die Risken liegen im einzelnen Individuum.« Diese Worte des Animators waren mir plötzlich atembeklemmend verständlich. Nicht von äußeren Umständen, nicht vom retrogenetischen Humus und nicht von der Betreuung durch die Badediener hing es ab, ob die Rückentwicklung glatt verlief, sondern vom Kandidaten selbst, der sich freiwillig ins Wiegengrab legte. Die astromentale Menschheit hatte nicht nur das unwillkürliche und unkontrollierte Sterben der Vorzeit durch einen kontrollierten Prozeß ersetzt, sondern auch die Krankheiten abgeschafft, die einst zu jenem Sterben geführt hatten. Die Sterbenskrankheiten aber, wie wir Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts sie alle noch kannten, das heißt kennen und an uns selbst erleben, sind in sehr vielen Fällen nicht unverschuldet, zumal bei Individuen, die ein reifes Alter erreichen. Sie sind recht eigentlich das Integral aller sinnlichen Versündigungen, die wir gegen unsere eigene Natur verüben. Diese unsere Natur duldet die ihr zugefügten Schädigungen mit mehr oder weniger Langmut, bis sie unter ihnen zusammenbricht. So offenbar freilich wie in den Anfängen der Menschheit war das Verhältnis zwischen Versündigung und Krankheit jetzt nicht mehr. Die Astromentalen völlerten nicht, sie waren keine Säufer, sie nahmen keine Drogen, ihr Geschlechtsleben hatte sich hoch veredelt, trotzdem war auch ihrer Welt das »unveränderliche Maß des Übels« nicht abhanden gekommen. Ihre Unzucht war nur verschwiegener, ihre Perversität verkrochener. Sie vergifteten ihren Geist mit raffinierteren Phantasien und ihre Natur mit verruchteren Stimulantien. Sie wurden nicht krank von diesen Selbstmißhandlungen, das heißt, sie warteten nicht erst darauf, krank zu werden. Die Folgen aber zeigten sich im Wintergarten. Sie zeigten sich als Stockungen in der Retrogenese. Sie zeigten sich in den zornschnatternden Rübenmännchen auf dem Schollenacker. Sie zeigten sich in dem Abzugsgraben der Kataboliten. Der sündige Mensch mußte mit seinem Körper bezahlen auch hier, wo die reinlichste und restloseste Abwicklung alles Körperlichen erdacht worden war und angestrebt wurde.

Wären die Kataboliten nur Wegwurf gewesen, nur die Leichen jener Unglücklichen, die in den Anfangsstadien der Rückentwicklung erstickt oder an Hirn- und Herzschlägen zugrundegegangen waren, ich hätte mir (was ich auch jetzt tat) die Nase mit dem Taschentuch zugehalten und mich abgewandt. Aber damit war's nicht mehr getan. Der Animator zwang mich jetzt, das Tief-Verbotene anzuschauen.

 

Und so bin nun auch ich gezwungen, den Leser das Tief-Verbotene anschauen zu lassen.

Der Graben, auf dessen Damm wir dahinbewegt wurden, war weder besonders tief noch breit. Er glich einem der kleineren, schnurgeraden holländischen Kanäle, welche die Tiefebene dieses Landes kreuz und quer durchschneiden. Er unterschied sich von solchen Kanälen nur dadurch, daß er nicht von trägem, aber immerhin fließendem Wasser erfüllt war. Ebensowenig aber konnte man sagen, der Graben sei völlig ausgetrocknet. Sein morastiger Boden war voll von Lachen und Pfützen und zahlreichen Rinnsalen, die nicht nur vom ewigen Nieselregen der hohen Wolkendecke herstammten.

Ich brauchte den Animator gar nicht zu fragen, um zu wissen, daß von irgendwelchen Stauteichen herab aus geöffneten Schleusen von Zeit zu Zeit die Gewässer in den Graben eingelassen wurden, um die Kataboliten fortzuschwemmen. Wir konnten in der nebligen Dämmerung sogar das Ziel sehen, wohin der Graben mündete und die Kanalwässer ihre traurige Last abzuladen hatten. Es war ein weiter See, der bis zum Horizont reichte, wenn man hier überhaupt das Wort Horizont verwenden durfte. Der bleiern stygische Charakter dieses Sees war mir übrigens nicht unbekannt. In meiner alten Heimat, an der Grenze der Slowakei, Ungarns und Österreichs gab es mehrere solcher weitgedehnter und seichter Seen wie hier im großen Hohlraum des Erdinnern. Nur war die Tragik dieser kleinen Steppenmeere gemildert durch eine reiche Vogel- und Amphibienwelt, die dort siedelte. Purpur- und Silberreiher und der ägyptische Ibis nisteten im Schilf, die Rohrdommel klapperte und plapperte den ganzen Tag, und malachitgrüne Riesenfrösche ließen sich auch in der Nacht nicht zum Schweigen bringen, wenn der Mond am Himmel stand. Hier freilich herrschte unabwendbares Schweigen im dünnen dampfigen Sprühregen, wenn man leider auch nicht von völliger Leblosigkeit sprechen konnte. Nicht die wenigen erwachsenen Körper dort unten, die schon den Anfang der Rückentwicklung nicht überstanden hatten, nicht die zahlreicheren Körper der Halbwüchsigen, noch auch die vielen, vielen Kinder- und Säuglingsleichen mit verzerrten, uralten Gesichtern bildeten jenen verbotenen Anblick. Es war nicht abnormal, daß ein solch geheimnisvoller und gewaltiger Vorgang wie die Rückentwicklung durch den plötzlichen Tod von Untauglichen unterbrochen wurde. Der Animator, der sehr einsilbig geworden war – denn wir konnten einander nichts mehr vormachen –, hatte ein wahres Wort gesprochen:

»Je kühner eine Einrichtung des Lebens ist, um so grimmiger sind die Widerstände, die ihr entgegenstehen.«

Die Gefahren, denen bestimmte Individuen im retrogenetischen Humus ausgesetzt waren, offenbarten sich nun vor unsern Augen. Unter den gewöhnlichen Leuten dort unten, die während der Rückentwicklung einem einfachen Tode erlegen waren, regte und bewegte sich's. Ich sah kleine, rötliche Menschenschweinchen mit Rüsselnasen und zu gespaltenen Hufen zusammengewachsenen Händen und Füßen, die sich träge und nur mit einem schwachen Rest von Leben in den Tümpeln des Grabens sielten. Ich sah in denselben Tümpeln Menschenfische, dreißig bis vierzig Zentimeter lange zylindrische Rümpfe mit glänzenden Schuppen und Extremitäten, die halb schon zu Flossen geworden waren, während die Kinderköpfchen aus perlmuttrigen Glotzaugen in die Dämmerung stierten und mit runden Lachsmäulern nach Luft schnappten. Ich sah Menschenmolche – und diese Gattung schien am weitesten verbreitet zu sein –, humanisierte Axolotln oder, umgekehrt, axolotierte Homunculi, langschwänzige Wesen mit den Köpfen menschlicher Embryos, die über die Leichen krochen, die die Wände des Grabens zu erklettern trachteten, aber immer wieder zurückfielen in Todesschwäche. Um diese furchtbaren Phänomene zu verstehen – ich beschränke mich mit Absicht auf drei –, bedurfte ich nicht einmal der Erklärungen des Animators. Wie die ganze Natur den Menschen in sich trug, so trug der Mensch die ganze Natur in sich. (Das hatte mich der wichtige Augenblick gelehrt, da ich durch die Gitterpforte des Vyschehrader Krüppelheims den Bocksmann erblickt hatte mit den hornartigen Auswüchsen über der Stirn, auf allen vieren und mit hochgehobenem Hintern.) Die sechsundzwanzig Billionen Zellen, die unsern Körper bilden, sind die Bausteine aller Möglichkeiten, die es gibt. Sie gehorchen den jeweiligen Formgesetzen, die den Befehl übernehmen.

Ich preßte B.H.s kalte Hand während ich sprach, vermied es aber, den Animator anzusehen.

»Wohl verstehe ich es«, begann ich, »daß während der Retrogenese ein oder das andere Individuum über die ›Schweinsstufe‹ oder über die ›Fischstufe‹ nicht hinausgelangt und hängenbleibt. Ich begreife auch, daß in demselben Augenblick die Zellteilung in eine falsche Gasse gerät und anstatt Schrumpfung ein neues Wachstum in dieser Fehlrichtung einsetzt. Ich verstehe aber nicht, daß die Direktion des Wintergartens nicht imstande ist, eine Diagnose beizeiten zu stellen und solchem Unglück vorzubeugen.«

»Wir sehen die Herzen, aber nicht in die Herzen«, sagte der Animator kurz.

Es war immer wieder dieselbe Behauptung. Nicht die Rückentwicklung war schuld, nicht die erhabene Idee des Wintergartens, durch die der Mensch den Tod zu beherrschen gelernt hatte. Schuld an all diesen Abnormitäten war das Ich, das sie enthielt. Unter Hunderttausenden von Kandidaten durften so und so viele nicht schöne, stille Margueriten werden. Die Gewöhnlichen und die Durchschnittlichen wurden am sichersten Margueriten. Jeder aber, der ein Übermaß in sich nährte, sei es an vegetativen Trieben, sei es an seelischen Disharmonien, lief Gefahr, bevor sein Herz den letzten Schlag tat, zum Kataboliten zu werden. Dabei zählten die Menschenschweinchen und Menschenfische noch lange nicht zu den schlimmsten Möglichkeiten. Was mich persönlich mit dem stärksten Abscheu erfüllte, war etwas, was ich die ›unabhängigen Gliedmaßen‹ nennen möchte. Da sah ich zum Beispiel schwer atmende Körperchen von etwas, das wir Siebenmonatskinder nennen würden, bei denen ein Arm sich nicht rückentwickelt hatte. Das heißt, aus dem winzigen Schultergelenk wuchs im gräßlichen Crescendo, erst ganz dünn und dann immer stärker, ein richtiger Männerarm mit einer schweren, großen Hand. Diese Hand öffnete sich, krallte sich zusammen, öffnete sich wieder, griff umher, suchte Halt, bewegte den Körper, der an ihr hing, ein Stück vorwärts, ruhte aus, griff weiter und kam so langsam vom Fleck. Ich mußte an das Märchen von dem Mann denken, der seine Mutter mißhandelt hatte und dessen Hand aus dem Grabe wuchs. Was für die Hand galt, das galt auch für die andern Extremitäten des menschlichen Körpers. Das humoristische Gedicht vom »Knie, das einsam durch die Welt ging« war hier Ereignis geworden, ein neuer Beweis, daß die abstrusesten Einfälle der Dichterhirne irgendwo stets in der Wirklichkeit begründet sind. Das Widerwärtigste aber, was ich sah, und was ich nur sehr ungern verrate, waren hypertrophe männliche Geschlechtsteile, die sich matt bewegten, während die Säuglingskörper, zu denen sie gehörten, schon tot zu sein schienen.

»Hat der Wintergarten das Recht«, rief ich empört, »danteske Höllenstrafen über Leute zu verhängen, die sich ihm gläubig anvertrauen?«

»Das ist die Frage eines Laien«, versetzte der Animator hinter uns, und er lispelte nicht mehr, noch gefiel er sich in anderen Manieriertheiten wie früher, sondern er fuhr halblaut fort: »Und deshalb ist auch der Anblick der Kataboliten den Laien verboten, weil sie das Geschaute weder verstehen noch richtig einschätzen können, sondern sich nur selbst schädigen damit. Im Wintergarten gibt's keinerlei Höllenstrafen. Ganz im Gegenteil. Durch die niedrigen oder einseitigen Formen, die der rückentwickelte Körper anzunehmen gezwungen ist, wenn die psychischen Gebrechen der Persönlichkeit den glatten Ablauf stören, wird die Seele von diesen Gebrechen noch während ihrer Lebenszeit entlastet. Es ist besser für die Seele, ihre Krankheit bricht noch im Körper aus, als sie muß die Krankheit mit hinüberschleppen ...«

»Sprechen wir nicht vom Drüben«, fuhr ich ihm ins Wort. »Das Gräßliche, was ich sehe, leidet hier ...«

»Wieder das falsche Denken des Laien. Wer leidet? Die Axolotln leiden nicht, noch auch die Schweinchen und Fische. Sie haben das Bewußtsein und die Nerven von sehr müden Ferkeln, Lachsen und Molchen. Auch die hypertrophen Gliedmaßen leiden nicht, denn sie haben überhaupt kein Bewußtsein, sondern nur einen gewissen Bewegungsdrang. Nicht einmal die Rübenmännchen, die noch gerettet werden können, leiden wirklich. Sie sind ausgesprochene Simulanten, und die Koprolalie bereitet ihnen Vergnügen. Und außerdem ist alles bald vorüber, wenn das Wasser kommt und die Kataboliten ins Mnemodrom trägt ...«

»Mnemodrom? Heißt der See vor unsern Augen Mnemodrom?«

»Er heißt so, obwohl er ein See des Vergessens ist.«

»Eine Art Lethe also? Hörst du, B.H.?«

»Wir nennen ihn Mnemodrom. Und nur wenige Fremde bekommen ihn zu Gesicht. Und meist nur wirklich Leidende ...«

»Wirklich Leidende? Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel Sie, Seigneur, und ich ...«

»Besteht das Mnemodrom aus einer Lauge, in der sich organische Körper auflösen?«

»Wo denken Sie hin? Das Mnemodrom besteht aus Leichtem Wasser.«

»Was ist das wieder für eine Sache, dieses ›Leichte Wasser‹?«

»Es ist das berühmte Wasser, das nicht naß macht. Haben Sie nie von ›chemisch Schwerem Wasser‹ gehört?«

»Warten Sie! Ich erinnere mich dunkel, daß ich einmal im Wartezimmer eines Zahnarztes einen populären Artikel über ›Schweres Wasser‹ gelesen habe. Kann aber ebensogut ›Flüssige Luft‹ gewesen sein ...«

»Nun, das genaue Gegenteil davon ist ›Leichtes Wasser‹ ...«

»Soll man sich etwa darunter das Taufwasser des astromentalen Menschen vorstellen, das ihm Vergessenheit bringt? Gar nichts Neues. Immer wieder stolpert man über mythologische Realitäten.«

»Das ist falsch. Das Leichte Wasser zerstört nichts. Es ist ein ziehendes Element. Es zieht den Bilderschwarm, die Gespensterhorden aus unserem Bewußtsein. Es macht uns leer und rein und bereit ...«

»Was heißt das? Leer und rein und bereit. Solchen Worten mißtraue ich inbrünstig ...«

Der Animator verfiel für einen Augenblick wieder in seinen schwärmerischen Ton: »Oh, Seigneur, das Leichte Wasser schenkt Ihnen die äußerste aller vorhandenen Wonnen ...«

Der Damm, auf dem wir dahinfuhren, hatte den Katabolitengraben beiseit gelassen. Er war schmäler geworden und auch das Trottoir roulant holpriger und dem Anschein nach morscher. Rechts und links von uns wuchsen, ähnlich wie an den Ufern des Toten Meeres, salzbestaubte Riesendisteln und hohes Gesträuch. Mir fielen da und dort Grabscheite auf, die im Sand staken, ein Beweis, daß hier Erdarbeiten irgendwelcher Art notwendig waren. Wir schwiegen alle. (Der Animator hatte die Badediener nicht einmal zum Schollenacker der Rübenmännchen mitgenommen.) B.H. hielt den Kopf tief auf die Brust gesenkt. Vielleicht konnte er nicht mehr sprechen. Ich hielt ihn fest. Wir fuhren einer unabsehbaren Gefahr entgegen. Dieses überklare Bewußtsein (Kopfdruck, Kopfdruck) gab nicht nur meinem Geiste, sondern auch meinem gequälten Körper unerwartete Kräfte. Ich überlegte: Sollte ich vom laufenden Band abspringen und meinen Freund mit mir reißen? Es hätte nichts geholfen. Nach einem kurzen Lauf wären wir wieder in der Macht des Animators gewesen. Inzwischen war der Damm zu einer alten, schmutzigen Holzbrücke geworden. Diese Brücke lief weit in den See hinaus. Die Fahrt hielt. Ich konnte zwischen den morschen Planken der Brücke das Wasser sehen, von dem Nebel aufstieg. Ich ging mit B.H. langsam weiter. Die Brücke hatte kein Geländer. Mein Plan war gefaßt. Noch zehn langsame, wohlgezählte Schritte. Dann werde ich jäh kehrt machen, mich mit meinem ganzen Gewicht auf den kleinen Mann hinter mir stürzen und ihn ins Wasser des Mnemodroms stoßen. Sehr peinlich. Das letzte Mal, da ich mich auf irgendwen gestürzt habe, war ich siebzehn oder achtzehn Jahre alt gewesen. Es blieb nichts anderes übrig. Eins, zwei, drei, vier. Genau beim fünften Schritt klappte die Brücke plötzlich ein, und B.H. und ich glitten gelinde über eine schiefe Ebene ins Wasser, ohne zu fallen. Wir standen im Nebel. Der See ging uns ungefähr bis zur Herzgrube. Das Wasser aber war in der Tat »Leichtes Wasser«, das, obwohl man es als laue Flüssigkeit spürte, weder unsere Kleider noch unsere Haut naß machte. Wenn ich die Hand aus dem See zog, rannen die Tropfen wie Quecksilberkügelchen ab, ohne eine Spur zu hinterlassen. Der Animator stand etwa fünfzehn Schritte von uns entfernt auf dem scharfen Rand der Brücke, wo sie in wohlvorbereiteten Scharnieren herabgeklappt war. Hätte sein weißer Kittel nicht hell geleuchtet, so wäre seine Gestalt in dem Nebel und in der Dämmerung kaum zu sehen gewesen. Seine hohe, skandierende Professorenstimme aber durchdrang deutlich den trüben Raum:

»Dies geschieht einzig und allein zu Ihrem besonderen Wohle, zu Ihrem Fromm und Nutzen, glauben Sie's mir, verehrte Ios. Geben Sie sich hin, ich rate es gut. Kein himmlischer Strahl könnte Sie je glücklicher machen als Ihre Hingabe. Das Leichte Wasser befreit Sie von Krämpfen und Widerständen. Ich komme sehr schnell zurück, um Ihren Dank entgegenzunehmen, wie ich hoffe ... Denn sonst? Möchten Sie etwa ein Leben führen, wie ich es führe, seit undenklicher Zeit, ohne Tag und Nacht?«

 

Wir hatten Glück gehabt bei unserer tückischen Rutschpartie in den See, denn wir standen dicht beieinander im Leichten Wasser. Das gab mir die Möglichkeit, meinen Freund immer wieder mit den Armen zu umfassen. Jedesmal, wenn ich das tat, fühlte ich, wie er tiefer atmete, wie Leben und Wachen in ihn zurückkehrte. Er begann sogar rührenderweise abgerissene Sätze zu stammeln, die mir versichern sollten, daß er sich zusammennehmen und keineswegs »hingeben« werde, wie es der Animator verlangt hatte. Woher ich meinen eigenen Hoffnungsmut nahm, weiß ich nicht zu sagen. Ich leite ihn aus der Kenntnis meines Charakters ab, zu dem ein grundloser und sträflicher Optimismus gehört. So habe ich im Jahre 1940, als in Frankreich alles verloren war und wir um unser Leben flohen und der Triumph des Weltfeindes für alle Zeiten gesichert schien, trotz allem nicht einen Augenblick daran gezweifelt, daß unsere Sache zuletzt siegen werde. Als sträflich bezeichne ich diesen Optimismus deshalb, weil er in dem kindisch überheblichen Glauben wurzelt, daß unter allen Menschen eigens und allein und ausdrücklich mir selbst nichts Endgültig-Böses zustoßen konnte.

Unsere Oberkörper waren frei und bewegten sich nach Belieben, unsere Beine aber waren in den Schlamm des seichten Seegrundes eingesunken. Um meine Kräfte nicht unnütz zu verbrauchen, gab ich nach einigen vergeblichen Versuchen schnell die Anstrengung auf, die Füße herauszuziehen. Im Schweren Wasser, dachte ich, sind die Körper leicht. Die Schwimmer im Toten Meer bei Jericho können nicht untergehn. Im Leichten Wasser sind die Körper schwer. Es hat keinen Sinn, zu spekulieren. Auch das ist unnützer Kräfteverbrauch. Um B.H. wach zu halten, begann ich ein Gespräch.

»Ich habe sofort geahnt: der Animator ist ein Widerspenstiger. Alle Funktionäre hier sind Widerspenstige. Er aber hat mehr als hundert Jahre durchgehalten, obwohl er einen astromentalen Körper besitzt, der nicht immun ist gegen den schwarzen Humus. Mein Körper aber ist nicht astromental und daher immun. Solange du bei mir bist und ich dich anfasse, B.H., kann dir nichts geschehn ...«

»Abgemacht und einverstanden, Herr Oberst«, lallte der Todestrunkene. »Wir müssen uns auf die Brücke hinaufarbeiten, das ist alles ...«

Nach diesen meinen Worten begann es. Was begann? Es waren Menschen um uns. Diese Menschen drängten sich im Nebel, und ich konnte nicht genau sehen, auf welchem Boden sie standen. Sie standen auf Wasser. Hier und da bekamen sie auch das Durcheinanderspielende von Wasserbildern. Sie hatten aber durchaus nichts von Schemen und Idolen an sich und waren so durchgearbeitet real, daß ich vermutete, sie stünden auf einem Floß oder einer großen platten Barke, die sie hergerudert hatten. Dies aber war auch nicht möglich, da sie uns in einem dichten Kreis umgaben und mit Hüteschwenken und Stimmendurcheinander unsere Aufmerksamkeit zu erwecken suchten. B.H. hatte zweifellos Bekannte entdeckt, denn seine Augen glühten. Der erste Bekannte, den ich entdeckte, war ein alter Herr, der Philosoph Professor H.M., eine freundliche Figur, die oft mit mir gescherzt hatte, als ich ein Kind gewesen. Er war's, wie er geleibt und gelebt hatte in seinem sackartigen Anzug, das lange und graue Haar zurückgebürstet, mit kleiner Stahlbrille und Bärtchen. Vögel, die er zu füttern pflegte, umflatterten ihn. Die Menschenmenge, die uns umgab, bestand selbstverständlich nur aus Bekannten und nicht nur aus Bekannten, sondern aus sehr nahen Menschen meiner fernsten Vergangenheit. Der empfindsame Leser aber möge es verstehen, daß ich von den sehr nahen Menschen nicht sprechen will, sondern nur einiger gleichgültiger Gestalten Erwähnung tue, die sich mir bemerkbar machten. Das Leichte Wasser des Mnemodroms hatte diese Schar von überaus deutlichen und wahrhaftigen Menschen aus unserm Innern gezogen, und es war vom Animator völlig verfehlt, von einer »Gespensterhorde« zu sprechen. B.H. sah ohne Zweifel ganz andere Leute und vermutlich zehnmal soviel als ich. Merkwürdig war eine gewisse Umdrehung der Zeitfolge. Man könnte ganz gut von einem Zeitnegativ sprechen, in demselben Sinne wie von einem photographischen Negativ.

Die Menschen der Menge nämlich, die mir zunächst standen und die am schärfsten ausgebildet waren, bis zu den Knöpfen der altmodischen Gewänder, die sie trugen, gehörten meiner Kindheit und Jugend an, während ich in den entfernteren und unbestimmteren Reihen diejenigen erkennen konnte, die meinen späteren Lebenspfad geteilt oder gekreuzt hatten. Ganz vorne sah ich sogar einige Männer und Frauen der verschiedensten Stände, die mir vertraut waren, ohne daß ich sie hätte benennen können. Aber selbst der Anblick dieser Unbenennbaren war mir so tief gewohnt, als wäre ich während meines ganzen Lebens (inklusive der Abwesenheit im Fegfeuer) keine Sekunde lang von ihnen getrennt gewesen. Im großen und ganzen ließ sich das Gedränge am besten mit einem imposanten Menschenhaufen auf einem Bahnhofperron vergleichen, der von einem verdienstvollen Landsmann Abschied nimmt, der in die Ferne zieht. Dieser verdienstvolle Landsmann am herabgelassenen Coupéfenster war gewissermaßen ich selbst. Nur wurde mir die Situation erst nach und nach bewußt, denn ich war allzu beschäftigt mit Erkennen und Wiedererkennen. Die andern schienen viel eher zu wissen, wieviel es geschlagen hatte. Denn die meisten winkten mir lebhaft zu. Da war ein verrückter Bettler, vor dem ich mich als Kind gefürchtet hatte, der mit feindseliger Geste eine Art Veitstanz des Hasses vollführte. Neben ihm stand ein hochgewachsener schlanker Mann im Stadtpelz, der in rhythmischen Abständen schwungvoll seinen Schlapphut schwenkte. Aber das war ja Doktor S., der große Stadtpoet, der erste wirkliche Dichter, den ich in meinem Leben gekannt hatte. Der große Stadtpoet glich wahrhaftig bis aufs lange Haar einem Dichter, wie man sich ihn um die Jahrhundertwende vorzustellen pflegte, neuromantisch und mit einer formgebändigten Neigung zur Dekadenz. Sonderbar war daran, daß unser Stadtpoet mit seinen eingefallenen Wangen, verwirrten Augen und herabhängendem Schnurrbart sich genau der Vorstellung bewußt war, welcher er entsprach. Er schrieb daher an die Vorstandsdamen der provinziellen Vereine, die ihn zur Rezitation seiner Gedichte einluden, folgendes stereotype Briefchen, dessen Text sich herumgesprochen hatte: »Meine liebe Frau Soundso. Ich treffe dannunddann mit dem Morgenzuge in Ihrer Stadt ein, die ich vom letzten Mal in bester Erinnerung habe. Ich erwarte, von einer Ihrer Damen abgeholt zu werden. Erkennungszeichen: Ich sehe wirklich aus wie ein Dichter.« Für mich aber, den Knaben von einst, sah er nicht nur so aus, sondern war's. Mit zwölf und dreizehn Jahren erschrak ich voll schamvoller Verehrung, wenn ich dem Barden und Seher unserer Stadt auf der Straße begegnete. Einmal in demselben Jugendalter durfte ich während einer kleinen Reise Zeuge sein, wie er im Zugabteil von einigen Erwachsenen über die Wunder der Poesie ausgefragt wurde und was das eigentlich für ein Ding sei, ein Gedicht, und wie man mit Treffsicherheit ein gutes von einem schlechten unterscheiden könne. Am rauchigen Fenster zog gemächlich die reife Sommerlandschaft meiner Heimat vorbei: ferne Hügel, Dörfer und Saatfelder und immer wieder dasselbe. Mitten unter dem gelben Getreide hob die Julisonne einen kleinen verlorenen Kirchhof hervor, dessen Grabkreuze aufschimmerten. Der Stadtpoet deutete auf dieses Bild mit dem wohlgepflegten Nagel seines Zeigefingers und sagte: »Sehen Sie, meine Herrschaften, das ist ein Gedicht ...« Und jetzt im Nebel des Mnemodroms grüßte er mich mahnungsvoll, in rhythmischen Abständen seinen Schlapphut schwenkend. – Nicht fern von ihm entdeckte ich den Arzt. Ich nenne ihn den Arzt meiner Jugend, obwohl er's gar nicht gewesen und nur zwei- oder dreimal den bärtigen Kopf auf meine Brust gelegt hatte, um mich im alten Stil abzuhorchen, wenn ich die Schule zu schwänzen gedachte. Dagegen aber führte er uns Jungen auf langen Sonntagsausflügen durch Täler und Wälder, halbnackt wie Silen, und lehrte uns mit seiner krächzend lustigen Stimme, Pflanzen zu klassifizieren und geologische Formen zu unterscheiden. Der Pater Exorzist hätte den Arzt meiner Jugend zweifellos zu den »sandalentragenden Naturschwärmern« gerechnet. Verdammt hätte er ihn mit Unrecht, obwohl der Arzt meiner Jugend zweifellos und eingestandenermaßen ein Atheist war. Nur Gott, an den er nicht glaubte, kennt die überströmende Gottesliebe dieses Mannes und seine Getrostheit, die einzig und allein dieser Liebe entströmte. Eines Tages gegen Abend begegnete ich ihm auf der Straße. Er trug einen Rucksack über der Schulter und einen derben Stock. »Ausflug?« fragte ich. »Ja, ein längerer diesmal«, lachte er und reichte mir die Hand wie immer. Ich wußte nicht, daß er zu Fuß und freiwillig ins Hospital ging, eine hoffnungslose Operation an sich vollziehen zu lassen, von der er nicht mehr heimkehrte. Und dort stand er nun im Nebel, völlig wie er war, und winkte mir eifrig zu. – Ich habe diese Gestalten der Peripherie ein wenig hervorgeholt, wie sie mir ins Auge fielen. Da aber warteten viele Hunderte, ja vielleicht sogar Tausende, daß ich sie verabschiede. Und jeder einzelne war so sehr mein, daß ich viele Geschichten über ihn niederschreiben könnte, die Band an Band füllen würden. Es war mein Volk, meine Menschheit, die von mir tückisch durch das Leichte Wasser getrennt werden sollte. Es war mein Volk, ich aber war sein König, und ich wußte plötzlich mit greller Überzeugung, daß sie in meiner Seele leben sollten, solange diese Seele selbst lebt, und daß hier etwas Verbotenes und Verruchtes zu geschehen im Begriffe war. Doch nicht nur Gestalten und Gesichter umrundeten mich. Wie auf einem nicht sehr gut synchronisierten Tonband liefen verwehte Gespräche mit, Geräusche, ja Gerüche.

Es waren übrigens die banalsten Gesprächs-Fetzen, die sich denken lassen. Das einzig Merkwürdige lag in den oft bis zur Unkenntlichkeit verschollenen Namen und Dingen, die sie enthielten. Frauenstimmen nannten die Preise von Lebensmitteln in Geldsorten, die es nach 1900 nicht mehr gegeben hat. Männerstimmen ereiferten sich über politische Ereignisse und Personen, an die ich keine Erinnerung mehr besaß, obwohl das Leichte Wasser des Mnemodroms diese Szenen und Fakten aus meinem eigenen Innern gezogen hatte und aus sonst nichts. Ich horchte schon freudig auf, wenn der Name König Eduard fiel oder Sarah Bernhardt, die ein Gastspiel gab, und eine böse Greisenstimme sich über die zunehmende Roheit des Zeitalters empörte, da am gestrigen Sonntag mehr als tausend Personen teuere Eintrittsbilletts gelöst hatten, um einem Fußballmatch beizuwohnen. Dazu trabten die Droschken und Fiakerpferde unablässig über nächtliches Pflaster. Es klang wie wenn aus großen Flaschen langsam Mineralwasser in viele Gläser geschenkt wurde. Tramways läuteten und Lokomotiven pfiffen, Leichenbegängnisse und Militärkapellen näherten und entfernten sich mit Bumbumbum und Tschindera. Und es roch nach schwerem, schwarzem Kohlendampf, und dann roch es nach frischgebranntem Kaffee, und dann roch es nach dem Staub der sonntäglichen Hauptallee, nach Pferdeäpfeln und Kastanienblüten; und jetzt roch es nach Karamellen und nach Schokolade. Diesen Geruch konnte ich sofort lokalisieren. Er gehörte zu einem Hause, in dem sich eine Schokoladenhandlung befand, wo ich oft auf und ab patrouilliert bin. Und als wäre sie aus der Tür dieses Geruches hervorgetreten, sah ich die junge Dame im langen, hellen Frühlingskleid und breiten Florentiner Strohhut! Sie löste sich von der Menschenmauer los, die auf die endgültige Verabschiedung wartete. Sie glaubte vermutlich das Recht dazu zu haben, weil ich sie als Student angeschwärmt hatte. Herzbeklemmend unverändert war sie, wie sie das Tennisracket hin und her schwang. Sie schien nicht das geringste Gewicht darauf zu legen, daß sie in jungen Jahren an einer schrecklichen Krankheit zugrund gegangen war, sondern rief nun mit kapriziöser Ungeduld:

»Worauf warten wir noch? Ich komme ja zu spät.«

Genau bei diesen Worten der jungen Dame durchdrangen mich große geistige Erhellungen, und ich würde viel drum geben, daß sie mir nicht ganz und gar unter der Feder zerrinnen wie die meisten Erkenntnisse, die an der Grenze des Sagbaren wohnen. Wie glücklich wäre ich, wenn der Leser, der selbst niemals bis zur Herzgrube im Leichten Wasser des Mnemodroms stand, die Gefahr voll begriffe, der ich ausgesetzt war. Vor allem eins: der retrogenetische Humus führte das Leben bis zum erst-letzten Herzschlage zurück, er bedrohte aber nicht die Persönlichkeit, die er zurückentwickelte; wahrer gesagt, er bedrohte sie nicht viel anders, als es der alte Tod tat. Das Leichte Wasser des Sees aber, das fühlbar an mir sog und sog, bedrohte die Vollzähligkeit meines Ichs, indem es den Inhalt meines Lebens von mir zu trennen suchte. Was war ich? Was sind wir? Mit einem Vergleich will ich's ausdrücken. Ich war wie eine Photographie. Woraus besteht solch eine Photographie? Aus einer lichtempfindlichen Fläche und aus dem Bilde, das sie festhält. Das Wasser des Mnemodroms versuchte das Bild abzulösen und die leere verbrauchte Fläche übrig zu lassen, mit der später der Animator ein leichtes Spiel haben würde. Das, was mich hier im Nebel an Gesichtern und Gestalten umgab, an nahen und fernen, an Zartheiten, Liebheiten, Warmheiten, Neigungen, Abneigungen, das hatte ich mir zu einem einheitlichen Bilde erarbeitet. Obwohl dieses Bild aus Zehntausenden von Strichen und Färbflecken zusammengesetzt war, von denen die meisten ganz zufällig und ganz unwichtig erschienen, bildete es doch ein Ganzes, das keine Auslassung ertrug. Es war mir wie allen andern Seelen gelungen, das Ewig-Flüchtige in ein Flüchtig-Ewiges zu verwandeln, was die große Kunst des Menschen allein ist. Die Gegenwart hat keine Dimension, und deshalb wird das Leben erst dann zum Leben, wenn es nicht mehr ist. Mit einer Gewißheit, mit der mich niemals ein religiöser Glaube durchdrungen hatte, wußte ich jetzt, daß all das gestaltenreiche Leben hier, das rings um mich her Abschied nehmen wollte, meine unveräußerliche Mitgift war, mehr als das, mein eigenstes Weltwerk, das ich Gott darzubringen hatte, der wahre Opferrauch, von dem er sich nährte. Vergessen, das war der Inbegriff aller Sünde, die der Mensch begehen konnte. Und weil ich das mit greller Schärfe und tödlicherer Not erkannte, als wortgewordene Gedanken es darstellen können, schrie ich mein Volk an, das mich im Kreise umgab:

»Hiergeblieben! Nicht fortrühren! Ich gebe euch nicht her. Ich gebe mich nicht hin!«

Und auch B.H., der dasselbe erlebte wie ich, schrie auf: »Ich gebe euch nicht her!«

Er drückte sich bei diesem Schrei fest an mich. Ich fühlte plötzlich einen Schmerz unter der Herzgrube. Etwas Scharfes war mir in die Haut gedrungen. Ich zog die giftgrüne Handarbeit hervor, die mir eine der Frauen vom Ammenhügel geschenkt hatte. Ich hatte das Ding unter meiner Weste verborgen. Jetzt wickelte ich's auf. Es war ein langer starker Streifen. Man konnte ihn als Seil verwenden, denn eines der Enden war mit einem Stein beschwert und trug einen rostigen Haken. Vielleicht waren die Ammen gar nicht so leer und schwachsinnig wie sie erschienen. Uns haben sie jedenfalls gerettet. Es kostete freilich viele, viele kraftraubende Würfe, ehe der Haken an der Spitze des elastischen Streifens irgendwo das morsche Holz der Brücke enterte, wo sie über den See hervorragte. B.H. umfaßte mich. Wie es mir gelang, die doppelte Last aus dem Wasser zu ziehen, kann ich nicht sagen. Doch es gelang mir. Oben auf der Brücke fielen wir keuchend hin.

»Nicht schlafen«, mahnte ich den Freund, »nicht schlafen.«


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