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Zehntes Kapitel.

Die Seefahrt war schnell und günstig gewesen, und nach kurzem Aufenthalte in Triest trug der Bahnzug das Regiment in die heimischen Berge und in seine Garnison, die Hauptstadt Südtirols.

In der Stadt herrschte reges Leben, denn alles war herbeigeeilt, um die Zurückkehrenden zu begrüßen, die dort an der fernsten Grenze des Reiches so manchen harten Strauß bestanden hatten und nun nach Mühen und Gefahren aller Art den Frieden mit heimbrachten. Auf dem Bahnhof und in der nächsten Umgebung desselben harrte eine freudig erregte Menge auf den Zug, der das Regiment bringen sollte; besonders das Landvolk war zahlreich herbeigeströmt. Es gab kaum eine Bauernfamilie in der Runde, die nicht einen Sohn, Bruder oder sonstigen Angehörigen unter den Kaiserjägern besaß und ihm nun das erste Willkommen in der Heimat zurufen wollte.

Jetzt endlich verkündete das Krachen der Böller nah und fern von den Bergen das Nahen des Zuges, der unter lautem Jubel und mit flatternden Fahnen in den Bahnhof einlief. Die Wagen wurden geöffnet, und die ganze Woge der Heimkehrenden ergoß sich auf den Perron, wo nur die Behörden und ein Teil der vornehmeren Einwohner Zulaß gefunden hatten.

Nachdem der erste Sturm der offiziellen und vertraulichen Begrüßungen vorüber war, versuchte Gerald von Steinach, der seine junge Frau am Arm führte, sich Bahn durch das Gedränge zu machen. Auch er hatte manches bekannte Gesicht gesehen, manche Hand gedrückt und viele Glückwünsche empfangen; denn durch die Briefe seiner Kameraden war seine Vermählung bereits in der Garnison bekannt geworden; aber es war doch nur die Begrüßung von Fremden. Die Arme, welche ihn damals beim Abschiede mit so angstvoller Zärtlichkeit umschlungen, streckten sich jetzt bei der Rückkehr nicht nach ihm aus; keine Mutter harrte seiner, um ihn in der Heimat zu bewillkommnen, und doch hing er mit ganzer Seele an dieser Mutter, und auch er war ihr bisher alles gewesen.

Der junge Offizier fühlte gerade in dieser Stunde des allgemeinen, frohen Wiedersehens so unendlich schwer, was er verloren hatte. Das Vaterhaus, das sich jetzt jedem öffnete, war ihm und seinem jungen Weibe ja verschlossen, und blieb es vielleicht für immer. So sehr er sich auch bemühte, diese Stimmung zu verbergen, er konnte doch nicht ganz die Wolke bannen, die auf seiner Stirn lag, und Danira erriet, was er vermißte; sie wußte ja am besten, was ihn seine Wahl gekostet hatte. Sie willigte sofort ein, als er vorschlug, sich rasch dem Gedränge zu entziehen und nach seiner Stadtwohnung zu fahren, wo das junge Paar einstweilen bleiben wollte, bis die Einrichtungen für den künftigen Haushalt getroffen waren.

Hinter den beiden schritten Jovica, die in dem gleichen Kupee die Reise mitgemacht hatte, und Jörg, der allerdings mit seinen Kameraden hatte fahren müssen, aber bei der Ankunft wie eine Rakete mitten durch die Menge geschossen war, um den Platz einzunehmen, den er als sein rechtmäßiges Eigentum betrachtete.

Die junge Slavin trug jetzt die Tiroler Landestracht, die man ihr unterwegs angeschafft hatte, und in der sie sehr zierlich aussah. Ihre glänzend schwarzen Haare waren sorgfältig in Flechten geordnet, und sie blickte mit ihren großen, schwarzen Augen neugierig und freudig auf das Gewühl ringsum. Trotzdem sah sie aber noch ungemein kindlich und völlig fremdartig aus; man erkannte es auf den ersten Blick, daß sie einem anderen Volke angehörte.

Jörg ging mit großem Selbstbewußtsein an ihrer Seite. Er hatte nicht umsonst seine Herzensangelegenheit in den Schutz seines Leutnants gestellt; dieser Schutz erwies sich als sehr wirksam. Gerald und Danira nahmen sich der Sache mit allem Eifer an, und es war ihnen während der Reise sogar gelungen, den Pater Leonhard umzustimmen.

Der geistliche Herr hatte gegen die Persönlichkeit Jovicas allerdings nichts einzuwenden; er hatte seinen sanften, bescheidenen und folgsamen Zögling selbst liebgewonnen; aber er schüttelte noch immer sehr bedenklich den Kopf bei der Vorstellung, das ›Heidenkind‹ dereinst als Moosbachbäuerin zu sehen, und erklärte es für unmöglich, die Einwilligung von Jörgs Eltern zu erhalten, obgleich er seine Verwendung zugesagt hatte. Augenblicklich war der Pater von einigen Amtsbrüdern in Anspruch genommen, die sich gleichfalls zur Begrüßung auf dem Bahnhofe eingefunden hatten.

Gerald hatte sich soeben aus dem Gedränge losgemacht und schritt mit Danira nach dem Ausgange, als beide wie angewurzelt stehen blieben beim Anblick der jungen Dame, die ihnen dort entgegentrat. Die zarte, graziöse Gestalt in der eleganten Reisetoilette, die blonden Haare, die sich lockig unter dem kleinen Hütchen hervordrängten, die leuchtenden, blauen Augen, das alles war so bekannt und so vertraut. Gerald ließ den Arm seiner Frau fahren, die bleich und keines Wortes mächtig dastand; er wollte allein die peinliche Begegnung auf sich nehmen. Da aber flog das junge Wesen schon auf Danira zu und schlang beide Arme um ihren Hals.

»Danira, du böser Flüchtling! Also hier in Tirol muß ich dich wiederfinden!«

»Edith, wie kommst du hierher!« rief die junge Frau halb freudig, halb erschrocken. »Ist das ein Zufall?«

»O nein! Ich bin eigens gekommen, um euch zu empfangen. Ich wollte euch den ersten Gruß bringen«, sagte Edith, indem sie sich emporrichtete. Einige Sekunden lang zögerte sie, wandte sich dann aber rasch um und streckte ihrem ehemaligen Bräutigam die Hand hin.

»Grüß Gott, Gerald! Willkommen in der Heimat mit deiner Frau!«

Gerald beugte sich wortlos über die kleine Hand, die in der seinigen lag. Er fühlte nicht das leise Beben derselben, als er seine Lippen darauf drückte; er sah nur das rosige Antlitz Ediths, ihr Lächeln, und ein tiefes, frohes Ausatmen hob seine Brust. Gott sei Dank! Hier wenigstens hatte er nicht so wehe getan, wie er fürchtete, hier wenigstens wurde ihm Versöhnung geboten.

»Bist du wirklich um unsertwillen gekommen?« rief Danira mit ausbrechender Freude. »O, du ahnst nicht, was dies Willkommen aus deinem Munde mir, uns beiden ist.«

Die junge Dame trat mit komischer Feierlichkeit einen Schritt zurück.

»Nicht so stürmisch, meine gnädige Frau! Ich habe außerdem noch eine wichtige Mission und muß meine Würde als offizieller Abgesandter wahren. Schloß Steinach empfiehlt sich den jungen Herrschaften und ist bereit zu ihrem Empfange; sie werden dort offene Arme und Herzen finden. Hier, Gerald, ist ein Brief deiner Mutter, nur wenige Zeilen, in denen sie Sohn und Tochter zu sich ruft.«

»Edith – das ist ja unmöglich – ist das dein Werk?« rief Gerald, noch zweifelnd, indem er das Schreiben nahm, das allerdings die Handschrift seiner Mutter zeigte.

»Meine erste Leistung in der Diplomatie! Ich denke, sie ist nicht so übel ausgefallen, und leicht war sie auch nicht, denn ich hatte die Tante und den Papa vereint gegen mich. Aber jetzt mußt du mir Danira auf eine halbe Stunde lassen, Gerald. Wir trennen uns sogleich wieder, und da will ich sie wenigstens noch einmal für mich allein haben.«

»Trennen? Weshalb denn? Du begleitest uns doch?«

»Nein, ich fahre mit dem nächsten Kurierzuge nach G. zu meinem Vater. Euch aber erwartet die Tante noch heute in Steinach, und ihr dürft sie nicht vergebens warten lassen; es sind großartige Anstalten zu eurem Empfange getroffen.«

Gerald hatte währenddessen rasch den Brief erbrochen und durchflogen; er zeigte ihn jetzt seiner Gattin. Es waren in der Tat nur wenige Zeilen, aber sie bestätigten Ediths Worte: es war der Gruß einer Mutter, die ihre Kinder zu sich rief.

»Grüß Gott, gnädiges Fräulein! da bin ich auch wieder!« sagte Jörg, der die augenblickliche Pause benützte, um sich vorzustellen, und er sah mit Befriedigung, daß er nicht vergessen war. Das alte mutwillige Lächeln zuckte wieder um die Lippen der jungen Dame, als sie sich zu ihm wandte.

»Jörg Moosbacher! Bist du glücklich zurück aus der Krivoscie? Sie ist doch wohl nicht ganz so schlimm, als du sie dir vorstelltest; denn wie ich sehe, trägst du die Tapferkeitsmedaille. Höre, Jörg, du imponierst mir ungemein als heimkehrender Sieger! Wie steht es denn mit dem Antrage, mit dem du mich damals beehrtest? Ich bin jetzt wieder frei und hätte nicht übel Lust, Moosbachbäuerin zu werden.«

»Ich dank schön«, stotterte Jörg verlegen. »Es tut mir sehr leid, aber – ich bin halt schon versehen.« Damit zog er Jovica hervor, die hinter ihm stand, und präsentierte sie, jetzt aber brach Edith in ein helles Lachen aus.

»Auch eine Krivoscianerin? Um des Himmels willen, haben sich denn die sämtlichen Kaiserjäger da oben verlobt und verheiratet? Das wird eine Revolte geben unter den Tiroler Mädchen. Ich finde, daß du sehr inkonsequent bist, Jörg; du vermaßest dich damals, hoch und teuer zu behaupten, nur eine Tirolerin heimzuführen, und schlugst ein Kreuz wie vor dem Gottseibeiuns, als ich dir die Töchter jenes Landes vorschlug, die du ›Wilde‹ zu nennen beliebtest.«

»Gnädiges Fräulein,« sagte Jörg feierlich, »es ist kein Ding in der Welt so schlimm, es hat doch immer ein Gutes, sogar die Krivoscie! Das einzig Gute da oben war die Jovica – und das hab' ich mir halt mitgebracht.«

»Nun, so wünsche ich dir und deiner Jovica alles nur mögliche Glück. – Aber jetzt komm, Danira, damit wir wenigstens eine halbe Stunde noch plaudern können. So lange muß dich Gerald noch frei geben. Komm, dort drüben im Wartesalon sind wir heute ganz ungestört.«

Sie zog Danira fort, während Gerald, der den Pater Leonhard kommen sah, rasch zu ihm trat, um ihm die ebenso unerwartete als freudige Nachricht mitzuteilen.

Der kleine Wartesalon war in der Tat völlig leer, denn alles drängte nach dem Ausgange. Die beiden jungen Damen saßen dicht nebeneinander; Edith hatte in der alten vertraulichen Weise den Arm um ihre Pflegeschwester gelegt und erzählte, lachte und plauderte unaufhörlich. Aber Danira war in diesem Punkte nicht so leicht zu täuschen wie Gerald. Sie liebte selbst und wußte, daß eine Liebe, die einmal im Herzen Wurzel gefaßt hat, nicht so schnell vergessen werden kann; sie sprach wenig, aber ihr Auge ruhte unverwandt auf Ediths Zügen.

Es war ja noch das liebliche Gesicht, das unverändert erschien in seiner rosigen Frische und Heiterkeit; aber es schien nur so. Um den kleinen Mund lag ein Zug, den all das Lächeln nicht bannen konnte, der von einem geheimen Weh sprach, und wenn man recht tief in die blauen Augen sah, dann erkannte man auch den Schatten darin. Die sprühende Lebhaftigkeit war dieselbe geblieben; aber es war nicht mehr der Übermut eines frohen, unbefangenen Kindes, das noch kein Leid erfahren hat; mitten in all dem Scherzen klang bisweilen ein Ton durch wie von mühsam verhaltenen Tränen. In einem solchen Moment ergriff Danira plötzlich beide Hände des jungen Mädchens und sagte leise:

»Laß das Scherzen, Edith! Ich habe dir wehe getan, wehe tun müssen, aber glaube mir, ich habe selbst am meisten darunter gelitten. Ich empfand es so unendlich schwer, daß du mir keine Antwort sandtest.«

»Bist du mir böse darüber? Ich konnte nicht –«

»Nein, du konntest mir damals noch nicht antworten – ich hätte das begreifen sollen.«

Eine glühende Röte färbte plötzlich Ediths Antlitz, und sie versuchte es, dem Blick auszuweichen, dessen geheimes Forschen sie fühlte.

»Der Papa litt es im Anfange nicht«, sagte sie hastig. »Er wollte es mir überhaupt verbieten, dir zu schreiben, und ich gab nach; aber noch ehe wir Cattaro verließen, stand es bei mir fest, daß ich dir die Antwort in dieser Form bringen wollte. Freilich sank mir der Mut, als wir der dringenden Einladung der Tante folgten und auf einige Tage nach Steinach kamen; denn dort sah es bös aus. Gerald war in Acht und Bann getan, und du desgleichen; man durfte nicht einmal eure Namen nennen, und der Papa schürte noch das Feuer. Solange er im Schlosse war, konnte ich nichts unternehmen; aber ich setzte es durch, daß er allein nach seiner Garnison abreiste und mich zurückließ.«

»Und da hast du für uns gesprochen?«

»Intrigiert habe ich nach allen Regeln der Diplomatie. Ich war selbst erstaunt über das großartige Talent, das sich urplötzlich in mir entwickelte. Die Tante wollte mich über den verlorenen Bräutigam trösten, aber ich kehrte den Spieß um und ging ihr energisch zu Leibe wegen ihrer Hartherzigkeit. Ich suchte ihr die Sache zunächst in die rechte Beleuchtung zu rücken, indem ich ihr zu bedenken gab, daß du ja eigentlich eine krivoscianische Prinzessin seist.«

»Aber Edith!«

»Nun, ist das etwa unwahr? Dein Vater war das Haupt seines Stammes, dein Bruder ist es noch jetzt. Häuptling, Fürst, König, das kommt am Ende auf eins heraus. Ich habe das der Tante klar gemacht und hätte am Ende deinen Stammbaum bis zu Mohammed – um Gottes willen, nein, das geht ja nicht, ihr seid ja Christen – nun also, bis zu Sankt Georg hinaufgeleitet. Ich habe ihr so viel von den Heldentaten deines Vaters vorerzählt, daß sie ganz ehrfurchtsvoll wurde; und dann gab ich ihr deinen Brief an mich und ließ sie deine eigene Heldentat und Geralds Rettung am Wilaquell bewundern. Da wankte die Festung, und als ich nun noch mit dem Appell an die mütterliche Liebe Sturm lief, und Geralds Briefe wieder hervorgesucht wurden, ergab sie sich. Du siehst, ganz bin ich doch nicht aus der Art geschlagen als Tochter meines Vaters; mein erster Feldzug endigte mit dem Siege auf der ganzen Linie.«

Die junge Frau saß schweigend mit gesenkten Augen da; sie fühlte die ganze Hochherzigkeit dieses Benehmens und fühlte zugleich, wie sehr sie Edith von jeher unterschätzt hatte.

»Und ich soll dir nicht einmal danken!« sagte sie mit leidenschaftlicher Innigkeit. »Du willst dich unserm Danke entziehen, willst fort, noch in dieser Stunde? Muß es denn sein?«

»Ich muß zu meinem Papa, der mich mit Bestimmtheit erwartet. Halte mich nicht, Danira, ich – kann nicht bleiben!«

Sie versuchte wieder zu lächeln, aber das gelang ihr diesmal nicht; die Lippen zuckten nur, und sie mußte sich abwenden, um die hervorquellenden Tränen niederzukämpfen. Da fühlte sie sich von Daniras Armen umschlungen und fühlte deren Lippen auf den ihrigen.

»Edith, versuche mich nicht auch zu täuschen wie die andern. Ich weiß es, was dein mutiges Eintreten für unser Glück dich gekostet hat, und wie du dabei gelitten hast. Mir darfst du es eingestehen.«

Edith widersprach nicht. Sie verbarg nur ihr Haupt an Daniras Schulter, und jetzt stürzten die Tränen heiß aus ihren Augen.

»Es war ja nichts«, schluchzte sie. »Ein dummer Kindertraum – nichts weiter. Sage Gerald nicht, daß ich geweint habe – versprich mir, ihm nichts zu sagen – er soll, er darf es nicht wissen!«

»Sei ruhig, er erfährt nichts. Es ist genug, wenn ich den Vorwurf trage, dir dein Glück genommen zu haben.«

»Nein!« Ediths Tränen versiegten plötzlich, als sie sich emporrichtete. »Nein, Danira, ich wäre nicht glücklich mit ihm geworden. Ich fühlte es ja vom ersten Augenblicke an, daß er mich nicht liebte, und ich wußte es seit jener Minute, wo er so leidenschaftlich aufflammte bei deiner Verteidigung. Den Blick und Ton hat er nie für mich gehabt, den hast du ihn erst gelehrt. Nicht wahr, er kann leidenschaftlich lieben und kann unendlich glücklich machen?«

»Ja«, sagte die junge Frau leise; aber dies eine Wort sagte genug.

Edith wandte sich mit einer heftigen Bewegung von ihr und nach dem Fenster.

»Da ist das Signal, das den Zug ankündigt! Wir haben nur noch Minuten, laß uns Abschied nehmen! Sieh nicht so elegisch aus, Danira, und mache dir keine Sorgen um mich. Ich habe gar keine Neigung, ins Kloster zu gehen oder mein Leben zu vertrauern. Es muß ja schön sein, sich mit ganzer Seele dem Manne hinzugeben, den man liebt, aber jeder ist das nicht bestimmt. ›Es geht halt nicht an!‹ wie Jörg sagt.«

In diesem Augenblick trat Gerald ein, um gleichfalls zu melden, daß der Zug herannahe. Er sah nur ein heiteres Gesicht und hörte nur frohe, herzliche Abschiedsworte. Wenige Minuten später saß Edith im Kupee und winkte noch einen Gruß aus dem Fenster; dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung und entschwand gleich darauf den Augen der Zurückbleibenden.

Jörg hatte mit Jovica gleichfalls den Bahnhof verlassen, um sie nach der Stadtwohnung seines Leutnants zu bringen, wo sie Danira erwarten sollte.

Draußen auf dem großen, freien Platze herrschte ein unendliches Getümmel. Hier waren all die Landleute zusammengeströmt, und jeder suchte unter den Heimkehrenden seinen Angehörigen herauszufinden. Überall gab es frohe Begrüßungsszenen, Jubelrufe, Händedrücken und Umarmungen, und wer nun vollends unter seine heimische Dorfschaft geriet, die meist truppweise erschienen war, wurde fast erdrückt mit Freundschaftsbeweisen.

Jörg war bisher diesem Schicksal noch entgangen; jetzt aber arbeitete sich ein stattlicher Bauer mit seiner ebenso stattlichen Ehehälfte durch das Gedränge, und beide steuerten gerade auf ihn zu, indem sie schon aus der Ferne seinen Namen riefen.

»Heiliges – da sind die Eltern!« rief der junge Tiroler freudig. »Habt ihr wirklich die weite Fahrt bis hierher gemacht? Ja, da bin ich, leibhaftig und hab' meinen ganzen Kopf mit heimgebracht! Das will etwas sagen, wenn man aus der Krivoscie zurückkommt.«

Die Eltern bemächtigten sich sofort ihres heimgekehrten Sohnes und wollten ihn in die Mitte nehmen; aber es kam nicht dazu, denn Jovica, die sich während der Begrüßung dicht hinter ihm gehalten hatte, kam jetzt zum Vorschein. Sie war ängstlich geworden in dem Lärm und Gedränge, das sie von allen Seiten umgab, und als sie vollends sah, daß man ihr Jörg nehmen wollte, klammerte sie sich an seinen Arm und bat in slavischer Sprache flehentlich, sie nicht zu verlassen.

Das Moosbachersche Ehepaar sah sehr verwundert aus bei dem plötzlichen Auftauchen des jungen Mädchens, das sich so vertraulich an ihren Sohn schmiegte. Zum Glück ließ die noch sehr kindliche Erscheinung Jovicas sie die wahren Beziehungen nicht ahnen. Trotzdem zog der Bauer die Stirn kraus, und die Bäuerin fragte gedehnt:

»Was ist denn das?«

»Das ist – das hab' ich mir von der Reis' mitgebracht«, versetzte Jörg, der den Sturm heranziehen sah, dem er vorläufig noch hatte ausweichen wollen. Dabei ließ er aber sein ›Mitgebrachtes‹ nicht los, sondern hielt es fest bei der Hand.

»Was soll das? Wie kommst du dazu?« rief der Moosbacher unmutig, und seine Frau fiel im schärfsten Tone ein:

»Das Mädel sieht ja aus wie eine Zigeunerin! Wo hast du das denn aufgelesen? Heraus mit der Sprach'!«

Jovica, die während der Reise ihre Sprachkenntnisse sehr vermehrt hatte, begriff, daß sie die Eltern Jörgs vor sich hatte; aber sie sah auch den unfreundlichen Empfang derselben. Die Tränen traten ihr in die dunklen Augen, und verschüchtert und zaghaft wiederholte sie das Begrüßungswort, das man ihr eingelernt hatte: »Grüß Gott!« Die fremdartige Aussprache aber brachte die Bäuerin vollends in Harnisch.

»Sie kann ja nicht einmal deutsch reden«, rief sie empört. »Das ist mir ein sauberes Ding! Willst du sie uns etwa gar auf den Moosbacherhof bringen?

»Das leid' ich nicht«, sagte der Bauer mit Nachdruck. »Wir brauchen kein fremdes Zigeunervolk im Haus. Laß das Mädel und komm mit uns, wir wollen heimfahren.«

Aber Jörg war nicht der Mann, der seine Jovica im Stiche ließ. Er zog sie nur fester an sich und antwortete mit trotziger Entschiedenheit:

»Wo das Mädel bleibt, da bleib' ich auch, und wenn sie nicht auf den Hof darf, so komm ich nimmer heim. Die Jovica dürft ihr mir nicht schelten, liebe Eltern, denn – das ich's nur grad' heraussag' – die hab ich mir zur Moosbachbäuerin ausgesucht.«

Die Eltern standen da wie vom Donner gerührt und schauten ihren Sohn an, als glaubten sie, daß man in der Krivoscie nicht bloß den Kopf, sondern auch den Verstand verlieren könnte. Dann aber brach ein Ungewitter los von beiden Seiten; es war ein Glück, daß in dem allgemeinen Jubel jeder mit sich und seinen Angehörigen zu tun hatte, und die andern so laut sprachen und schrieen wie das Moosbachersche Paar in seinem Zorn, sonst hätte es einen Auflauf gegeben. Endlich aber wußte sich Jörg mit seiner kräftigen Lunge Gehör zu verschaffen.

»Laßt mich halt auch einmal zu Wort kommen!« rief er. »Ihr kennt die Jovica ja noch gar nicht; sie ist ein Prachtmädel, und wenn sie jetzt auch noch ein grausames Heidenkind ist –«

Weiter kam er nicht; der Unbesonnene hatte das allerschlimmste Mittel gewählt. Die Bäuerin kreischte laut auf vor Schrecken bei dem verhängnisvollen Worte, und der Bauer schlug ein Kreuz vor seiner künftigen Schwiegertochter.

»Ein Heidenkind! – Gott steh' uns bei! – Er will uns eine Heidin ins Haus bringen – Jörg, du bist vom Teufel besessen!«

Jovica zitterte am ganzen Leibe. Sie merkte nur zu gut, daß sie der Gegenstand dieses Abscheues sei, und begann deshalb laut und bitterlich zu weinen; das brachte Jörg aber um den letzten Rest seiner Geduld.

»Liebe Eltern!« schrie er mit so wütender Gebärde, als wollte er seinen lieben Eltern direkt zu Leibe gehen. »Ich bin euch allzeit ein gehorsamer Sohn gewesen, aber wenn ihr mir meine Braut so empfangt, dann soll euch doch gleich ein Kreuzmillionendonnerwetter –«

»Jörg!« rief Jovica angstvoll, indem sie mit beiden Händen seinen erhobenen Arm faßte. »Jörg!«

»Ja so – in aller kindlichen Ehrfurcht natürlich«, brummte Jörg, der sich sofort beruhigte, als er ihre Stimme hörte. Die Eltern aber beruhigten sich nicht, und der Streit wollte eben von neuem entbrennen, als die Gestalt des Paters Leonhard sichtbar wurde, dem man ehrfurchtsvoll Platz machte. Er erwiderte nur flüchtig die frohen Grüße, die ihm von allen Seiten zuteil wurden, und schritt rasch auf die streitende Gruppe zu; denn er sah wohl, daß seine Gegenwart dort am notwendigsten sei.

»Grüß Gott, Moosbacher!« hob er an. »Ihr und die Bäuerin seid wohl froh, daß ihr euern Buben wieder habt? Er hat sich brav und tapfer gehalten im Feldzuge, das zeigt euch ja das Ehrenzeichen auf seiner Brust.«

»Hochwürden, helfen Sie!« jammerte die Moosbacherin. »Er ist behext, unser Bub! Er hat sich eine Heidin, eine Türkin, eine Hexe mitgebracht und will sie heiraten!«

»Sehen Sie sich das schwarzbraune Ding da an, Hochwürden!« fiel auch der Bauer mit grimmigem Lachen ein. »Das ist die künftige Moosbachbäuerin. Sagen Sie selbst, ob der Jörg nicht den Verstand verloren hat. Das ist ja –«

»Mein Zögling, den ich in der christlichen Lehre unterrichte, und der in kurzem die heilige Taufe empfangen wird«, ergänzte Pater Leonhard mit vollem Nachdruck, indem er schützend und segnend die Hand auf das Haupt des weinenden Mädchens legte. »Ihr braucht eurem Sohne nicht so harte Vorwürfe zu machen; es ist hauptsächlich sein Verdienst, daß diese junge Seele dem Christentum gewonnen wird.«

Die Bäuerin horchte hoch auf bei den letzten Worten. Sie war eine gottesfürchtige Frau und sah ein, daß, wenn ihr Jörg so löbliche Absichten habe, er füglich nicht vom Teufel besessen sein könnte. Auch der Moosbacher besänftigte sich etwas und brummte halblaut:

»Das ist was anders! Aber ins Haus kommt mir das Mädel doch nicht.«

»Dann nehm ich die Jovica und geh' mit ihr gradeswegs zurück in die Krivoscie, mitten unter die Wilden!« rief Jörg mit verzweiflungsvoller Energie. »Lieber will ich mit ihr zeitlebens Ziegen hüten als ohne sie auf dem Moosbacher Hofe hausen. Sie werden mir zwar da oben die Nase abschneiden und beide Ohren dazu, das ist so Sitte bei der wilden Verwandtschaft, wenn ein neues Mitglied aufgenommen wird, aber das tut auch nichts – ich halt es aus um der Jovica willen!«

Diese Drohung machte doch einigen Eindruck, besonders auf die Mutter, die zum erstenmal von dieser fürchterlichen Sitte hörte. Sie faltete entsetzt die Hände und sah auf die Nase ihres Jörg, die ihm so hübsch zu Gesicht stand; der Vater aber fuhr zornig auf:

»Das wirst du bleiben lassen! Du bleibst hier in Tirol unter den Christenmenschen.«

»Jörg, du schweigst«, befahl Pater Leonhard seinem Beichtkinde, das wieder im Begriff war, eine trotzige Antwort zu geben.

»Mußt du denn gleich in der ersten Minute des Wiedersehens mit der Tür ins Haus fallen und die Eltern gegen dich aufbringen? Laß mich mit ihnen reden. Kommt, Moosbacher, und ihr auch, Bäuerin; wir wollen die Sache in Ruhe besprechen, ihr verhandelt sie ohnehin so laut, daß jedermann zuhört.«

Die Nächststehenden waren in der Tat längst aufmerksam geworden, und die letzten Worte Jörgs wurden von einem ganzen Kreise gehört, wo sie begreifliches Entsetzen erweckten. Pater Leonhard nahm jetzt die Eltern mit sich, und damit hatte die Sache vorläufig ihren Abschluß gefunden; aber es flog wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund, der Jörg Moosbacher habe sich von der Reise eine Türkin mitgebracht, die er durchaus heiraten wolle, und er beabsichtige, sich demnächst die Nase und beide Ohren abschneiden zu lassen, weil das bei der heidnischen Trauung so üblich sei.

Jörg kümmerte sich um das alles nicht; denn Jovica weinte noch immer, und er war angelegentlich bemüht, sie zu trösten.

»Du und keine andere wirst die Moosbachbäuerin«, versicherte er. »Weine nicht, Jovica, du siehst ja, Pater Leonhard hat die Sach' in die Hand genommen, und dann ist sie schon halb gewonnen. Eine hochwürdige Geistlichkeit bringt alles in Ordnung bei uns im Land.«

Und eine hochwürdige Geistlichkeit täuschte auch wirklich nicht das in sie gesetzte Vertrauen. Pater Leonhard hatte freilich noch einen harten Strauß mit den erzürnten Eltern zu bestehen, und es bedurfte ihrer ganzen Ehrfurcht vor seinem Stande, um seine Vermittlung überhaupt anzunehmen; aber er wußte sofort die rechte Saite anzuschlagen.

Er machte ihnen klar, daß es sich hier darum handelte, dem Himmel eine Seele zu retten, daß es im Grunde nur verdienstlich von Jörg sei, wenn er das arme Heidenkind, das er aufgefunden, zu einer christlichen Ehefrau machen wolle, und daß ihnen, den Eltern, auch ein Anteil an diesem segensreichen Werke gegönnt sei. Das wirkte zunächst bei der Mutter, die bereits in Todesangst schwebte, ihr Sohn könnte am Ende auch dem Heidentum verfallen, wenn er in die Wildnis zurückkehre.

Die Moosbacherschen Eheleute waren fromme Tiroler, und das Eintreten des geistlichen Herrn für das junge Paar war für sie von ungeheurem Gewicht. Daß ihr Erbe eine arme Waise von fremder Herkunft freien wollte, galt ihnen als etwas Unerhörtes, Unmögliches. Hier aber wollte er zugleich eine Heidin zum Christentum bekehren und dem Himmel eine Seele gewinnen; das änderte die ganze Sache. Davon würde man weit und breit reden; das umgab den Moosbacherhof mit einem förmlichen Heiligenschein. Als nun Pater Leonhard endlich noch von Geralds Heirat sprach und von der Einwilligung der Mutter erzählte, wobei er weislich die vorangegangenen Kämpfe verschwieg, da wurden seine beiden Zuhörer sehr nachdenklich. Wenn die stolze Freifrau von Steinach nichts gegen eine krivoscianische Schwiegertochter einzuwenden hatte, dann konnten die Bauersleute es sich am Ende auch gefallen lassen.

Nach wiederholten, lebhaften Debatten wurde endlich nach dem widerspenstigen Sohn und Erben gesandt, der denn auch schleunigst vor dem Tribunal erschien.

»Jörg, du wirst jetzt mit deinen Eltern heimfahren und dich als gehorsamer Sohn zeigen«, sagte Pater Leonhard in ernstem Tone. »Du sollst, wenn du die Uniform ausgezogen hast, dich erst als tüchtiger Bauer bewähren. Jovica bleibt inzwischen bei der jungen Frau von Steinach, um vor allen Dingen Deutsch zu lernen und sich mit den Sitten unseres Landes vertraut zu machen; das Weitere wird sich finden. Im nächsten Monat denke ich die heilige Taufe an ihr zu vollziehen – deine Eltern haben versprochen, Taufpaten zu sein.«

»Ja, Hochwürden, aber recht großartig müssen Sie es machen, daß man im ganzen Land Tirol davon redet«, fiel der Moosbacher ein, und die Bäuerin setzte hinzu:

»Und die ganze hochwürdige Geistlichkeit aus der Umgegend muß dabei sein.«

Jörg tat einen Freudensprung, der wider allen Respekt und aller Würde war, und küßte dann stürmisch dem Pater die Hand.

»Hochwürden, das vergeß ich Ihnen mein Lebtag nicht! Ich hab' es ja gesagt: eine hochwürdige Geistlichkeit bringt alles in Ordnung! Juchhe die junge Moosbacherin!« –

Eine halbe Stunde später trat Gerald mit seiner Gattin die Fahrt nach dem heimatlichen Schlosse an.

Jovica saß neben dem Kutscher; ihre Tränen waren getrocknet, und sie sah höchst vergnügt aus, denn Jörg hatte vor der Abfahrt natürlich noch Zeit gefunden, zu ihr zu kommen, um ihr die erfreuliche Wendung der Sache und die nicht minder erfreuliche Tatsache zu melden, daß der Moosbacherhof nur eine Viertelstunde von Schloß Steinach entfernt lag.

Der Wagen flog rasch dahin durch das sonnige Etschtal, das sich heute mit dem vollen Glanze seiner Schönheit geschmückt zu haben schien, um den heimkehrenden Sohn und dessen junges Weib zu begrüßen. Wie in Sonnengold getaucht, lagen die weiten Gelände da, ein einziger großer Rebengarten, der die Dörfer wie mit einem Kranze umgab und selbst bis zu den Schlössern hinanstieg, die überall auf den Höhen sichtbar wurden. Blitzend und schimmernd zog der Strom dahin und rauschte auch sein Willkommen; ringsum stiegen die Berge auf, bald fern im blauen Duft, bald nah im dunklen Waldeskleide, und von den höchsten Gipfeln blickte leuchtend der Schnee nieder in das Tal, dem der warme, weiche Hauch des Südens auch die ganze Pracht des Südens lieh.

»Nicht wahr, mein Vaterland ist schön?« fragte Gerald mit leuchtenden Augen. »Wirst du hier deine Heimat vermissen?«

»Ich vermisse nichts – an deiner Seite!« sagte die junge Frau, indem sie lächelnd zu ihm aufsah.

»Es soll auch meine Sorge sein, dir die neue Heimat lieb zu machen. Und doch überkommt es mich bisweilen wie eine geheime Furcht, der alte Kampf könne sich wieder in dir erneuern. Du hast es mich lange und schwer empfinden lassen, meine Danira, daß dein Volk dem meinigen feindlich gegenüber stand.«

»Sie haben ja jetzt Frieden miteinander gemacht wie wir beide. Nein, Gerald, du brauchst nichts mehr zu fürchten. Was ich zu überwinden und niederzukämpfen hatte, das wurde in jener Sturmnacht vollendet, als ich den Gang vom Wilaquell nach dem Fort antrat. Es war die schwerste Wahl, die mir gestellt wurde, zehnmal schwerer, als die zwischen Leben und Tod, und ich wählte deine Rettung – ist dir das nicht genug?«

»Und doch wolltest du selbst nach dieser Rettung noch dein Leben und unser Glück einem Wahne opfern? Du warst verloren, wenn jenes Geständnis von deinen Lippen kam, und du wolltest sprechen.«

»Es war kein Wahn, es wäre nur eine Sühne gewesen«, sagte Danira mit tiefer Bewegung. »Ich wußte es: Marco würde jedem Angriffe standhalten, und wenn es zum Kampfe kam, wenn das Blut der Meinigen floß, durch euch vergossen – mein wäre die Schuld gewesen, denn ich rief den Feind herbei. Dies Blut hätte ewig zwischen uns gestanden, ich hätte nicht leben können mit der Erinnerung daran. Da sprach eine höhere Macht das Todeswort für Marco und das Gnadenwort für mich. Der Kampf unterblieb; selbst die wilden Söhne unserer Berge sahen in jenem Zeichen, was ich darin erkannte – ein Gottesurteil!«

*


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