Christoph Martin Wieland
Oberon
Christoph Martin Wieland

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Achter Gesang

1 Erstiegen war nunmehr der erste von den Gipfeln,
Und vor ihm liegt, gleich einem Felsensahl,
Hoch überwölbt von alten Tannenwipfeln,
In stiller Dämmerung ein kleines schmales Thal.
Ein Schauder überfällt den matten
Erschöpften Wanderer, indem sein wankender Schritt
Dieß düstre Heiligthum der Einsamkeit betritt;
Ihm ist, er tret' ins stille Reich der Schatten.
2 Bald leitet ihn ein sanft gekrümmter Pfad,
Der sich allmählich senkt, zu einer schmalen Brücke.
Tief unter ihr rollt über Felsenstücke
Ein weiß beschäumter Strom, gleich einem Wasserrad.
Herr Hüon schreitet unverdrossen
Den Berg hinan, auf den die Brücke führt,
Und sieht sich unvermerkt in Höhen eingeschlossen,
Wo bald die Möglichkeit des Auswegs sich verliert.
3 Der Pfad auf dem er hergekommen
Wird, wie durch Zauberey, aus seinem Aug' entrückt!
Lang' irrt er suchend um, von stummer Angst beklommen,
Bis durchs Gesträuch, das aus den Spalten nickt,
Sich eine Öffnung zeigt, die (wie er bald befindet) –
Der Anfang ist von einem schmalen Gang
Der durch den Felsen sich um eine Spindel windet,
Fast senkrecht, mehr als hundert Stufen lang.
4 Kaum hat er athemlos den letzten Tritt erstiegen,
So stellt ein Paradies sich seinen Augen dar;
Und vor ihm steht ein Mann von edeln ernsten Zügen,
Mit langem weißem Bart und silberweißem Haar.
Ein breiter Gürtel schließt des braunen Rockes Falten,
Und an dem Gürtel hängt ein langer Rosenkranz.
Bey diesem Ansehn war's, an solchem Orte, ganz
Natürlich, ihn sogleich für was er war zu halten.
5 Doch Hüon – schwach vor Hunger, und erstarrt
Vor Müdigkeit, und nun, in diesen wilden Höhen,
Wo er so lang' umsonst auf Menschenanblick harrt,
Und von der Felsen Stirn, die ringsum vor ihm stehen,
Uralte Tannen nur auf ihn herunter wehen,
Auf einmahl überrascht von einem weißen Bart –
Glaubt wirklich ein Gesicht zu sehen,
Und sinkt zur Erde hin vor seiner Gegenwart.
6 Der Eremit, kaum weniger betroffen
Als Hüon selbst, bebt einen Schritt zurück;
Doch spricht er, schnell gefaßt: Hast du, wie mich dein Blick
Und Ansehn glauben heißt, Erlösung noch zu hoffen
Aus deiner Pein, so sprich, was kann ich für dich thun,
Gequälter Geist? wie kann ich für dich büßen,
Um jenen Port dir aufzuschließen
Wo, unberührt von Qual, die Frommen ewig ruhn?
7 So bleich und abgezehrt, mit Noth und Gram umfangen
Als Hüon schien, war der Verstoß, in den
Der alte Vater fiel, nur allzu leicht begangen.
Allein, wie beide sich recht in die Augen sehn,
Und als der Greis aus Hüons Mund vernommen
Was ihn hierher gebracht, wiewohl sein Anblick schon
Ihm alles sagt, umarmt er ihn wie einen Sohn,
Und heißt recht herzlich ihn in seiner Klaus' willkommen;
8 Und führt ihn ungesäumt zu einem frischen Quell,
Der, rein wie Luft und wie Krystallen hell,
Ganz nah an seinem Dach aus einem Felsen quillet;
Und während Hüon ruht und seinen Durst hier stillet,
Eilt er und pflückt in seinem kleinen Garten
In einen reinlichen Korb die schönsten Früchte ab,
Die, für den Fleiß sie selbst zu bauen und zu warten,
Nicht kärglich ihm ein milder Himmel gab;
9 Und hört nicht auf ihm sein Erstaunen zu bezeigen,
Wie einem, der sich nicht zwey Flügel angeschraubt,
Es möglich war die Felsen zu ersteigen,
Wo, dreyßig Jahre schon, er sich so einsam glaubt
Als wie in seinem Grab. »Es ist ein wahres Zeichen
Daß euch ein guter Engel schützt;
Allein, setzt er hinzu, das nöthigste ist itzt
Dem jungen Weibe die Hand des Trosts zu reichen.
10 »Ein sichrer Pfad, wiewohl so gut versteckt,
Daß ohne mich ihn niemand leicht entdeckt,
Soll in der Hälfte Zeit, die du herauf zu dringen
Gebrauchtest, dich zu ihr, zurück euch beide bringen.
Was meine Hütte, was mein kleines Paradies
Zu eurer Nothdurft hat, ist herzlich euch erboten.
Glaubt, auch auf Heidekraut schmeckt Ruh der Unschuld süß,
Und reiner fließt das Blut bey Kohl und magern Schoten.«
11 Herr Hüon dankt dem gütigen alten Mann,
Der seinen Stab ergreift ihm selbst den Weg zu zeigen;
Und, daß der Rückweg ihn nicht irre machen kann,
Bezeichnet er den Pfad mit frischen Tannenzweigen.
Noch eh' ins Abendmeer die goldne Sonne sinkt,
Hat den erseufzten Berg Amanda schon erstiegen,
Wo sie mit durstigen weit ausgehohlten Zügen
Den milden Strom des reinsten Himmels trinkt.
12 In eine andre Welt, ins Zauberland der Feen,
Glaubt sie versetzt zu seyn; ihr ist als habe sie
Den Himmel nie so blau, so grün die Erde nie,
Die Bäume nie so frisch belaubt gesehen:
Denn hier, in hoher Felsen Schutz
Die sich im Kreis um diesen Lustort ziehen,
Beut noch der Herbst dem Wind von Norden Trutz,
Und Feigen reifen noch, und Pomeranzen blühen.
13 Mit ehrfurchtbebender Brust, wie vor dem Genius
Des heil'gen Orts, fällt vor dem eisgrau'n Alten
Amanda hin, und ehrt die dürre Hand voll Falten,
Die er ihr freundlich reicht, mit einem frommen Kuß.
In unfreiwilligem Erguß
Muß ihn ihr Herz für einen Vater halten:
Die Furcht ist schon beym zweyten Blick verbannt;
Ihr ist, sie hätten sich ihr Leben lang gekannt.
14 In seinem Ansehn war die angeborne Würde,
Die, unverhüllbar, auch durch eine Kutte scheint;
Sein offner Blick war aller Wesen Freund,
Und schien gewohnt, wiewohl der Jahre Bürde
Den Nacken sanft gekrümmt, stets himmelwärts zu schau'n;
Der innre Friede ruht auf seinen Augenbrau'n,
Und wie ein Fels, zu dem sich Wolken nie erheben,
Scheint überm Erdentand die reine Stirn zu schweben.
15 Den Rost der Welt, der Leidenschaften Spur,
Hat längst der Fluß der Zeit von ihr hinweg gewaschen.
Fiel' eine Kron' ihm zu, und es bedürfte nur
Sie mit der Hand im Fallen aufzuhaschen,
Er streckte nicht die Hand. Verschlossen der Begier,
Von keiner Furcht, von keinem Schmerz betroffen,
Ist nur dem Wahren noch die heitre Seele offen,
Nur offen der Natur, und rein gestimmt zu ihr.
16 Alfonso nannt' er sich, bevor er aus den Wogen
Der Welt geborgen ward, und Leon war das Land
Das ihn gebar. Zum Fürstendienst erzogen,
Lief er mit Tausenden, vom Schein wie sie betrogen,
Dem Blendwerk nach, das immer vor der Hand
Ihm schwebte, immer im Ergreifen ihm entschwand,
Dem schimmernden Gespenst, das ewig Opfer heischet,
Und, gleich dem Stein der Narr'n, die Hoffnung ewig täuschet.
17 Und als er dergestalt des Lebens beste Zeit
Im Rausch des Selbstbetrugs an Könige verpfändet,
Und Gut und Blut, mit feur'ger Willigkeit
Und unerkannter Treu', in ihrem Dienst verschwendet,
Sah er ganz unverhofft, im schönsten Morgenroth
Der Gunst, durch schnellen Fall sich frey von seinen Ketten;
Noch glücklich, aus der Schiffbruchsnoth
Das Leben wenigstens auf einem Bret zu retten.
18 In diesem Sturm, der alles ihm geraubt,
Blieb ihm ein Schatz, wodurch (ganz gegen Hofes Sitte)
Alfonso sich vollkommen schadlos glaubt,
Ein liebend Weib, ein Freund, und eine Hütte.
Laß, Himmel, diese mir! war nun die einz'ge Bitte,
Die sein befriedigt Herz zu wagen sich erlaubt.
Zehn Jahre lang ward ihm, was er sich bat, gegeben;
Allein, sein Schicksal war, auch dieß zu überleben.
19 Drey Söhn', im vollen Trieb der ersten Jugendkraft,
Der eignen Jugend Bild, die Hoffnung grauer Jahre,
Sie wurden durch die Pest ihm plötzlich weggerafft.
Bald legt auch Schmerz und Gram die Mutter auf die Bahre.
Er lebt, und niemand ist der mit dem Armen weint,
Denn ach! verlassen hat ihn auch sein letzter Freund!
Er steht allein. Die Welt die ihn umgiebet
Ist Grab – von allem Grab, was er, was ihn geliebet.
20 Er steht, ein einsamer vom Sturm entlaubter Baum,
Die Quellen sind versiegt, wo seine Freuden quollen.
Wie hätt' ihm itzt die Hütte, wo er kaum
Noch glücklich war, nicht schrecklich werden sollen?
Was ist ihm nun die Welt? Ein weiter leerer Raum,
Fortunens Spielraum, frey ihr Rad herum zu rollen!
Was soll er länger da? Ihm brach sein letzter Stab,
Er hat nichts mehr zu suchen – als ein Grab.
21 Alfonso floh in dieses unwirthbare
Verlaßne Eiland, floh mit fast zerstörtem Sinn
In dieß Gebirg, und fand mehr als er suchte drin,
Erst Ruh, und, mit dem stillen Fluß der Jahre,
Zuletzt Zufriedenheit. Ein alter Diener, der
Ihn nicht verlassen wollt', die einz'ge treue Seele
Die ihm sein Unglück ließ, begleitet' ihn hierher,
Und ihre Wohnung war nun eine Felsenhöhle.
22 Allmählich hob sein Herz sich aus der trüben Flut
Des Grams empor; die Nüchternheit, die Stille,
Die reine freye Luft, durchläuterten sein Blut,
Entwölkten seinen Sinn, belebten seinen Muth.
Er spürte nun, daß, aus der ew'gen Fülle
Des Lebens, Balsam, auch für seine Wunden, quille.
Oft brachte die Magie von einem Sonnenblick
Auf einmahl aus der Gruft der Schwermuth ihn zurück.
23 Und als er endlich dieß Elysium gefunden,
Das, rings umher mit Wald und Felsen eingeschanzt,
Ein milder Genius, recht wie für ihn, gepflanzt,
Fühlt' er auf einmahl sich von allem Gram entbunden,
Aus einer ängstlichen traumvollen Fiebernacht
Als wie zur Dämmerung des ew'gen Tags erwacht.
Hier, rief er seinem Freund, vom unverhofften Schauen
Des schönen Orts entzückt, hier laß uns Hütten bauen!
24 Die Hütte ward erbaut, und, mit Verlauf der Zeit,
Zur Nothdurft erst versehn, dann zur Gemächlichkeit,
Wie sie dem Alter eines Weisen
Geziemt, der minder stets begehret als bedarf.
Denn, daß Alfons, als er den ersten Plan entwarf
Von seiner Flucht, sich mit Geräth und Eisen,
Und allem was zur Hülle nöthig war,
Versehen habe, stellt von selbst sich jedem dar.
25 Und so verlebt' er nun in Arbeit und Genuß
Des Lebens späten Herbst, beschäftigt seinen Garten,
Den Quell von seinem Überfluß,
Mit einer Müh, die ihm zu Wollust wird, zu warten.
Vergessen von der Welt, – und nur, als an ein Spiel
Der Kindheit, sich erinnernd aller Plage
Die ihm ihr Dienst gebracht, – beseligt seine Tage
Gesundheit, Unschuld, Ruh, und reines Selbstgefühl.
26 Nach achtzehn Jahren starb sein redlicher Gefährte.
Er blieb allein. Doch desto fester kehrte
Sein stiller Geist nun ganz nach jener Welt sich hin,
Der, was er einst geliebt, itzt alles angehörte,
Der auch er selbst schon mehr als dieser angehörte.
Oft in der stillen Nacht, wenn vor dem äußern Sinn
Wie in ihr erstes Nichts die Körper sich verlieren,
Fühlt' er an seiner Wang' ein geistiges Berühren.

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