Christoph Martin Wieland
Vorbericht
Christoph Martin Wieland

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Daphnidion

Ein milesisches Märchen

Ein thessalischer Jüngling, dessen Familie ihr Geschlechtsregister bis in die Zeiten, wo der goldlockige Apollo die Herden des Königs Admet hütete, hinaufführte und einen Kebssohn dieses Gottes zum Stammvater zu haben stolz war, durchschlenderte in der vornehmen Geschäftslosigkeit eines bloß zum Verzehren gebornen Göttersohns, mit einem Blaserohr in der Hand, einen zu den großen Besitztümern seines Vater gehörigen Wald am Fuße des Berges Öta, um zum Zeitvertreib kleinen Vögeln Verdruß zu machen, als er in einiger Entfernung eine schlanke leichtbekleidete weibliche Gestalt durch das Gesträuch rennen sah, die ihn beim ersten Anblick ungewiß ließ, ob er sie für eine Sterbliche oder für eine der Nymphen halten sollte, welche, nach den Dichtersagen und dem Volksglauben seiner Zeit, Berge, Wälder, Quellen und Grotten zu bewohnen pflegten und nicht leicht sichtbar wurden und flohen, wenn sie nicht die Absicht hatten, gesehen und gehascht zu werden.

Seit seinem göttlichen Urahnherrn Apollo hatte sich in seiner Familie die böse Gewohnheit, allen hübschen Mädchen, die vor ihnen flohen, nachzusetzen, von Vater und Sohn fortgeerbt, und Phöbidas (so hieß der jüngste Sprößling dieses edeln Stammes) schlug nicht aus der Art. Die fliehende Nymphe, dem Ansehen nach ein Mädchen von sechzehn Jahren, hatte sich, indem sie Erdbeeren suchte, unvermerkt aus ihrem gewöhnlichen Bezirk in einen fremden verirrt und war endlich aus Ermüdung im Gebüsch eingeschlummert, als sie vom raschelnden Aufflug eines von Phöbidas getroffenen Vogels wieder aufgeweckt wurde. Erschrocken sah sie sich um, und wie sie einen Jüngling, den sie seiner Schönheit wegen für einen der ewig jugendlichen Götter, Merkur, Apollo oder Bacchus, ansehen mochte, kaum zehen Schritte weit von sich entfernt erblickte, raffte sie sich auf und rannte so schüchtern und schnellfüßig als ein aufgeschrecktes Reh durch Büsche und Hecken davon.

Phöbidas, der ihr an Behendigkeit wenig nachgab, rief ihr vergebens ebenso freundliche Worte nach, als Ovid seinen Stammvater der fliehenden Daphne zurufen läßt:

Bleib, ich bitte dich, bleib, o Nymphe! Nicht feindliches Sinnes
Folg ich dir nach...

Sie horchte ebensowenig auf seine Locktöne und sah sich ebensowenig um als die keusche Tochter des Peneus; und unbekümmert, daß ein Teil ihres leichten Gewandes an den Gebüschen, durch welche sie sich drängen mußte, hangenblieb und daß ihre Gefahr durch diesen Umstand notwendig mit jedem Schritte größer werden mußte, lief sie so lange, bis sie endlich eine hohe, mit Efeu und leichtem Gesträuch umwebte Felsengrotte erreichte, in welche sie sich hineinstürzte, da kaum noch zwanzig Schritte fehlten, daß sie von ihrem keuchenden Verfolger erhascht worden wäre.

Phöbidas, der nun sicher zu sein glaubte, daß sie ihm nicht entgehen könne, hielt, um wieder zu Atem zu kommen, einige Augenblicke still und ging dann gelassenen Schrittes auf die Höhle zu, die er beim Eintritt viel geräumiger fand, als er sich vorgestellt hatte. Aber von seiner Nymphe war keine Spur zu sehen. An ihrer Statt fand er im Eingang eine runzlichte Alte, die aus Deukalions und Pyrrhens Zeiten übriggeblieben zu sein schien, bei ihrem Spinnrocken sitzen und, ohne zu ihm aufzusehen, so behend und zierlich fortspinnen, daß die junge Nymphe selbst es ihr kaum hätte zuvortun können.

»Alte Mutter«, schrie sie der ungeduldige Jüngling etwas hastig an, »wo ist das junge Mädchen, das ich soeben in diese Höhle hineinrennen sah?«

»Was für ein junges Mädchen?« sagte die Alte, immer ohne aufzuschauen fortspinnend.

»Ich sage dir ja«, schrie Phöbidas, »das Mädchen oder die Nymphe, die diesen Augenblick bei dir vorüberrannte.«

»Was kümmert das dich?« versetzte die Alte, indem sie aus ihren hohlen Augen einen Blick von böser Vorbedeutung auf ihn schoß.

»Ich muß sie sehen, ich muß mit ihr sprechen, sage ich dir. «

»Ich sehe die Notwendigkeit nicht, junger Mensch.«

»Ich will sie aber sehen«, schrie Phöbidas, mit dem Fuß auf den Boden stampfend.

»Nur gelassen«, sagte die Spinnerin; »du magst es wollen, aber ich will nicht.«

»Das wollen wir doch sehen! Weißt du wohl, wer ich bin?«

Die Alte sah ihn mit einem verächtlich-spöttischen Blick an und spann fort.

»Daß ich der Sohn des Fürsten bin, dessen Eigentum diese ganze Landschaft ist?«

»Desto schlimmer für ihn und dich und die ganze Landschaft! denn du scheinst mir ein ungezogenes Bürschchen zu sein. Aber ich will versuchen, ob noch was Besseres aus dir zu ziehen ist.«

Diese Rede der Alten und das Ganze ihres Benehmens brachte den Jüngling ein wenig zur Besinnung. "Es könnte doch wohl mehr", dacht er, "hinter dieser alten Gräe sein, als ihr Ansehen ankündigt; ich muß einen sanftern Ton anstimmen." »Verzeihe, wenn ich dich verkannt haben sollte«, sagte er etwas höflicher, »und sei meinem Verlangen nicht länger entgegen. Ich muß die junge Nymphe sehen, die hieher geflohen ist, oder ich sterbe zu deinen Füßen.«

»Weißt du auch«, erwiderte die Alte, »was es auf sich hat, junge Nymphen wider ihren Willen zu sehen? Hast du nie gehört, daß es nichts Geringers als den Verstand oder, in deinem Fall, wenigstens die Augen kostet? Wenn sie dich hätte sehen wollen, so wäre sie nicht so hastig vor dir geflohen, daß sie die Hälfte ihres Gewandes an den Hecken gelassen hat und die andere Hälfte nur noch in Fetzen nachschleppte.«

»Das pflegt nicht immer zu folgen, gute Mutter. Aber was auch bei der Sache zu wagen sein mag, auf meine Gefahr! Sei nicht unerbittlich! Laß mich sie nur sehen und sprechen, wenn es auch nicht anders als in deiner Gegenwart geschehen könnte.«

»Du bist ein ungestümer Mensch«, erwiderte die Spinnerin. »Was geht das Mädchen mich an? Wenn sie hereingekommen ist, so wird sie noch dasein; die Grotte ist groß, suche sie meinetwegen.«

Phöbidas ward itzt auf einmal in der Vertiefung der Grotte die Öffnung eines schmalen Gangs gewahr. Er zwängte sich hinein, die Höhle wurde immer weiter und höher und teilte sich in eine Menge schwach erleuchteten Kammern, die keinen andern Ausgang hatten als den, woher er gekommen war. Er durchsuchte sie alle nach der Reihe, aber vergebens; er sah und fühlte nichts als leere Wände.

Er rief, so laut er konnte: »Höre mich, holde Nymphe! Zeige dich mir nur einen Augenblick!« – Umsonst! Nichts als seine eignen Worte hallten ihm vervielfältigt von den öden Felsenwänden entgegen. Immer fing er wieder von neuem an zu suchen, verirrte sich zuletzt in dem helldunkeln Labyrinth und fand nur mit großer Mühe den schmalen Gang wieder, durch den er gekommen war.

Er wollte nun seinen ganzen Unmut über die alte Spinnerin ausgießen, welche, wie er glaubte, seiner gespottet hätte; aber siehe da! die Alte war verschwunden, und eine schöne Frau von majestätischem Ansehen saß an ihrer Statt am Rocken und spann mit einer Grazie, die den kältesten aller Stoiker bezaubert hätte.

»Was suchst du hier, junger Mensch?« fragte sie den bestürzten Phöbidas in einem sanften Ton, aber mit einem Scharfblick in seine Augen, der wie ein Blitz durch sein ganzes Wesen fuhr. Ein glühendes Rot entbrannte plötzlich auf seinen Wangen, er wußte nicht, was er antworten sollte, und verstummte.

»Ein gutes Zeichen«, sagte die Dame, den Kopf seitwärts drehend, »er kann noch erröten.«

»Besser, wenn er über nichts zu erröten hätte«, antwortete eine unsichtbare Stimme, die nur einer der Musen angehören konnte und durch ihren lieblichen Silberton den immer mehr erstaunenden Jüngling beinahe noch mehr entzückte, als die Gestalt der fliehenden Nymphe getan hatte, wiewohl der Sinn ihrer Worte nicht von der besten Vorbedeutung war. Aber zu sehr bestürzt über alles, was er in dieser wunderbaren Grotte sah und hörte, konnt er noch immer keine Worte auf seiner Zunge finden und blieb, wie in den Boden eingewurzelt, stumm und unbeweglich stehen.

»Wofern du, wie es scheint, hier nichts zu suchen hast«, sagte die schöne Spinnerin, »würdest du nicht übeltun, dich zurückzuziehen.«

Dieses Wort, in einem milderen Ton gesprochen, als sein Inhalt und der Blick, der es begleitete, versprach, gab ihm auf einmal die Sprache wieder.

»Wenn du, wie mich alles glauben heißt, eine Göttin bist«, sagte er, »so sei gütig und verzeihe mir. Ich bin meiner selbst nicht mächtig. Diesen Morgen, da ich im Wald umherirrte, erblick ich eine junge Nymphe, die, sobald sie mich gewahr wird, die Flucht ergreift. Es war mir unmöglich, ihr nicht nachzusetzen. Sie läuft schneller als der Wind, und ich verfolge sie durch Busch und Wald, über Berg und Tal bis zu dieser Grotte, in welche sie sich hineinstürzt. Auch hieher folgt ich ihr, aber sie war verschwunden, und...«

»...du fandest an ihrer Stelle eine alte Spinnerin an diesem Rocken sitzen, die dich nicht allzu freundlich anließ?«

Phöbidas, in der Ungewißheit, ob die schöne Dame, die er vor sich sah, und die Alte nicht ebendieselbe Person sei, verstummte abermals. »Du bist ein wunderlicher Mensch«, sagte die Dame. »Gestehe mir aufrichtig, wer bist du?«

»Der Sohn des thessalischen Fürsten, dem diese Landschaft angehört.«

»Die Alte hatte recht«, versetzte die Dame; »wenn dem so ist, desto schlimmer für dich! – Aber wo glaubst du zu sein?«

»Wo anders als im Gebiete meines Vaters, welches sich vom Fuß des Öta über die ganze Gegend um Elateia erstreckte«

»Deine Nymphe hat dich weiter geführt, als du glaubst. Diese Grotte ist ein Teil des Parnassus, und du bist im Gebiete – des delphischen Gottes und seiner Schwester.«

»Ist's möglich?« rief Phöbidas bestürzt.

»Einer törichten Leidenschaft ist alles möglich«, sagte die Dame. »Du bist, wie du siehst, in meinem Gebiet; aber das würdest du auch im Gebiete deines Vaters sein. Deine Leidenschaft hat dich in meine Gewalt gegeben.«

»Ich unterwerfe mich ihr willig; nur bitte ich, bediene dich ihrer mit Milde.«

»Was wünschest du von mir, Phöbidas?«

»Du weißt es und vermagst hier alles. Ich beschwöre dich bei der Göttin, die dich geboren hat, laß mich das liebliche Mädchen wiedersehen, das mich mit unwiderstehlicher Gewalt bis hieher gezogen hat.«

»Es gibt keine unwiderstehliche Gewalt, junger Mensch. Bloß deine Schwäche macht dich zu unserm Sklaven. Gebiete dir selbst, so bist du frei!«

»Ich will nicht frei sein«, rief der Jüngling. »Ebensoleicht könnt ich mir gebieten, den Parnaß auf den Öta zu setzen, als die Holde nicht zu lieben, die du mir entrissen hast.«

»Zu lieben«, sagte die Dame, ironisch lächelnd; »du liebst also meine Daphnidion?«

»Sonst wußt ich nicht, was Liebe ist. Noch gestern glaubt ich alle Mädchen zu lieben, die mir gefielen; es war lauter Spiel und Kinderei. Was ich itzt fühle, ist ganz was anders; es gilt Leben oder Tod.«

»Diese Sprache führen alle deinesgleichen. Ich glaube an keine so plötzlich vom bloßem Ansehen aufgebrausete Liebe; und du, lächerlicher Mensch, hast deine Geliebte sogar nur von hinten gesehen.«

»Gleichviel«, rief Phöbidas; »was ich sah, hat ein unauslöschliches Bild in meiner Seele zurückgelassen, das nie aufhören wird, sie auszufüllen, bis ich sie selbst wiedersehe. Ich werde wahnsinnig darüber werden. Was kannst du für eine Freude haben, mich elend zu machen?«

»Beinahe«, sagte die Dame, »könntest du mich verführen, Mitleiden mit dir zu haben.«

»Die Frage ist noch, ob er es verdient«, sagte die unsichtbare Stimme.

»Das soll sich bald zeigen«, erwiderte die Dame. »Du verlangst deine Nymphe zu sehen und zu sprechen; du sollst sie sogar berühren, um gewiß zu sein, daß es keine Luftgestalt ist. Aber merke wohl, mehr als einen Sinn zu befriedigen ist dir nicht erlaubt. Es kommt auf dich an, ob du sie sehen willst, ohne mit ihr zu reden, oder mit ihr reden, ohne sie zu sehen, oder sie berühren, ohne sie weder zu sehen noch zu hören. Wähle!«

Phöbidas, nicht gewohnt, lange zu überlegen, was er wollte, und vom Bilde der fliehenden Daphnidion erhitzt, dachte bei sich selbst: "Ich habe sie bereits gesehen und gehört; denn vermutlich war die Stimme der Unsichtbaren die ihrige; aber berührt hab ich sie noch nicht, und lief ich ihr denn aus einer andern Absicht so lange, bis mir der Atem ausblieb, nach, als um sie zu erhaschen?" – »Ich wähle das letztere«, sprach der Unbesonnene.

»Das hat dir dein böser Dämon geraten, denn es ist das gefährlichste«, sagte die Dame mit einem beinahe unsichtbaren Lächeln; »ich rate dir nicht dazu; aber du bist frei, nach deinem eigenen Belieben zu wählen.«

»So bleibt's bei meiner ersten Wahl«, rief Phöbidas; und kaum war das letzte Wort über seine Lippen gekommen, so verbreitete sich ein lieblich dämmerndes Rosenlicht durch die Grotte, worin alles Sichtbare, sogar seine eigene Gestalt, sich aufzulösen und zu zerfließen schien; er sah nichts mehr, er hörte nichts mehr, er glaubte die Sprache verloren zu haben; aber indem er die rechte Hand ausstreckte, berührte er eine kleine niedliche lieblich-warme Hand, weicher als Schwanenflaum und sanfter als die Blätter der Sammetblume. Ein zuckender Schauer blitzte durch alle seine Nerven; er drückte seinen brennenden Mund auf die liebliche Hand, die sich nicht zurückzog. Glücklich, wenn er, wie von einem zärter fühlenden Liebhaber zu erwarten war, sich an dieser Seligkeit genügen ließ! Vielleicht würde er, zur Belohnung seiner Bescheidenheit, sie auch noch zu sehen bekommen haben. Aber die thessalischen Jünglinge jener Zeit waren nicht bescheiden genug, um so genügsam zu sein. Allmählich immer kühner und lüsterner, schlug er endlich seinen linken Arm um ihre Hüfte, und – mit einem furchtbaren Donnerschlag schwand die schöne Nymphe, wie Luft, aus seiner Umarmung dahin; er taumelte wie ein Trunkner vorwärts, seine Arme ins Leere ausstreckend; der Tag erleuchtete die Grotte wieder, und die dürre Alte saß wieder an ihrem Rocken und spann.

»Tragt ihn an seinen Ort«, sagte sie, ohne ihn anzusehen, zu zwei langöhrigen Knaben mit ungeheuren Rabenflügeln, die ihr zur Seite standen; und sie ergriffen den armen, sich vergebens sträubenden Phöbidas, und in wenig Augenblicken befand er sich wieder an demselben Platz, wo er die reizende Nymphe zuerst gesehen hatte. Verblüfft und betäubt von einem so seltsamen Abenteuer, blieb er eine gute Weile ohne Besinnung auf der Erde liegen, wo ihn die Knaben mit den langen Ohren hingelegt hatten, und als er wieder zu sich selber kam, würde er alles, was ihm begegnet war, für einen Traum gehalten haben, wäre das Bild der fliehenden Nymphe und die Erinnerung an den Augenblick, wo er sie in seinem Arm gefühlt hatte, nicht so lebendig in ihm gewesen, daß er eher an seinem eignen Dasein als an der Wahrheit dessen, was er gefühlt und gesehen, hätte zweifeln können.


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