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Auch das war eine gloriose Zeit, als der Herr Döte (Pathe) Stadtschreiber noch regierte. Seit die Stadtschreibereien eingegangen sind, ist kein respektables Haus mehr im Städtchen zu finden. Jetzt gibt es Gerichtsnotare und Amtsnotare, Stadtschultheißen und Rathsschreiber, Verwaltungsaktuare, und Pfandcommissäre, die allesammt Mühe haben, sich nebst Familie des Hungersterbens zu erwehren. Alle diese Aemter waren dereinst vereinigt unter dem Dache der Stadtschreiberei, alle diese Würden ruhten auf dem Haupte des Herrn Stadtschreibers, und die zahlreichen Schreiber, die sich in die Aemter theilen, waren nur Glieder im Dienste dieses ehrwürdigen Hauptes.
Die Stadtschreiberei war kein modernes Haus, es versprach nicht viel von außen, aber von innen waren die Räume bequem und stattlich. Vorn heraus auf die Straße lag das Wohnzimmer, in dem gespeist wurde und wo sich die Familie des Tages über aufhielt, um am Fenster bequem beobachten zu können, was alles im Städtchen aus und einging. Die Schreibstube hatte nur die Aussicht auf benachbarte Winkel und Höfe, damit das Dienstpersonal nicht im Geschäft gestört würde. Auf ein eigenes Arbeitszimmer wagte keiner der Substituten und Schreiber Anspruch zu machen; sogar der Herr Prinzipal hatte in der allgemeinen Schreibstube nur einen besondern umzäunten Platz, wo ein bequem gepolsteter Lehnstuhl stand, den er geruhte, des Tags eine bis zwei Stunden lang zu besetzen.
Das Wohnzimmer war bequem, aber durchaus nicht elegant möblirt; ein gepolstertes Sopha mit geschnörkelten Füßen, hochlehnige, weich gepolsterte Sessel, nach denen sich manchmal sehnsüchtig die Blicke der jüngern Schreiber und des Incipienten richteten, die mit hölzernen Stühlen vorlieb nehmen mußten, eine »Drissur,« auf deren Gipfel blaue Meißner Tassen und rührende Gipsfiguren prangten, eine hohe Kommode mit weitgeschweiftem, inhaltsschwerem Bauche, ein Nähstock, um den die Frau Stadtschreiberin und ihre Töchter in emsigem Fleiße saßen, das bildete die ganze Zimmereinrichtung. Daneben aber war noch ein Staatszimmer, das bei außerordentlichen Gelegenheiten geheizt wurde, und Gastzimmer von der verschiedenartigsten Größe und Einrichtung, je nach dem Rang der etwaigen Gäste. Eine Stadtschreiberei war ein gastfreies Haus, das ganze Jahr offen für Verwandte und Freunde, zu welch erstern nach gut schwäbischem Brauche das halbe Vaterland gehörte. Die unheizbaren Zellen des Schreibereipersonals lagen im obern Stock und unter dem Dach. Es ging die Sage, des Herrn Amtssubstituten Zimmer könne geheizt werden, seit Menschengedenken hatte aber keiner von einem solchen Vorrechte Gebrauch gemacht.
Ein Stadtschreiber hatte ein wahrhaft fürstliches Einkommen, was sich denken läßt, da in seine Kasse all die Einkünfte der zahlreichen Aemter und Aemtlein floßen, die jetzt in so viele Kanäle und Bächlein vertheilt sind, und da zudem noch das »Schmieren« und Geschenknehmen in jeder Art bei Beamten eine ganz hergebrachte Sache war, die mit einer gewissen Würde betrieben wurde und dem amtlichen Ansehen durchaus keinen Eintrag that.
Das fürstliche Einkommen theilte denn auch dem Herrn Stadtschreiber eine Art fürstlichen Bewußtseins mit, und kaum wird ein regierendes Haupt in unsern Tagen in seinem Staatsrath mit der Ehrfurcht empfangen, mit der die lautlose Schaar der Schreiber sich erhob, wenn der Herr Prinzipal geruhte, Morgens gegen zehn Uhr seinen Polsterstuhl in der Schreibstube einzunehmen; die meiste Zeit regierte er übrigens unsichtbar wie der Kaiser von China.
Womit der Herr Stadtschreiber seine übrige Zeit ausfüllte, da er mit wissenschaftlichen Forschungen sich nicht anzustrengen pflegte und den Genuß der schönen Literatur seinen Töchtern überließ, dürfte fast räthselhaft erscheinen; wenn man aber erwägt, wie viel Zeit die Verwaltung seiner Privateinkünfte und der Einzug der Geschenke in Anspruch nahm, wovon er wenigstens die klingenden selbst in Empfang nahm, während die Frau sich mit Annahme der Zuckerhüte und Kaffeedüten, mit Gänsen, Hühnern und sonstigen Viktualien befaßte, so dürfte man sich nicht mehr wundern. Rechnet man dazu, daß er sich nicht vor acht Uhr aus dem Bett erhob, und mindestens eine Stunde brauchte, um seine Morgenpfeife zu rauchen, daß er nach Tisch eine hinreichende Siesta hielt und sodann wieder unter dem Fenster lag, um sein ehrwürdiges Haupt den Vorübergehenden zu zeigen, daß er mit gehöriger Ruhe der Verdauung oblag, die Tagesneuigkeiten anhörte und die Zeitung studirte, so ist das Räthsel vollends gelöst.
Die rechte Uebersicht über sämmtliches untergebenes Personal konnte man bei Tisch bekommen, wo sich auf den Schall einer Glocke oder auf den Ruf der Hausjungfer alles zu Tische einfand und nach abgehaltenem Tischgebet und einer Skala von »gesegnete Mahlzeit« in der gehörigen Rangordnung Platz nahm. Zuoberst natürlich thronte der Herr Stadtschreiber, eine stattliche, wohlgenährte Gestalt, zu seiner Rechten die Frau Stadtschreiberin, eine äußerst höfliche, kleine Frau, dann die jeweiligen Gäste, von denen das Haus selten leer war, sodann die Töchter des Hauses.
Darauf begann der Reigen der Schreiber mit dem ersten, dem Amtssubstituten, der noch zweier Teller, ja sogar einer Serviette mit perlengesticktem Band gewürdigt war. Es waltete starker Verdacht ob, daß letzteres ein Geschenk der Jungfer Karoline, der zweiten Tochter des Hauses sei, nach deren Besitz er strebte, und Erhörung hoffen durfte, wenn erst Mine, die älteste, ziemlich unschöne Tochter anderweitig versorgt war, denn die Frau Stadtschreiberin war entschieden der Meinung, »man dürfte den Haber nicht vor dem Dinkel schneiden.« Folgte sodann der Substitut, der auch noch zwei Teller, aber keine Serviette mehr hatte, nach diesem die übrigen Schreiber, die in Ermanglung eines Extratitels mit ihren Namen angeredet wurden, und zuunterst auf einem ordinari Küchenstuhl der Incipient, der allezeit zu etwaigen Handreichungen bereit sein mußte.
Mehr noch als an Platz und Stühlen war der absteigende Rang an den Weinflaschen zu erkennen, mit denen jedes Couvert versehen war. Zuoberst vor des Herrn Platze stand bloß das geschliffene Glas, die Flaschen mit auserlesenen Weinen, mit denen er sich und die Gäste bediente, standen etwas im Hintergrund, damit nicht so leicht bemerkt werden könnte, was und wie viel dem Herrn Prinzipal zu sich zu nehmen beliebte. – Der Herr Amtssubstitut, so wie der Substitut waren noch je mit einer Flasche rothen Tischweins versehen, sodann kam eine Stufenleiter immer kleinerer Bouteillen von immer zweifelhafterer schillernder Farbe und säuerlicherem Geruch, bis sich die Reihe beim Incipienten mit einem halben Schöppchen Apfelmost schloß.
Während des Essens wagte selten einer des untern Personals den Mund zu öffnen, außer zu einer Antwort; nur die beiden Substituten führten mit Herr und Frau vom Hause ein Gespräch über Stadtneuigkeiten, wagten auch hie und da einen Scherz mit den Jungfer Töchtern (von Fräulein wußte man noch nichts) und mit den Gästen, die sehr häufig aus jungen Damen bestanden. Nachdem Suppe, Fleisch und Gemüse abgetragen waren, erhob sich der Amtssubstitut mit gefülltem Glas: »Herr Stadtschreiber, ich habe die Ehre, auf Ihre Gesundheit zu trinken;« mit gnädiger Verbeugung antwortete das gebietende Haupt: »Ich danke Ihnen, Herr Amtssubstitut, wünsche gleichfalls.« – Sodann erhob der Substitut den gleichen Spruch und erhielt die Antwort: »Ich danke, Herr Substitut.« Wie ein Echo klang sofort der Spruch aus einem Munde nach dem andern. Die Schreiber wurden mit einem: »danke, Herr Beutemüller, Herr Maier u. s. w.« abgefertigt; der Incipient mit seinem Mostglas erhielt noch ein: »ist recht,« ohne weitere Zuthat. Sodann trat das Corps den Rückzug an, wenn nicht etwa noch der Amtssubstitut einer besondern Einladung dazubleiben gewürdigt wurde.
Während die Schreiber in der Amtsstube sich mit allerlei Witzen und lautem Geplauder für das lange Schweigen entschädigten, wurden auf der Stadtschreiberstafel erst noch Extraleckerbissen aufgetragen, Krebse, Braten, süße Speisen und Nachtisch. Trotz der streng eingehaltenen Hausordnung und der Flaschen in absteigender Linie durfte aber gewiß Niemand im Hause Mangel leiden. In der Stadtschreiberei war Vollauf das ganze Jahr, die Frau Stadtschreiberin setzte ihres Herzens Stolz nicht wie eine Dame heutzutage in einen offenen Schreibtisch mit eleganten Albums, welche die Herzen der Besucher mit geheimem Schreck erfüllen, weil sie dieselben mit einem erzwungenen poetischen, oder theuer erkauften künstlerischen Beitrag bereichern müssen, auch nicht in eine Etagere mit zierlichen Kleinigkeiten, wohl aber in eine wohlgefüllte Speisekammer, deren Anblick jedwedes Herz erfreuen mußte. Da hingen Schinken, Speckseiten, Würste und geräuchertes Fleisch jeder Größe und Gestalt; umher standen Schmalzhäfen von kolossalen Dimensionen, Butterballen und Eier in ungezählter Menge, alles in geeigneten Gefäßen. Daher ist in den alten Häusern noch solche Rücksicht auf den Umfang der Küche und Speisekammer genommen, während in unsern Tagen eine Küche von drei Schritten Länge und ein Speisekasten genügen müssen für eine Wohnung, die Salons, Speise-, Musik- und Besuchzimmer in Menge zählt.
An einzelnen Tagen wurden wohl auch die Schranken des Standesunterschieds etwas bei Seite geschoben. Auf Bällen zum Beispiel durfte jedweder der Schreiber auf einen Walzer, Ecossaise oder Menuet mit einer Tochter des Hauses Anspruch machen. Solche Attention wurde sogar erwartet, nur mußte auch in der gebührenden Ordnung engagirt werden, also daß eines der titellosen Subjekte niemals wagen durfte, vor dem Herrn Amtssubstituten sich zu melden.
Eines der schönsten häuslichen Feste war aber die alljährliche Metzelsuppe, die Winters abgehalten wurde. Um den Genuß des Festes zu erhöhen, durfte fast das ganze Personal der Schreiber thätigen Antheil an der vorhergehenden Arbeit nehmen, mit Speckschneiden u. dgl., welche Mühe aber durch die Anwesenheit und Mithülfe der Töchter und weiblichen Gäste versüßt wurde, mit denen bei dieser Gelegenheit auch den Subjekten, dem Herrn Beutemüller u. s. w. ein Spaß erlaubt war. Der Incipient durfte sich noch mehr beim Geschäft betheiligen, indem er das Schüsselchen zum Blut unterhielt und dem Mezger durchgängig hülfreiche Hand leistete. Dafür aber wurde schon den Tag über Kesselfleisch in reichlichen Portionen vertheilt und Abends die Metzelsuppe mit größter Heiterkeit verspeist, bei welcher Gelegenheit auch die feierliche Würde des Herrn Principals in gemüthlichem Humor unterging. Ganz war freilich der Standesunterschied nicht aufgehoben: die Würste des untern Personals zeigten mehr und mehr eine Armuth an Speck, die bloß durch reichliches Gewürz ergänzt war, die Flaschen dagegen, mit Ausnahme der des gebietenden Herrn, waren diesmal von gleichem Inhalt und nicht gemessen oder gezählt, so daß sämmtliche Gesellschaft höchst befriedigt das Mal verließ.
Nicht minder festlich wurde der Herbst (die Weinlese) in dem Weinberg des Herrn Stadtschreibers abgehalten, der mit einem äußerst geschmackvollen Gartenhaus geziert war. Außer dem Hauspersonal und den zahlreichen Gästen nahm sämmtliche Honoratiorenschaft des Städtchens an der Festivität Antheil. Die Schreiber versahen sich je nach Maßgabe ihrer baaren Mittel mit Pulver und Feuerwerk, die Herrn Substituten brachten sogar Raketen und Feuerräder auf den Platz, welch letztere jedoch jedesmal verunglückten, trotz dem, daß der Stadtknecht (der Amtsdiener des Stadtschreibers), und der Incipient mit Stöcken dazu gestellt wurden, um die widerspenstigen zu treiben. – Nach einer äußerst reichlichen Bewirthung, bei welcher die Trauben, die köstlichen Gaben des Herbstes, nur Nebensache waren, kam der Abend, an dem sich die zunehmende Heiterkeit durch Schießen und Feuerwerk Luft machte, bis ein glorreicher Rückzug mit Fackeln erfolgte. Oft durfte der Jubel sogar noch mit einem Tanz im großen Zimmer der Stadtschreiberei beschlossen werden, wo ein etwas heiseres Clavier stand, auf dem Jungfer Mine mit großem Applaus eine Ecossaise und zweierlei Walzer spielte, bis sie selbst vom galanten Substituten engagirt wurde, welcher nach der Maultrommel des Herrn Maier, wozu Herr Nüßeler den Takt trat, einen Hopswalzer mühselig mit ihr vollendete.
Noch glorreicher entfaltete sich das Personal der Stadtschreiberei während der Schlittenfahrten, die dort vom ersten befahrbaren Schnee an arrangirt wurden. Der Herr Stadtschreiber mit seiner Frau Liebsten fuhr mit stattlichem Gespann in einem grün und roth bemalten Schlitten voraus. Sämmtliche Schreiber theilten sich in die Ehre, die Töchter, Nichten und Bäschen der Familie führen zu dürfen, welche sich freilich meist auf »Reibern« behelfen mußten; nur der Amtssubstitut führte Jungfer Karoline im Triumph in dem glücklich erbeuteten Schlitten des Müllers, der die Gestalt einer Tulipane hatte und vorne mit einer Meerfrau geschmückt war. Der klingelnde Zug, in dessen Nachtrab aus Mangel eines Rollgeschirrs auch Kuhglocken ertönten, fuhr sodann auf einen benachbarten Hof, wo die Zeit mit Tanz und Spiel bis tief in die Nacht hinein verjubelt wurde und bei der fröhlichen Heimfahrt im Dunkel der Nacht manch schüchterner, bis dahin versiegelter Schreibermund sich öffnete und sogar wagte, die Einziehung des Schlittenrechts zu versuchen.
Wie schön aber ist vollends die letzte und glänzendste Festlichkeit in der Stadtschreiberei ausgefallen, als der galante Substitut, der durch die Verwendung des Stadtschreibers eine Extraprobatorstelle erhalten, sich entschloß, um die Hand der gereiften Jungfer Mine zu werben, somit auch die stillen Wünsche des Amtssubstituten laut werden durften, der mit der Hand seiner Karoline die Aussicht auf Amtsnachfolge erhielt, und nun diese erfreuliche Doppelverlobung gefeiert wurde! Die nähere Beschreibung des Festmahls bei dieser Veranlassung ist in unsern Zeiten fast unmöglich geworden, wo für eine bürgerliche Küche das Kochbuch einer Frau Stadtschreiberin zu den Chimären gehört. – Gut aber war es, daß die Jungfer Töchter noch in den Glanzzeiten des Hauses versorgt wurden, denn die Hinterlassenschaft zeigte sich, wie schon häufig der Fall war, viel geringer, als die Welt vermuthet hatte, da selbst ein fürstliches Einkommen zu Bestreitung des enormen Aufwandes nicht immer hinreichen wollte.
Nun ist all diese Herrlichkeit fast spurlos untergegangen, vergebens suchen wir in groß und kleinen Städten nach einem so gastlichen Hause, wie einst die Stadtschreiberei war, nach einem ähnlichen Verhältniß zwischen Principal und Untergebenen, das neben aller steifen Förmlichkeit doch wieder etwas Patriarchalisches hatte. Der nivellirende Geist der Zeit duldet keine so erhabenen Häupter mehr, und obschon das Institut der Stadtschreibereien noch keiner grauen Vergangenheit gehört, so klingt es doch schon wie uralte Tradition im Munde des Volkes: »er hat einen Hochmuth wie ein Stadtschreiber.«