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5.

Der junge Diplomat, der sich so allgemeiner Achtung erfreute, war ganz im Lesen vertieft, als man ihm die Ankunft des Justizraths meldete. Ein paar Augenblicke war er zweifelhaft, ob er den gewiegten Juristen empfangen oder sich verleugnen lassen sollte. Dann rief er, weiter lesend, dem Bedienten zu: »Sehr angenehm! – Der Mann kommt wie gerufen,« fuhr er mit sich selbst sprechend fort. »Ohne Zweifel sucht er bei mir, was ich bei ihm finden wollte. – Nun, desto besser! Freunde, Unterstützung, verschwiegenes Handeln sind immer vortreffliche Hülfsmittel, deren man gar nicht entbehren kann, wenn man die Menge beherrschen oder dupiren will.«

Strahleck trat ein. Mandelsdorf begrüßte ihn mit Herzlichkeit.

»Wissen Sie es schon, Herr Justizrath?« sagte der Diplomat mit einem Blicke, der geheimes Einverständniß stillschweigend voraussetzte, mithin zu vertrauensvollem Entgegenkommen aufforderte.

»Sie gehen nach Paris?« lautete die Gegenfrage des Justizraths, der sich das heitere Gesicht des jungen Mannes nicht anders erklären konnte, als daß er glaubte, sein längst gehegter Wunsch, den alle seine Freunde billigten, sei bereits in Erfüllung gegangen.

»Kommen Sie nicht von Haus?« fragte hierauf Mandelsdorf, ein wenig ernster blickend.

»Ich verließ meine Wohnung vor einigen Stunden,« versetzte der Justizrath. »Eine Angelegenheit von Wichtigkeit nöthigte mich, längere Zeit mit dem englischen Consul zu conferiren.«

»So, so!« sprach Mandelsdorf gedehnt. »Freilich, dann können Sie noch nicht unterrichtet sein.«

»Wovon denn, Herr Legationsrath?«

»Von – nun es sind, eben Briefe ausgegeben worden, die einiges Aussehen machen dürften.«

Strahleck erschrak dergestalt, daß er sich entfärbte. In den nächsten Fauteuil niedergleitend, auf dessen Lehne er seine Handschuhe niedergelegt hatte, erwiderte er:

»Briefe? Doch nicht aus Holland?«

»Briefe, deren Absender längst vermodert sind,« erwiderte Mandelsdorf.

»Hat man Ihnen direct von diesem Evenement Anzeige gemacht?«

»Es kann wohl nicht directer geschehen, Herr Justizrath, indem mir die gewiß nur wenigen Personen beschiedene Auszeichnung zu Theil wurde, daß mir die Post einen jener verspäteten Briefe in reinlichem Umschlage zustellen ließ.«

»Ihnen selbst?«

»Nun ja,« sagte Mandelsdorf mit seinem Lächeln. »Uebrigens dürfen Sie auf diese ohne mein Verdienst mir gewordene Auszeichnung nicht neidisch sein. Die Post kann Sie durchaus nicht übergangen haben.«

So sprechend ergriff der Diplomat ein sehr vergelbtes Papier und zeigte es dem überraschten Justizrathe. Dieser blieb unbeweglich sitzen, betrachtete den jungen Mann unverwandten Auges, und sagte endlich, des Staunens, das ihn befallen hatte, noch nicht völlig Herr geworden:

»Wie soll ich mir diese Zusendung deuten! Der Name Ihrer hochgeschätzten Familie steht doch schwerlich in Beziehung mit einem der Adressaten, die nach einem halben Jahrhundert auf einmal wieder zu einem gespenstischen Leben erwachen und – ich fürchte so etwas – als Spukgestalten bald Diesen bald Jenen erschrecken werden?«

»Wie eigentlich die Dinge zusammenhängen, kann ich augenblicklich selbst noch nicht beurtheilen,« erwiderte Rudolph Mandelsdorf. »Man muß prüfen, untersuchen, ermitteln. Möglich, daß ich dabei hinter ein Geheimniß komme, dessen Enthüllung hoffentlich in diesem Augenblick Niemand mehr schadet. Gegen Sie, Herr Justizrath, glaube ich schon jetzt offen sein zu können, da nicht nur unsere Ansichten sich in wichtigen Dingen fast immer begegnen, sondern in diesem speciellen Falle auch unsere beiderseitigen Interessen leicht Hand in Hand gehen dürften. Lesen Sie diese Zeilen und theilen Sie mir dann gefälligst mit, was Sie davon halten und was Sie an meiner Stelle thun würden. Das Schreiben ist, wie ich bemerken muß, an den Vater meiner Mutter gerichtet.«

Der Justizrath empfing den alt gewordenen Brief aus der Hand des Diplomaten. Die Schriftzüge waren steif und unsicher, am Styl ließ sich viel aussetzen und mit der Orthographie hatte der Schreiber offenbar auf etwas gespanntem Fuße gelebt.

Strahleck achtete wenig darauf, da ihm in seiner langen juristischen Praxis Aehnliches schon oft vorgekommen war. Ihm lag vor Allem daran, den Namen des Schreibers zu erfahren.

»Paul Witteboom,« las er. »Nie im Leben habe ich diesen Namen nennen hören.«

Darauf wendete er das Blatt um. Die Adresse lautete:

»An den Finanzrath Michael Delft-Honest.«

»Bitte, Herr Justizrath, machen Sie sich mit dem Inhalt des Schreibens bekannt,« sagte der Legationsrath. »Später will ich, wenn Sie mich gütigst anzuhören geruhen, mich Ihnen, so weit ich kann, eröffnen.«

Strahleck las, langsam, bedächtig, jede Sylbe wägend und prüfend. Kopfschüttelnd gab er den Brief zurück, indem er unbefriedigt sagte:

»Ich verstehe kein Wort davon.«

Mandelsdorf erwiderte heiter:

»Mein Wissen steht ziemlich auf gleicher Stufe, wenn Sie mich nach der Bedeutung des räthselhaften Inhaltes dieses Briefspätlings fragen. Ich habe indeß Vermuthungen, und gerade diese will ich Ihnen nicht vorenthalten. Sehr lieb ist es mir übrigens, daß die Post so viel Tact besaß, das Schreiben zu couvertiren und es mir unter meiner Adresse behändigen zu lassen. Wäre es meiner guten Mutter in die Hände gefallen, so würde ich Ihnen nicht mit so heiterm Gesicht entgegen gekommen sein.«

»Delft-Honest!« sprach Strahleck. »Diese Namensverbindung war mir nicht bekannt.«

»Ich glaube das wohl,« fuhr der Legationsrath fort. »Meine Mutter nannte sich auch nie so, da es ihr Vater schon vorgezogen hatte, den angehängten Namen Honest wieder abzulegen.«

»Dazu müssen den Herrn Finanzrath doch sehr gewichtige Umstände bestimmt haben,« warf Strahleck ein.

»Allerdings,« sagte Mandelsdorf, »und mit diesen Gründen will und muß ich Sie bekannt machen, da nur durch sie der räthselhafte Inhalt dieses Briefes einer Deutung fähig ist. Mein Großvater mütterlicherseits war ein sogenanntes angenommenes Kind. Seine Eltern, von Haus aus begütert, geriethen durch eine Verkettung ungünstiger Umstände in Dürftigkeit. In dieser Bedrängniß glaubten sie das Anerbieten einer befreundeten Familie, die ihnen jedoch gar nicht verwandt war, für die Erziehung ihres Sohnes Sorge tragen zu wollen, annehmen zu dürfen. So kam der junge Delft in das Haus der Honest, die ihn ganz wie ein eigenes Kind behandelten und – ich vermuthe aus Eitelkeit – mit dessen Vater das Abkommen trafen, ihm den eigenen Geschlechtsnamen mit beifügen zu dürfen. Vom Tage seiner Confirmation an hieß somit der Vater meiner Mutter Delft-Honest.«

»Stammen die Honest aus England?« unterbrach Strahleck den Legationsrath.

»Gewiß,« fuhr dieser fort. »Die bürgerlichen Kriege im siebzehnten Jahrhunderte nöthigten die Vorfahren meines Großvaters England zu verlassen und sich nach Frankreich zu flüchten. Lange indeß scheint es ihnen unter den Franzosen nicht gefallen zu haben, weshalb sie sich später im Vlämischen niederließen, das sie für ihr wirkliches Vaterland ansahen. Alle Honest dachten jedoch nicht, wie der Halb- oder Pflegevater meines Großvaters, denn einer der Gebrüder Honest wanderte um dieselbe Zeit als eifriger Methodist nach Canada aus, wo Nachkommen desselben, die sonach zu meinen Verwandten zählen würden, wohl auch noch leben mögen.«

»Diese Mittheilung hat für mich einen ganz unschätzbaren Werth,« sagte der Justizrath. »Ich bedaure aufrichtig, nicht früher diesen Einblick in Ihre Familienverhältnisse gewonnen zu haben. Wie viel Mühe wäre mir dadurch erspart worden! Nach meiner Ansicht sollten Namensveränderungen, die in der Regel zu allerhand Irrungen und Wirnissen, sowie auch oft zu schwer löslichen Verwickelungen führen, unter keiner Bedingung gestattet werden.«

»Um so angenehmer wird es mir sein,« sagte Mandelsdorf, »wenn ich dazu beitragen kann, Ihnen eine drückende Lage wenigstens zum Theil mit tragen zu helfen! Doch kommen wir auf die Honest zurück, denen mein Großvater Dank schuldig geworden ist. – Außer meinem Großvater lebten in dem glänzenden Hause der Honest zwei Kinder, ein um mehrere Jahre älterer Sohn, Alcid genannt, und eine jüngere Tochter Sara, Letztere ward ein Liebling des jungen Delft, und es läßt sich wohl mit Bestimmtheit annehmen, daß mein Großvater sich mit dem Gedanken trug, in Sara seine dereinstige Gattin zu erblicken. Aufzeichnungen in seinen Tagebüchern, die erst nach seinem Tode meiner Mutter zugänglich wurden, stellen dies außer Zweifel. Auch deuten vorgefundene, sorgfältig aufbewahrte Zettel von Sara an, daß das junge Mädchen ihren Pflegebruder geliebt haben muß. Wie dem nun sein mag, die Neigung der Liebenden fand nicht die Billigung der Eltern. Man trennte die jungen Leute; man nahm zu Intriguen, endlich gar zu nicht ganz ehrenwerthen Schritten seine Zuflucht, um in Sara's Herzen, eben so wie in dem meines Großvaters die Liebe zu ersticken. Ob diese Absicht vollkommen auf beiden Seiten erreicht worden sein mag, hat Niemand erfahren. In den Aufzeichnungen meines Großvaters findet sich nicht die geringste darauf bezügliche Andeutung. Sie schließen die Periode stürmischer Jugend nur mit den trockenen Worten ab: »Von Sara geschieden – ihre Thränen absichtlich unbeachtet gelassen – Honesthof auf Nimmerwiedersehn den Rücken gekehrt ...!« – Mit diesem freiwilligen Scheiden aus einer Familie, in der mein Großvater erzogen worden war, scheint eine Erkältung namentlich zwischen den Kindern derselben eingetreten zu sein. Ein offener Bruch fand nicht statt, wohl aber machte sich eine Spannung oft bemerkbar, die, als der Pflegevater Delfts starb, zu gänzlicher Trennung führte. Kurz vorher hatte sich mein Großvater verheirathet, und zwar mit einer Freundin Sara's, die mit seiner Jugendgeliebten große Aehnlichkeit gehabt zu haben scheint. Durch Sara's Vermittelung lernte Delft Florinde Morhausen kennen, schätzen, lieben. Sie ward endlich seine Gattin. Als Sara meinen Großvater mit dieser Freundin glücklich vermählt wußte, trat sie eine längere Reise an, von der sie erst nach einigen Jahren zeitweise noch einmal zurückkehrte, um später abermals ins Ausland zu gehen. Sie hat sich nie vermählt und ist, so viel uns bekannt geworden, in einer Küstenstadt Frankreichs gestorben. In ihrer Begleitung befand sich ihre treuergebene Amme, die Sara ungewöhnlich hoch schätzte, und als Bedienter und Hausmeister deren Mann, Paul Witteboom, zwei Personen, denen die Dame sehr großes Vertrauen geschenkt zu haben scheint. Was nun diesen Witteboom veranlaßt haben mag, meinem Großvater eine solche Zumuthung zu machen, wie dieser Brief sie enthält, ist ein Geheimniß, das ich wohl zu ergründen wünschte.«

»Wenn der Mensch kein Betrüger gewesen ist,« bemerkte der Justizrath, den unorthographisch geschriebenen Brief noch einmal durchlesend, »so muß das Geheimniß doch für Ihren Großvater einigen Werth gehabt haben. Man gibt fünfhundert Gulden nicht für eine Bagatelle aus, aber man hat auch nicht die Stirn, eine solche Summe für eine Lappalie zu fordern.«

»Seltsam!« sagte Mandelsdorf. »Seit ich im Besitz dieses beinahe sechszig Jahre alten Briefes bin, werde ich von einer Neugierde geplagt, die ich noch nie an mir bemerkt habe. Was ist klüger: diesem Hange und Drange sich hinzugeben und Alles zu versuchen, um das auf fünfhundert Gulden veranschlagte Geheimniß, zu erfahren, oder der Verlockung zu widerstehen und das alte Papier unbeachtet in den Ofen zu werfen? In ersterem Falle kann man Geister citiren und ein Leidensgefährte von Goethe's Zauberlehrling werden, im zweiten entgeht mir vielleicht ein Glück, von dem ich nicht die entfernteste Ahnung habe.«

»Hat Ihre Familie später, ich meine nach dem Tode Ihrer Großeltern mütterlicherseits, keinen Versuch gemacht, sich den Honests wieder zu nähern?«

»Bei meinen Lebzeiten ist mir von einem solchen Versuche nichts bekannt geworden. Alcid, als Jüngling der Freund Delfts, hat des Letzteren Haus nie betreten. Die Spannung wuchs mit der Abreise Sara's und sie hat sich, allem Vermuthen nach, zur Feindschaft gesteigert, als Alcid in Erfahrung brachte, daß seine leibliche Schwester noch einmal den jungen Mann von Angesicht zu Angesicht sah, den sie als junges Mädchen so innig liebte.«

»Erlauben Sie mir, daß ich gewissermaßen als Anwalt diese Angelegenheit zur meinigen mache?« fragte Strahleck.

»Ich bitte sogar darum,« fiel der Legationsrath lebhaft ein.

»Meiner Diskretion dürfen Sie versichert sein.«

»Empfangen Sie schon heute Dank für dies freundschaftliche Anerbieten!« sprach Mandelsdorf.

»Vorerst kann ich diese Gabe Ihres edelmüthigen Herzens nicht annehmen,« versetzte Strahleck, »und zwar, weil ich selbst doch etwas dabei interessirt bin.«

»Wie das, Herr Justizrath?«

»Sie haben Verwandte, Vettern, die Ihren Namen tragen?«

»Nur zwei, aber ich kenne sie nicht.«

»Bruder oder Geschwisterkinder?«

»Soviel ich weiß, Brüder.«

»Einer derselben Welt sich vor nicht langer Zeit einige Tage in unserer Residenz auf.«

»Das haben Sie in Erfahrung gebracht?«

»Durch Zufall. Herr Mandelsdorf, der mit seiner Mutter reiste, ließ beim englischen Consul, unserm sehr werthen Freunde, seinen Paß visiren.«

»Also die Mutter dieses Cousins lebt noch?« sagte Mandelsdorf. »Ich glaubte, sie sei längst schon gestorben.«

»Die erwähnte Dame ist eine geborene Honest, nicht wahr?«

»In der That!« rief der Legationsrath. »Das hätte ich bald ganz vergessen! Mirrha Honest war ja die Halb-Cousine Alcids. Lebt die Dame wirklich noch, so muß sie jetzt eine Greisin sein. Ihre Verheirathung mit einem meiner Verwandten führte zu Mißhelligkeiten, die nie wieder ausgeglichen worden sind.«

»Wenn sich nun Gelegenheit böte, eine solche Ausgleichung jetzt herbeizuführen,« entgegnete Strahleck, »würden Sie nicht gern die Hand dazu bieten?«

»Ich persönlich sehr gern,« sagte Mandelsdorf, »ob aber meine Mutter ihre Einwilligung dazu geben würde, wage ich wenigstens augenblicklich nicht zu versprechen.«

»Und wenn das Glück, vielleicht die ganze Zukunft mehr als einer Familie von einer solchen Versöhnung abhinge?«

Mandelsdorf ward nachdenklich und griff zerstreut nach dem alten Briefe.

»Ich werde die Stimmung meiner Mutter erforschen,« sprach er dann rasch. »Ueber die eigentliche Veranlassung des Zerwürfnisses, das die Familien Mandelsdorf vor so langer Zeit unter einander verfeindete, habe ich nie etwas erfahren. In unserm Hause ward kaum jemals ihrer gedacht. Mein Vater bezeichnete sie mit kurzen Worten als Unwürdige, und so bildete sich ebenso in mir ein Vorurtheil gegen diese nächsten Verwandten aus, wie es sich im Herzen meiner Mutter schon längst festgesetzt hatte.«

»Und dieser Brief?« sagte der Justizrath. »Darf ich ihn einstweilen in Verwahrung nehmen? Sollten meine Bemühungen ohne Erfolg bleiben, so erhalten Sie das Schreiben binnen sehr kurzer Zeit wieder zurück.«

»Nehmen Sie, nehmen Sie!« rief Mandelsdorf. »Das Blatt wird in Ihrer Behausung besser aufgehoben sein als bei mir. Ich ermächtige Sie, jeden beliebigen Gebrauch davon zu machen, nur keinen unerlaubten! Unerlaubt aber wäre ein Vorzeigen des Briefes an meine Mutter!«

Der Justizrath legte den Brief Paul Wittebooms in seine Brieftasche und versicherte Mandelsdorf nochmals seiner Discretion. So trennten sich die einander befreundeten Männer, Beide erregt, Beide von Hoffnungen erfüllt, von Zweifeln über Ungewisses, kaum zu Enträthselndes beunruhigt.


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