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7.

Livia Mandelsdorf war eine corpulente Dame, die sich vortrefflich conservirt hatte. Ungeachtet ihres schon beträchtlichen Alters, das ihr Niemand ansah, konnte sie noch für hübsch gelten. Sie lag ausgestreckt auf dem Divan und in ihren jetzt sichtlich schlaff gewordenen Zügen verrieth sich eine ungewöhnliche Abspannung. Auf dem kleinen Tisch mit ausgeschweiften Füßen, der zu ihren Häupten stand, lagen unter einem schön gearbeiteten Briefbeschwerer, verziert mit einem bronzenen Löwen, mehrere Papiere. Daneben stand ein geschliffenes Glas mit unklarer Flüssigkeit.

Außer dem Geschmetter eines Canarienvogels, der dem monotonen Geplauder eines grauen Papagei in höchst elegantem Bauer zu antworten schien, war es stille in dem wohnlichen Räume.

Livia hatte die Augen geschlossen und ihre Hände lagen gefaltet auf der schwer athmenden Brust. So fand die herbeigeeilte Justizräthin die schwer leidende Freundin.

»Verriegeln Sie die Thür, ich bitte!« versetzte sie auf Laura's bewegte Begrüßung. »Es darf uns Niemand stören, Niemand hören! – – O Himmel, wie entsetzlich unglücklich bin ich doch!«

Die Justizräthin, noch immer ganz bestürzt, erfüllte die Bitte der offenbar leidenden Frau. Dann nahm sie Platz neben der ihre liegende Stellung beibehaltenden Freundin, die ihr nur mit leisem Druck die Hand reichte.

»Beklagen Sie mich! ... Weinen Sie über mich! ...« fügte sie, selbst in Thränen ausbrechend, hinzu.

Die Justizräthin war in einer peinlichen Lage.

»Wäre es nicht zweckmäßiger, wenn Sie den Herrn Legationsrath –«

»Nicht um alle Schätze dieser Erde!« unterbrach Livia die Freundin, sich kraftvoll erhebend und mit ihrer linken Hand den Löwenkopf des Briefbeschwerers berührend. »Erst Sie, dann – vielleicht – Ihr Herr Gemahl – ich weiß nicht ... Lesen Sie erst diese Zeilen, später das schreckliche Papier, das mir die Luft verpestet! ... Ihr Urtheil hilft mir vielleicht wieder klar denken!«

Die aufgeregte Frau hob den Briefbeschwerer und schob der Justizräthin ein beschriebenes Blatt zu. Es war das Billet einer Frau, die sich Mirrha Mandelsdorf, geborene Honest, nannte.

»Honest!« murmelte Laura, unwillkürlich der Worte gedenkend, die sie so eben erst von ihrem Gatten vernommen hatte. »Wird dieser Name denn auf einmal zur Parole des Tages?«

Livia öffnete groß ihre dunklen Augen und blickte die Freundin so verstört an, daß diese mit jeder weitern Aeußerung zurückhielt. Auf eine nochmalige stumme Aufforderung der Leidenden überlas sie den ihr eingehändigten Brief. Dieser lautete:

»Werthe Cousine!

Obwohl ich mich nicht erinnern kann, Sie jemals von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben, finde ich mich doch in die Nothwendigkeit versetzt, einige Zeilen an Sie richten zu müssen. Zu meinem Bedauern sind wir uns gegenseitig stets fremd geblieben durch Schuld der Verhältnisse, die wir Beide wenigstens nicht zu verantworten haben. Familienzwistigkeiten entzweiten meine Eltern und die Ihres verstorbenen Gemahls. Ich muß dieser Zwistigkeiten in diesem Augenblick gedenken, weil ich mir nur durch sie den Inhalt des abenteuerlich klingenden Schreibens einigermaßen zu erklären vermag, das ich diesen Zeilen beilege. Ich glaube, dasselbe soll Ihrer Cousine gelten. Seine Bedeutung verstehe ich wenigstens bis jetzt noch nicht. Vielleicht besitzen Sie mehr Scharfsinn als ich, oder der Vater Ihres Gatten ist vor seinem Tode gegen Sie offener gewesen. Ich wünschte wohl, daß ich über diesen tief dunkeln Punkt noch Aufschluß erhielt, ehe ich aus dem Leben scheide. Es ist peinlich und tief niederschlagend, am Abend seiner Tage sich noch von unbekannten Personen brandmarken zu lassen. Wenn indeß diese Communication dazu führt, uns zu dauernder Versöhnung die Hand zu reichen, will ich die Feder segnen, welche diese hierbei folgenden, mich erschütternden Worte vor mehr als fünfzig Jahren niederschrieb.

Ihre
aufrichtige Cousine
Mirrha Mandelsdorf, geb. Honest.«

»Da! Da!« sagte Livia mit halb erstickter Summe, als die Justizräthin das Blatt sinken ließ. »Dieser zweite Brief, der ein halbhundertjähriges Alter hat, öffnet die Pforten der Hölle!«

Laura Strahleck mußte auch dies Schreiben lesen, das folgende Eröffnungen enthielt:

»Mademoiselle oder Madame!

Nach der Behauptung des Arztes habe ich keine zwei Tage mehr zu leben. Diese mir noch vergönnte kurze Frist will ich benutzen, um Ihnen ein Geheimniß mitzutheilen, das Ihnen von unberechenbarem Vortheil sein kann. Sie haben Ihren eigenen Vater schwerlich gekannt, weil er sich schon aus dem Staube machte, ehe sie noch in der Wiege lagen. Ich war damals sein vertrauter Diener, zu jedem Abenteuer aufgelegt und immer bereit, lebenslustigen Herren Amüsements nach ihrem Geschmacke zu besorgen. Ihre Frau Mutter hatte dem jungen Herrn zu großes Vertrauen geschenkt, und das thut selten gut. Nach unserer Entfernung von Honesthof lernte mein Gebieter bald eine andere junge Dame kennen, mit der er sich, nachdem er seinen Namen nach seinem Geburtsorte in Mandelsdorf umgeändert hatte, verheirathete. Dieser Ehe, der zweiten, welche mein Herr schloß, ohne daß die erste gelöst war, entsprang ein Sohn, der sich in seinem vierundzwanzigsten Jahre mit einem Fräulein Delft-Honest vermählte. Ich habe gehört, auch dieses Kind sei noch als sehr junges Mädchen wieder einem Mandelsdorf angetraut worden. Ich müßte mich sehr irren, wenn dieser letzte Mandelsdorf nicht das Kind einer Dame, Namens Sara, wäre, die meines Wissens niemals verheirathet war, deren Lebensgeschichte mir aber wohl bekannt ist, weil ich ihr Vertrauen besaß und sie mehr denn einmal aus ihrem eigenen Munde gehört habe. Sie wollen mir, Mademoiselle oder Madame, diese Enthüllungen, zu denen Gewissensbisse mich veranlassen, zu Gute halten. Ich würde derselben überhoben gewesen sein, hätte der erwähnte letzte Herr Mandelsdorf, dessen wahrer Vater der Finanzrath Michael Delft-Honest war, mir die Ehre einer Antwort erwiesen und mir die fünfhundert Gulden, deren ich vor zwei Jahren so sehr benöthigt war, übersendet. Das Geheimniß, das ich ihm für diese Summe zu enthüllen versprach, wäre dann stets ein Geheimniß geblieben. – Mit pflichtschuldigem Respect

Dero ergebener, unterthänigster Knecht
Paul Witteboom.«

Die Justizräthin war nach beendigter Lectüre dieses Briefes unfähig zu jeder Aeußerung. Ueber ihre Augen legten sich dunkle Schleier, das Blut in ihren Adern stockte; sie fürchtete vom Schlage getroffen zu werden.

Livia Mandelsdorf beurtheilte den Zustand der Freundin richtig und reichte ihr das halb geleerte Glas.

»Fassung, beste Laura, Fassung!« sprach sie. »Sie hören ja nur das Entsetzliche, ich – o daß ich es erleben, erfahren muß – ich werde persönlich davon betroffen!«

»Noch schwirren die Dinge wirr durch einander, so daß ich mich in diesen äußerst verwickelten Verhältnissen gar nicht zurecht finden kann,« klagte die Justizräthin.

»Und ich Aermste, ich sehe nur zu klar!« rief jammernd Livia Mandelsdorf aus. »Wenn dieser Witteboom, der willfährige, zu Allem entschlossene, gewissenlose und feile Mensch, der in früher Jugend leichtsinnige Streiche aller Art gemacht zu haben scheint, nicht müssige Erfindungen zu Papier brachte, so war mein Gatte der Sohn dieser Sara und ich – war seine Schwester!«

Die leidenschaftlich aufgeregte Frau verhüllte sich das Antlitz und begann still zu weinen. Laura Strahleck, der noch mehrere Mittelglieder in der Kette entgingen, die sich um die Brust der Freundin legte, glaubte noch immer Grund zu haben, den abscheulichen Brief für die Ausgeburt eines boshaften Kopfes zu halten, der keinen andern Zweck haben konnte, als Geld zu erpressen. Da ihm dies nicht gelingen wollte, griff er zur Verleumdung, die, dreist angebracht, selten ihre Wirkung ganz verfehlt.

»Beweise fehlen, beste Freundin,« sagte die Justizräthin beruhigend, »ohne die Beibringung unwiderlegbarer Beweise aber, was anders kann dieser Drohbrief sein, der gewissermaßen die Form eines reumüthigen Bekenntnisses hat, als ein blinder Schreckschuß, den man gar nicht zu beachten braucht? Ich sehe eine glückliche Fügung des Zufalls in dem so verspäteten Eintreffen des Briefes. Was kümmern das lebende Geschlecht Dinge, die vor einem halben Jahrhundert geschehen sind! Und wer mag Kinder und Enkel verantwortlich machen für Handlungen ihrer Eltern und Großeltern, noch dazu, wenn Niemand darunter leidet, kein Lebender darum weiß! Oder gilt Ihnen diese düstere Denunciation eines Todten mehr, als das Glück der Gegenwart, das Ihnen jetzt und in der Zukunft noch viele, viele Freudentage verheißt? Nein, beste Freundin, je länger ich ruhig über dies Schreiben nachdenke, desto unbedeutender kommt es mir vor. Ignoriren ist Alles, was Sie thun können, thun müssen! Nur vernichten wollen wir das Papier noch nicht! – Wer weiß, ob es in unsern Händen nicht eines Tages noch zur scharfen Waffe gegen Gleißnerei und unredliches Wesen werden kann! – Ich werde es mit Ihrer Genehmigung unter Verschluß nehmen, und seien Sie versichert, es liegt bei mir sicherer wie im Grabe und soll Jedermann unzugänglich bleiben!«

Diese verständigen Trostesworte, die aus einem warm fühlenden Herzen kamen, blieben nicht wirkungslos. Die bestürzte Livia faßte wieder einigen Muth und betrachtete die Sachlage ohne Vorurtheil. Paul Witteboom war längst vermodert, Sara, deren Sohn ihr eigener verstorbener Gatte angeblich gewesen sein sollte, lebte ebenfalls nicht mehr, mithin fehlte jeder Zeuge, der mit wirksamer Anklage hätte auftreten können. Das vergilbte, morsche Papier war der einzige Ausplauderer eines Vergehens, das bisjetzt vor aller Welt ein Geheimniß geblieben war.

»Wenn nur jener erste Brief, von dem Witteboom spricht, nicht auch noch ans Tageslicht kommt!« sagte, von bangen Ahnungen geängstigt, die zaghafte Livia, die sich scheu vom Spiegel abwandte, um nicht vor sich selbst zu erschrecken.

»Wie mögen Sie von solchem Gedanken sich quälen lassen!« erwiderte die Justizräthin. »Lügt dieser Witteboom nicht, so war jenes erste Schreiben zwei Jahre älter als dieser Brief, und gelangte es an die richtige Adresse, so muß der verstorbene Geheimrath es auch erhalten haben, der in diesem wahrscheinlichen Falle gewiß das gethan hat, was unter solchen Umständen fast immer das räthlichste zu sein pflegt. Er las, lächelte über das Gelesene, die Absicht merkend, die sich darin kund gab, und vernichtete das unnütze Blatt, ohne irgend Jemand ein Wort davon zu sagen. Alles in Allem, liebe Freundin, will es mir immer mehr scheinen, als hätten wir uns Beide von einem Popanz erschrecken lassen. Es ist wahrlich nichts Anderes, als das Alter dieser Briefe, die uns so gewaltigen Respect einflößen, und denen wir eine zauberähnliche Macht beimessen, die doch genau genommen nur in unserer erhitzten Einbildung liegt! Darum nochmals: wenden wir uns von der dunkeln Vergangenheit der heitern Gegenwart, der verheißungsvollen Zukunft wieder zu! Unsere Kinder – apropos, liebe Freundin, darf ich noch immer nicht gratuliren? Der Legationsrath lebt noch in froher Erwartung?«

Diese Wendung des Gesprächs verscheuchte wenigstens momentan die Schattenbilder, die ängstigend auf Livia's Seele einstürmten.

»In einigen Tagen muß es sich entscheiden,« sagte sie, mit freierem Auge die Freundin anblickend. Dann streckte sie der Justizräthin zutraulich die Hand entgegen, die mit gleicher Zutraulichkeit ergriffen und festgehalten wurde.

»Sie wollen mir also Ihre Freundschaft, Ihre Liebe nicht entziehen?« fuhr sie gerührt fort. »Sie achten mich noch? Sie vergeben mir, daß ein verzweiflungsvoller Schmerz mich zwang, mein Leid Ihnen mitzutheilen?«

Laura fühlte, daß sie weich ward. Mit schwimmenden Augen umarmte sie die Freundin und drückte sie fest an sich.

»Ich wünsche nur,« sprach sie, »daß diese Stunde, welche zum Prüfstein unserer Freundschaft geworden ist, uns und unsere Familien einander recht nahe führen, und, wenn es möglich sein könnte, durch enge verwandtschaftliche Bande für immer verbinden mag!«


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