Julius Wolff
Das schwarze Weib
Julius Wolff

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Fünfzehntes Kapitel.

In aller Frühe brach Judika mit den Segenswünschen des greisen Einsiedlers von dessen Hütte auf und wanderte durch den hohen Wald, der ihr jetzt ein ganz anderes Gesicht zeigte als diese Nacht im Mondenschein. Die Sonne ging eben auf und vergoldete die Wipfel der alten Bäume, an denen die Blattknospen zum Aufbrechen schwollen, während über die Sträucher bereits ein dichter Schleier von jungem Grün gebreitet lag und kleine Frühlingsblumen im Grase blühten. Die Drosseln flöteten laut, und im Gezweig der Buchen schmetterten die Finken ihren lustigen Trillerschlag. Es war ein köstlicher Morgen, der mit seiner frischen würzigen Luft, seinem taufunkelnden Glanz und all dem Sang und Klang in Busch und Baum Judikas Seele heiter und wohlgemut stimmte. Rüstig ausschreitend gelangte sie bald an den ihr vom Klausner bezeichneten Bach, dessen klarem, munterem Geriesel sie folgte, bis sie nach Ellhofen kam, wo sie, ohne sich in dem noch stillen Dorf aufzuhalten, auf einem Stege die Sulm überschritt, in deren Tale sie nun auf dem Wege nach Erlenbach weiterging. Sie kam an einer einsamen Mühle vorbei, deren Rad aber stillstand, weil sie wohl nichts zu mahlen hatte. Aus einem halb zerfallenen Fenster schaute ein bleiches Kindergesicht und starrte mit verwunderten Augen auf die dunkle Gestalt, die scheu vorüberhuschte, weil sie nicht angehalten und gefragt sein wollte.

Bald darauf sah sie über dem Einschnitt eines Seitentales die Zinnen des Schlosses Weinsberg ragen, auf denen die Morgensonne so friedlich und freundlich blinkte, als drohte diesen Dächern nicht von fern das Heranschweben des roten Hahnes. Das war ihr Ziel, und sie hätte es von hier aus leicht erreichen können ohne den Umweg über Erlenbach. Hier kannte sie Schritt und Tritt, blieb stehen und schaute sinnend zu der Anhöhe hinauf, wo sie lange Jahre herrlich und in Freuden gelebt und wo sie nun einen so schwierigen Auftrag auszurichten hatte. Einen Augenblick schwankte sie, ob sie nicht gleich zum Schlosse hinaufsteigen sollte, um sich ihrer undankbaren Aufgabe so schnell wie möglich zu entledigen. Aber sie hatte Florian versprochen, daß er in Erlenbach Nachricht von ihr finden sollte, und so wanderte sie weiter.

Als sie endlich an die noch verriegelte Tür von Christinens Hütte pochte, erkannte sie sofort die Stimme der Bewohnerin, die von innen nach dem Namen und Begehren des Einlaßfordernden fragte.

»Ich bin's, Christine! die Judika Hofmännin,« erwiderte die Draußenstehende.

Da öffnete sich die Tür, und Christine Kranz, eine bejahrte Frau, erschien auf der Schwelle, schlug vor Staunen die Hände zusammen und rief aus: »Judika, du?! wo kommst du her? Tritt ein und sei willkommen!«

Sie reichten sich die Hände und Judika ging mit der Witwe in das niedrige, ärmliche Stübchen, ließ sich, ihren Spieß in die Ecke stellend und ihr kleines Reisebündel neben sich legend, auf der Bank nieder und sprach: »Wo ich herkomme, fragst du; ja, das sag' ich dir lieber als wo ich hinwill.«

»Nun! wohin denn?«

»Hinauf zum Grafen.«

»Um Gotteswillen! zum Helfensteiner?« rief die Frau erschrocken aus, »Judika! was willst du bei dem? – ist's Ernst? willst ihn selber sprechen?«

Die Sitzende nickte. »Ich will dir alles erzählen, aber erst – hast du ein Stück Brot, Christine, und einen Trunk Wasser?«

»Herr Gott, ich frage und frage und biete dir nichts an!« sprach Christine beschämt. »Warte! mein Morgensüppchen steht auf dem Feuer, ich bring' es dir. Bist wohl gar die Nacht durch gewandert.« Damit verschwand sie, kam aber bald mit einer kleinen irdenen Schüssel voll dünner Gerstensuppe und einem Stück trockenen Brotes zurück. »Das ist alles, was ich habe,« sagte sie, »nimm! ich brauche nichts.«

»Wir teilen, Christine,« lächelte Judika und brach das Stück Brot durch, hungrig einbeißend, denn sie war von dem Klausner nicht zu bewegen gewesen, ihm seinen äußerst knappen Vorrat noch zu schmälern.

Nachdem sie sich notdürftig gesättigt hatte, erzählte sie der Freundin ihre letzten Erlebnisse und vertraute ihr auch den Auftrag, den sie an den Grafen Helfenstein hatte.

Christine Kranz schüttelte den Kopf. »Tu's nicht, Judika! geh' nicht zum Grafen!« sagte sie. »Du begibst dich damit in große Gefahr, und er verdient keine Schonung.«

»Ich weiß es wohl, aber ich muß, Christine! hab's versprochen,« erwiderte Judika und fügte bedrückt hinzu: »Es wird mir sehr schwer, doch es ist das Rechte.«

»Er soll in schrecklicher Wut gegen die Aufständischen sein, wer ihm von ihnen in die Hände fällt, kommt nicht mit dem Leben davon,« hielt ihr Christine vor.

»Mir wird er nichts tun.«

»Dir nichts tun? o! denkst du, er weiß nicht, daß du bei den Bauern bist? Er wird dich eine Undankbare schelten, weil du lange Jahre sein Brot gegessen hast und nun –«

»Ich komme ja, um ihn zu warnen und ihn vor dem sicheren Untergange zu bewahren. Ist das nicht auch ein Dank?«

»Laß dich selber warnen, Judika! traue dem Grafen nicht! er ist tückisch und schont keinen,« mahnte Christine immer dringender.

»Und dann hab' ich auch die Gräfin noch zu meinem Schutze, die sich mir stets huldvoll und gütig erwiesen hat und um derentwillen allein ich die Botschaft übernommen habe,« sagte Judika.

»Ja sie! sie ist mild und gut,« stimmte Christine zu, »aber er kehrt sich nicht an das Bitten und Flehen seiner Frau und behandelt sie selber schlecht genug, wie man sagt. Sie kann dich gegen die Bosheit des herzlosen Menschen nicht schützen. Kriegt er dich in seine Gewalt, so wird er dir und denen, die dich sandten, zeigen, wie er mit seinen Feinden verfährt. Hüte dich, Judika! geh' nicht zu ihm!«

Aber Judika blieb fest. »Ich muß, und ich tu's,« erwiderte sie, »und sollte der Ritter Florian Geyer kommen und nach mir fragen, so sag' ihm, daß ich bei dir gewesen und von hier aus auf das Schloß gegangen wäre. Mein Bündel und meinen Spieß hebst du mir auf, denn bewaffnet lassen sie mich am Ende nicht zum Tor hinein. Übrigens komme ich vom Schlosse sofort zu dir zurück und wünschte selber, daß ich den Besuch erst hinter mir hätte.«

»Und ich wünschte, daß ich dich erst lebendig und heil wiedersähe,« sprach Christine sorgenvoll.

»Ich habe schon Schlimmeres gewagt und glücklich überstanden, wo ich's selbst nicht glaubte,« erwiderte Judika mit einem besonderen Tone, dessen Bedeutung die andere jedoch nicht verstand.

»Ja,« sagte sie, »Mut hattest du immer, so lang' ich dich kenne. Aber bedenk' auch das noch: wie leicht kann es ruchbar werden, daß du beim Grafen warst und ihn gewarnt hast! Wenn er nun entwischt und dem verdienten Tode entrinnt, so wird man es dir zuschreiben und dich zur Verräterin stempeln.«

»Was ich tue, verantwort' ich auch,« sprach Judika entschieden und erhob sich, um ihren schweren Gang anzutreten. »Je eher ich gehe, desto eher komm' ich wieder,« fügte sie freundlich hinzu.

»Wenn nur! wenn du nur wiederkommst!« jammerte die ältere.

»Ich komme schon!« lachte Judika und machte sich auf. Aber als sie über die Schwelle schritt, blieb sie mit dem Saum ihres Kleides an einem hervorstehenden Splitter des Türpfostens hängen.

»Gott im Himmel, da hast du's! eine Ahnung! eine Ahnung!« rief Christine, die Hände ringend. »Du sollst nicht fort, du sollst hierbleiben, Judika! das ist ein Wink der Vorsehung.«

»Nur ein Zeichen, daß ich wiederkomme,« sagte Judika, hakte ihr Kleid los und schritt eilig von dannen.

Ihr war jedoch keineswegs so leicht ums Herz, wie sie die alte Freundin glauben machen wollte, denn sie kannte den, dem sie gegenübertreten sollte und der, unberechenbar in seinen Launen, zu allem fähig war, was seine schranken- und gewissenlose Macht und Willkür ihm im Augenblick zu tun eingab. Sie ging in einem breiten Tale dem Lauf eines Baches entgegen nach der Stadt Weinsberg zu, bis sie auf den eigentlichen Burgweg kam, der zum Schlosse hinaufführte und den sie nun langsam hinanstieg. Manchmal blieb sie stehen und hielt Umschau nach einzelnen Punkten der Gegend, der Zeiten gedenkend, da sie mit ihrem einstigen Gespielen Ludwig von Helfenstein hier fröhlich umhergeschweift war. Ihr kam der Wunsch, ein glücklicher Zufall möchte ihr den Grafen hier auf diesem Wege entgegenführen. Dann wollte sie, mit der Hand hierhin und dorthin weisend, ihn an ihre Jugendfreundschaft erinnern, und er wäre dann für ihre Vorstellungen vielleicht zugänglicher, als er es dort oben auf seinem festen Schlosse sein würde, wo er gewiß dem Angriff der Bauern trotzen zu können meinte und jede Warnung höhnisch in den Wind schlug. Aber der Zufall tat ihr den Gefallen nicht, sie mußte hinauf und in die Burg hinein, deren Tor sich nach ihrem Eintritt hinter ihr schließen und sich nicht ohne den Willen des gefürchteten und gehaßten Schloßherrn wieder vor ihr öffnen würde. Ihr Hängenbleiben an Christinens Türpfosten kam ihr wieder in den Sinn. Wenn es nun doch eine Vorbedeutung gewesen wäre! Noch wäre es Zeit, umzukehren. Sie sah sich nach einem anderen Zeichen um, das ihr weissagen könnte, ob ihr Gutes oder Böses in der nächsten Stunde bevorstand. Aber nichts Lebendes regte sich in ihrer Nähe, nur daß hoch über ihr, im Blauen aufsteigend, eine Lerche sang. Sie winkte dem Vöglein mit der Hand einen Gruß hinauf, und indem sie dabei den Arm erhob, entdeckte sie auf ihrem Ärmel eine kleine Spinne. »Spinnen bringen Glück,« sprach sie gedankenvoll und ließ das Tierchen auf ihrem Kleide ruhig weiterkriechen. »Aber was für ein Glück sollte da wohl meiner warten?« Sie schüttelte seufzend das Haupt und sah von der halben Höhe, auf der sie stand, nach der anderen Seite des Geländes hin.

Da lag zu ihren Füßen die mauerumgürtete Stadt Weinsberg, in deren Gärten die Obstbäume in voller Blüte standen, wieder ein freundliches Bild, auf dem Judikas Blick eine Weile sinnend ruhte. Sie erwog, ob die Bürgerschaft bei der doch wahrscheinlich bevorstehenden Belagerung des Schlosses Partei ergreifen oder müßig zuschauen werde. Anhänger hatte der Graf in Weinsberg nicht, und bei seinem hier am besten gekannten und oft genug hart empfundenen tyrannischen Wesen ließ sich fast annehmen, daß Rat und Zünfte gut bäurisch gesinnt waren. Sicherlich würde es der Stadt übel ergehen, wenn sie am Ende des Kampfes nicht auf der Seite des Siegers war, mochte dieser nun der Graf oder Jäcklein Rohrbach sein, denn für ihre Gegnerschaft würde sie durch die Rache des einen oder des anderen schwer zu büßen haben.

Der Einsiedler hatte recht: es war ein schrecklicher Krieg. Stolze Herrensitze, behäbige Bürgerhäuser und neben ihnen manche Hütte der Armut, die Wohnungen friedliebender Menschen mit ihrem nützlichen und schönen Hausrat jeglicher Art wurden vom Feuer gefressen und völlig vernichtet. Und doch mußte es, mußte es sein, denn es gab kein anderes Mittel mehr; nur aus dem fließenden Blut der Schuldigen und aus den rauchenden Trümmern ihrer Zwingburgen konnte sich die Freiheit erheben, um dem geknechteten Volk und dem verwüsteten Land eine gesegnete Zukunft zu bringen.

Mit unwillkürlich schauderndem Gefühl, aber nicht erschüttert in ihren Gesinnungen und Entschlüssen, wandte Judika den Blick von der blühenden Stadt dort unten und schritt die Anhöhe weiter hinan dem großen Schlosse zu, dessen Mauern sich nahe vor ihr erhoben und dessen Schicksal auch schon besiegelt war.

Als sie an den Graben kam, fand sie die Brücke aufgezogen, was sie indessen nicht groß wunderte; man wollte sich vor unvermuteten Überfällen sichern. Sie rief aufs Geratewohl den Namen desjenigen, der zu ihrer Zeit das Amt des Torhüters inne hatte: »Herwig! Herwig!« und wirklich erschien das verwitterte Gesicht desselben Alten an einer Öffnung des Turmes.

»Judika!« rief er, sie erkennend, von oben zurück, »täuschen mich meine Augen nicht? Judika' warte! gleich lass' ich dir die Brücke herunter.«

Bald rasselten die Ketten, und die Brücke senkte sich langsam. Aber siehe da! ehe sie ganz hernieder und es der Harrenden möglich war, sie zu beschreiten, blieb sie schweben. Die Glieder der Kette mußten sich vor der Rolle, über die sie lief, verschlungen haben, und Judika mußte sich gedulden, bis man da drinnen eine Leiter herbeigeschafft und die Kette flott gemacht haben würde.

Das war nun wieder ein böses Zeichen für Judika: das Burgtor wollte ihr den Eingang wehren, und das machte auf sie den beklemmenden Eindruck einer neuen übernatürlichen Warnung. Allein jetzt umzukehren wäre in ihren Augen eine Feigheit gewesen, und ehe sie die leiseste Anwandlung dazu hatte, lag die Brücke in ihrem ebenen Geleise, und aus dem geöffneten Tor trat ihr Herwig entgegen, die ehemalige Burggenossin treuherzig begrüßend. Mit ihm zugleich kam sein Hund heraus, beschnupperte die Fremde, erkannte sie augenblicklich wieder und sprang fröhlich bellend und wedelnd an ihr empor.

»Hurtig! mein Hurtig! kennst du mich denn noch?« sprach Judika erfreut und streichelte den alternden Liebling, der manchen schönen Knochen aus ihrer Hand erhalten hatte. »Das will ich mir als guten Willkomm nehmen, deine treue Hundeseele betrügt mich nicht.« Und vertrauensvoll, als gewährte ihr der anhängliche vierbeinige Freund sicheres Geleit hinein und heraus, schritt Judika mit Herwig durch das Tor in die Burg.

»Ist der Graf daheim?« frug sie, »ich muß ihn sprechen.«

»Ja, daheim ist er,« erwiderte der Pförtner, »aber nimm dich in acht, Judika! wir wissen hier alles von dir, und der Herr wird nicht gut auf dich gestimmt sein.«

»Ich will nichts von ihm, Herwig; ich komme nicht, um zu betteln, ich will euch retten,« sagte Judika.

»Retten? sind die Bauern im Anzuge?«

»Ja! morgen, spätestens übermorgen sind sie hier.«

»Schockschwerenot!« rief Herwig erschrocken. »Und wie willst du uns retten?«

»Der Graf muß sich in den evangelischen Bund schwören oder fliehen, und ihr müßt euch ergeben. Wer sich widersetzt, ist des Todes.«

»Hm! also sich für ihn totschlagen lassen!« sagte Herwig nachdenklich. »Denn der Graf und fliehen? Du kennst ihn doch, Judika! der wankt und weicht nicht.«

»Dann ist er verloren,« versetzte Judika kurz und bestimmt.

Der Alte schüttelte mißmutig den grauen Kopf. Dann frug er: »Hast du Botschaft an ihn?«

»Ja!«

»So geh' hinauf! geh' mit Gott, aber hoffe nichts!«

Judika betrat klopfenden Herzens den weiten Burghof, vermied es jedoch, sich in dem altvertrauten Raume wieder einmal umzuschauen, sondern wandte sich sofort zum Palas und erstieg die Treppe zu den gräflichen Wohngemächern. Oben im Flur traf sie eine ihr fremde Zofe, nannte dieser ihren Namen und ersuchte die Erstaunte, sie dem Herrn Grafen anzumelden.


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