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Drittes Kapitel

 

5. Um die fliegenden Untertassen. Die Rattendemonstration.

Clerks Landsitz »Dealwood« liegt 150 Kilometer nördlich der Stadt; er ist über den breiten Highway in anderthalb Stunden zu erreichen. Das Anwesen umfaßt etwa 300 Hektar besten Wald-, Acker- und Weidegeländes; es besitzt Stallungen für einige Dutzend Schweizer Rassekühe, eine mittelgroße Pferdezucht mit Spezialisierung auf irische Jagd- und Sprunghengste, ferner das zu einer Musterwirtschaft gehörige Kleinvieh. Selbstverständlich ist die Farm, was Wasser und Elektrizität betrifft, durch Frischwasser aus dem felsigen Vorgebirge und durch einen Stauteich mit eigenem kleinem Kraftwerk von der Außenwelt unabhängig. »Mehr zum Scherz« hat Clerk in den Felswänden des Nordhanges einige Höhlen als Bunker mit Schlafräumen für alle Fälle herrichten lassen, natürlich mit dem erforderlichen Komfort, mit Sauerstoffgerät und mit gasfesten Clerkschen Stahltüren.

Übrigens war Clerk – schon lange vor dem erregenden vorgestrigen Tag – in dieser Hinsicht keineswegs leichtfertig. Auf seine Anweisung wurde die früher erwähnte Hazienda im Süden des Landes ebenfalls in eine Art Verteidigungszustand gebracht. Da jene Farm in der flachen Prärie liegt, so kamen dort seine Stahlbunker zu Ehren. Es ist beruhigend, je einen Ausweichpunkt im Norden und Süden des großen Landes zu wissen.

Für die Weekendparties, die Mrs. Dorothy einmal im Monat abzuhalten pflegt, ist allerdings »Dealwood« wegen der Nähe der Stadt, des besseren Klimas und des vorhandenen Komforts geeigneter. Mrs. Dorothy liebt es in ihrer burschikosen Unbekümmertheit, Menschen der verschiedensten Interessen, Berufe und Bildungsstufen zu diesem Zusammensein einzuladen, in der Überzeugung, daß sich alles »schon arrangieren« werde.

Während nun Old Josh und der einarmige Colonel Kennedy sich ins Rauchzimmer zu einer Schachpartie zurückgezogen haben und Mr. Clerk im »Look« und »This Week Magazine« herumblättert, aber auch beim Schach kiebitzt, hat sich das Gros der Gäste draußen auf der Südterrasse vor dem Speiseraum in bunten Gruppen verteilt. Da hocken in einem Winkel auf Liegepritschen und der breiten Holzbalustrade die jungen Leute: die zweiundzwanzigjährige Tochter des Hauses, Francis Clerk, die Literaturstudentin des Richmond College, und ihre Freundin Susan Patric, die vor einem Jahr das Studium abgebrochen hat und jetzt als Schauspielerin in einem avantgardistischen »Rooftheatre« – einem Studio im Dachboden eines Hochhauses – in den jüngsten surrealistischen französischen und amerikanischen Stücken mitwirkt, jenen Werken, die sich ebenso durch eine geringe Personage wie durch um so zahlreichere Inzeste und Morde auszeichnen. Dabei ist Susan selbst das Urbild des Lebens, rotbäckig, breithüftig und stramm wie eine Melkerin aus Tirol, »mit viel Holz vorm Haus«; nur daß sie aus einer sehr langen, dünnen Glasspitze zu rauchen pflegt, vielleicht als Kontrapunkt zu ihrer fülligen Form. Sie hängt jetzt hingebungsvoll am Munde ihres Gesprächspartners, eines mittelgroßen mausgrauen Herrn, des Kunstredakteurs des »Daily Citizen«, Lewis Sherman, der gerade in scharf pointierten Sätzen über eines der letzten Stücke spricht, so, als trüge er in seiner Toga Krieg oder Frieden. Etwas übermüdet läßt der Vierte dieser Gruppe, der fünfzigjährige Arzt John Boyle, die geistreiche Analyse des Kritikers an sich vorüberschäumen. Er schaut auf die von alten Platanen überschattete Grünfläche des Rasens und empfindet es offenbar durchaus nicht als eine Störung, daß der angespannt hinhörende Kopf der Studentin Francis Clerk genau in seinem Blickfeld liegt. Er kennt als Hausarzt der Familie die Geschichte der Clerks genau. Dieser keltische Rundschädel der jungen Francis mit dem braunrötlichen Haar und den fast schwarzen Augen ist, wenn man die blonden Langschädel der Eltern in Betracht zieht, zweifellos ein genetischer Rückfall auf die Vorfahren einer früheren Ahnenreihe; denn Mr. Clerks Mutter war eine geborene O'Brien. Auch der Charakter von Francis ist von dem ihrer Eltern völlig verschieden. Mit einer inneren Glut kann sie sich in eine Frage verbohren, bis sie zu einer Lösung gelangt; sie ist nicht schnell in der Auffassung, eher schwerfällig. Sie hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Den Knaben eines Zeitungsausträgers, den ihr Bruder Donald mit dem Wagen angefahren hatte und dem man bloß die Behandlungskosten zahlte, versorgte sie im Spital regelmäßig mit Schokolade, Bananen und Fruchtsäften, sie ließ sich vom Arzt die Röntgenplatte zeigen und unterrichtete den Jungen vier Wochen lang am Krankenbett, damit er sein Schulpensum nachhole. Dr. Boyle würde sich gern mit ihr allein unterhalten wie letzthin über sein Lieblingsthema des Heilfiebers, der Reiztherapie und des empirischen Effektes der Negation der Negation. Doch hier in diesem »Papageienkäfig« ist es unmöglich.

Denn von dem Tisch in der Mitte klingt die hemmungslose und nicht gerade leise Stimme von Mrs. Dorothy Clerk, die mit Seymour Low, dem Physikprofessor des Richmond College, und Mr. Flagg, einem jungen Reporter des »Democratic Globe«, über die Frage diskutiert, ob die »Weltangst« eine persönliche oder eine objektive Ursache habe? Das heißt, diese letzte Fragestellung rührt eigentlich von dem Professor her. Frau Dorothy bedient sich eines viel einfacheren Tabletts, auf dem sie ihr Weltbild jederzeit sauber serviert – etwa so: Tue recht und fürchte niemand! Das heißt: ich bin kein großer Kirchengänger, sondern ein »persönlicher Christ«, und wenn mein Gewissen mich ruhig schlafen läßt, so bin ich mit mir selbst und mit Jesus Christus im Einklang! Eine Art moralischer Hygiene, ähnlich der morgendlichen Mundpflege.

Im besonderen dreht sich das Gespräch der drei um das vorgestrige, durch jene Panik hervorgerufene Unglück in der Untergrundbahn. Mrs. Dorothy meint, daß diesen Menschen jeder persönliche innere Halt fehle, wenn sie in einer Sekunde aus dem Zustand des normalen Lebens in den des Wahnsinns geworfen werden könnten. Wenn jeder dieser Menschen seinen Christus wie einen Anker in sich trüge, so könnte auch bei dem heftigsten Sturm das Ankerseil nie reißen und die Seele über Bord gehen.

»Denken Sie, unter den gestern von Panik Ergriffenen waren keine Christen?« fragt Mr. Flagg, der junge Globe-Redakteur.

»Massenchristen!« erwidert Mrs. Dorothy. »Nicht solche der wirklich inneren Bindung an Christus, des Einzelerlebnisses.«

Professor Low hat schon ein halbes Dutzend Streichhölzchen zerstückelt, er hat sie buchstäblich hingerichtet, ohne seine kurze Pfeife zu entzünden. Er, der sich mit den feinsten elektrodynamischen Messungen beschäftigt, mit der gesetzmäßigen Beziehung zwischen den Ungenauigkeiten der einzelnen Meßwerte – also der sogenannten Ungenauigkeitsrelation –, Professor Low weiß mit solchen unpräzisen Laiengesprächen nichts Rechtes anzufangen. Dennoch beendet er jetzt die Hinrichtung der Streichhölzchen und meint: »Ich denke, die primäre Ursache der Panik war nicht ein mehr oder weniger fester psychischer Zustand, sondern die bekannte unumstößliche Tatsache, daß es heute ferngelenkte Flugkörper und Atombomben gibt, und zweitens, daß man diese bekannten Größen mit dem Faktor des Unbekannten und Ungenauen umgibt …«

»Und dies wieder als Antrieb der Massenpsychose«, wirft der Globe-Redakteur dazwischen.

»Worauf es nun ankommt«, fährt der Professor unbeirrt fort, »ist dieses: die Menschen müssen wieder zu einer objektiven Wahrheitserkenntnis gelangen; das ist der Anker, der sie hält, der archimedische Punkt, der ihrer Psyche Standhaftigkeit gewährt; das subjektive Erlebnis jedoch …«

»Sie glauben, es gibt eine Wahrheit für alle?« unterbricht ihn Mrs. Dorothy.

»Gewiß gibt es eine Wahrheit für alle, eine objektive Wahrheit, deren Ausdruck die Naturgesetze sind, ohne die wir weder das Wissen vom innern Bau des Atoms besäßen noch auch die Atomsäule oder Atombombe selbst.«

»Aber hat diese Kenntnis verhindern können, daß die durch subjektive Täuschungsmanöver irregeleiteten Menschen diese Wahrheit wieder zunichte machen?« ereifert sich Mr. Flagg. »Daß die Atomwissenschaft zu einem politischen Machtfaktor wurde?«

»Stop, Ali!« bremst ihn Mrs. Dorothy, die es für schick findet, die jungen Freunde ihrer Tochter mit Vornamen anzureden. »Keine Politik hier draußen am Weekend! Das ist das erste Naturgesetz! Im übrigen wird Krieg und Frieden weder durch die Atombombe entschieden noch durch Konferenzen, sondern durch eine ganz andere Sache, durch eine Umformung der Charaktere. Ich kann euch das an meinem Katzen-Ratten-Experiment nachweisen …«

»Um Gottes willen!« hört man jetzt den Aufschrei von Miß Fanny Clerk, die mit ihrem Dianetiker Buster Punch an einem Nebentischchen sitzt. »Wenn du deine Ratten losläßt, verlasse ich sofort das Haus!«

»Es sind zahme Ratten«, erklärt Mrs. Dorothy nicht ohne Scharm, »und es ist gar kein Grund zu solch einer Szene.«

Tante Fanny ist aufgesprungen, sie hält sich die Ohren zu und schreit hemmungslos: »Die Ratten! Die Ratten!«

Mr. Punch hat sie sanft um die Schulter gefaßt und flüstert ihr etwas ins Ohr. Von der andern Seite ist Francis mit ihren Freunden erstaunt hinzugetreten. Der Hausherrin selbst scheint diese Szene offenbar mehr Vergnügen als Verdruß zu bereiten; denn sie setzt ihre Erklärung fort: »Es sind wirklich sehr manierliche, ja sogar gut erzogene Tiere. Ich habe da zwei junge Kätzchen und sechs junge Platten bald nach ihrer Geburt in einem kleinen Käfig zusammengetan; diese Tierchen fraßen aus dem gleichen Futternapf, sie spielten miteinander die gleichen Spiele, sie hatten sich bald derart aneinander gewöhnt, daß heute diese sogenannten Erzfeinde friedlich miteinander leben. Sehen Sie, das ist mein Beitrag zur Friedenspropaganda!« sagt Mrs. Dorothy stolz.

»Aber du wirst sie nicht zeigen!« protestiert Tante Fanny.

Mrs. Dorothy lächelt milde verzeihend: »Beruhige dich doch! Natürlich ist es schade, daß du unsre Gäste somit eines wirklich schönen Schauspiels beraubst.«

Der Dianetiker Punch, der befürchtet, einer der Herren könnte dennoch um die Rattendemonstration bitten, sieht blitzschnell seine Chance: »Es ist bewundernswert, Mylady«, wendet er sich zu Mrs. Dorothy, »mit wie sicherer Intuition Sie das Wesen der heutigen metaphysischen Unruhe und der uns allen innewohnenden Angst erfaßt haben, indem Sie in Ihrem Experiment bis hart an die embryonale Quelle vorgestoßen sind, gewiß fast unbewußt. Nein, bitte nicht widersprechen, Mylady! Im Unbewußten fallen die wahren Entscheidungen zwischen Gut und Böse! Diese Urentscheidungen aber, meine Herrschaften, sind embryonal gebunden!« doziert mit erhobener Stimme der Dianetiker.

»Müssen wir uns das noch lange anhören?« flüstert Dr. Boyle neben Francis.

Francis zwinkert ihm zu. Sie wollen sich grade tangential nach rückwärts absetzen, da braust ein Wagen unten vor. Donald bringt noch zwei Gäste: Adda und seinen Kameraden, den Fliegercaptain William Ferry. Es gibt ein großes Hallo.

Mrs. Dorothy ordnet an, sämtliche Tische zusammenzurücken, zugleich aber das Gespräch weiterzuführen. Sie ist sehr glücklich, daß Adda gekommen ist. Adda ist ihr eine wirkliche Stütze bei solchen Parties. Sie kann ganz anders als Francis, die ständig mit ihren Kameraden Probleme wälzt, zwischen der Küche, der Terrasse und den Gesellschaftsräumen nach dem Rechten sehen und für den guten Verlauf der zwei Tage sorgen. Dabei sieht Adda wunderbar aus: in ihren weiten, braunen cowboyartigen Hosen mit dem breiten Gürtel, in dem nur der schwere Coltrevolver zu fehlen scheint, und dem knallblauen Seidenhemd, das ihren bronzenen Teint noch betont.

»Ich danke dir, Adda, daß du gekommen bist … meine Tochter!« Mrs. Dorothy nickt ihr zu, und Adda weiß genau, was die Hausherrin von ihr erwartet.

Inzwischen hat man alle erreichbaren Tische zusammengerückt. Die Führung des Gespräches ist von Mr. Punch und seiner embryonalen Urentscheidung auf die beiden Flieger und das aktuelle Thema der Fliegenden Untertassen übergegangen. Donald, der ja selbst eines dieser Ungeheuer verfolgt hatte, ist der Held des Tages. Sein Freund Bill Ferry, dem vor über einem Monat etwas Ähnliches zugestoßen war, soll gleichsam den Kronzeugen abgeben. »Es sind aber nicht bloß diese Fliegenden Untertassen, die mit einer enormen Geschwindigkeit und Steigfähigkeit jetzt unsern Himmel durchqueren; hier, Bill hatte letzthin eine Begegnung mit einem gänzlich andern Typ dieser unheimlichen Gäste; also Bill, du hast das Wort!«

Captain Ferry ist im Gegensatz zu dem hochgeschossenen, schlanken Donald ein stämmiger, mittelgroßer, breitschultriger Mensch mit bedächtigem, wind- oder whiskygerötetem Gesicht. Er blickt vor sich hin. »Ja, was soll man da viel erzählen … die Sache ist so, wie sie ist … doch dadurch wird sie nicht anders und auch nicht klarer, und wenn mir ein andrer das erzählte, so würde ich ihm zuerst mal ein Glas kaltes Wasser übern Kopf gießen …«

»Wir werden Ihnen zuhören auch ohne das kalte Wasser«, beteuert Mr. Sherman, der mausgraue Kunstkritiker.

»Es war also am 30. Mai so gegen 21 Uhr, da flog ich mit meiner schweren Verkehrsmaschine vom Typ D.C. 6 in Virginia 10 km westlich des Mount Vernon in einer Höhe von 5500 Metern. Es gab noch gute Sicht gegen den klaren Westhimmel. Plötzlich sehe ich Backbord voraus einen etwa 150 Meter langen, fremden Flugkörper, dessen Form man als ein Unterseeboot mit Lichtern bezeichnen kann, oder – verzeihen Sie – besser als eine riesige fliegende Zigarre. Ich wollte nun näher an das Ding heran; aber es schien dies bemerkt zu haben, drehte scharf auf mich zu und kurvte zwei wilde Loopings dicht um meine Maschine. Es war schon ein mehr als halsbrecherisches Kunststück diese Umkreisung meines Flugzeugs, das wie meine D.C. 6 mit 500 km die Stunde dahinjagte. Kein Pilot mit normalen Sinnen hätte das riskiert.«

»Und eine ferngelenkte Maschine?« fragt Mr. Sherman.

»Eine ferngelenkte Maschine bei 500 km die Stunde im engen Looping sicher manövrieren zu lassen – unmöglich!« belehrt ihn Donald. »Dann wäre eher noch an einen wildgewordenen Piloten zu denken.«

Professor Low hat die Hinrichtung der letzten Streichhölzchen fortgesetzt, ein Zeichen, daß ihn die Sache stark erregt. Er wendet sich an Captain Ferry: »Wie groß war der Kurvenradius, den der fremde Flugkörper beim Looping um Ihre Maschine schlug?«

»Kaum mehr als 100 Meter.«

»Und seine Geschwindigkeit?«

»Ich sagte schon: etwa 500 Stundenkilometer.«

»Also«, deduziert der Professor, »es dürfte Ihnen vielleicht bekannt sein, daß die größte zentrifugale Beschleunigung, die der menschliche Körper aushält, etwa die zehnfache Erdbeschleunigung beträgt, das heißt eine Änderung der Geschwindigkeit in 1 Sekunde um 100 Meter je Sekunde. Alle Gegenstände – und natürlich auch der menschliche Körper – werden dabei zehnmal so schwer wie in Ruhe.«

»Wobei der menschliche Organismus diese Beschleunigung auch nur dann erträgt«, ergänzt Dr. Boyle, der Arzt, »wenn er waagerecht liegt und also quer zum Körper beschleunigt wird. Denn bei Beschleunigungen in der Längsrichtung des Körpers treten schwere Störungen im Sehvermögen und im Bewußtsein auf, da das Blut aus dem Gehirn weg in die unteren Teile getrieben wird, wobei Blutungen in die Haut auftreten, die Kapillargefäße platzen …«

»Mein Gott, was sind das alles für furchtbare Dinge!« stöhnt Tante Fanny; sie bleibt jedoch gespannt hinhörend am Tisch.

»Da nun«, fährt Professor Low fort, »die größten Beschleunigungen bei Flugzeugen im Kurvenflug auftreten und im gegebenen Falle ein Kurvenradius von nur 100 Metern bei einer Stundengeschwindigkeit des kurvenden Flugkörpers von 500 km vorliegt, so wurde die für den Menschen erträgliche Beschleunigung mindestens um das Fünffache überschritten …«

»Und was schließen Sie daraus?« fragt Colonel Kennedy, der mit Mr. Clerk durch den Speisesaal auf die Terrasse getreten ist.

»Daraus ergibt sich, daß bei Lenkung des Flugkörpers in der Kurve durch einen Piloten bei 500 Stundenkilometern ein Kurvenradius von weit über 100 Metern erforderlich gewesen wäre, daß also kein Pilot den Flugkörper gelenkt haben kann.«

»Und wenn es sich um einen Flugkörper mit Überdruckkabine handelte?« forscht Kennedy.

»Weder ein Pilot noch eine Kabine waren sichtbar, Colonel«, bemerkt Captain Ferry.

»Also doch ferngesteuert!« triumphiert Mr. Sherman. »Ich habe gelesen, daß man Fernsehgeräte in Höhenflugraketen einbaut, die dem Lenker auf der Erde ein Bild vermitteln, als säße er selbst als Pilot am Steuer.«

»Red nicht so klug, Sherry!« ruft ihn Mrs. Dorothy zur Ordnung und erntet hiermit einen unbestrittenen Heiterkeitserfolg; sie möchte dies strapaziöse Thema abbrechen.

Doch da mischt sich Mr. Punch ein. »Meine Freunde«, beginnt er, mit seinen braunen Samtaugen über die erregten Mienen gleichsam hinwegpolierend, »es könnte sehr wohl sein, daß beide Hypothesen – jene des von einem Piloten ungeheuer kühn gesteuerten und diese eines ferngelenkten Flugkörpers – fehlgehen.«

»Sondern? Wohl Marsbewohner?« spottet Donald.

Der Dianetiker schaut ihn mit seinen Plüschaugen milde an, während er erklärt: »Wir brauchen nicht auf den Mars zu steigen; die höchste und tiefste Welt liegt in uns, wir selbst schaffen minütlich in uns den Mikro- und Makrokosmos. Omne vivum ex ove. Alles Leben entsteht aus der Eizelle. Der Kampf, der sich in jenem frühsten embryonalen Organismus abspielt, setzt sich später im nachgeburtlichen Leben fort.«

»Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten«, fährt Dr. Boyle ihm in die Parade, »daß der Kampf der Völker das gleiche sei wie der Entwicklungsprozeß des Embryos?«

»Es ist das gleiche, mein Herr«, erwidert mit überlegenem Lächeln der Tiefenforscher, »ohne die Disharmonien und Kämpfe im Uterus keine Disharmonien und Kämpfe auf dieser Erde. Ohne die Dämonie des eingeengten Embryos in der Eihülle keine dämonische Sehnsucht nach Sprengung der atmosphärischen Erdhülle zum Stratosphärenflug. Meine Freunde«, er verleiht seiner Stimme einen sakralen Orgelton, »in Furcht und Hoffnung erheben jetzt die Menschen ihre Augen zur Höhe des Himmels und sehen dort Dinge, deren Realität jedoch tief drinnen in ihren Herzen ruht …«

»Was soll das heißen, Herr?« knallt Kennedys scharfe Stimme hinein. »Sie wollen die von authentischen Fachleuten gesichteten fremden Flugkörper als Schwindel bezeichnen?«

»Aber Colonel Kennedy!« ermahnt ihn mit einem intimen Blick Mrs. Dorothy.

Der Tiefenforscher selbst wehrt mühelos diesen brutalen Angriff ab. »Kein Schwindel, mein Herr, alles andere als Schwindel! Eher die Projektion unsrer kosmischen inneren Angst ans Firmament. So wie in früheren Zeiten vor Kriegen und Katastrophen den Menschen am Himmel bedeutsame Symbole erschienen: feurige Kugeln, siebenarmige Leuchter, Kometenschweife, flammende Schwerter …«

»So ist's, genauso!« fiebert Tante Fanny.

»Nun genug, meine Freunde!« befiehlt Mrs. Dorothy. »Zu Tisch! Mir brennt's wie feurige Schwerter in der Magengrube!«

Man steht auf, der Hausherrin zu folgen.

*

Doch die Gruppe der Intellektuellen ist noch zu heftig in das Gespräch verwickelt. Immer wieder bleiben sie beim Gang über die Terrasse stehen.

»Wie können Sie bei diesen real gesichteten Flugkörpern von Projektionen irgendeines innern Dämons reden?« wendet sich Francis gegen den Dianetiker.

Punch entgegnet mit seiner berufsmäßigen Überlegenheit: »Und wie erklären Sie es sich Ihrerseits, Miß Clerk, daß die widersprechendsten Beobachtungen über diese Himmelserscheinungen berichtet werden, oder auf anderm Gebiet, daß ein und dasselbe Gesicht von zwei Malern völlig verschieden gesehen wird, von dem einen wie ein Dreieck, von dem andern als Oval, daß ein Maler denselben Schneehang blau malt, der andre weiß?«

Francis: »Dann gäbe es also keine objektive Wahrheit?«

Punch: »Es gibt nur Reflexe unsres inneren Dämons.«

Dr. Boyle: »Angenommen, ich versetze Ihnen jetzt einen trockenen Kinnhaken; ist das für Sie eine Realität?«

Punch: »Da ich auf Ihren Kinnhaken nicht reagieren werde, ist er für mich Luft und also nicht existent.«

Susan: »Wunderbar gesagt, Meister! Denn jede äußere Handlung ist ja nur die Antwort auf den inneren Anruf, der höchstpersönlich an jeden einzelnen ergeht und nur als Ichsein existent wird.«

Francis: »Und wenn dir eines Tages eine Bombe aufs Haupt fällt, hält dein Ichsein sie für existent?«

Susan: »Ich kann verschieden darauf reagieren.«

Dr. Boyle: »Oder gar nicht mehr, was wahrscheinlicher ist.«

Punch: »Ob und wie ich auf irgendeinen äußeren Eingriff in meinem Ich im Augenblick reagiere, das, meine Freunde, ist unwesentlich gegenüber der Tatsache, wie ich auf jeden einzelnen Druck oder Schlag in meinem vorgeburtlichen Vorleben vorbereitet wurde. Deshalb kann der Mensch auch nicht auf allgemeine Gesetze bezogen werden, sondern …«

Dr. Boyle: »Sondern gibt es für solche ewigen Embryonen nur einen Weg: Zurück in den Mutterleib! Und das zwar schleunigst!«

Susan: »Ihre Explosivität, Herr Doktor, beweist, daß Sie das Bombenzeitalter zuinnerst in sich selbst tragen, lange bevor die Bombe von außen Sie trifft.«

Francis: »Du bist sehr freundlich, Susan!«

»Aber, Kinder, wo bleibt ihr denn?« tönt jetzt die Fanfare von Mrs. Dorothy aus dem Speiseraum.

»Sofort, Mama!« antwortet Francis, und dann schnell gegen Susan und den kleinen Punch: »Ihr glaubt also, mit eurem werten Innenleben den ultraschnellen Flugkörpern und dem Bombenregen entgehen zu können?«

»All das gibt es für mich im Grunde nicht«, erwidert Punch, »es gibt, wie ich bereits mehrfach erklärte, nur mein Ich. Das Universum bilde ich selbst, indem ich mich offen halte …«

In diesem Augenblick hat Dr. Boyle zu einem kräftigen Schwinger gegen den Dianetiker ausgeholt, der seinerseits blitzschnell »taucht«, während mit einem »Jesus Christ!« das Volumen von Susan sich dazwischenwirft. Dr. Boyle sagt jetzt gutgelaunt: »Es war ja bloß ein Experiment, ein symbolischer Hieb; er hätte die kompakte Deckung von Miß Patric auch kaum durchschlagen können. Immerhin stelle ich fest, daß Mr. Punch sich nicht »offen hielt«, daß sowohl er wie auch Miß Patric das Naturgesetz des Reibungseffektes von Faust-Kinnspitze anerkennen, das heißt sich in ihrer Handlung von einem äußeren Agens bestimmen lassen, das heißt ihre innere Freiheit verloren haben – was zu beweisen war.«

»Unerhört!« erhitzt sich Susan, die förmlich rot anläuft.

Der kleine Punch aber erwidert mit einem Siegerlächeln: »Damit, Herr Doktor, ist nur bewiesen, daß ich die Freiheit besitze, unfrei zu sein.«

»Das ist noch nicht das Ende, Mr. Punch!« sagt Francis und drängt die drei zum Speisesaal.

*

Bei Tisch hat Dorothy es so arrangiert, daß zu ihrer Rechten Colonel Kennedy sitzt und zu ihrer Linken ihr anderer Freund, der Kunstkritiker Sherman. Kennedy ist ihr »big boy«, den sie – wie sie sich einzureden bemüht – wegen seiner einarmigen Hilflosigkeit bemuttern muß, und der jeden Wunsch mit Aussicht auf Erfüllung äußern kann. Auch Sherman, kurz »Sherry«, der in allen Sätteln gerechte Journalist, hat sich bei der reichen und amourösen Frau nicht schlecht eingerichtet. Er ist von dem Schweinslederkomplex besessen. Dorothy hat ihn während der ersten Zeit ihrer Liebe förmlich »in Schweinsleder gebunden«, ihn mit Koffer und Köfferchen aus hellem Schweinsleder beglückt, mit einer massiven Diplomatenmappe aus Schweinsleder, mit einem schweinsledernen Reisenecessaire, mit japanischen Schwertern in dicken schweinsledernen Scheiden, so daß Francis ihn etwas boshaft den »schweinsledernen Sherry« nennt. Sherry seinerseits kultiviert das Verhältnis zu der immer noch reizvollen, stattlichen Frau, indem er ihr einredet, daß sie einen ungeheuer sicheren »urtümlich primitiven« Kunstgeschmack besitze; er macht sie zur Patronin – dem »Engel« – verschiedener moderner, von ihm lancierter Stücke; er präsentiert sich mit ihr bei allen avantgardistischen Premieren, wodurch Mrs. Dorothy in den Ruf einer echten Kunstkennerin gerät. Dafür machte ihn Dorothy mit den mondänen Bädern von Florida bekannt, wobei ihre reife »urtümliche Primitivität« solch enorme Ansprüche an den mehr in Journalistik sattelfesten Mann stellte, daß er nicht widersprach, als er eines Tages das Interesse dieser erregbaren Juno mit dem Fliegeroberst teilen mußte. Und da Mr. Clerk, ihr Gatte, nicht bloß 2 Millionen Dollar, sondern 200 Millionen »wert ist«, gilt sie selbst nicht als die Mätresse ihrer Freunde, sondern als die Mäzenatin, als die anspruchsberechtigte Dame des Highlife. In dieser Kategorie der großen Dame steht sie – trotz aller bigotten Frauenvereine – zugleich mitten in der »Gesellschaft« wie auch außerhalb der Gesetze dieser Gesellschaft, als ein die andern überragendes unabhängiges Individuum; wenigstens dünkt es sie so.

Dorothy hat nun als ihre persönliche Note jene burschikose Direktheit sich angeeignet, jene animalische Primitivität, die sie für Ehrlichkeit ausspielt. Natürlich liegt ihr dies. Darin ist sie in ihrer Umgebung hors de concours.

So sitzt sie jetzt an der großen Tafel zwischen ihren beiden Liebhabern, während ihr Gatte die Ehre hat, den einen der Kavaliere, den Colonel, von der linken Seite zu flankieren. Mrs. Dorothy ist mit dem bisherigen Verlauf der Party außerordentlich zufrieden; sie ist glücklich, ihre beiden Boys in fühlbarer Nähe zu haben. Allerdings hat sie in letzter Zeit ihre ganze Teilnahme Kennedy zugewandt. Dessen blitzartige Überreiztheit versetzt im Nu auch ihre Physis in Alarm. »Key« – sie kommt ohne diese familiären Abkürzungen nicht aus –, Key ist kein leichter Fall, kein bequemer Freund; er ist intolerant gegen Alkohol, er verliert periodisch jede Kontrolle über sich; auch heute geht er wieder auf hohen Touren. Er trinkt den schweren Madeira wie Wasser. Die rosagesprenkelten Forellen läßt er nicht in der heißen Butter schwimmen, sondern in mehreren Gläsern weißen Burgunderweins, die er wie verdurstet hinunterschüttet.

»Langsam, chico mio!« flüstert sie ihm zu. »Was hast du, mein Liebling?« Sie setzt ihren Fuß auf den seinen.

Er schaut sie mit heißen, grimmigen Augen an, die nicht von Liebe sprechen, sondern von einer andern wilden Erregung: »War es nötig, mich mit diesen Tantentröstern, diesen halbseidnen Idioten zusammenzubringen«, knurrt er böse, »mit diesen Agenten, die jene von den Russen gestarteten Flugkörper für Einbildung erklären?«

»Still, Key, ich bitte dich … niemand behauptet das!«

»Niemand?« Er weist auf den Tiefenforscher.

Dorothy hat schnell seine Hand ergriffen und drückt sie nieder; zugleich preßt sie verzweifelt ihr Knie fest gegen ihn. Doch Kennedy blickt mit geröteten Augen erbittert auf den kleinen Psychotherapeuten, der wohlweislich keine Notiz von dem Fliegerobersten nimmt. Jetzt steht Mrs. Dorothy auf, sie winkt ihrem Mann. »Meine Migräne!« sagt sie, daß alle es hören. »In einer Viertelstunde ist es vorüber.« Francis will sie begleiten; doch sie lehnt ab: »Bitte, Kind, bleib!«

Man führt sie in das obere Stockwerk, in ihren kleinen Salon. Clerk will abdunkeln und bringt ihr Eau de Chanel. »Es ist ja nicht das«, moniert sie, »ich bin frisch wie ein Fisch im Wasser; aber wenn Kennedy sich so wenig beherrschen kann …«

Der Colonel, der gefolgt ist, braust jetzt auf: »Verzeih, doch wenn solch eine graue Ratte die von Osten heranjagenden Flugkörper als Fata Morgana erklären und die Bedrohung unsres Landes bagatellisieren will …«

»Sie haben Grund anzunehmen, daß diese fliegenden Objekte von den Russen stammen?« fragt Mr. Clerk.

»Woher sonst? Wer sonst hat ein Interesse, unser Territorium zu überfliegen, Photopanoramas herzustellen und eines Tages die Atombombe über uns abzuwerfen? Wer versetzt schon heute die Bevölkerung, die noch keine genügenden Bunker hat, in Panik? Wer?« faucht er los. »Antwortet doch selbst! Wer?« Er hat sich neben der Couch, auf der Dorothy liegt, in einen Sessel fallen lassen und verbirgt den Kopf in den Händen.

Dorothy gibt Clerk ein Zeichen, sie mit dem wie unter einem Schüttelfrost Bebenden allein zu lassen. Clerk ist plötzlich von einem Gedanken elektrisiert. Die fieberhaften Worte des Fliegerobersten sind wie ein Funke auf ihn übergesprungen und haben einen ganzen Komplex erhellt. Er muß sofort mit Old Josh sprechen.

 

Kennedy scheint nun wirklich wie ein kleiner, vom Fieber geschüttelter Junge. Dorothy hat ihn zu sich genommen. Sie drückt seinen Kopf an ihre Brust, gibt ihm in jedem recht und nennt ihn den klügsten und ruhigsten aller Menschen, der nur ihr zuliebe heute keinen Tropfen Alkohol mehr trinken wird, wofür er sich etwas ganz Besonderes wünschen darf. Sie steht auf, hebt den Schlaftrunkenen ganz auf die Couch, deckt ihn mit ihrem Wollplaid zu. Dann küßt sie ihn auf Augen und Mund.

»Du bleibst hier, bis ich wiederkomme, Liebling!« befiehlt sie ihm leise. »Du wirst deiner Dotty keinen Kummer mehr bereiten!« Sie erfrischt ihr Gesicht im Bad und geht schnell nach unten.

*

Clerk trifft Old Josh, wie erwartet, im Rauchsalon über einem Schachproblem. In der einen Hand hat der Alte das weiße Stück vom Innern einer Kokosnuß, das er mit seinen immer noch kräftigen Zähnen zermahlt. Wie gesagt, Old Josh gehört zu den »Kokovoren«, jener Spezialgattung der Rohköstler, die sich ausschließlich von Kokosnüssen und einigen rohen Früchten ernähren. Sie erblicken darin die Möglichkeit, den durch Genuß von »Tierkadavern« vergifteten menschlichen Organismus zu reinigen. Die Kokovoren machen wie alle Menschen eines – wie sie glauben – »höheren Wissens« aus ihrer Heilslehre eine Religion; so lehnen sie auch das Ei als Nahrungsmittel ab, dessen Genuß dem Mord am keimenden Leben gleichkomme. Was nun Old Josh, den jüngsten Bruder von Cecil Clerks Mutter betrifft, so muß gesagt sein, daß er äußerlich keineswegs wie ein Heuschreckenapostel ausschaut; vielmehr ist er mit seinen siebzig Jahren ein ungemein rüstiger, ja athletischer Mensch, ein Junggeselle von fast 2 Meter Größe mit einem mächtigen kahlen Schädel von dem Volumen eines mittleren Kürbis. Old Josh, im Geschäft ein Kombinator großen Stils, hat seine privaten Interessen auf zwei Dinge konzentriert: auf das Schachspiel und das Kokovorentum. Dieses hat er sogar durch eine physiologische und volkswirtschaftliche Theorie zu untermauern gesucht. Der Mensch – so stellt Old Josh fest – verbrauche die Hälfte seiner Arbeitskraft und Lebenszeit zum Erwerb, zur Aufnahme und Ausscheidung seiner Nahrung. Wenn es nun gelänge (und in der Kokosnuß sei es bereits gelungen) eine durchaus rationelle Nahrung zu finden, bei der alle Bestandteile vom Organismus restlos resorbiert würden, so werde der Erwerb und die Aufnahme der Nahrung auf die Hälfte beschränkt und der dritte Prozeß – die Ausscheidung der »Leibesasche« – ganz wegfallen. Natürlich würden die Restaurateure, die Klosett- und Klosettpapierfabrikanten hiergegen Sturm laufen. Auch die Ärzte würden entrüstet fragen, ob denn der Ausgang des Darmes veröden solle? Nun, es gab geringere Revolutionen, bei denen Könige ihre Köpfe verloren hätten. Old Josh hält jedenfalls seine Theorie für epochal.

Es kann hier nicht verschwiegen werden, daß Old Josh, der sonst wochenlang sein an eine Robinsonhöhle erinnerndes Zimmer nicht verläßt, plötzlich von einem Wandertrieb ergriffen wird; man findet dann an seiner Tür einen Zettel:

 

Bin eine Woche verreist!

 

Vielleicht war es ein Spiel des Zufalls, daß ein Geschäftsfreund von Mr. Clerk in der Hauptstadt des Nachbarstaates eines Abends Old Josh in einem Luxusrestaurant antraf, wie er in Gesellschaft einer jungen Dame ein Souper einnahm, bei dem Truthahn und Rehrücken die Grundlage bildeten, nicht zu sprechen von der Leberpastete und den Hors d'œuvres.

Jetzt aber, während des frugalen Kokosnußmahls, tritt Mr. Clerk ein, noch erregt von dem Gedankenblitz, der soeben während des hysterischen Anfalls von Kennedy bei ihm zündete.

»Verzeih, wenn ich dich bei deiner Mahlzeit störe, Onkel!« beginnt Clerk. »Ich benötige deinen Rat.«

Old Josh schaut auf das Schachbrett mit einer Endspielkombination und nickt zustimmend.

»Du weißt«, fährt Clerk fort, »daß die Aufträge für unsre Stahlbunker, feuerfesten Garagen und Walzplatten nachlassen; die Armee braucht heute Panzerplatten von andrer Stärke; wir erhalten immer geringere Rohstoffkontingente, bald werden auch die Banken reagieren.«

»Und wie geht's deinen Grundstücken und Häuserbauten?« meint Old Josh, weil er stets gegen diese Investierungen war.

»Das, Onkel, könnte ebensogut ein anderer gefragt haben«, erwidert Clerk und gibt dem Alten die beiden anonymen Telegramme.

Old Josh nimmt sie in seine schweren Hände, liest, während er ein neues Stück Kokosnuß zwischen seine Kiefern schiebt, und sagt nur: »Dieser Hundesohn George!«

»Er glaubt schon Aas zu wittern«, ereifert sich Clerk, »doch er täuscht sich!« Und dann mit einem Gedankensprung: »Du hast von dem immer häufigeren Eindringen fremder Flugkörper in unsre Staaten gelesen, von jenen Fliegenden Tellern oder Untertassen. Donald ist gestern zur Verfolgung eines solchen Ungeheuers aufgestiegen; aber diese Bestien haben eine enorme Geschwindigkeit; zudem weiß man nicht, woher und wohin? Nun erklärt soeben Colonel Kennedy, sie kämen alle von Osten, von den Russen.«

»Beweise?«

»Wer könnte es sonst sein!«

Der Alte kaut schweigend den Rest der trocknen Kokosschnitzel.

»Die Panik entstand vorgestern in der Untergrund, weil bei dem Kurzschluß einer schrie: ›Die Russen werfen Bomben!‹ Ich denke, das Stadtparlament und die Regierung müssen jetzt eingreifen und bei der täglich wachsenden Gefahr den Bürgern wieder das Gefühl der Sicherheit geben, damit nicht …«

Der Alte lacht dröhnend auf. »Das Gefühl der Sicherheit … mußt vor Old Josh keine albernen Volksreden halten, mein Junge; na, nichts für ungut, hast dich bloß unkorrekt ausgedrückt.« Er macht jetzt in seiner Endspielkombination auf dem Brett einen Zug, während er weiterspricht: »Wir müssen natürlich das Gefühl der Un-sicherheit steigern – so hast du's ja auch gemeint; dieser mit Aas und Harnsäure vergifteten Kreatur etwas auf den Nerven geigen, nicht wahr?« Er schaut jetzt dem Neffen mitten in die Augen.

»Gewiß«, sagt Clerk, »vor allem das unabweisbare Bedürfnis unsrer Stahlbunker bei der A-Bombe und der Radiumwolke …«

»Etwa so:

Besser 3000 Dollar für C.C.C.s Stahlbunker als 300 Dollar für Krematorium und Urne! Oder:

Maenner der Regierung auf euren Landsitzen! Auch wir Millionen Geschaeftsleute und Arbeiter in der Stadt moechten ruhig schlafen!

Und:

Leben heißt – nicht an den Tod denken! Hast du schon den Schluessel zu C.C.C.s Stahlbunker?

So muß man anfangen; natürlich mit Photos von brennenden Städten und herumrennenden Frauen und Kindern.« Der Alte ist quicklebendig. »Wie ich Dorothy kenne, sind doch gewiß Presseleute hier?«

»Vom ›Democratic Globe‹ und ›Daily Citizen‹.«

»Vielleicht kannst du auch gleich einen Koch des Waldorf-Astoria mitbringen?« meint Old Josh animiert. »Hier, lies, was in der ›Times‹ steht: ›Die Vorbereitungen der Stadt New York für einen etwaigen Bombenangriff sind um einen Schritt weitergekommen. Neun französische Chefköche vom Waldorf-Astoria, vom Astor und Savoy haben zusammen mit fünfhundert Freiwilligen an einem Kursus für Notküchenpersonal teilgenommen.‹ Notküchenpersonal 30 Meter unter der Erde … das ist die Stimmung, die wir brauchen, mein Junge, nur ein bißchen aufgekochter.« Er hat auf dem Brett zwei Figuren umgestoßen und stellt sie wieder hin. »Was mich betrifft, so genügen mir drei Kokosnüsse, ein Hammer und ein Messer. – Aber nun rufe die Boys von der Presse, vorwärts!«

*

Das Dinner ist inzwischen beendet. Die Gäste begeben sich zum Mokka wieder auf die Terrasse.

Nachdem Dorothy sich überzeugt hat, daß Kennedy droben im tiefen Schlaf liegt, überlegt sie, wie sie ihren Gästen doch noch etwas Extravagantes bieten könne, das auch für die Abendzeitungen und für die Magazine erwähnenswert wäre? Hol sie der Henker, wer gibt eigentlich Tante Fanny, dieser unbefriedigten alten Ente, das Recht, ihr die Vorführung ihres »Friedenskongresses« der zahmen Ratten und Katzen zu durchkreuzen? Diese säuerliche Jungfrau hat schon immer an ihrer Lebensführung zu mäkeln. Sie hält, sich in diesem Wurstkessel der Nationen für eine reinblütige, hundertprozentige »Mayflower«-Amerikanerin, für eine direkte Nachkommin jener Briten, die vor über dreihundert Jahren von dem Dreimaster Mayflower den neuen Erdteil betraten. Manchmal, wenn sie mit dieser arroganten klapprigen Mumie wegen irgendeiner Lappalie sich auseinandersetzen muß, möchte Dorothy am liebsten als Antwort ihre Röcke heben und dem Gespenst ihre mächtigen Schenkel zeigen.

Jawohl, sie wird die Ratten und Katzen vorführen! Mag Tante Fanny platzen!

Schnell verständigt sie sich mit Adda. Sie weiß, Adda liebt die Tiere, sie fürchtet sich nicht vor den Ratten, die sie kennt. Man redet heute soviel von Frieden. Sie – Dorothy – wird beweisen, daß sogar »Feinde« wie Ratten und Katzen in Frieden miteinander leben können, wenn man sie von frühester Jugend daran gewöhnt. Inzwischen hat Adda die Ratten, die ganz fette, ausgewachsene Kerle wurden, aus ihrem Drahtzwinger in einen geschlossenen Wäschekorb getan, während Frau Dorothy die beiden grauen siamesischen Tempelkatzen unter den Arm nimmt. So erscheinen die beiden Frauen ziemlich unbeachtet auf der Terrasse, wo in der Gruppe der Fliegeroffiziere und Intellektuellen wieder ein lebhaftes Gespräch über die rätselhaften Flugzeuge im Gange ist.

»Meine Freunde!« erhebt Mrs. Dorothy ihre Stimme. »Erlauben Sie, daß wir Ihnen inmitten Ihrer kriegerischen Unterhaltung ein lebendiges Friedensdokument vorführen!« Sie setzt die beiden kräftigen siamesischen Katzen auf den Boden nieder.

Und nun schauen alle gespannt, wie auch Adda den Wäschekorb auf die Steinfliesen stellt, ihn längskippt, den Deckel abnimmt und wie mit hastigen Sprüngen sechs langschwänzige Ratten über die Terrasse rennen.

Die Überraschung ist vollständig, vollständig auch die Panik der Gäste. Obschon Mrs. Dorothy mit höchstem Stimmaufwand die Anwesenden beschwört, die Ruhe zu bewahren, da die Tierchen zahm und durchaus gutartig seien, haben unter gellendem Schrei die füllige Susan und Francis den Tisch erstiegen, ebenso mit einer trügerischen Kavaliergeste, als wolle er den Damen droben helfen, der Geistesheros Sherry, und schließlich auch Professor Low, dieser mehr einem dunklen Drange folgend. Oben aber auf dem großen Tisch, der mehrfach umzukippen droht, fuchtelt und schreit alles durcheinander: »Das ist wahrhaftig kein Spaß – die Biester beißen – Ratten haben die Pest verbreitet – da kommt eine den Tisch herauf – Donald haben Sie denn keinen Revolver?«

Die Ratten, sonst glaubwürdig zahm, sind durch den menschlichen Tumult jetzt wild geworden; sie rennen – selbst in Panik – wie besessen hierhin und dorthin. Einige flüchten zu den befreundeten siamesischen Katzen; doch diese sind durch das Geschrei der Menschen ebenfalls aus ihrem Gleichgewicht gebracht, so daß eine der Katzen eine Ratte, die zu ihr geflüchtet war, fängt, sie in die Schnauze nimmt, mit ihr auf einen Stuhl und von dort auf den Tisch springt, während die beiden Fliegeroffiziere trotz des stürmischen Protestes von Mrs. Dorothy mit Schemeln und Fußtritten die Ratten zu töten suchen.

In diesem Moment erscheint durch die Speisesaaltür Tante Fanny mit Mr. Punch. Beide haben den Lärm gehört und befürchten irgendein Unheil. Inzwischen ist die eine Katze mit der quietschenden Ratte im Maul vom Tisch getrieben worden; sie setzt von Stuhl zu Stuhl und sieht in der eintretenden Tante Fanny offenbar einen Wink des Schicksals; denn sie springt jetzt – immer die pfeifende Ratte im Maul – auf Tante Fannys Schulter und schmiegt sich eng und schmeichelnd an deren Wange, wobei der Rattenschwanz der Tante Lippen berührt. All das währt kaum zwei Sekunden, da Tante Fanny wie vom Blitz getroffen bewußtlos in ihres dianetischen Begleiters Arme gesunken ist und die Katze mit der Ratte im Maul durch den Speisesaal davonrennt.

Auch die zweite Katze und die andern Ratten haben inzwischen teils durch den Speisesaal, teils über die Balustrade das Weite gesucht. Bloß eine Ratte rast noch verzweifelt über die Stühle und den Boden. Donald treibt sie in eine Ecke und tritt sie dort zu Brei. Es ist kein guter Anblick – dies Häufchen grauer Pelz, hervorquellendes Gedärm und klumpendes Blut auf den Steinfliesen – das einzige, was von Frau Dorothys »Friedensexperiment« übriggeblieben.

Susan muß sich übergeben. Francis führt sie ins Freie. Auch die Männer gehen in den Park. Der Hausherrin jetzt ihr Bedauern aussprechen, hieße das Fiasko noch unterstreichen.

Frau Dorothy steht mit Adda allein auf der Terrasse; sie schaut auf die umgestürzten Stühle und das blutige Häufchen in der Ecke. »Ich wollte den Menschen mein Friedensexperiment zeigen; aber wenn sie wahnsinnig sind und es nicht sehen wollen …«, sagt sie beleidigt und mit einer Kopfwendung zu der zertretenen Ratte: »Bitte, laß das da beseitigen!«

Sie entfernt sich durch den Speisesaal.

Adda ist noch ganz benommen. War das ein lächerlicher oder schrecklicher Traum? Wie können vernünftige Menschen in solche Panik geraten, daß sie plötzlich den Verstand verlieren? Sie überlegt, wie sich wohl ihr Vater oder Gene oder Ohm Ernest verhalten hätten? Nun, vor allem hatten sie kaum Zeit, Ratten zu zähmen; auch wären sie nie auf den Gedanken gekommen, so ein »Friedensexperiment« vorzuführen. Wie sagt doch Ohm Ernest immer, wenn sie ihm von ihrer interessanten Arbeit im Konstruktionsbüro erzählt? »Alles schön und gut, Adda; bloß, glaub denen kein Wort; sie können gar nicht anders, als uns beschwindeln.«

Ob allerdings Ohm Ernest mit seiner Liste für den Frieden mehr Erfolg hat? Mit dieser kitzligen Sache? Gene sagt, sie solle die Finger davonlassen und ja den Mund halten! Er selbst wolle wegen sowas nicht auf die Straße fliegen. Stimmt, einfache Menschen haben mit Notwendigem alle Hände voll zu tun, und wenn man dann noch im Abendkurs sich weiterbilden möchte, bleibt für Nebensprünge wie Friedenslisten und Experimente keine Zeit.

Da liegt die totgetretene Ratte. Soll sie eines der Küchenmädchen rufen, denen sich vielleicht auch der Magen umdreht? Unsinn! Sie holt aus dem Besenschrank eine kleine Schippe und einen Handfeger, schafft das Tierchen auf die Schaufel und trägt es nicht ins Klosett unter die Wasserspülung, sondern vergräbt es abseits im Fichtenwäldchen. Was kann das kleine Tier für den Spleen von Mrs. Dorothy?

*

Dorothy hat sich nach oben in ihr Zimmer begeben. Das Experiment ist mißglückt; nun gut. Eine Genugtuung ward ihr wenigstens, daß Tante Fanny mit dem embryonalen Seelentröster tatsächlich sofort das Haus verlassen hat und zur Stadt zurückfuhr.

Friede ihrer Asche!

Aber ist dieses Pack nicht reif zum Untergang, wenn es sich von ein paar zahmen Tierchen in reguläre Panik versetzen läßt? Sie wird jetzt mit den mühsam gezähmten Ratten nichts mehr anfangen können. Am liebsten ließe sie die kleinen Bestien beim Souper noch einmal springen, und zwar nachher auf der Tafel aus der Suppenterrine heraus. Wennschon – dennschon! Sie möchte die Menschen sehen, wenn in diesem Lande wirklich einmal Bomben niederhageln. Sie wird nicht hierher auf die Farm fliehen; sie will in der Stadt bleiben; sie wird auch Cecil irgendwie zwingen, dort zu sein; sie will es erleben, wie Tante Fanny und ihr Seelentröster, wie der kluge Sherry und Susan, das dicke Schweinchen, unter dem ersten Bombenkrachen wie wahnsinnige Ratten umherspringen, bevor sie zertreten werden.

Sie stößt neben der Couch mit dem Fuß an eine Flasche; sie nimmt sie mit einem Glas hoch, auf der Flasche steht: BLACK HEAD RUM – CAZANOVA; die Flasche ist halb leer. Sie denkt nicht lange nach, von wem und wieso? Sie möchte speien auf alles, aber es ist so schal und leer in ihr; nichts ist da. Sie gießt sich ein Glas ein und schüttet das scharfe, würzige Getränk, das eigentlich mit Zitrone, Zucker und heißem Wasser zubereitet werden müßte, pur hinunter … Aroma, Feuer … es tropft in den Adern. Eine andere Welt. Sie schaut auf das Etikett mit dem Kopf des Jamaikanegers und trinkt noch ein Glas. Ecco madonna!

Hallo! Was liegt da in die Decke gerollt?

Richtig. Aber woher nimmt dieser Mensch das Recht, hier oben bei ihr seinen Rausch auszuschlafen, während man drunten sich über sie mokierte! Wie kann er noch in ihrem Raum sein? Wütend zerrt sie das Plaid von Kennedy weg, reißt den Mann, bevor er zu sich kommt, hoch und wirft ihn wieder aufs Lager.

Dann stürzt sie zu ihm.


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