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Angewidert und empört geht Dr. Boyle hinunter in den Park. Er überlegt einen Augenblick, ob er in dieser Stimmung mit Francis sprechen soll? Doch die Sache ist unaufschiebbar. Morgen abend findet die Versammlung statt. Wie sagte eben Mr. Clerk: »Wenn sie wollen, können sie auch noch einen toten Hund haben!«
Er trifft Francis an ihrem Lieblingsplatz, einem Rasenhang hinter den Oleanderbüschen, die wie in Wildnis hier wuchern. Sie ist in ein Buch vertieft.
»Störe ich, Francis?«
Sie springt auf, drückt ihm lebhaft die Hand und breitet die buntkarierte Wolldecke für sie beide aus. »Gut, daß Sie kommen, Doktor! Ich hatte mich die ganze Zeit mit Ihnen in Gedanken unterhalten.«
»Worüber, Francis?«
»Setzen wir uns, Doktor!« Ihr Gesicht glüht vor Freude. Ihre braunroten Haare scheinen vor dem dunkelgrünen Blätterwerk des Oleanders in der Sonne zu einem glühenden Kupfer zu werden. »Sehen Sie, Doktor, ich komme erst jetzt dazu, den Norman Mailer zu lesen.« Sie nimmt vom Rasen den Wälzer: »Die Nackten und die Toten.« Dann fährt sie übersprudelnd fort: »Ich brauche Ihnen, lieber Dok, nicht zu versichern, daß ich gegen den Krieg bin. Der Krieg ist in diesem Buch ja bloß die Folie. Aber wie die Männer auf diesem gottverlorenen Inselchen Anopopei im fernsten Pazifik sich herumschlagen mit der Sonnenglut, dem kochenden Gebirge, dem Fieber, dem Alkohol, dem Heimweh, ihren Träumen nach Frauen und einem menschlichen Leben, wie bei all der unerbittlichen Vertierung plötzlich beim Abtransport eines Verwundeten der Funke der Kameradschaft durchbricht als ein Elementares – großartig!«
»Als ein Elementares …«
»Ach, Doktor, ich weiß, Sie werden mir jetzt eine furchtbar kluge Lektion halten. Aber die Tragfähigkeit einer Wahrheit zeigt sich letzten Endes doch nur bei ihrer Höchstbelastung durch die Gefahr. Die Zerreißprobe einer Persönlichkeit wird nur durch ihr Verhalten im Angesicht des Todes einwandfrei ermittelt … so wie bei dieser Männergruppe im Dschungelkampf mit den unerbittlichen Japanern. Gewiß, es ist oft unmenschlich; aber es ist unausweichbar. Das ist, was uns hinreißt. Auch die Moral hat ihr Elementares.«
Dr. Boyle wird geradezu überrannt von diesem Ausbruch. Das Unausweichbare ist es also, dem die Menschen sich so bereitwillig unterwerfen? Gedankenlos. Auch die Moral hat ihr Elementares. Gut, soll auch die sonst so menschliche und gerecht denkende Francis dies Elementare jetzt als volle Ladung erhalten. Daher antwortet Boyle: »Über das Buch können wir gern noch sprechen, Francis. Aber manchmal ist das Leben interessanter und sogar elementarer als die Bücher.« Sie schaut gespannt mit ihren dunklen Augen zu ihm hin. Es fällt ihm nicht leicht, in ihr offenes, unverteidigtes Herz das Geschoß zu senden. Doch er fährt fort: »Ja, Francis, wir haben seit vorgestern abend einen einwandfreien Bericht erhalten, den Bericht eines Augenzeugen, daß die kleine Beß tot in Donalds Zimmer am Flugplatz gefunden wurde, tot und nackt …«
»Doktor!« Ihre Hände krampfen sich in seine Schulter. »Das ist unmöglich!«
»Es ist so.«
Francis sinkt in sich zusammen. Sie verbirgt ihr Gesicht in den Händen, tief auf die Knie gebeugt. Ihr Körper bebt. Dann richtet sie sich auf. Mit schluckender Stimme fragt sie: »Aber, Doktor … man fand die Leiche von Beß doch im Hafen … im Wasser?«
»Richtig, Francis. Beides stimmt. Es fragt sich bloß, durch wen und weshalb die Tote aus Donalds Zimmer weggeschleppt und in den Fluß geworfen wurde?«
»Mein Gott!« stöhnt Francis und streicht sich die Haare zurück. »Ich fuhr heute früh zum Schwimmen … sprach die Eltern noch nicht …«
»Sie wissen es bereits aus der Zeitung.«
Francis ist aufgesprungen.
Dr. Boyle hält sie. »Ruhe, Francis, ich bitte dich! Was du mir vor zwei Wochen versprochen hast – entsinnst du dich?«
Sie schaut ihn mit ihren guten Augen an.
Er hat noch immer ihre Arme umspannt und fühlt das leise Beben ihrer Muskeln. »Du wolltest uns helfen die Wahrheit finden, Francis; war es so? Siehst du! Die Wahrheit finden, um jeden Preis.« Er läßt sie los und schaut über die Oleanderbüsche durch die flimmernde Luft zum Haus. »Setz dich, Francis; ich habe dir noch einiges zu sagen.«
Sie sitzen wieder im Schatten der großen Sträucher. Der Doktor schaut aufmerksam in das Gesicht der jungen Studentin. Sie hält seinem Blick nicht stand, reißt einen Grashalm ab, an dem sie nervös kaut, und betrachtet den Rasengrund, aus dem sich der kleine rötliche Thymian und winzig gelbe Kleeblütchen erheben.
Auch der Doktor blickt jetzt auf den Grasboden mit all den kleinen, sonst unsichtbaren Blütenkelchen und dem selbständigen Mikrokosmos der Hälmchen, der winzigen Insekten und des kristallischen, menschenfernen, inhumanen Humus. Und mit einemmal glaubt er sich sehr fern diesem blühenden großen Mädchen gegenüber, das so dicht neben ihm hockt mit ihren schönen, bis zu den Knien sichtbaren Beinen … ein Appell des freudigen, unbeschwerten Daseins. »Verzeih mir, Francis, wenn ich nochmals so mit Blitz und Donner in dein Leben hineinfahre, an diesem friedlichen Sommermorgen …«
»Sprechen Sie, Doktor!«
»Du mußt nicht glauben, Francis, daß ich selbst gesichert und auf all das vorbereitet war, höchstens so, daß ich in dem aufgewühlten Meer dieser Zeit einzelne feste Punkte weiß, einzelne Inseln, die ab und zu durch die Wellenkämme auftauchen und wieder verschwinden …«
»Das ist schon viel!«
»Möglich.«
»Diese Inseln, diese – wie soll man sie nennen, Doktor –, diese Punkte der Gerechtigkeit und Friedfertigkeit, gut … aber wie kommt man da hin?«
»Richtig, Francis, das ist die Frage.«
»Etwa durch die Lumperei des Artikels eines solchen Revolverblatts, das Dreck auf uns wirft?« Sie kniet auf und blitzt ihn herausfordernd an. »Weil ein Lump sich hiermit ein paar Dollars verdient?«
»Der Lump, der diesen Artikel schrieb, ist Al Flagg«, sagt Dr. Boyle.
»Al Flagg?«
»Ja. Und er hat es nicht wegen ein paar Dollars getan, sondern aus ganz anderen Gründen. Wobei noch zu bemerken wäre, daß viele Zeitungsleute sich mit ein paar Dollars verdammt mühsam ihr Brot verdienen müssen, und daß zu der offenen Unterzeichnung gerade dieses Artikels mehr Mut gehört, Francis, als zu all den abenteuerlichen, tollkühnen Unternehmungen deiner Sturmtruppe auf dem Pazifik-Atoll in Mailers Roman.«
»Sie halten den Artikel also für berechtigt?«
»Ja, Francis.«
»Hier kann ich nicht mehr mit! Nein! Nie und nimmer!« Sie ordnet ihren Rock, um aufzustehn. »Soll ich zustimmen … das eigene Nest zu beschmutzen?«
Der Doktor hat schnell ihre Hände gefaßt und hält sie nieder. »Wo in aller Welt hast du diesen verdummenden, gedankenlosen Satz her, Francis, diesen verfluchten Nazisatz vom: eigenen Nest beschmutzen? Aus welchem idiotischen Magazin? Es kommt im Gegenteil darauf an, das eigene Nest – und das bist du selbst in dieser Umwelt – zu reinigen! Oder glaubst du, ein sauberes Nest kann in einem Morast von Fäulnis, Mord und Betrug bestehen?«
»Starke Worte, Doktor!«
»Stärkere Fakten, Francis!« zürnt er. »Ich komme eben von deinem Vater. Er hat mir die neuesten Modelle seiner Produktion vorgeführt, C.C.C.s Stahlbunker gegen Atombomben, die Clerksche Stahlschildkröte …«
»Ist das so schlimm?«
»Ja. Vor allem im Zusammenhang mit dem zweiten Modell, jenem Spielautomaten, in dem aber nicht Baseballspieler laufen oder Pferde rennen, sondern brennende Menschen, Frauen und Kinder – und in dem es Atombomben hagelt; weißt du, wozu, Francis?«
»Wozu?«
»Panik unter den Menschen hervorzurufen, Francis, den Krieg als eine unausweichliche Sache hinzustellen, so wie die Gefahren in deinem Roman: ›Die Nackten und die Toten‹, und dann der C.C.C. riesige Aufträge zu beschaffen …«
Francis faßt Boyles Hand. Verzweifelt schaut sie ihn an. »Beweise, Doktor, Beweise!«
»Wo lebst du eigentlich, Francis?« fragt er jetzt bitter. »Über was sprecht ihr jungen Menschen auf der Universität? Und warst du nie in deines Vaters Arbeitskabinett? Dort kannst du die Modelle sehen: wie die Stadt brennt, die lebenden Fackeln rennen und plötzlich C.C.C.s Stahlbunker zentral im sanften Blaulicht aufleuchtet! Und neben diesem Atomschreckautomat liegt ein schön gedruckter Reklameprospekt, daß C.C.C.s Stahlbetonschildkröte als Lebensschutz für jede Familie unentbehrlich ist, zahlbar in bequemen Raten …«
»Und alles dafür?«
»Alles dafür, Francis. So wird das vorbereitet. Eigentlich ganz einfach. Du studierst doch Literatur. Bei Homer suchten die alten Helden und Heerführer vor dem eigentlichen Kampf sich durch Drohungen Furcht einzuflößen und einander weiche Knie zu machen …«
»Verschiedene Heerführer gegeneinander …«
»Damals. Heute, Francis, muß diese Vorbereitung zum Krieg, den kein Volk will, erst innerhalb des Volkes selbst geschehn. Wer hat bei uns ein Interesse am Krieg und wer nicht? Siehst du, so läuft heute die Front. Das heißt: das Volk für den Krieg, die Steuern, die Rekrutierung weich zu bekommen, auch dafür braucht man die Atomautomaten, diese Bücher mit ihrer Elementarmoral und auch …«
Der alte Doktor schweigt. Ist er erschöpft? Manchmal, gerade nach solchen Augenblicken, in denen er sich völlig verausgabt hat, überfällt ihn der Gedanke: Hat das Ganze überhaupt noch einen Sinn? Lohnt es sich noch, da die Menschheit zum drittenmal während einer Generation den Marsch ins Nichts antreten will? Sind diese Menschen fähig – oder nur willens –, etwas zu lernen?
Francis schaut auf den nachdenklichen Kopf des Doktors mit seinem grauen Haarschopf und seiner von vielen Furchen durchquerten Stirn. Sie empfindet plötzlich ein großes Mitgefühl mit ihm. Ein Mensch, der sich so sehr abmüht für eine Sache, deren Erreichbarkeit kaum sichtbar ist. Sie möchte seinen ermüdeten Kopf an ihre Brust nehmen, fest und still. Seltsam, sie hat niemals einen solchen Wunsch bei ihren jungen Freunden. Aber diesem alten Arzt, in dem noch soviel Feuer und Glaube lodert, ihm würde sie die volle Achtung entgegenbringen, die auch eine Frau haben muß, um einen Mann von ganzem Herzen zu lieben. »Ich glaube, ich habe Sie eben sehr enttäuscht, Doktor«, sagt Francis.
Er schaut zu ihr hin. »Du bist aufrichtig gewesen, Francis; das ist gut. Du kannst eigentlich nur aufrichtig sein und gerecht denken; das ist dein Kern.«
Sie neigt sich mit einem Ruck zu seiner Hand und preßt ihre Lippen darauf. Schnell richtet sie sich wieder auf und blickt ihn dankbar und freudig an.
»Francis, mein Kind, mein Liebling«, fährt er leiser fort, »ich muß dir noch einiges erklären. Morgen abend haben wir eine Versammlung, ich sage dir dies im großen Vertrauen, Francis.« Sie nickt ihm ernst zu. »Du weißt ja, Francis, es ist heute nie sicher, wie so was ausgeht. Dein Vater bemerkte eben zu Al Flaggs aggressivem Artikel ziemlich unmißverständlich: ›Wenn sie wollen, können sie auch noch einen toten Hund dazu haben …‹«
»Das hat Vater gesagt?«
»Ja, Francis.«
»Werden Sie in der Versammlung sein? Werden Sie sprechen?«
»Ich möchte lieber von dir sprechen, Francis«, antwortet Dr. Boyle. »Ich möchte dich gefestigt wissen, Francis, nicht wie einen Kork auf den Wellen von augenblicklichen Empfindungen hin und her geworfen, sondern wie eine Schwimmerin, die auch bei starker Brandung sich oben hält und Land sieht.«
»Ich werde mit in der Versammlung sein!«
»Nein, Francis, du wirst nicht dort sein. Darum geht es nicht. Vielleicht brauchen wir dich später. Aber schon jetzt sollst du nicht dagegenarbeiten, wenn die Wahrheit über deinen Bruder, die tote Beß und diese ganze Affäre an den Tag kommt. Du sollst den Skandal nicht fürchten, wenn er die Wahrheit hervorwühlt.«
Francis atmet schwer, als spüre sie den Berg von Schutt, der über ihr in Bewegung gerät.
»Versteh doch, Francis; wenn es darum ginge, mich vor deinen Bruder zu stellen, weil es dein Bruder ist, vielleicht würde ich mein Gewissen betäuben und es deinetwillen tun …«
»Keinesfalls sollten Sie das, Doktor! Glauben Sie, ich hätte das angenommen?«
»Gut. Aber hier sind dein Bruder, die tote Beß und ihr Freund, der Rekrut, nur die kleinen Figuren, die von den großen Drahtziehern benutzt wurden. Das muß man zeigen! Und daß gewisse Leute einen Menschen, der so oder so gemordet wurde, wie eine tote Katze ins Wasser werfen können, ohne daß man sie zur Verantwortung zieht – auch das muß man zeigen! Weißt du, weshalb, Francis? Daß nicht danach ebenso unwidersprochen Tausende, ja Zehntausende unsrer Jungen und Mädchen wie tote Katzen ins Wasser geworfen werden oder – nach deines Vaters Ausdruck – wie tote Hunde in Korea oder Europa oder hier verscharrt werden!«
Francis hat Dr. Boyles Hand gefaßt. Eine Flamme jugendlicher Hingabe leuchtet in ihren Augen. »Ich möchte mit Ihnen in die Versammlung! Bitte!«
Der Doktor lächelt und legt ihre Hand zurück auf ihre Knie. »Wenn ich dem Elementartrieb in deinem Buch nachgeben würde, Francis, so würde ich sagen: Gut! Komm mit! Mehr noch, Francis, ich alter Bursche würde sagen – ich sage es nicht, Francis –, ich würde also sagen: Du bist ein solcher Mensch, Francis, den man lieben muß. Weshalb: man? Elementar gesprochen, würde ich sagen: Ich liebe dich.«
Francis sieht ihn atemlos an, groß und starr.
Leise fährt der Doktor fort: »Ich mußte dir das einmal erklären, Francis; es ist vielleicht der Eingriff eines Chirurgen. Aber du selbst, Francis, hast mich dazu herausgefordert mit dem gefährlichen Satz, daß auch die Moral ihr Elementares habe. Du siehst, es ist nicht ganz so. Denn wenn wir danach handelten und nicht nach einem anderen menschlichen Gesetz …«
»Sie wollen mich also wegen dieses unwichtigen Buches strafen?«
»Ich strafe mich doch selbst am meisten, Francis, wenn ich sehe, daß ich dir weh tue. Aber das Buch ist gar nicht so unwichtig, so gefährlich und falsch es ist. Es ist wahrhaftig kein angenehmes Buch. Wie ist da sein großer Erfolg zu erklären, seine breite Wirkung? Es lockt wieder die im Menschen schlummernde Bestie hervor. Höre, Francis, lies dies Buch noch einmal, aber jetzt anders, beachte, wie auch dies Buch ein Instrument ist zur Vorbereitung des Krieges ähnlich dem Bombenspielautomaten deines Vaters.«
»Ob Sie das Buch nicht doch überschätzen, Doktor?«
»Nein, Francis, nein!« antwortet er heftig. »Solche Bücher sind furchtbare Waffen! Du weißt, Francis, wie das simple und nicht sehr umfangreiche Buch ›Onkel Toms Hütte‹ im guten Sinne eine mächtige Waffe war im Kampf Lincolns und unsres Volkes um die Sklavenbefreiung. Aber diese ›Nackten und die Toten‹ – bitte lies es nochmals, lies, wie dieser wackre Sergeant Croft den hilflosen gefangenen Japaner erledigt, wie er ihm vorher noch ein Stück Schokolade gibt, ja einen tiefen Schluck kostbaren Wassers aus seiner eigenen Feldflasche tun läßt, wie Tränen der Freude in den Augen des Gefangenen stehn, vor allem, wie er dem Sergeanten auf einem kleinen Photo seine Frau und sein Söhnchen zeigt, und wie dann unser amerikanischer Sergeant den wehrlosen Japs wortlos niederknallt – entsinnst du dich, Francis?«
»Ich entsinne mich.«
»Man könnte vielleicht annehmen, das alles sei als Kritik und zur Abschreckung geschrieben. Aber die Wirkung und wohl auch die Absicht des Autors war es nicht. Wenn sogar du, Francis, hier von der einzig wahren Zerreißprobe der Persönlichkeit im Angesicht dieses Todes sprechen konntest …«
»Mein Gott, wie war das möglich?« klagt Francis. Es ist ihr, als müsse sie mit bloßen Füßen über glühende Kohlen gehen. Doch ihre Empfindung ist mehr auf den aufrichtigen Ernst ihres Freundes gerichtet. Sie möchte jetzt alles von ihm erfahren. Nichts Unklares oder Ungesagtes soll mehr bleiben!
Vielleicht spürt es der Doktor, da er fortfährt: »Ich will nicht von den bestialischen, höchst elementaren Alkoholexzessen unsrer fieberzerfressenen Dschungelkämpfer reden. Aber da ist noch ein Gespräch im Quartier des Generals Cumming mit seinem Adjutanten, ein wohlgepflegtes Gespräch im tadellos hygienischen ruhigen Stabsquartier. Auch hier ist, wenn ich nicht irre, von Moral die Rede. Und von der furchtbaren Sehnsucht der jahrelang von ihren Männern getrennten Frauen und umgekehrt. Dabei fragt der Adjutant den General, ob er bei seinen strategischen Plänen auch die Tatsache in Erwägung stelle, daß es Männer gebe, die zwei Jahre und länger von Amerika weg seien? Und weiter: Ob es besser sei, noch mehr Männer durch rücksichtslose Angriffe töten zu lassen, damit wenigstens der Rest schneller nach Hause komme, oder aber diese Männer defensiv für lange Zeit im Dschungel zu belassen, bis sie dort langsam zugrunde gehen, während ihre Frauen sie zu Hause betrügen? Und weißt du, Francis, was der General auf diese furchtbare Frage antwortet?«
»Ich habe es vergessen.«
»Aber ich habe es behalten, Francis. Der General antwortet auf diese qualvolle Frage seines Adjutanten: ›Die Antwort ist, daß ich mich damit gar nicht befasse.‹«
»Das kann doch nicht sein, Doktor!«
»Das sagst du heute zum zweitenmal, Francis: ›Das kann doch nicht sein.‹ Aber es ist so, Francis. Sowenig kennen wir unser eigenes Land und unsere Landsleute … vielleicht gerade deshalb, weil wir ihnen zu nahe sind. Siehst du, Francis, kürzlich las man mir den Brief eines deutschen Studenten vor, der Gelegenheit hatte, in Westdeutschland die amerikanischen Offiziere und Soldaten kennenzulernen. Auch er machte sich Gedanken über uns. Und weißt du, was er als einen Grundzug von uns bezeichnete?«
»Welchen?«
»Die Mißachtung des Menschen.«
»Die Mißachtung des Menschen?«
»Ja, Francis.« – Schweigen.
»Findest du, Francis, daß er unrecht hat?«
»Ich glaube, nein«, antwortet sie und denkt plötzlich an jene Szene des Studentenfestes in ihrem College, da man die Schleiertänzerin, die auf dem letzten Schleier über dem Gesäß die sowjetischen Embleme Hammer und Sichel trug, mit obszönen Worten anschrie, auch den letzten Schleier fallen zu lassen, und sie – als sie dies nicht tun konnte – mit allem möglichen viehisch bewarf. Francis schiebt ihr Buch beiseite. »Weshalb schreibt eigentlich niemand bei uns über diese Dinge?« fragt sie.
»Man schreibt schon«, erklärt der Doktor. »Ich werde dir einige aufrichtige Bücher bringen, die bei uns noch erscheinen. Viele sind es nicht. Aber vielleicht sollte gerade ein Ausländer einmal über uns schreiben, weil sie uns in manchem besser kennen als wir selbst.«
»Wie meinen Sie das?«
»Vielleicht so, Francis: Als ich in Paris studierte, unterhielt ich mich einmal mit meiner Wirtin über den Louvre und den Dôme des Invalides. Dabei stellte sich heraus, daß weder sie noch ihre Mutter, noch ihr Mann – alles waschechte Pariser – jemals den Louvre oder das Grab Napoleons besucht hatten, ja daß sie nicht einmal auf dem Eiffelturm gewesen waren, so daß ich – der Amerikaner – ihnen von Paris erzählen mußte.«
»Wissen Sie was, Doktor?«
»Was?«
»Manchmal komme ich mir selbst vor wie diese Pariser, die ihr Paris nicht kennen. Und dann möchte ich gern … darf ich offen sprechen, Doktor?«
»Bitte!«
»Daß Sie mich mein Paris erkennen lassen.«
Wie weit hat ihr Gespräch sie in einem mächtigen Bogen durch eine ferne Welt geführt wieder zurück zum Ausgangspunkt – der Wahrheit im Menschen, zu dem uralten: Erkenne dich selbst! Francis ist es, als betrete sie einen ganz neuen Weg. Der Doktor aber entsinnt sich eines vor langer Zeit gehörten Dialoges. Dort fragt jemand: Wohin wanderst du? Und die Antwort lautet: Von mir weg – zu mir hin.
Er hat immer noch nicht Francis' Bitte beachtet. Ist er nicht ein alter Mann mit seinen fünfzig Jahren gegen ihre fünfundzwanzig?
Und sie denkt: Wennschon, so wünsche ich mir keinen grünen Springinsfeld, sondern einen klugen, kampferprobten älteren Partner wie diesen. Ach, was spielt meine Vernunft mir doch für Streiche, indem sie so seltsam unvernünftig wird, sobald einmal das Herz mitspricht!
Aufmerksam schaut der alte Doktor in ihr junges, schönes, bewegtes und ernstes Gesicht. Es ist farbig überschattet von dem roten Reflex der Oleanderblüten und dem grünen Widerschein der Blätter, gerade, wie der leise Sommerwind die Büsche bewegt. Fünfzig Jahre – ein alter Mann in dieser prangenden Natur. Braust der Daseinsstrom in ihm nicht dennoch wie je? Was sagte eben dieses kluge und ernste Mädchen: »Daß Sie mich mein Paris erkennen lassen!« Kann er sich von jenem Elementaren hinreißen lassen? Nein! Kann er sie jetzt allein lassen? Nein!
Francis' Augen sind auf ihn gerichtet.
»Du kannst immer zu mir kommen, Francis, zu mir, deinem alten Freund.«
Sie drückt seine Hand dankbar, glücklich, vertrauensvoll.