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Von dem Matterhorn war meine erste Bergesliebe ausgegangen, zu ihm war ich in der entscheidenden Zeit meines Lebens zurückgekehrt, auf ihm hatte ich die weitaus größten Eindrücke erhalten; was Wunder, daß sich meine Sympathien immer mehr dem Berg zuwandten, zumal auch noch ein Ereignis auf ihm eintrat, das das große Erlebnis meines alpinen Lebens bildet!
Schon in dem Jahr nach der Hochzeitsreise, als ich genötigt war, allein im Gebirge zu gehen, hatte ich dem Berge einen zweimaligen Besuch abgestattet. Das erstemal, noch ziemlich früh im Jahre, versuchte ich, von Breuil aus die italienische Hütte zu erreichen; aber die ungeheuren Mengen von Winterschnee, die die Felsen noch bedeckten, machten es zur Unmöglichkeit, und die Führer waren umgekehrt, ohne daß ich sie vernünftigerweise daran hätte hindern können. Einige Monate später, im Hochsommer, brachte ich dann drei Nächte auf dem Berge zu. Die erste in einem etwa 3800 Meter hohen Freilager auf der Schweizer Seite in einer Randkluft zwischen Fels und Firn, das zwar grimmig kalt war, mir aber doch ermöglichte, rechtzeitig auf den Gipfel zu gelangen. Dort machte ich die beabsichtigten photographischen Aufnahmen und stieg dann nach der italienischen Hütte hinunter, wo das Nachtlager zusammen mit zwanzig andern Personen wohl wärmer, aber keineswegs angenehmer war. Tags darauf kletterte ich wieder hinauf zum Tyndallgrat und hatte eine weitere bequemere Nacht in der Hütte.
Die Eindrücke, die ich da bei schönstem Wetter erhielt, waren um so stärker, als ich die Route in ihrer Gesamtheit ja schon kannte und mich nun liebevoll auch den kleinsten Einzelheiten widmen konnte, was meine Kenntnis des Berges sowie mein Interesse für ihn wesentlich vertiefte.
Das Jahr 1900 sah uns dann wieder zusammen in Zermatt, wir waren von Chamonix über den Col du Géant gegangen, von dem aus wir die Südseite des Mont Blanc in ihrer ganzen Größe bewundern konnten, der auf seiner Nordseite bekanntlich weder schön noch bergsteigerisch interessant ist. Dann zogen wir durch das Val Pelline nach Arolla, wo wir eine recht schöne Zeit verlebten. Ist dies doch einer der wenigen Orte der Schweiz, der, obgleich erstklassiges Bergsteigerzentrum, volle neun Stunden von der Eisenbahn entfernt liegt und in seinen zwei Hotels die alten familiären Sitten bewahrt hat. Und welch großartiger Bergeskranz umgibt ihn! Man betrachte nur den Mont Collon, dieses Wahrzeichen Arollas! Ein düsterer, drohender Koloß und doch, wie stolz und prächtig! Dazu Mont Blanc de Seilon, Pigno d'Arolla, Dents des Bouquentins, Aiguille de la Za und zahlreiche andere Größen jeder Art und Schwierigkeit, fürwahr ein Dorado für den Bergsteiger und Kletterer, wie dies z. B. unser an der Aiguille de la Za aufgenommenes Bild zur Genüge erweist.
Und nun zog es uns wieder nach Zermatt, wo es in Gesellschaft Stabelers zu einer Besteigung des Zinal Rothorns (4223 m) kam. Dieselbe war insofern interessant, als sie trotz starken Neuschnees unternommen wurde und keiner von uns die Route kannte, so daß Stabeler Gelegenheit hatte, sein Pfadfindertalent zu zeigen. Es ist dies eine Art von Instinkt, der gewissen Leuten im Blut liegt. Sie richten sich dabei nach scheinbar geringfügigen Kleinigkeiten, wie von den Stiefeln früherer Besteiger herrührenden Kratzern auf Felsen, aus ihrer ursprünglichen Lage gebrachten Steinen usw., Dinge, die dem gewähnlichen Sterblichen beinahe immer entgehen.
Nun war ich dabei, wie sich Stabeler von einem Lokalkundigen die Route erklären ließ, aber ich muß gestehen, daß ich dem Gespräch ob all der vielen Details bald nicht mehr folgen konnte und recht gespannt war, ob Stabeler die Sache auch wirklich voll und ganz erfaßt hatte. Zunächst ging alles gut, obgleich wir durch einen Sturm an einem rechtzeitigen Aufbruch verhindert wurden und der Neuschnee recht viel Mühe machte. Unter herrlichen Ausblicken stiegen wir schließlich auf dem zum Gipfel führenden Grat an, als ein glatter, senkrechter Felsblock ein gebieterisches Halt gebot. Daß wir denselben nach links umgehen mußten, war auch mir klar, aber während es sich meiner Ansicht nach nur darum handeln konnte, bald den Grat wieder zu erreichen, traversierte Stabeler immer weiter nach links auf ein steiles Schneefeld, das entsetzliche Mühen verursachte und erhebliche Lawinengefahr in sich barg. Schließlich verschwand er scheinbar auf Nimmerwiedersehen hinter einer senkrechten Felsrippe, und ich hatte keinen Zweifel, daß er sich auf völlig falschem Wege befinde. Wohl eine halbe Stunde dauerte es, bis er endlich rief, daß ich folgen solle. Es war eine ganz infame Kletterei. Erst mußte ich mich um die glatte Ecke herumwinden und mich an einer äußerst exponierten, beinahe senkrechten Wand über eine vereiste »Platte« emporarbeiten, die so gut wie keinen Halt gewährte. Zur Belohnung wurde ich dann oben von einem fürchterlichen Sturm empfangen, der mir den Hut vom Kopf riß und ihn weit hinunter auf den Gletscher wirbelte. Schlimmer aber war die Lage, in der ich mich befand. Kniend, die halberfrorenen Hände in den steilen Firn gekrallt, mußte ich wieder im Sturm ausharren, bis Stabeler sich weitergearbeitet hatte. Und meine schönen warmen Handschuhe befanden sich in dem Rucksack, unerreichbar! Dabei konnte ich zu allem hin noch über ein Unglück nachdenken, das sich einst zusammen mit einem merkwürdigen Glückszufall hier zugetragen. Eine Partie von drei Personen war abgestürzt, und während einer der Teilnehmer den Tod in der Tiefe fand, blieben die beiden andern mit dem Rest des gerissenen Seils an einem Felsenvorsprung der weiten Wand hängen, so daß sie von einer andern Partie noch rechtzeitig aus ihrer furchtbaren Lage befreit werden konnten. Nach langem Warten durften auch wir endlich wieder ein Stück weiter, aber nur um auf einen ausgedehnten Firnhang zu kommen, an dem kein Ende abzusehen war. Ging das so fort, so brauchten wir nach einen halben Tag bis zum Gipfel, wenn wir ihn überhaupt erreichten, wie aber sollten wir dann in der Nacht wieder herunterkommen? Ich muß gestehen, daß ich immer wütender auf Stabeler und seine vermeintliche falsche Führung wurde. Da ertönte plötzlich sein Ruf: »Schauen's, die Seilschlingen!« Er zog sie triumphierend aus dem Schnee hervor als Zeichen, daß er die allein mögliche Route haarscharf eingeschlagen, ich selbst mich aber inmitten der Schwierigkeiten völlig getäuscht hatte.
Mit der Gewißheit, daß wir uns auf dem richtigen Weg befanden, belebte sich auch unsere Stimmung wieder, und bald wurde ein Firnrücken betreten, der zu einem Chaos übereinander getürmter Felstrümmer führte, aus denen die beiden Gipfelblöcke des Berges herausragten. Hier nun wurde die Sache pikant. Unterhalb des Vorgipfels kam jene berüchtigte Traversierstelle, wo man auf einer schmalen Leiste sich an dem senkrechten Fels entlangwinden muß, der Tausende von Fuß in die Tiefe stürzt. Überhaupt dieser doppelt gegipfelte Schlußgrat! Man kann sich kaum etwas Wilderes denken. Das Schönste für mich aber war, daß wir uns wieder im Bannkreis des Matterhorns befanden, das in seiner seltenen Wildheit und packenden Eigenart herüberwinkte. Dafür mußten wir eben den mühsamen Abstieg, der bis Mitternacht dauerte, in den Kauf nehmen und taten es gerne.
Auch im folgenden Jahr hatten wir zweimal Gelegenheit, nach dem Riesen hinüberzublicken, ihn von einer neuen Seite kennen zu lernen. Das eine Mal von der Dent d'Hérens, das andere Mal von dem gewaltigen Weißhorn.
Die Dent d'Hérens (4180 m) ist ein abgelegener und nur selten bestiegener Berg, der sich meist hinter dem benachbarten Matterhorn versteckt, dessen Besteigung darum aber nicht weniger interessant ist. Was für eine prächtige Tour war das gewesen, als wir, von Praraye kommend, das Labyrinth des weiten Za de Zan Gletschers erstiegen, auf dem Tiefenmattenjoch einen herrlichen Sonnenaufgang erlebten, um dann jenen berüchtigten Grat zu erklettern, auf dem einst Whymper umkehrte, der so scharf und gezackt wie kein zweiter ist. Dazu jene pikante Schlußkletterei über schwierige Platten! Am schönsten war aber doch der Ausblick von dem wächtengekrönten Gipfel, wo man den Zermatter Riesen in seiner ungeheuren Größe so unmittelbar vor sich hatte. Welche Freude, den ganzen Hochzeitsreiseanstieg auf einmal überblicken zu können! Wie haben wir Felsen um Felsen, Grat um Grat, Zacken um Zacken nach den Erinnerungen von damals abgesucht! wie ist alles wieder neu in uns aufgelebt! Was hatte es da zu sagen, daß wir nach 21stündigem Marsch uns in der Dunkelheit nicht mehr zurechtfanden und lange vergeblich das kleine Praraye Gasthaus suchten. Schon schickten wir uns dazu an, im Wald ein Freilager zu beziehen, als ein Jodler des Führers verkündete, daß die ersehnte Unterkunft nur wenige hundert Schritt entfernt sei, so daß wir uns doch noch in den allerdings recht primitiven Betten ausstrecken konnten.
Nicht minder großartig war die Besteigung des Weißhorns (4512 m), dieser herrlichsten Pyramide der Alpenwelt. Was gab es da nicht alles zu sehen auf dem scharfen, wolkenumspielten Firngrat, auf dem steilen Gletscher darüber und dem prächtigen Gipfel!
Und nun kam das größte Ereignis meines alpinen Lebens; die Bestätigung unseres Könnens im Dienste der Menschlichkeit.
Von Zermatt kommend, waren wir gegen Abend in Breuil eingetroffen, von wo aus wir nach einer kurzen Rast weitergehen wollten, um uns dem Montblancgebiet zuzuwenden. Wir waren eben im Begriff, wieder aufzubrechen, als der Wirt mir sagte, ein Herr wünsche mich draußen zu sprechen, vor dem Hotel standen Gruppen von Leuten herum, meist Führer mit Pickeln und Seilen, und besprachen sich erregt. Augenscheinlich war etwas los. Gleich darauf kam auch ein älterer Herr auf mich zu und sagte mir, seine Tochter sei am Matterhorn abgestürzt, er habe von meinem Kommen gehört, ob ich mich nicht an der Rettung beteiligen wolle? Die verunglückte Partie, zwei junge Damen, ein Herr und ein Führer, hatten die italienische Hütte besucht, waren beim Abstieg verunglückt und eine andere Partie hatte die Nachricht zu Tal gebracht. Der Sturz war an den Felsen der Tête de Lion an derselben Ecke erfolgt, an der auch Whymper einst seinen Unfall gehabt hatte und davongekommen war. Auf die Frage des schwerbesorgten Vaters konnte ich also mit gutem Gewissen die Antwort geben, daß die Möglichkeit eines Glücksfalles nicht ausgeschlossen sei. Auch erklärte ich mich bereit, auf die Suche zu gehen und mein Möglichstes zu tun, aber selbständig und ohne mich den eben abgehenden Führerpartien anzuschließen.
Wir waren im ganzen vier Personen; außer mir meine Frau, Stabeler und sein junger Sohn. Wir gelobten uns, nicht eher abzulassen, als bis wir die Verunglückten gefunden hätten. Unsere Vorbereitungen waren rasch getroffen; ich warf unsere Rucksäcke in das nächste Zimmer, und beim Weggang drang mir der Wirt noch eine Flasche Kognak für die Verunglückten auf, die ich harmlos annahm.
Unser Marsch über die weiten Grashänge des Berges wurde durch die eintretende Dunkelheit und mehr noch durch Nebelwetter wesentlich erschwert. Ich war deshalb froh, einen Hirten zu finden, an dessen Ehrgefühl ich appellierte, um uns den Weg zu zeigen, indem ich ihm gleichzeitig ein Fünflirestück in die Hand drückte. Aber ich hatte ohne den Welschen in ihm gerechnet; denn bei der nächsten Gelegenheit verschwand er spurlos im Nebel. Nun, wir fanden uns auch allein zurecht und erreichten glücklich den vom Col de Lion herabkommenden Gletscher, wo wir bald Rufe und Pfiffe hörten. Sie kamen von den vorausgegangenen Führern und bedeuteten augenscheinlich gute Kunde. Bald trafen wir sie denn auch in einer steilen, von Felsen umsäumten Schlucht. Langsam näherten wir uns, um zunächst auf einen delirierenden Mann zu stoßen, der sich unter einem überhängenden Felsen verkrochen hatte, wie ein angeschossenes Wild, das im Dickicht Schutz sucht. Es war der Führer der verunglückten Partie, der mit einigen Kopfwunden davongekommen und schon verbunden war. Etwas höher oben lag ein junges Mädchen. Sie hatte den Kopf verbunden, war aber bei Bewußtsein. Als ich ihr sagte, daß ich von ihrem Vater komme, zeigte sich, daß nicht sie, sondern die andere Dame die Tochter war. Auf meine Frage, wie sich das Unglück zugetragen, erwiderte sie, die Partie sei zweimal gefallen. Das erstemal seien sie im Schnee steckengeblieben, bei dem Versuch aber, wieder anzusteigen, über Felsen abgestürzt und schließlich von selbst zum Halten gekommen. Der Führer habe sich dann vom Seil losgeschnitten, um Hilfe zu holen. Später habe sie das auch getan und sei abgestiegen, bis die Kräfte sie verließen. Die andern seien noch hoch oben, es gehe ihnen wohl nicht gut. Mehr war nicht zu erfahren. Unsere Aufgabe war also erst zur Hälfte erfüllt, und die Hauptsache stand uns noch bevor. Aber als ich mit den Welschen darüber verhandelte, erklärten sie, daß sie genug getan hätten. Der Hang liege unter beständigem Steinfall, es sei unmöglich, in der Nacht da hinaufzugehen, außerdem habe es keinen Wert.
Daß wir uns dabei nicht beruhigten, war klar, und schließlich zwang ich einfach einen der Hauptschreier mit mir und Stabeler weiterzugehen, während meine Frau bei der Verwundeten bleiben sollte, letzteres war im übrigen ein recht gefährlicher Auftrag, den ich als schwere Verantwortung empfand. Die Verunglückte lag mitten in der Rinne, durch die alle Steine kommen mußten, die wir bei unserem Marsch sicher lostreten würden. Allerdings befand sich ein nicht ganz mannshoher Felsenabsatz unmittelbar über ihr, so daß sie selbst vor den herabkommenden Steinen geschützt war. Wenn sie aber unvorsichtig den Kopf über die Wand erhob, so konnte jedes der gefährlichen Projektile sie treffen. Nun ich kannte sie ja und war ihrer schon sicher. Die vier bis fünf Stunden, die wir fort waren, hat sie neben der Verwundeten zugebracht, ohne sich zu rühren. Die Führer machten es sich bequemer, indem sie abseits an eine gesicherte Stelle gingen und den mir von dem Wirt aufgedrungenen Kognak vertilgten.
Inzwischen waren wir drei losgezogen. Mühsam kletterten wir über einen weiten, geröllbedeckten Hang empor, und es war nicht zu vermeiden, daß wir immer wieder Steine lostraten, die prasselnd in die Tiefe stürzten. Auch von oben fehlte es an solchen Grüßen nicht. Um die Verunglückten aufmerksam zu machen, hielten wir immer wieder und riefen und pfiffen, vergebens. Es machte sich niemand bemerkbar, und mehr und mehr deprimierte uns die dahinschwindende Hoffnung. Auch die Unsicherheit, wohin wir uns wenden sollten, vermehrte dieses Gefühl; denn man konnte da tagelang herumirren. Gegen Mitternacht kamen wir endlich an einer senkrechten Felswand an, die sich den ganzen Hang quer entlang zog und deren oberes Ende in der Dunkelheit nicht abzusehen war. Hier nun begann unser Italiener aufzubegehren. Man habe jetzt genug getan und müsse umkehren, es sei doch unmöglich, weiterzukommen.
»Sell wollen wir erst amol sehen!« meinte da Stabeler, band den Welschen vom Seil los, um mehr Freiheit zu haben und begann am Fuß der Felsen auf eine Schlucht zuzugehen, die sich steil und zerklüftet in die Höhe zog.
Erwartungsvoll folgte ich dem hin und her irrenden Licht seiner Laterne, als es am Fuße der Schlucht plötzlich an einem dunkeln Gegenstand haften blieb und ich durch einen entsetzten Ruf Stabelers aufgeschreckt wurde. Was war das? Allmählich konnte ich durch die Dunkelheit einen schräg am Boden liegenden Mann erkennen, den Kopf nach unten an einem mächtigen Felsblock völlig zerschellt. Eine Zeitlang verharrten wir in dumpfem Schweigen, als Stabeler auf ein Seil deutete, daß sich straff gespannt über einen steilen Schneehang hinabzog.
Vorwärts!
Vorsichtig Stufen schlagend stieg er in die dunkle Tiefe, deutete auf eine aufgeschnittene Seilschlinge und ging dann weiter, bis das Licht seiner Laterne an einem jungen Mädchen haften blieb, das, aufrecht im Schnee stehend, offenbar durch das straff gespannte Seil gehalten wurde. Augenscheinlich war sie tot, obgleich sie nur kleine Verletzungen an den Schläfen hatte, der Oberkörper noch warm und nur die Beine erstarrt waren.
Wir waren zu spät gekommen.
Wir brauchten einige Zeit, um uns zu fassen, unsere vernichteten Hoffnungen zu begraben.
Von einem Transport der Leichen während der Nacht konnte keine Rede sein. Was blieb also übrig, als unverrichteter Dinge wieder abzuziehen, um den schwergeprüften Vater zu benachrichtigen? Der Italiener freilich erklärte, bei Nacht gehe er da nicht hinunter. Nun was kümmerte uns das jetzt noch! Wir ließen ihn also zurück und stiegen hinab zu den andern, wo Frau Maud die Nacht über bei der Verwundeten bleiben wollte, während ich selber weiter nach Breuil ging. Es war eine schwere Stunde, als ich dem Vater des Mädchens, dem ich so gern günstige Nachrichten gebracht hätte, die Sachlage in dem kleinen Hotelzimmer erklären mußte. Im Verlauf des Nachmittags sah man dann langsam den Zug der auf Tragbahren gebetteten Verwundeten über den Hang am Fuß des grimmen Berges herabkommen, ein ergreifendes Bild, das den schwergeprüften Vater der nicht Zurückkehrenden ruhelos hin und her trieb, während die vor dem Hotel stehende Menge, darunter auch Reporter, die mich auszufragen suchten, ihre neugierigen Bemerkungen machte. Immer näher kam die Trauerkarawane, man konnte Frau Maud erkennen, die neben der Tragbahre mit dem Mädchen, seine Hand haltend, schritt. Scheu und schweigend machte man ihr Platz, und sie ließ es sich nicht nehmen, die Verwundete noch zu Bett zu bringen. Die ganze kalte Nacht hatte sie auf dem Berge neben ihrer Schutzbefohlenen zugebracht, hatte sie verbunden, ihr zu essen gegeben, sie aufzuheitern versucht, ohne ein Auge zutun zu können. Auch nach Tagesanbruch hatten sie noch stundenlang warten müssen, bis die Bergungsmannschaft kam, um dann in ständiger Sorge für die Verunglückte die ganze lange Kletterei da hinunter mitzumachen. Nichts war ihr zu viel gewesen.
Einige Tage darauf wurden dann auch die Leichen zu Tal gefördert, wir aber waren inzwischen weitergezogen, mit einer quittierten Zimmerrechnung für jene Nacht, die unsere Rucksäcke in dem Hotel verbracht hatten, sowie für den Kognak »Fine Champagne«, den der Wirt mir für die Verwundeten aufgedrängt hatte.
Der Rest dieser Reise stand unter keinen günstigen Auspizien, äußerlich wenigstens. Wir wurden drei Tage lang vom Schneesturm in der Montblanchütte festgehalten, ohne an eine Besteigung des Berges denken zu können, bis uns der Hunger zwang, über den Col de Miage nach Chamonix abzuziehen. Nun, es war immerhin ein hochinteressanter Weg, und wir hatten manche prächtige Sturmaussicht. Auf der Südseite des Montblanc ist eben alles einzig großartig.
Daß das Matterhornerlebnis einen tiefen Eindruck auf mich machte, ist verständlich. Das Gefühl, in entscheidender Stunde mein Alles eingesetzt zu haben, war mir doch eine große innere Befriedigung, auch wenn es vergeblich gewesen war. Diese Befriedigung war mir auch ein Beweis für die Bedeutung der ethischen Werte in diesem Dasein, der insofern doppelt schwer wog als er sich in einer positiven, wohltuenden Weise geltend machte und nicht bloß das Resultat von Erwägungen war, oder gar der Furcht vor einer immanenten Gerechtigkeit entsprang. Daß ich diese Erfahrung meinem geliebten Alpinismus verdankte, machte mir denselben natürlich doppelt wertvoll. Auch in anderer Hinsicht beeinflußte mich das Matterhornerlebnis, indem ich vollends ganz in den Bann des Berges kam, dessen dämonisch faszinierende Macht mich jetzt erst recht umgarnte. Noch dreimal ging ich zur italienischen Hütte, wo ich zweimal durch das Unwetter zurückgehalten wurde, stieg noch einmal bis hinauf über den Tyndallgrat, besuchte alle die alten, mir so wohl bekannten Stätten und machte mehrere hundert photographische Aufnahmen auf dem Berg, der es mir nun einmal angetan hatte. Es war dies im übrigen keineswegs eine Monomanie von mir. Ich weiß von genug Leuten, denen es in ihrer Art genau ebenso erging. Um von Whymper, dessen ganzem Leben der Berg bekanntlich seinen Stempel aufgedrückt hat, gar nicht zu reden, ist da zum Beispiel Mummery, der zur Einleitung seines Alpenwerkes schreibt: »Ich war siebenmal auf dem Gipfel des Matterhorns. Ich saß da mit meiner Frau, als ein angezündetes Streichholz in der windstillen Luft nicht flackern wollte und bin von seinem zerklüfteten Gipfel durch die tobende Wut von Donner, Blitz und wirbelndem Schneesturm vertrieben worden. Jede dieser Erinnerungen hat ihren eigenen, merkwürdigen Reiz, und die wilde Musik des Sturmes ist kaum ein geringerer Genuß, als die Pracht eines schönen Tages.«
Da ist ferner Guido Rey, der Mann des Furggengrats, der, nachdem er alle andern Routen gemacht, auch diese, für unmöglich gehaltene erzwingen wollte und, als es nicht ging, sich mehrere hundert Fuß weit von oben über die Stelle hinabseilen ließ, die ihm im Anstieg unmöglich gewesen, um auch auf dieser Seite des Berges wenigstens überall gewesen zu sein und der dann ein begeistertes, von tiefster Liebe zu dem Berg durchdrungenes Buch darüber schrieb. Da ist der Mann, der den Furggengrat dann doch noch erzwang und neben ihm eine ganze Anzahl weniger bekannter Größen, denen der Berg es in ganz ähnlicher Weise angetan hatte.
Worin liegt das? Schon die Gestalt des Berges ist von einer Wucht und ausgeprägten, merkwürdigen Eigenart, wie man sie sonst nirgends findet. Paul Güßfeld hat diese Form am treffendsten charakterisiert, indem er sagt: »Das Merkwürdige liegt in der Kombination von Eigentümlichkeiten, die sich nach unserer Erfahrung gegenseitig auszuschließen scheinen, denn die Gestalt und Schneelosigkeit des Matterhorns wiederholen sich nur an kleineren Felszähnen, seine Masse und Höhe dagegen nur bei den schneetragenden Häuptern der höchsten Alpen.« Diese Vereinigung der Form eines sonst kleinen Felszackens mit ungeheurer Größe gibt dem Berg etwas Übernatürliches, noch nie Dagewesenes, gewissermaßen die Idee des über sich selbst Hinauswollens, die mächtig fasziniert und anzieht. Beinahe noch mehr ist dies mit den Einzelheiten der Fall, die den Eindringling dort oben erwarten. Da ist alles so riesenhaft, gewaltig und scheinbar übernatürlich, daß uns unwillkürlich das Grauen des Unerhörten umfängt.
Und warum sollte nicht auch hier das Grauen anziehen? Nicht in kleinlicher Neugier, sondern in dem Wunsch, das Unfaßliche zu ergründen, dem Unendlichen näherzutreten, der kühne Seelen unwillkürlich lockt, den Schleier zu lüften, in das Heiligtum einzudringen.
Sehr bezeichnend ist in dieser Hinsicht das Verhalten jener verunglückten Mädchen, die ihre Begeisterung für den Berg so teuer zu bezahlen hatten. Sie waren zu der Tête de Lion hinaufgestiegen, ein allerdings nicht einfacher Spaziergang, den sie aber immerhin trotz ihrer völligen Unerfahrenheit wagen konnten. Mehr war auch nicht beabsichtigt gewesen; aber als sie dort oben die ganze gewaltige Südseite des Berges in ihrer ungeheuerlichen Pracht beinahe zum Greifen nahe vor sich hatten, da wurde der Wunsch, in das Heiligtum einzudringen, übermächtig, zwingend und verhängnisvoll. Liegt da nicht eine sinnverwirrend lockende, nein tragische Macht?
Hierzu kommt endlich noch die Geschichte des Berges, die auf Schritt und Tritt nicht bloß von diesem Locken und dem titanenhaften Ringen mit ihm redet und uns darum menschlich so anmutet, sondern die auch der Ausdruck des Zornes und der rächenden Gewalt der Elemente ist, die nicht nur gewöhnliches Verderben bringen, sondern oft genug gerade den vernichten, der sie am meisten liebt.
Das alles zieht an dem nachdenklichen Besteiger vorüber, dringt auf ihn ein mit elementarer Wucht, und immer mehr gerät er in den Bann dieses höchsten Sinnbilds, dieser gewaltigsten Verkörperung der Wildheit, Größe und Erhebung des Hochgebirgs.
Bei meinen Wanderungen, die mich unwillkürlich immer wieder in die Gegend des Berges zogen, lernte ich seine Umgebung allmählich auf das genaueste kennen, und auch an Abenteuern aller Art fehlte es dabei natürlich nicht. Da war zum Beispiel ein wütender Gewittersturm auf dem Lysjoch, an Blitzgefahr demjenigen von der Hochzeitsreise kaum nachstehend, da war ein hochgelegenes Zeltlager am Rimpfischhorn, bei dem der während der Nacht fallende Schnee unser Zelt so zu Boden drückte, daß wir uns mühsam aus der kalten Umarmung herausarbeiten mußten, ehe wir die Besteigung fortsetzen konnten. Interessant war ferner ein Erlebnis an dem steinfallgefährlichen Triftjoch. Nach einer Besteigung des Besso verbrachten wir einen herrlichen Abend in der einzig schönen Mountethütte, wo sich das Gebirge in einem so ungeheuren, mauerähnlichen Wall vor dem Beschauer erhebt, wie man ihn in solcher Kompaktheit und niederdrückenden Mächtigkeit kaum irgend sonst wo zu sehen bekommt. Ein Gornergrat, man möchte sagen, dessen Berge auf allernächste Nähe herangerückt sind. Dazu das Gold des Sonnenuntergangs, dessen blutrote Streifen sich langgestreckt an den Firnenrand hefteten und mit der beständig wechselnden Wolkenbildung in dem zunehmenden Dämmerlicht einen so magischen Anblick boten, daß man sich geradezu in einem eisigen Feenlande zu befinden wähnte.
Um der am Triftjoch drohenden Steingefahr, die sich meist erst gegen Mittag zeigt, zuvorzukommen, hatte ich einen frühzeitigen Aufbruch beschlossen, aber, wie so oft bei solchen Gelegenheiten, verzögerte sich der Abmarsch, was mich angesichts der kostbaren Minuten in keinen kleinen Grimm versetzte. Immer wieder drängte ich vorwärts, und wir waren nur noch wenige hundert Meter von der gefährlichen Firnrinne entfernt, als plötzlich ein ungeheurer Donner hörbar wurde. Ein Felsblock in Hausgröße war von hoch oben auf die Rinne gestürzt, in Tausende von Steinen zerschellt und fegte nun als ein wilder Trümmerhaufen den schmalen Hang herab, über den wir hinauf wollten. Mächtige Blöcke kamen polternd bis in unsere nächste Nähe, einzelne sausten sogar noch an uns vorbei. Hätten wir nicht die halbe Stunde Verspätung gehabt, so wäre es fraglos um uns alle geschehen gewesen. So sahen wir uns die Sache nur stumm an. – Was aber nun? Durften wir es wagen, unter solchen Verhältnissen die Rinne doch noch zu ersteigen? Nach einigem Beraten kamen wir zu der Ansicht, daß für heute genug Steine heruntergefallen seien und stiegen, allerdings in ziemlicher Hast, hinauf, ohne irgendwie belästigt zu werden.
Humorvoller war ein Interview durch den bekannten italienischen Schriftsteller de Amicis, dem wir zum Opfer fielen, und das der Leser, was Frau Maud betrifft, ja schon kennt. Möge er nun auch das Nötige über mich hören! De Amicis, ein sehr stattlicher, etwas korpulenter Herr mit schneeweißer Mähne, möchte man sagen, und von unermeßlicher Würde und Herablassung schreibt: »Er war ein Riese, einen Kopf größer als alle andern. Wenn ich hundert Jahre lebte, würde ich nie sein Aussehen, seinen Charakter, seine Art zu sprechen, vergessen. Man erwartete ihn mit Sehnsucht in Breuil, wo er seit Jahren einige Tage im Sommer verbringt.
Ich sah ihn am ersten Abend seiner Ankunft mit langen Schritten in den Gängen des Hotels auf und ab gehen, und seine riesige Gestalt, sein zerzaustes Haar, seine kleinen, tiefen Augen, von welchen nur die Pupille zu sehen war, seine niedrige, gefaltete Stirn von einem großen Hut beschattet, erinnerte mich an die deutschen Soldaten, welche Detaille im Vordergrund mancher seiner Bilder gemalt hat, um die Hartnäckigkeit und die harte Seele jenes Geschlechts wiederzugeben. – Ein Hunne, hörte ich von ihm sagen, ein Bär vom Schwarzwald und auch: das Matterhorn als Mensch. – Er sollte 44 Jahre alt sein, aber er sah aus, als ob er niemals jünger gewesen wäre und niemals älter werden könnte: ein Fels in menschlicher Gestalt, dem der Alpenwind Leben eingehaucht hat.
Bei seinem ersten Anblick verflüchtigte sich mein Wunsch, ihn zu sprechen, bis in die Tiefe meiner Seele, als ob sie warten wolle, daß dieses Antlitz gleich einem bewölkten Himmel sich aufkläre. Und trotz seines freundlichen Empfanges, als ich ihn das erstemal sprach, ermutigten mich weder seine laute soldatische Stimme, noch sein hartes Französisch, welches er mit großen Unterbrechungen sprach, den richtigen Ausdruck mit ungeduldigen und schnellen Gebärden suchend, als wolle er eine Pistole gegen mich losdrücken. Aber nach und nach zeigte er sich anders: als ein guter, lieber Mensch und eine heitere Natur. Es kam mir vor, als falle eine Rüstung von ihm ab, aber entwaffnet und wohlwollend erschien er mir noch stärker.
Ganz gemütlich seine hölzerne Pfeife rauchend, erzählte er mir seine Geschichte als Bergsteiger, langsam, geordnet und einfach, als ob er diktierte. Er interessierte sich für den ›Kontakt mit dem Übernatürlichen‹, wo der Geist sich vertieft, der Gedanke ausschweift.
Seiner Meinung nach ist das Bergsteigen die einzige Leidenschaft, welche den Menschen ganz und gar in ihrem Bann hält, welche in ihm alle Fähigkeiten und Gefühle erzieht: Geist, Herz, Charakter, Gefühl, Sinn für Poesie und Schönheit. Als er dies sagte, war er ganz begeistert, und man merkte seiner Stimme eine tiefe Überzeugung, eine eiserne Willenskraft an.
Von seinen Kindern sagte er, als ob er einen Schwur leisten wollte: ›Sie werden Alpinisten sein!‹ und man merkte wohl, daß ein jedes Vorhaben in seiner Seele fest sei, wie ein Fels des Matterhorns.«
Wie ein Fels des Matterhorns hatte sich im übrigen allmählich etwas anderes in mir festgesetzt. Naturgemäß hatte ich mir im Laufe der Jahre Gedanken über das Hochgebirge, seine Bedeutung, seinen Einfluß auf Leben und Anschauungen durch seine belebenden und zerstörenden Kräfte gemacht, die mich mehr und mehr in Anspruch nahmen. Was Wunder, wenn ein innerer Drang mich trieb, das auf irgendeine Weise zu gestalten? Nachdem ich meine jugendlichen Ideen, der Weisheit Gipfel verstandesgemäß zu erklettern, aufgegeben, war ich schon längst daran gegangen, mich wenigstens in der alpinen Literatur zu betätigen. So waren verschiedene Aufsätze und Werke entstanden, die sich vornehmlich um meine photographischen Aufnahmen rankten, aber doch nur rein bergsteigerischen Inhalts waren und keineswegs all das sagten, was in mir lebte und nach Ausdruck rang. Im Gegenteil! Denn das Körperliche im Alpinismus erschien mir mehr und mehr nebensächlich neben dem, was ich rein menschlich, seelisch und künstlerisch in den Bergen fühlte und in mich aufnahm. Das aber mußte einfach heraus. In dem Wunsche, es so plastisch als möglich zu tun, kam ich nun auf den Gedanken, meine Ideen dramatisch zu gestalten, natürlich an der Hand des Matterhorns, das nun einmal alles in sich vereinigte, was ich fühlte. Daß ich mir da eine Aufgabe gestellt hatte, die nicht nur einen Geist allerersten Ranges, sondern auch eine entsprechende Schulung verlangt hätte, ist klar. Doch das kümmerte mich wenig, und in dem Gefühl, bei einem so hohen Ziel wenigstens eine milde Beurteilung beanspruchen zu können, packte ich mein »Matterhorn«, wie ich es sonst gewöhnt war, ohne viel Federlesens an.
Da war zunächst der Gegensatz zwischen dem Leben auf den Höhen und dem Alltag, dessen Gestaltung mich reizte. Dort der Verkehr mit dem Unendlichen, der freie, weite Blick, das Gefühl über dieser Welt zu stehen, Schönheit, Größe und Natürlichkeit mit ihrer gehobenen Stimmung, ihrer ethischen Kraft und dem Flug des Gedankens, aber auch mit ihrer traumartigen Kürze und dem tragischen Zwang des immer wieder Hinuntermüssens. Da die Länge und Gebundenheit des Lebens hier unten mit der erdrückenden Wucht seiner Wirklichkeiten, seinem schonungslosen Hinwegschreiten über alles, was sich ihnen nicht beugt, seinem systematischen Zertreten des Idealen. Dabei ergaben sich mancherlei Fragen: War die Flucht dort hinauf geeignet, die Qual hier unten mit ihrem verklärenden Hauch zu durchdringen, die Kraft zum Standhalten zu geben, das Leben überhaupt zu idealisieren und dauernd zu heben? Und wenn ja, in welcher Weise? Oder ist es nicht besser, die Schwärmerei überhaupt zu lassen, sich nur kühl auf die Tatsachen zu stützen? Als gewissermaßen »matterhornartig«, weil über sich selbst hinaushebend, erschienen mir in dieser Hinsicht die Gegensätze des reinen, himmelstürmenden Idealisten und jenes realistischen Übermenschen, der, ganz auf dem Boden der Tatsachen stehend, rücksichtslos über alles hinwegschreitet und darum auch so manchen Erfolg verzeichnen kann. Wo liegen überhaupt die wahren Höhen dieses Lebens? Daß ich diese Frage in idealistischem Sinne beantworten würde, war für mich ja allerdings von Anfang an klar. Aber worin bestand denn der »wahre« Idealismus, wenn ideales Streben doch so oft den Boden unter den Füßen verliert und damit leicht unwirklich, wenn nicht unheilvoll wird? Und mußte mir, als einem so ganz im praktischen Leben stehenden Menschen die wenn auch harte und nüchterne Wirklichkeit nicht auch als eine nun einmal gegebene Größe erscheinen, mit der man eben zu rechnen hat und die dann auch gewiß manche gute und stärkende Kraft in sich birgt?
Nun, zunächst siegte in meinem Stück der Idealismus, der seine ganze blendende Macht entwickeln konnte und ja auch die Jugend so leicht bezaubert. Ein rücksichtsloses Weib, das, mit allen materiellen Gaben ausgestattet, gewohnt ist, die Welt vor sich auf die Knie zu zwingen, verleitet einen überideal veranlagten Höhenschwärmer, sie auf »sein« Matterhorn hinaufzuführen, lediglich um dadurch billigen Ruhm zu ernten. Aber die Dinge verlaufen anders. In der großen Natur dort oben vollzieht sich das Wunder ihrer idealistischen Bekehrung, die in der beiderseitigen Liebe als ihrem höchsten Ausdruck gipfelt. Es ist die heilige Flamme, die da entzündet wird. Wird sie anhalten, wird sie beider Leben mit ihrem verklärenden Hauch durchdringen, oder ist es nur ein kurzer, vorübergehender Höhenrausch? Was ist überhaupt das Ziel ihres neu erweckten Lebens?
Der Idealist bleibt sich zunächst treu und besteht auf seinen beinahe übermenschlichen Forderungen, denn das Ideal kennt keine Kompromisse. Das sieht auch sie ein und sie hat allen guten Willen, dann aber siegt doch der Alltag über sie, und ihre Liebe verleugnend, fällt sie in das alte, rücksichtslose Wirklichkeitsleben zurück. Aber das Licht der Höhen läßt sich nicht verlöschen, so schwach es auch noch flackert. Der einmal von ihm Bestrahlten vermag das gewöhnliche Dasein nichts mehr zu bieten. Angesichts der wachsenden, durch Schicksalsschläge vertieften Enttäuschung, treibt es sie mit unwiderstehlicher Gewalt nach der Stätte ihres einstigen Glücks zurück, nur um zu finden, daß inzwischen auch der Idealist in der Qual des Alltags sich untreu geworden ist; an der Seite einer vermeintlich unscheinbaren Frau eine Befriedigung suchend, die ihm ebensowenig gegeben ist. So hat der Alltag also gesiegt, und nur einer ist da, dem inmitten des allgemeinen Scheiterns sein lange vorbereiteter Lohn endlich zu winken scheint: der konsequente Realist, der die Leichtgläubigen in schwere Schuld gestürzt hat und seinen Vorteil unerbittlich ausbeutet.
So ist den beiden die Welt zu eng geworden und nur im Todesgedanken finden sie sich wieder, der sie erneut dort hinauf treibt, ihn unauffällig auszuführen. Wie nun zeigt sich der Einfluß des Gebirges jetzt? Zunächst fühlt der Idealist bald die vernichtende Schwere seines Entschlusses, aber das finstere Toben des Berges betäubt die beiden auch. In einem wilden Höhentaumel suchen sie es ihm gleichzutun und durchbrechen die Schranken von Menschensitte und Gesetz, nur um sich noch mehr in Schuld zu verstricken, die dort oben doppelt schwer auf ihnen lastet, die Gegensätze noch verschärft, sie völlig verzweifeln läßt. Da greift der Berg selbst sühnend und rächend ein. Sühnend, denn das kalte Höhenlicht, das die beiden erschauern macht, bringt alles an den Tag, zerrt es aus seinen dunkelsten Winkeln heraus und zwingt die Schuldbeladenen zur läuternden Selbsteinkehr; rächend, denn die blinde Wut des Fanatismus führt leicht zu Fehltritten, die an den gefährlichen Klippen verhängnisvoll sind. So wird der rücksichtslose Ausbeuter, der auch dort oben das Geschick in den verbrecherischen Händen halten zu können wähnt, das eigene Opfer seiner Rachgier. Die im Tode zutage tretende Größe jener unscheinbaren Frau aber, die überall helfend und tröstend ihren stillen Weg gegangen, wächst und wächst und zeigt den verirrten die wahren Höhen in jenem Idealismus der Tat, der festen Boden unter den Füßen behält und auch im kleinen getreu, der Wirklichkeit, nicht nur seinen Träumen lebt. So durchbrechen die hellen Strahlen des neuen Tages die wilde Hochgebirgsnacht, und die beiden steigen geläutert hinunter in die Welt, in die wir nun einmal gehören.
»Ein weites ew'ges Schweigen singt
Dort laut des Todes Lied! –
weh dem, der aus der Berge Reich
Nicht zu den Menschen flieht!«
Herzfeld
Meine Freunde warnten mich dringend, vor allem einer, der beim Theater bekannt und wohl bewandert war. »Schreiben Sie einen Roman oder was Sie wollen, aber nur nichts fürs Theater. Wenn Sie ein Stück schreiben, dann werden Sie zum Lumpen gemacht, zu einem gemeinen Kerl und Tantiemenschinder.«
Nun, in dem kleinen Stadttheater, wo ich nach allerhand Fährnissen zuerst zur Aufführung kam, ging's ja noch. Die Kritik lächelte milde, und ich hatte wenigstens einen unvergeßlichen Eindruck: Als wir uns bei der ersten Probe nach all den Mühen auf der die Matterhornhütte darstellenden Bühne hinsetzten, hatten wir das Gefühl, als seien wir wirklich und wahrhaftig dort oben und feierten unsere Besteigung mit einem ebenso begeisterten wie kräftigen Trunk. In der Residenz war es dann anders. Das war so etwas für die literarischen Keuschheitswächter, die in beleidigtem Zorn von ihrem erhabenen Thron ihre grimmen Blitze schleuderten. Wie konnte dieser Laie es wagen, vor sie hinzutreten, die Allgewaltigen, die die hehre Flamme bewachen! Einer, der sich auch noch für einen Alpinisten ausgab, meinte sogar, ich müßte zur Strafe für solche Vermessenheit gezwungen werden, von Landeck nach Gomagoi zu Fuß zu gehen. Als ob ich das nicht sehr gern getan und dabei vielleicht viel mehr gesehen hätte als er! Tatsächlich kam ich mir auch ungefähr so vor: Als munterer Wanderer, der vergnüglich seinen mühsamen Weg einherschreitet, während verschiedene andere – ich sage gewiß nicht alle; denn ich bin für ein wohlgemeintes, offenes Wort immer empfänglich gewesen – auf gespornten Pegasus einhergaloppierten und »sich in jenen eisigen Höhen der Spekulation verloren, wo der Wahnsinn auf seine Opfer lauert.«
Später habe ich dann den Stoff als Roman neu bearbeitet, so daß sich der Leser, falls er das will, ja selbst ein Urteil bilden kann.