Emile Zola
Ein Blatt Liebe
Emile Zola

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15

Malignon hatte sich, die Füße nahe dem hell brennenden Kaminfeuer, in einem Lehnstuhl ausgestreckt, und wartete geduldig. Er hatte die Fenstervorhänge geschlossen und die Kerzen angezündet. Das Zimmer, in dem er saß, war durch einen kleinen Kronlüster und zwei Armleuchter erhellt. Im Schlafzimmer nebenan herrschte verschwiegene Dunkelheit, bloß die kristallene Hängelampe gab ein ungewisses Dämmerlicht. Mallignon zog die Uhr.

»Zum Teufel, will sie mich heute am Ende wieder sitzen lassen?«

Er gähnte gelangweilt, wartete er doch schon seit einer Stunde. Wieder stand er auf und prüfte seine Vorbereitungen. Die Anordnung der Sessel gefiel ihm nicht. Er wollte ein Sofa vor dem Kamin haben. Die Kerzen glühten mit rosigem Widerschein in den Kattunvorhängen. Das Zimmer erwärmte sich, während draußen jäher Wind stieß und heulte. Dann musterte er zum letzten Male das Schlafzimmer. Der Raum schien ihm sehr geschmackvoll, »schneidig« von A bis Z. Er war zufrieden.

Plötzlich wurde dreimal rasch hintereinander an die Tür gepocht. Das verabredete Zeichen.

»Endlich!« rief er laut und siegesbewußt.

Juliette trat ein. Sie hatte den Schleier niedergezogen und war in einen Pelzmantel gehüllt. Während Malignon die Tür leise schloß, blieb sie einen Augenblick unbeweglich stehen, und niemand hätte ihr die Erregung ansehen können, die ihr das Wort vom Munde schnitt. Ehe noch der Galan ihre Hand fassen konnte, schlug sie den Schleier hoch und zeigte ihr lächelndes, ein wenig blasses Gesicht.

»Was! Sie haben Licht gemacht!« rief sie spöttisch. »Ich glaubte, Sie könnten Kerzen am hellichten Tage nicht leiden!«

Malignon, der sie soeben mit theatralischer Geste in die Arme schließen wollte, verlor die Fassung. Der Tag sei gar zu häßlich, und seine Fenster hätten keinen schönen Ausblick. Im übrigen ginge ihm die Nacht über alles ...

»Man weiß nie, wie man mit Ihnen dran ist,« neckte Juliette weiter. »Auf meinem Kinderball damals haben Sie mir eine richtige Szene gemacht: Man säße wie in einem Keller, man könne glauben, zu einem Toten zu kommen ... Geben Sie jetzt wenigstens zu, daß sie Ihren Geschmack geändert haben?«

Juliette schien unbedingt die harmlose Besucherin spielen zu wollen und heuchelte eine Sicherheit, die doch nur ihre Verwirrung bestätigte. Es zuckte nervös um ihren Mund, und sie schluckte, als fühlte sie sich in der Kehle beengt. Ihre Augen blitzten unternehmungslustig, und sie kostete vergnügt von der verbotenen Frucht. Sie dachte an Frau von Chermette, die auch einen Liebhaber hatte. Ach du lieber Gott, das war wirklich gar zu drollig.

»Wollen wir nicht einmal Ihre schlichte Hütte näher besehen?« scherzte sie wieder.

Damit machte sie einen Rundgang durchs Zimmer. Malignon ärgerte sich, daß er sie nicht sogleich in den Arm genommen hatte, und folgte ihr voll Ungeduld. Juliette betrachtete die Möbel, musterte die Wände, hob den Kopf, drehte sich kokett in den Hüften und schwatzte in einem fort.

»Ihrem Kattun kann ich wirklich nichts Schönes abgewinnen ... Diese ordinäre Farbe! ... Wo haben Sie denn dieses gräßliche Rosa aufgetrieben? ... Nun, der Stuhl da wäre ja ganz nett, aber das Holz ist vergoldet ... Und kein Bild, keine einzige Nippessache! Bloß diese stiellosen Leuchter ... Freilich, mein Wertester, ausgerechnet Sie haben's nötig, sich über meinen japanischen Pavillon lustig zu machen!«

Juliette lachte und rächte sich so für sein ewiges Kritisieren, das sie ihm nicht vergessen konnte,

»Nun ja doch, Ihr Geschmack ist ja soweit recht nett! ... Aber wissen Sie, meine Pagode ist mir mehr wert als Ihr ganzer Möbelkram hier ... Ein Ladenschwengel würde sich mit solchem Rosa nicht sehen lassen ... oder wollten Sie etwa Ihre Waschfrau hier wohnen lassen?«

Malignon schwieg verdrießlich und versuchte vergeblich, sie ins Schlafzimmer zu dirigieren. Doch Juliette blieb auf der Schwelle stehen und meinte, sie setze ihren Fuß nicht in Räume, wo es so dunkel sei. Im übrigen hätte sie genug gesehen. All dieses Gerümpel sei aus dem Faubourg Saint-Autrien zusammengeholt. Die Hängelampe amüsierte sie köstlich. Unbarmherzig ging sie mit ihr ins Gericht und kam unaufhörlich auf »diese Nachtlampe« zurück als auf den Traum kleiner Nähmamsells, die sich nicht selbst möblieren könnten. Solche Hängelampe könne man für sieben Franken fünfzig in allen Basars kaufen.

»Ich hab neunzig Franken dafür bezahlt,« knurrte Malignon ungeduldig. Sie schien über seinen Ärger sehr vergnügt. Endlich hatte er sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden und fragte betont höflich: »Wollen Sie nicht ablegen?«

»O ja, recht gern. Es ist gar so heiß bei Ihnen.«

Juliette nahm sogar den Hut ab, und er legte ihn mit dem Mantel zusammen aufs Bett. Als er wieder ins Zimmer trat, fand er sie vor dem Kamin, wie sie noch immer die Einrichtung musterte. Sie hatte wieder zu ihrem früheren Ernste zurückgefunden und wollte Entgegenkommen zeigen.

»Es ist zwar sehr häßlich bei Ihnen, aber immerhin, Sie wohnen nicht schlecht. Die beiden Zimmer hätten sich sehr hübsch einrichten lassen.«

»Oh, für den Zweck, den ich mit ihnen im Auge habe –« entfuhr es ihm leichtsinnig.

Er bedauerte sogleich die dumme vorschnelle Bemerkung. Noch plumper und ungeschickter konnte man es nicht anfangen. Sie hatte in schmerzvoller Beklemmung den Kopf gesenkt und schien für einen Augenblick den Zweck ihres Hierseins vergessen zu haben.

»Juliette,« flüsterte Malignon an ihrem Ohr.

Sie winkte ihm, sich niederzusetzen.

»Juliette. Juliette,« wiederholte er, und seine Stimme wurde zärtlicher.

»Ach, so gehen Sie doch! Seien Sie doch vernünftig,« sagte sie und griff nach einem chinesischen Fächer, der auf dem Kaminsims lag.

Malignon legte werbend den Arm um ihre Hüfte.

»Nicht doch,« rief sie ärgerlich, »lassen Sie mich sofort los, Sie tun mir ja weh!«

Und als Malignon sie schweigend wieder der Schlafzimmertür zudrängte, machte sie sich mit Gewalt los. Sie gehorchte einem gewissen Etwas, das außerhalb ihrer Wünsche lag. Sie war ärgerlich auf sich selbst und auf ihn. Verwirrt stammelte sie abgerissene Worte. Ach wirklich, er lohnte ihr das Vertrauen schlecht! Was glaubte er denn zu erreichen, daß er sich so brutal zeigte. Sie behandelte ihn als Feigling. Nie in ihrem Leben wollte sie mit diesem Menschen wieder zu tun haben. Er aber ließ sie reden, um sie zu betäuben, und verfolgte sie mit seinem bösen blöden Lachen. Sie nahm hinter einem Sessel Zuflucht und wußte plötzlich, daß sie sein Opfer war, ohne daß er noch die Hände nach ihr ausgestreckt hatte. Es war für Juliette eine der peinlichsten Situationen, die sie je durchlebt hatte.

So standen sie sich nun mit verzerrten Gesichtern beschämt und erregt, Auge in Auge, gegenüber, als plötzlich ein heftiger Lärm losbrach. Zuerst verstanden sie nicht. Eine Tür war aufgerissen worden, Schritte kamen näher, und eine Stimme rief:

»Retten Sie sich, schnell fort ... Man wird Sie gleich überraschen!« Es war Helene. Alle sahen einander verblüfft an. Das Erstaunen der beiden Überraschten war so groß, daß sie die Peinlichkeit der Situation vergaßen. Juliette zeigte keine Spur von Verlegenheit.

»Retten Sie sich,« wiederholte Helene hastig. »Ihr Gatte wird binnen zwei Minuten hier sein!«

»Mein Mann!« stammelte die junge Frau. »Mein Mann? Warum denn? Wozu denn?«

Juliettes Gedanken hatten sich gänzlich verwirrt. Helene wurde ungeduldig:

»Glauben Sie etwa, ich hätte Zeit und Lust, Ihnen das alles auseinanderzusetzen? Er wird kommen! Sie sind gewarnt. Gehen Sie rasch, gehen Sie alle beide!«

Jetzt wurde Juliette vollends kopflos und rannte ziellos im Zimmer umher. »Ach Gott, ach Gott! ... Haben Sie vielen Dank, wo ist mein Mantel? Und ausgerechnet in einem pechfinsteren Zimmer! Reichen Sie mir doch endlich meinen Mantel ... Bringen Sie eine Kerze her, damit ich meinen Mantel finden kann .. Entschuldigen Sie tausendmal, meine Teure, daß ich Ihnen jetzt nicht danken kann. Ich weiß nicht mehr, wie ich in den Ärmel schlüpfen soll ... Nein, ich weiß nicht mehr, ich kann nicht mehr...«

Helene mußte ihr in den Mantel helfen. In der Eile setzte sie den Hut verkehrt auf und knüpfte noch einmal die Bänder. Das Schlimmste war, daß sie eine ganze Minute damit verlor, ihren Schleier zu suchen, der unters Bett geraten war.

»Das soll mir eine Lehre sein! Das soll mir eine Lehre sein ... Ha! Jetzt wird hier endgültig Schluß gemacht, bei Gott und allen Heiligen!«

Malignon war sehr blaß, und sein Gesicht nicht gerade geistreich. Er trat von einem Fuß auf den andern und fühlte sich lächerlich gemacht. Sein einzig klarer Gedanke war, daß er offenbar wieder einmal Pech hatte. So stellte er bloß die komische Frage:

»Also Sie meinen, daß ich hier auch verschwinden sollte?«

Da niemand von ihm Notiz nahm, griff er nach seinem Spazierstock und mimte Kaltblütigkeit. Es war die höchste Zeit. Zum Glück gab es noch einen zweiten Ausgang, eine kleine kaum benutzte Dienstbotentreppe. Frau Deberles Wagen hielt noch vor dem Portal, und Malignon rief in einem fort:

»Beruhigen Sie sich, meine Damen, so beruhigen Sie sich doch! Es wird schon noch einmal gutgehen... Da, hier ist's ... hier ist's ...«

Er hatte die Tür geöffnet, und man sah eine Reihe von drei kleinen Zimmern, die leer und unsäglich schmutzig waren. Erstickende Feuchtigkeit schlug ihnen entgegen. Juliette mußte sich Zwang antun, den Fuß in diese jämmerlichen Räume zu setzen.

»Wie konnte ich bloß hierherkommen ... Wie abscheulich! ... Das werde ich mir nie verzeihen.«

»So beeilen Sie sich doch,« rief Helene, von der allgemeinen Verwirrung angesteckt, und schob Frau Deberle vor sich her.

Da warf sich die junge Frau der Freundin nervös weinend an den Hals. Sie hätte sich verteidigen, hätte erklären mögen, warum man sie bei diesem Herrn gefunden hatte. Dann hob sie in rascher Bewegung den Rocksaum, als müßte sie einen schmutzigen Bach durchwaten. Der vorangehende Malignon stieß mit der Stiefelspitze den Schutt zurück, als er die Dienstbotentreppe betrat. Die Türen hatten sich indessen geschlossen.

Helene war in der Mitte des kleinen Salons, stehengeblieben und lauschte. Um sie stand tiefes Schweigen. Nur die Buchenscheite knisterten im Kamin. Die Ohren brausten ihr, sie hörte nichts. Nach wenigen Minuten, die sie eine Ewigkeit dünkten, rasselte plötzlich ein Wagen. Es war die anfahrende Droschke Juliettes. Helene seufzte erleichtert auf. Der Gedanke, keine niedrige Handlung begangen zu haben, erfüllte ihr Gewissen mit Ruhe und unbestimmter Dankbarkeit. Nach der fürchterlichen Krise, die sie soeben durchlebt hatte, fühlte sie sich plötzlich schwach und nicht imstande, sich zu entfernen. Ihr einziger Wunsch war, daß jetzt Henri kommen möchte.

Es klopfte, und sie öffnete sogleich. Henri trat ein, noch immer mit jenem verhängnisvollen Billett ohne Unterschrift beschäftigt, das er soeben erhalten hatte. Als er Helenes ansichtig wurde, entfuhr ihm ein Laut der Überraschung.

»Wie! ... Um Gottes willen, Sie waren das also!«

In diesen Worten lag mehr noch als die Freude das Entsetzen. Er hatte nicht allzusehr auf dies mit so viel Kühnheit gewährte Stelldichein gebaut. Nun überwältigten ihn die Gefühle.

»Sie lieben mich! Sie lieben mich! ... Sie also sind's ... und ich ... oh, ich habe das alles falsch verstanden!«

Er öffnete weit die Arme und wollte sie umfassen. Helene wich leichenblaß zurück. Zweifellos erwartete sie ihn. Helene hatte sich gedacht, daß sie nun eine Weile zusammen plaudern würden und sie sich irgend etwas ausdenken könnte. Plötzlich wurde ihr die Situation klar. Henri glaubte also an ein Stelldichein, das sie niemals gewollt hatte ...

»Henri, ich bitte Sie flehentlich ... lassen Sie mich!« Er zog sie langsam an sich, gewillt, sie mit einem einzigen Kusse zu besiegen. Die durch Monate künstlich eingeschläferte Liebe brach jetzt, da er begann, Helene zu vergessen, nur um so gewaltiger durch. Das Blut war ihm in die Wangen gestiegen, und sie wehrte sich angesichts dieses flammenden Antlitzes, das sie kannte und erschreckte.

»Lassen Sie mich, ich habe Angst vor Ihnen. Ich schwöre, alles ist ein Irrtum.«

»Aber Sie haben mir doch geschrieben?« fragte der Doktor befremdet.

Was sollte sie sagen, was ihm antworten?

»Ja!« flüsterte sie endlich. Sie konnte doch Juliette, die sie soeben gerettet hatte, nicht bloßstellen. Es war ein Abgrund, in den sie sich gleiten fühlte, Henri prüfte die beiden Zimmer und wunderte sich über das Licht und die Möbel.

»Sind Sie hier zu Hause?« wagte er endlich zu fragen, und als sie schwieg, fügte er hinzu:

»Ihr Schreiben hat mich sehr beunruhigt. Helene! Du verbirgst mir etwas...«

Helene hörte nicht. Er hatte ja schließlich ein Recht, an das Stelldichein zu glauben. Warum anders würde sie hier gewartet haben? Sie fand keine Ausrede, ja war sich nicht einmal mehr sicher, ihm dieses Stelldichein nicht gewährt zu haben. Da überkam sie tiefe Ohnmacht, in die, sie langsam versank.

Im Hintergrunde schlummerte das Zimmer mit seinem breiten Bett. Die Nachtlampe war heruntergebrannt. Eine der Gardinen, die sich aus ihrer Manschette gelöst hatte, verdeckte halb die Tür. Im kleinen Salon hatten die hoch brennenden Lichter des Kronleuchters jenen warmen Brodem verbreitet, der nach Schluß einer Gesellschaft zu herrschen pflegt. Von draußen hörte man das Niederprasseln eines Regenschauers und ein dumpfes Rollen in dem großen Schweigen.


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