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Als er sich nach dem Essen erhob, sprach der Doktor zu seiner Frau von einer Niederkunft, zu der er wahrscheinlich noch in der Nacht gerufen würde. Um neun Uhr ging er fort und wanderte im nächtlichen Dunkel die leeren Kais entlang. Es wehte ein schwacher, feuchter Wind, und die hochgehende Seine rauschte. Als es elf Uhr schlug, stieg er wieder die, Hänge des Trocadero hinauf und schlenderte um das Haus, dessen viereckige Masse das Dunkel noch verstärkte. Die Fenster ihres Eßzimmers waren noch erleuchtet. Schatten glitten unruhig an den Fenstern, hin. Vielleicht war Herr Rambaud zu Tisch geblieben? Aber der blieb ja nie länger als bis zehn Uhr. Deberle wagte nicht hinaufzugehen. Was hätte er auch sagen sollen, wenn Rosalie öffnete? Gegen Mitternacht ließ er endlich alle Vorsicht beiseite und klingelte.
»Sie sind's, Herr Doktor! Kommen Sie herein,« sagte Rosalie. »Madame wird Sie gewiß erwarten. Ich werde Sie melden.«
Das Dienstmädchen schien keineswegs verwundert, den Doktor um diese Stunde hier zu sehen. Während er ins, Eßzimmer trat, klagte Rosalie:
»Das Fräulein ist sehr, sehr krank, Herr Doktor. Eine fürchterliche Nacht! Ich kann kaum noch meine Füße fühlen...«
Das Mädchen war gegangen, und der Doktor hatte mechanisch Platz genommen. Er vergaß, daß er Arzt war. Drunten an der Seine hatte er von diesem Zimmer geträumt, in das ihn Helene führen würde. Einen Finger würde sie auf die Lippen legen, um Jeanne nicht zu wecken, die im Kämmerchen nebenan schlief. Die Nachtlampe würde brennen, das Zimmer im tiefen Dunkel liegen, und ihre Küsse würden verschwiegen sein... Und jetzt saß er da, als wolle er einen Besuch machen, den Hut vor sich und wartete. Hinter der Tür bellte ein hartnäckiger Husten durch das tiefe Schweigen.
Rosalie kam zurück, ging hastig durchs Zimmer, eine Schüssel in der Hand, und sagte im Vorbeigehen:
»Madame sagt, Sie möchten nicht hereinkommen.«
Deberle blieb sitzen und konnte sich nicht entschließen, zu gehen. Hatte sie das Stelldichein auf den nächsten Tag verschoben? Dann bedachte er, daß dieser armen Jeanne vielleicht doch etwas fehlen könne. Man hatte ja mit Kindern nur Kummer und Unannehmlichkeiten ... Wieder öffnete sich die Tür. Doktor Bodin zeigte sich und bat vielmals um Entschuldigung. Einen Augenblick suchte er nach Höflichkeiten. Man habe ihn gerufen, und er würde sich jederzeit glücklich schätzen, sich mit einem so hervorragenden Kollegen zu beraten.
»Gewiß, gewiß, Herr Kollege,« murmelte Doktor Deberle mechanisch.
Der alte Arzt tat verlegen, als wolle er mit seiner Diagnose des Falles nicht heraus. Mit leiser Stimme erörterte er fachwissenschaftlich die Symptome und unterbrach sich schließlich mit einem Blinzeln. Es wäre ein Husten ohne Auswurf, dazu große Abgespanntheit und starkes Fieber. Vielleicht stände man hier vor einem typhoiden Fieber. Indessen sprach er sich nicht aus; bei der chloro-anämischen Neurose, auf die hin man die Kranke schon so lange behandele, lägen jedenfalls unvorhergesehene Komplikationen nahe.
»Was halten Sie davon?« fragte er nach jedem Satze.
Doktor Deberle antwortete ausweichend. Während der Kollege auf ihn einredete, überkam ihn ein Gefühl tiefer Beschämung.
»Ich habe zwei Schröpfköpfe angesetzt,« fuhr der alte Arzt fort. »Ich warte ab ... Aber Sie sollen sie sehen... Sie sollen mir dann Ihre Diagnose sagen.«
Damit zog er ihn ins Krankenzimmer. Henri trat bebend näher. Der Raum war von einer Lampe matt erhellt. Er dachte an ähnliche Nächte mit dem gleichen warmen Dufte, derselben Stickluft und den gleichen tiefen Schatten, in denen Möbel und Gardinen schlummerten. Niemand trat ihm mit ausgestreckten Händen entgegen wie ehedem. Herr Rambaud schien in seinem Sessel zu schlummern. Helene stand im weißen Hauskleide vor dem Bett. Sie wandte sich nicht um, und Deberle erschien diese blasse Gestalt von ragender Größe. Eine Minute blickte er prüfend auf Jeanne. Sie war so schwach, daß sie die Augen nur mit Anstrengung zu öffnen vermochte. In Schweiß gebadet, lag sie bleischwer mit fahlem, auf den Backenknochen mit hektischer Röte übergossenem Gesicht.
»Akute Schwindsucht,« entfuhr es Deberle laut. Er schien auch als Arzt nicht sonderlich überrascht, als hätte er diese Krise schon lang vorausgesehen.
Helene hatte verstanden und sah ihn an. Es überlief sie kalt, ihre Augen waren trocken und ihre Ruhe erschreckend.
»Meinen Sie?« sagte Doktor Bodin, den Kopf wiegend, mit der beifälligen Miene eines Mannes, der die eigene unausgesprochene Ansicht bestätigt findet. Der alte Arzt untersuchte die Kranke von neuem. Jeanne fügte sich willenlos, ohne zu wissen, weshalb man sie so quälte. Es wurden zwischen den Ärzten ein paar, hastige Worte gewechselt. Bodin sprach von amphorischer Respiration und kapillarer Bronchitis. Doktor Deberle erklärte, daß eine zufällige Ursache die Krise gebracht haben dürfte; wahrscheinlich eine Erkältung. Er selbst hätte schon des öfteren die Tendenz der Chloro-Anämie zu Brustkrankheiten beobachtet. Helene stand hinter ihnen und wartete.
»Untersuchen Sie die Kranke doch einmal selbst,« sagte Doktor Bodin, dem Kollegen Platz machend.
Deberle beugte sich nieder, um die Kranke zu befühlen. Sie hatte die Lider nicht aufgeschlagen und überließ sich ihm, vom Fieber verzehrt. Kaum aber, daß Henris Finger sie streiften, traf es Jeanne wie ein elektrischer Schlag. Sie preßte die mageren Ärmchen vor die Brust und stammelte:
»Mama! Mama!«
Dann schlug sie die Augen voll auf. Als sie den Mann erkannte, der vor ihr stand, malte sich auf ihrem Gesicht tödliches Erschrecken. Wieder schrie sie auf:
»Mama! Mama! Bitte ... bitte...«
Helene, die noch kein Wort gesprochen hatte, trat jetzt neben Henri. Ihr starres Antlitz glich dem gemeißelten Marmor, und mit erstickter Stimme brachte sie das einzige Wort heraus:
»Gehen Sie!«
Bodin versuchte Jeanne, die von einem Hustenkrampf in ihrem Bettchen hin und her geworfen wurde, zu beruhigen.
Er versicherte der Kranken, daß jeder gehen solle, sie solle ihre Ruhe haben...
»Gehen Sie doch,« sagte Helene mit ihrer leisen tiefen Stimme dem Liebhaber ins Ohr... »Du siehst doch, daß wir sie auf dem Gewissen haben...«
Da ging Henri hinaus, ohne ein Wort des Abschieds zu finden. Er wartete noch eine Weile im Eßzimmer, ohne zu wissen worauf. Als Doktor Bodin noch immer nicht herauskam, tastete er die Treppe hinunter, ohne Rosalie um Licht zu bitten.
Er dachte an den schnellen Verlauf einer akuten Phtisis, einen Fall, den er viel studiert hatte. Die Tuberkeln würden sich rapide vermehren und die Erstickungsanfälle sich häufen. Jeanne würde keine drei Wochen mehr zu leben haben...
Acht Tage verstrichen. Die Sonne ging über Paris auf und unter, ohne daß Helene ein klares Bewußtsein für den unerbittlichen Ablauf der Zeit hatte. Sie wußte jetzt, daß ihr Kind verloren war. Nun war es nur noch ein Warten ohne Hoffen und die Gewißheit, daß der Tod keine Gnade kennen würde.
Leise ging sie im Krankenzimmer auf und ab und pflegte die Kleine mit langsamen und doch fahrigen Bewegungen.
Oft, wenn sie vor Müdigkeit auf einen Stuhl gesunken war, sah sie das Kind stundenlang an. Jeanne magerte immer mehr ab, tagtäglich nahm ihre Schwäche zu. Schmerzhaftes Erbrechen marterte sie, und das Fieber wollte nicht mehr weichen. Wenn der Doktor kam, untersuchte er kurz und ordnete irgend etwas an, doch sein gebeugter Rücken zeugte von so viel Hoffnungslosigkeit, daß die Mutter nicht einmal wagte, ihn beim Abschied zur Tür zu begleiten.
Am Morgen nach der plötzlichen Erkrankung war der Priester herbeigeeilt. Er und sein Bruder kamen nun alle Abende und wechselten mit Helene einen stillschweigenden Händedruck. Zu fragen wagten sie nicht.
Die Brüder hatten sich erboten, abwechselnd die Nachtwache zu übernehmen, doch Helene pflegte sie um zehn Uhr zu verabschieden. Sie wollte zur Nachtzeit niemanden im Schlafzimmer dulden.
Eines Abends nahm der Priester, den etwas sehr zu beschäftigen schien, Helene beiseite.
»Ich habe mir etwas ausgedacht,« flüsterte er. »Unsere teure Kranke sollte hier ihre erste Kommunion empfangen...«
Helene schien nicht zu verstehen. Daß sich ihr der Priester trotz aller Toleranz als bloßer Vertreter himmlischer Interessen zeigte, überraschte, ja verletzte sie. So tat sie sorglos:
»Nein, nein. Ich will nicht, daß sie sich quälen soll ... Lassen Sie doch! Wenn es ein Paradies gibt, wird die Ärmste den Weg dorthin auch so finden ...«
An diesem Abend empfand Jeanne eine jener Täuschungen, die den Sterbenden ihren Zustand besser erscheinen lassen, als er ist. Sie hatte den Priester mit dem geschärften Ohr der Kranken sprechen hören.
»Du bist's, lieber Freund? Du sprichst von der Kommunion? Das wird doch nicht mehr lange dauern, nicht wahr?«
»Gewiß nicht, mein Liebling.« Da verlangte Jeanne, daß der Freund sich zum Plaudern zu ihr setzte. Die Mutter hatte sie mit dem Kopfkissen gestützt. Wie klein und schwächlich war sie. Wie lächelten noch die trockenen Lippen, während der Tod schon in ihre hellen Augen trat.
»Oh! Ich fühle mich sehr wohl... Ich würde aufstehn können, wenn ich wollte... nicht wahr? Ich werde ein weißes Kleid anhaben... mit einem Sträußchen... Und wird die Kirche auch so schön geschmückt sein wie im Marienmonat?«
»Noch viel, viel schöner, mein Liebling!«
»Wirklich? Und soviel Blumen werden da sein... Und schön wird man singen ... Bald, recht bald! Du versprichst es mir?«
Die Sterbende schwamm in Seligkeit. Sie hörte die Orgel, sah die wandernden Lichter, während die Blumen gleich Schmetterlingen sich in den großen Vasen bewegten. Ein heftiger Husten warf sie aufs Bett zurück. Sie lächelte noch immer und schien den Husten gar nicht zu fühlen.
»Morgen will ich aufstehen und meinen Katechismus ohne Fehler lernen ... Dann werden wir alle recht glücklich sein.«
Helene stand am Fußende des Bettes und schluchzte. Sie, die nicht weinen konnte, fühlte den Strom der Tränen aufsteigen, wenn sie Jeannes seliges Lachen hörte. Es hielt sie nicht mehr im Krankenzimmer, sie lief hinaus, um ihren Jammer zu verbergen. Der Priester war ihr gefolgt. Sogleich hatte sich Herr Rambaud erhoben, um das Kind zu beschäftigen.
»Hast du gehört? Mama hat eben geschrien. Hat sie sich wohl weh getan?«
»Deine Mama – aber sie hat ja gar nicht geschrien, sie hat sich nur gefreut, weil du so munter bist...«
Im Eßzimmer hatte Helene den Kopf auf den Tisch gestützt und erstickte ihr Weinen in den gefalteten Händen. Der Priester bat sie, sich zu fassen. Ihr tränenüberströmtes Gesicht hebend, klagte sie sich an, sie hätte ihr eigenes Kind getötet, und eine Beichte kam in abgerissenen Worten von ihren Lippen. Niemals wäre sie diesem Manne zu Willen gewesen, wenn Jeanne an ihrer Seite geweilt hätte. Warum hatte sie ihn in jenem unbekannten Zimmer treffen müssen? Der Himmel solle sie mitsamt ihrem Kind zu sich nehmen ... sie könne nicht mehr leben. Der Priester beruhigte sie und versprach ihr Absolution.
Es klingelte, und Stimmen wurden im Vorzimmer laut. Helene trocknete die Augen, als Rosalie meldete:
»Madame, Herr Doktor Deberle.«
»Ich kann ihn jetzt nicht empfangen...«
»Er bittet um Nachricht vom Fräulein...«
»Bestellen Sie ihm: Das Kind liegt im Sterben.«
Durch die halboffene Tür hatte Henri alles gehört. Ohne die Rückkehr des Mädchens abzuwarten, ging er wieder. Tag um Tag kam er jetzt, erhielt die gleiche Antwort und ging.
Die ständigen Besuche waren es, die Helene am meisten mitnahmen. Einige Damen, mit denen sie bei Deberles bekannt geworden war, glaubten, sie trösten zu müssen, Frau von Chermette, Frau Levasseur, Frau von Guiraud und andere stellten sich ein. Sie ließen sich nicht abweisen, sondern verhandelten laut mit Rosalie, daß man die Stimmen durch die dünnen Wände der Wohnung hören konnte. So empfing sie denn Helene wohl oder übel im Eßzimmer und gab ihnen kurze Auskunft, ohne zum Bleiben aufzufordern. Den ganzen Tag über trug sie ihr Morgengewand und vergaß sogar, die Wäsche zu wechseln. Ihr herrliches Haar hatte sie zu einem einfachen Knoten geschlungen und aufgesteckt. Die Augen fielen ihr vor Müdigkeit zu, und ihr bittrer Mund fand keine Worte mehr. Wenn freilich Juliette kam, mochte sie ihr nicht die Türe weisen und ließ sie einen Augenblick am Sterbebett Platz nehmen.
»Meine Teure... Sie überlassen sich zu sehr Ihrem Schmerz! Fassen Sie doch ein wenig Mut!«
Und da Juliette sie mit gutgemeintem Geplauder über die politischen Ereignisse zu zerstreuen suchte, mußte Helene Rede und Antwort stehen.
»Sie wissen doch, daß wir jetzt ganz bestimmt Krieg haben werden!... Es ist gar zu schrecklich. Zwei Vettern von mir müssen einrücken.«
Da schwatzte sie nun weiter von ihren Spaziergängen durch Paris. Sie fegte den Wirbeltanz ihrer langen Röcke in die stille Krankenstube. Und wenn sie sich auch Mühe gab, leise zu sein und Mitgefühl zu zeigen, – trotz alledem konnte sie eine gewisse Gleichgültigkeit nicht verbergen. Man sah ihr an, daß sie hier ihre blühende Gesundheit, doppelt freute. Helene fühlte sich von ihrer Gegenwart bedrückt, und Eifersucht nagte an ihrem Herzen.
»Madame!« flüsterte Jeanne eines Abends. »Warum kommt denn Lucien nicht herauf, um ein wenig zu spielen?«
Juliette hatte in peinlicher Verlegenheit nur ein Lächeln.
»Ist er etwa auch krank?«
»Nein, mein liebes Kind, er ist nicht krank, er ist – in der Schule.«
Und als sie mit Helene im Vorzimmer allein war, bemühte sie sich, die Notlüge zu entschuldigen.
»Oh, ich würde den Jungen ja gern mit heraufbringen, ich weiß ja, daß es nicht ansteckend ist... aber Kinder erschrecken so leicht, und Lucien kann sich nicht verstellen! Wenn er Ihren armen Engel leiden sieht, fängt er sogleich bitterlich an zu weinen ...«
»Ja doch, ja doch ... Sie haben ganz recht,« unterbrach Helene. Beim Anblick dieser so heiteren lebensfrohen Frau und im Gedanken an den vor Gesundheit strotzenden Jungen drückte es ihr schier das Herz ab.
Eine zweite Woche war verstrichen. Die Krankheit nahm unerbittlich ihren Verlauf, und jede Stunde nahm ein wenig vom Leben der kleinen Jeanne mit sich fort. Die Krankheit hatte es durchaus nicht eilig, dieses schwächliche, so bewunderungswürdige Wesen zu zerstören. Ein Krankheitsstadium nach dem andern folgte mit unheimlicher Gesetzmäßigkeit. Der blutige Auswurf war verschwunden, sogar der Husten ließ nach. Das Kind war so schwach, und das Atmen fiel ihr so schwer, daß man die Verwüstungen, die die Krankheit in ihrer kleinen Brust anrichtete, genau verfolgen konnte. Die Augen des Priesters und des Herrn Rambaud füllten sich immer wieder mit Tränen, wenn sie dieses Sterben mit ansehen müßten. Tage- und nächtelang klang das Husten hinter den Vorhängen, aber das gequälte Geschöpf, das jeder neue Anfall zu töten schien, kam trotz der anstrengenden Arbeit der Lungen nicht zum Sterben. Die Mutter war mit ihrer Kraft am Ende. Sie konnte dieses Röcheln nicht mehr mit anhören und ging ins Nebenzimmer, wo sie den Kopf gegen die Wand stützte.
Um Jeanne wurde es einsamer und einsamer. Sie erkannte niemand mehr, und ihr Gesicht hatte jenen abwesenden, irren Ausdruck, als ob sie schon nicht mehr auf dieser Erde weilte. Wenn jemand ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte und ihr seinen Namen nannte, starrte sie ihn ausdruckslos an und wandte sich müde und erschöpft zur Wand. Schatten hüllten sie ein, und mit dem ärgerlichen Schmollen ihrer bösen Eifersuchtstage schloß sie sich ab. Doch immer noch weckten sie wieder die krankhaften Launen. Eines Morgens fragte sie die Mutter:
»Ist heute nicht Sonntag?«
»Nein, mein Kind,« antwortete Helene. »Heute ist erst Freitag ... Warum willst du das wissen?«
Doch Jeanne schien die Frage schon wieder vergessen zu haben. Als Rosalie nach zwei Tagen im Zimmer war, sagte sie halblaut:
»Heute ist Sonntag ... Zephyrin ist da ... Zephyrin soll hereinkommen ...«
Das Mädchen zögerte, aber Helene nickte ihr gewährend zu.
»Zephyrin soll hereinkommen! Kommt alle beide her!«
Als Rosalie mit Zephyrin kam, richtete sich Jeanne mühsam auf. Der kleine Soldat, der ohne Kopfbedeckung war und nicht wußte, wo er seine breiten Hände lassen sollte, trat aufgeregt von einem Fuß auf den andern. Zephyrin liebte das kleine Fräulein herzlich. Er blieb auch trotz der Bedenken Rosalies, die ihm gesagt hatte, er müsse recht lustig tun, nur stumm und traurig, als er das Kind so elend und mitgenommen sah. Bei all seinem Draufgängertum hatte er im Grunde ein weiches Herz. Heute fand er keine der schön gedrechselten Redensarten, die ihm sonst so vergnüglich zu Gebote standen. Rosalie zwickte ihn ein wenig, um ihn zum Lachen zu bringen, doch Zephyrin brachte nur stotternd heraus:
»Ich bitte recht sehr um Verzeihung, das gnädige Fräulein und die ganze Gesellschaft ... wenn ich störe ...«
Jeanne stützte sich noch immer auf die abgemagerten Arme. Weit riß sie die großen hohlen Augen auf, als blende sie die Helligkeit inmitten des Schattens, in dem sie bereits weilte.
»Kommen Sie doch näher, lieber Freund,« redete Helene dem Soldaten zu. »Das Fräulein hat sich so sehr auf Ihr Kommen gefreut.«
Die Sonne schien durchs Fenster und zeichnete einen großen gelben Kringel, in welchem die Staubteilchen des Teppichs auf und nieder tanzten. Der März war gekommen, und draußen meldete sich der Frühling an. Zephyrin tat einen Schritt in den Sonnenstreifen. Sein kleines rundes, blatternnarbiges Gesicht zeigte den goldenen Widerschein reifen Getreides. Die geputzten Knöpfe seines Waffenrockes funkelten, und seine rote Hose leuchtete wie ein Feld voller Klatschmohn. Jeanne wandte sich ihm zu, doch ihre Augen wurden von neuem unsicher und wanderten von einem Winkel zum andern.
»Was willst du, mein Kind?« fragte Helene. »Wir sind ja alle da! Rosalie, kommen Sie doch näher... das Fräulein will Sie sehen.«
So trat auch Rosalie in die Sonne. Sie trug eine Haube, deren auf die Schulter zurückgeworfene Bänder gleich Schmetterlingsflügeln flatterten. Goldstaub flimmerte auf ihrem schwarzen strähnigen Haar und verschönte ihr gutmütiges Gesicht mit der platten Nase und den wulstigen Lippen. So standen der Soldat und die Köchin Arm in Arm im Sonnenlichte, und Jeanne schaute zu ihnen hin.
»Nun, mein Liebling,« begann Helene wieder. »Willst du sie denn nicht begrüßen ...«
Jeanne schaute sie an, und ihr Kopf zitterte leicht wie der einer sehr alten Frau. Und vor ihr standen sie wie Mann und Weib, die sich die Hände geben wollen, um nach Hause zu gehen. Die linde Luft des Frühlings wärmte beider Herzen, und im Bestreben, ihr geliebtes Fräulein aufzuheitern, fanden sie endlich ihr Lachen wieder, zärtlich und ein wenig verlegen. Gesundheit strahlte von ihren breiten runden Rücken, und wären sie allein gewesen, hätte Zephyrin seine Rosalie sicher derbe gepackt und hätte dafür eine kräftige Ohrfeige gekriegt.
»Nun, Liebling? Hast du den beiden denn gar nichts zu sagen?«
Jeanne starrte sie an und brachte kein Wort heraus. Plötzlich schluchzte sie laut auf, und Zephyrin und Rosalie mußten eilig das Zimmer verlassen.
»Ich bitte sehr um Verzeihung... Das gnädige Fräulein und die ganze Gesellschaft...« sagte der kleine Soldat verdutzt und ging.
Von jetzt an versank die Kranke in ein dumpfes Brüten, aus dem sie nichts mehr aufstören konnte. Sie hatte sich von allem losgesagt, selbst von ihrer Mutter. Wenn Helene sich über das Bett neigte, einen Blick ihres Kindes zu erhaschen, starrte Jeanne ausdruckslos vor sich hin, als wäre nur der Schatten der Vorhänge über ihre Augen geglitten. Sie schwieg und verharrte in der schwarzen Verzweiflung einer Irren, die das Ende nahen fühlt. Manchmal blieb sie mit halbgeschlossenen Lidern regungslos liegen, und der schärfste Beobachter hätte nicht erraten können, welche Gedanken sich hinter der schweißnassen Stirn verbargen. Für sie war nichts mehr vorhanden als ihre große Lieblingspuppe, die an ihrer Seite lag. Man hatte sie ihr eines Nachts gegeben, um sie von unerträglichen Schmerzen abzulenken, und nun verteidigte das Kind grimmig seinen Besitz. Die Puppe, mit dem Porzellankopf auf das Kopfkissen gelehnt, lag da wie eine Kranke, bis an die Schultern zugedeckt. Das Kind schien sie in der Phantasie zu pflegen, denn von Zeit zu Zeit streichelte es mit den brennend heißen Händen die fleischfarbenen Glieder, aus denen die Sägespäne schon herausgerieselt waren. Stundenlang wichen die Augen der Kranken nicht von den starren Glasaugen, die ewig zu lächeln schienen. Dann fühlte Jeanne wohl eine zärtliche Regung, drückte die Puppe an ihre Brust und legte kosend die Wange an die winzige Perücke. So flüchtete sie in die Liebe ihrer Puppe, und wann immer sie aus ihrem Dahindämmern aufwachte, vergewisserte sie sich, daß sie noch da sei. Sie plauderte mit ihr und antwortete, als hätte die Puppe ihr etwas ins Ohr geflüstert, und über ihr Gesicht glitt der Schatten eines armen Lächelns.
Die dritte Woche ging zu Ende. Der alte Doktor Bodin blieb eines Morgens lange, und Helene wußte, daß ihr Kind den Tag nicht überleben würde. Seit gestern lag sie in einer Betäubung, die ihr das Bewußtsein der eigenen Handlungen raubte. Man zählte die Stunden. Als die Sterbende über heftigen Durst klagte, hatte der Arzt einfach angeordnet, ihr einen schwach mit Opium versetzten Trank zu reichen, der ihren Todeskampf erleichtern sollte.. Dieser Verzicht auf jegliches Heilmittel nahm Helene die letzte Kraft. Solange auf dem Nachttische die Arzneiflaschen standen, hatte sie immer noch auf ein Wunder der Heilung gehofft. Jetzt war der letzte Glaube geschwunden, und sie fühlte nur noch den Trieb der Mutter, bei ihrem Kinde zu bleiben und es nicht zu verlassen. Der Doktor, der ihr den Anblick dieses Sterbens nehmen wollte, bat sie um allerlei kleine Verrichtungen. Aber stets kam Helene wieder herein, stand dann kerzengerade mit schlaffen Armen und wartete. Gegen ein Uhr kamen Abbé Jouve und Herr Rambaud. Der Arzt ging ihnen entgegen und sagte nur ein Wort. Ergriffen blieben die Brüder stehen, und ihre Hände zitterten. Helene hatte sich nicht umgewandt.
Der Tag war prächtig, einer jener sonnenlieblichen Tage in der ersten Hälfte des April. Jeanne rührte sich in ihrem Bettchen. Verzehrender Durst wölbte zuweilen die fieberheißen Lippen. Sie hatte, die Decke von ihren durchsichtigen Händen gestreift und bewegte sie schwach im leeren Raume. Die Krankheit hatte ihr Werk getan. Die Sterbende hustete nicht mehr, und ihre verlöschende Stimme glich einem Hauche. Noch einmal wandte sie den Kopf und suchte mit den Augen das Licht. Doktor Bodin öffnete weit das Fenster. Da wurde Jeanne ruhig und blickte, mit der Wange in das Kissen gelehnt, auf Paris, während ihr Atem langsam verröchelte.
Es hatte soeben vier Uhr geschlagen. Schon senkte der Abend seine blauen Schatten. Das war also das Ende, ein langsamer Todeskampf durch Ersticken. Das Opfer hatte nicht mehr die Kraft sich zu wehren. Herr Rambaud war schluchzend hinter einen Vorhang getreten. Der Priester sank zu Häupten der Sterbenden in die Knie, hatte die Hände gefaltet und murmelte die Sterbegebete.
»Jeanne, Jeanne,« flüsterte Helene, von einem Entsetzen gepackt, das ihr durch Mark und Bein ging.
Sie hatte den Arzt beiseite geschoben, warf sich zur Erde und vergrub ihren Kopf in den Kissen, um der Tochter ganz nahe zu sein. Jeanne schlug die Augen auf, ohne die Mutter zu erkennen. Ihre Blicke gingen aus dem Fenster auf das in Schlummer sinkende Paris. Sie drückte ihre Puppe, ihre letzte Liebe, an sich und seufzte leicht auf. Ihre Augen wurden glasig, und in ihrem Gesicht stand eine große Angst. Endlich schien sie Erleichterung gefunden zu haben und atmete nicht mehr. Der Mund stand offen.
»Es ist zu Ende,« sagte der Arzt und nahm ihre Hand.
Mit großen toten Augen blickte Jeanne auf Paris. Ihr Gesichtchen war schmal geworden, und ein grauer Schatten lag unter ihren Wimpern. Der Kopf der Puppe hing vornüber, auch sie schien tot zu sein.
»Es ist zu Ende,« sagte Doktor Bodin noch einmal und ließ die Hand der Toten sinken.
Helene preßte die Fäuste an die Schläfen, als wolle ihr der Schädel zerspringen. Irr blickte sie um sich. Dann erschütterte sie ein trockenes Schluchzen.
Am Fußende des Bettes waren ein Paar Kinderschuhe stehengeblieben. Jeanne würde nun diese Schuhe nie mehr anziehen, man könnte sie an die Armen verschenken. Da flossen ihr unaufhörlich die Tränen. Helene blieb auf den Knien und preßte ihr Gesicht auf die herabgeglittene Hand der Toten.
Herr Rambaud weinte. Der Priester betete mit lauter Stimme, während Rosalie in der halboffenen Tür ihr Taschentuch zerbiß, um nicht laut aufzuweinen.
In diesem Augenblick klingelte der Doktor Deberle. Es war ihm nicht anders möglich gewesen, sich nach der Kranken zu erkundigen.
»Wie steht es?« fragte er leise.
»Ach, Herr Doktor,« schluchzte Rosalie. »Sie ist tot.«
»Ach Gott, das arme Kind, welch ein Unglück!«
Er fand nichts, als diesen öden Gemeinplatz, der doch so vieles in sich barg. Die Tür hatte sich wieder geschlossen. Er ging hinunter.