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Helene faßte am andern Morgen neue Entschlüsse. Sie erwachte mit dem Gedanken, nun selbst ihr Glück hüten zu müssen, ständig in Furcht, Henri durch irgendeine Unklugheit zu verlieren. Zuerst also mußte sie Juliette noch an diesem Morgen einen Besuch machen. So würde sie verdrießlichen Auseinandersetzungen aus dem Wege gehen, allerlei peinlichen Fragen, die alles in Gefahr bringen konnten.
Als sie gegen neun Uhr bei Frau Deberle eintrat, fand Helene sie bleich und mit geröteten Augen wie eine dramatische Heldin. Sobald sie Helenes ansichtig wurde, warf sich ihr Juliette in die Arme und nannte sie ihren guten Engel. Sie liebe ja diesen Malignon ganz und gar nicht... Oh, darauf lege sie einen Eid ab!... Du lieber Himmel! Welch dummes Abenteuer! ... Wie hübsch, jetzt wieder völlig frei zu sein! ... Juliette lachte behaglich, dann schluchzte sie wieder und bat die Freundin flehentlich, sie nicht zu verachten. Auf dem Grunde ihrer fieberhaften Erregung lauerte die Furcht, daß ihr Mann vielleicht alles wisse. Er war gestern stark erregt nach Hause gekommen. Sie überschüttete Helene mit Fragen. Und Helene erzählte ihr mit einer unverfrorenen Leichtigkeit, die sie selbst verwunderte, eine erfundene Geschichte. Sie beteuerte Frau Deberle, daß ihr Gatte nicht die leiseste Ahnung habe, und Juliette glaubte ihr freudestrahlend zwischen Tränen. Sie warf sich ihr an den Hals. Und Helene fühlte sich durch solche stürmische Liebkosung nicht unangenehm berührt und machte sich keine geheimen Vorwürfe mehr.
Einige Tage vergingen. Helenes ganzes Leben fand sich verändert. Sie lebte nicht mehr bei sich zu Hause, all ihre Gedanken waren bei Henri. Nichts gab es für sie als das Doktorhaus, wo ihr Herz schlug. Sobald sie einen Vorwand fand, ging sie hinüber und blieb dort, zufrieden, die gleiche Luft zu atmen.
In diesem ersten Rausch des Besitzes stimmte sie sogar der Anblick Juliettes zärtlich. Trotzdem hatte Henri noch keine Minute wieder mit ihr allein sein können.
Helene schien die Stunde eines zweiten Stelldicheins absichtlich hinauszuzögern, und doch fühlte ihr Herz keinen anderen Wunsch. Sie blieb gegen alles andere und gegen alle andern gleichgültig Und verlebte ihre Tage in der Hoffnung auf eine neue Gelegenheit. Ihr Glück wurde einzig durch die Unruhe gestört, daß Jeanne neben ihr hustete. Jeanne hatte jetzt immer häufiger einen trockenen Husten, der sich gegen Abend zu steigern pflegte. Sie hatte auch leichtes Fieber, und Nachtschweiß schwächte sie während des Schlummers. Wenn die Mutter fragte, versicherte sie, nicht krank zu sein und keine Schmerzen zu haben. Jedenfalls war es nur ein tüchtiger Schnupfen. Helene beruhigte sich mit dieser Erklärung und hatte dennoch inmitten des Traumzustandes die ungewisse Empfindung eines Schmerzes, der sich wie eine Last an einer Stelle, die sie nicht hätte nennen können, empfindlich bemerkbar machte. In solchen Freuden ohne Ursache, gänzlich von Zärtlichkeit erfüllt, überkam sie dann wieder eine Herzensangst, als ob ein Unglück hinter ihr lauere. Wer zu glücklich ist, bangt immer. Jeanne hatte wieder gehustet, aber sie trank ihren Tee, und so würde es wohl nicht viel auf sich haben. Helene wandte sich ihr zu und lächelte.
An einem Nachmittage sprach Doktor Bodin zufällig vor, wie er es als Freund des Hauses gewohnt war, Er blieb diesmal ziemlich lange und beobachtete Jeanne mit seinen kleinen blauen Äugen. Er tat scherzhaft und fragte das Kind aus. An diesem Tage äußerte er sich nicht.
Nach zwei Tagen kam er wieder und brachte diesmal, ohne Jeanne zu untersuchen, mit der Fröhlichkeit des alten Mannes, der viel gesehen hat, das Gespräch aufs Reisen. Vor Jahren hatte er als Wundarzt beim Militär gedient und kannte Italien wie seine Westentasche.
Es wäre ein herrliches Land, im Frühjahr geradezu unvergleichlich schön. Warum führe Frau Grandjean mit ihrem Töchterchen nicht einmal nach Italien?
Nach allerlei Umwegen riet er zu einem Aufenthalt in diesem »Lande der Sonne«, wie er Italien nannte. Helene sah ihn prüfend an. Da verwahrte er sich: Weder sie noch ihr Töchterchen wären krank, bloß würde Luftveränderung guttun. Helene erbleichte. Tödliche Kälte faßte sie bei dem Gedanken, Paris verlassen zu müssen. Ach Gott! So weit fortzugehen! Henri mit einem Schlage zu verlieren und ihrer Liebe entsagen zu müssen! Helene beugte sich zu Jeanne nieder, um ihre Verwirrung zu verbergen. Wollte denn Jeanne in dieses schöne Land? Das Kind hatte die kleinen Finger krampfhaft geschlossen. Und ob sie wollte! Sie möchte gern in die Sonne gehen, allein, ganz allein mit ihm und der Mutter. Ihr armes mageres Gesicht, das fieberhaft glühte, strahlte in der Hoffnung neuen Lebens. Helene hörte nicht mehr hin. Ärgerlich und mißtrauisch, war sie jetzt überzeugt, daß alle miteinander im Einverständnis waren, sie von Henri zu trennen: der Abbé, Doktor Bodin und selbst Jeanne. Als der Arzt Frau Grandjean so unentschlossen und düster sah, glaubte der alte Herr, daß er es mit seinem Rat wohl doch nicht richtig angefangen habe. Er beeilte sich zu versichern, daß nichts zu einer solchen Reise dränge, dennoch fest entschlossen, auf seine Anregung zurückzukommen.
Gerade an diesem Tage mußte Frau Deberle das Haus hüten. Kaum war der Doktor gegangen, als Helene sich eilig zum Ausgehen fertig machte. Jeanne wollte nicht mitgehen. Sie fühle sich beim Kaminfeuer ganz wohl, würde auch recht artig sein und das Fenster nicht auf. machen. Seit einiger Zeit schon quälte sie die Mutter, nicht mehr, sie mitzunehmen, und folgte ihr bloß mit einem langen Blick. Wenn sie dann allein war, hockte sie sich auf ihr Stühlchen und blieb stundenlang sitzen, ohne sich; zu rühren.
»Mama! Ist es weit nach Italien?« fragte sie, als, Helene ihr zum Abschied einen Kuß geben wollte.
»Freilich, sehr weit, mein Liebling.«
Jeanne hielt die Mutter umschlungen und flüsterte:
»Rosalie könnte ja hier das Haus verwahren. Wir werden sie dort nicht brauchen .. .Siehst du, einen nicht zu großen Koffer... das wäre hübsch, liebes Mütterchen! Wir beide ganz allein! Ich würde so dick wiederkommen ... Sieh, so dick!«
Jeanne pustete die Backen auf und machte die Arme rund. Helene vertröstete sie, daß man sehen würde, und gab Rosalie strikte Weisung, sorgsam über der Kleinen zu wachen. Dann hockte sich das Kind in die Kaminecke, starrte in das Flackern des Feuers und versank in träumendes Sinnen. Von Zeit zu Zeit streckte sie mechanisch die Handflächen vor, um sie zu wärmen. Der Widerschein der Flamme strengte ihre Augen an. Sie war so versunken, daß sie Herrn Rambaud nicht kommen hörte. Herr Rambaud machte jetzt sehr oft seinen Besuch und gab vor, wegen einer kranken alten Frau zu kommen, die Doktor Deberle noch nicht im Spital habe unterbringen können. Traf er Jeanne allein, setzte er sich in die Kaminecke und plauderte mit dem Kinde wie mit einer Erwachsenen. Die Sache sei außerordentlich langwierig, sagte er. Die arme Frau warte nun schon eine ganze Woche auf ihre Einlieferung. Er wolle sogleich hinuntergehen, würde den Doktor Deberle aufsuchen, der ihm heute vielleicht Bescheid geben könnte... Dennoch machte er keine Anstalten zu gehen.
»Hat dich deine Mutter nicht mitgenommen?«
Jeanne zuckte die Schultern. Sie war unsagbar müde.
»Ich werde alt,« seufzte sie. »Ich kann nicht mehr spielen... Mama amüsiert sich draußen, und ich amüsiere mich hier. So sind wir eben nicht mehr beisammen.«
Da schauten Herr Rambaud und das Kind mit ernsten Gesichtern einander an, als hätten sie gemeinsam einen großen Kummer zu tragen. Sie sprachen nicht darüber, aber sie wußten, weshalb sie so traurig waren und so gern in der Kaminecke einander gegenübersaßen, wenn die Wohnung leer war.
Helene hatte Frau Deberle und deren Schwester Pauline im japanischen Pavillon angetroffen, wo sie des öfteren die Nachmittage verbrachten. Es war dort sehr warm, eine Heizröhre strömte erstickende Wärme aus. Die breiten Spiegelscheiben waren geschlossen, und man sah den engen Garten im Winterschmuck. Die Schwestern stritten lebhaft.
»Laß mit doch in Ruhe,« rief Juliette. »Unser wahres Interesse ist es, die Türkei zu schützen.«
»Ich habe mit einem Russen gesprochen,« antwortete Pauline erregt. »Man liebt uns in Petersburg. Dort haben wir unsere wahren Verbündeten zu suchen...«
»Ach, halt doch den Mund; redest daher wie eine dumme Gans. Hättest du die Frage so studiert wie ich...«
Die Orientfrage beschäftigte damals ganz Paris.
Frau Deberle unterbrach sich, Helene zu begrüßen:
»Guten Tag, meine Liebe! Nett, daß Sie gekommen sind... Wissen Sie schon? ... Heute morgen hat man von einem Ultimatum gesprochen. In der Kammer ist es sehr laut hergegangen.«
»Nein, ich weiß von nichts,« antwortete Helene verblüfft. »Ich gehe so wenig aus.«
Inzwischen war Henri eingetreten. In der Hand trug er einen Pack Zeitungen. Ihre Augen hatten einander gesucht, und sie hatten sich eine Weile prüfend angeschaut; dann umschlossen sie einander mit einem langen verschwiegenen Händedruck.
»Nun was gibt's Neues in den Zeitungen?« fragte Juliette.
»In den Zeitungen, meine Liebe? Aber da steht ja niemals etwas drin.«
Es war nun zu wiederholten Malen von jemandem die Rede, auf den man wartete und der nicht kam. Pauline meinte, daß es gleich drei Uhr sei. Oh, er würde schon noch kommen, behauptete Frau Deberle, er hätte es fest versprochen. Aber auch sie nannte keinen Namen. Helene hörte zu, ohne zu verstehen. Alles, was nicht Henri betraf, interessierte sie nicht. Doch unterhielt sie sich mit Juliette, während Henris Blick der sie noch immer nicht losließ, sie wohlig ermattete. Jetzt trat er hinter sie, als wolle er eine Jalousie aufziehen. Sie fühlte, daß er ein Stelldichein forderte, an dem Schauer, als er ihr Haar streifte. Sie willigte ein, besaß nicht mehr die Kraft zu warten... Helene empfand nur das Bedürfnis, dem Geliebten ihr übervolles Herz zu öffnen und ihm alles Glück zu bekennen, das sie zu ersticken drohte. Und während Juliette und Pauline über die Kleider stritten, die sie in der kommenden Saison nötig hätten, gab sie ihre Einwilligung...
»Komm heute nacht... ich werde auf dich warten ...«
Als Helene endlich hinaufging, lief ihr schon Rosalie aufgeregt entgegen:
»Madame! schnell, schnell, Madame! Das Fräulein ist nicht wohl ... Es spuckt Blut!«