Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierter Teil.

Erstes Kapitel.

Nach der Schur und dem Verkauf der Hammel hatte der Schäfer Soulas seine Schafe im Mai aus der Borderie ins Freie geführt. Es war eine fast vierhundertköpfige Herde, welche der Alte regierte mit Hilfe des kleinen Schweinehirten Firmin und der Hunde Empereur und Massacre, zwei furchtbaren Kötern. Bis August weideten die Schafe auf den Brachfeldern und in den Kleewiesen; vor drei Wochen hatte Soulas sie unmittelbar nach der Ernte gegen Ende September in den Stoppelfeldern eingehegt.

Um diese Zeit des Jahres sah die Beauce am traurigsten aus. Nicht ein grünes Fleckchen hob sich aus den kahlen Feldern ab; die Hitze des Sommers hatte den dürren Boden aufgerissen, durch den nicht ein Bächlein rieselte; aller Pflanzenwuchs war erstorben, man sah nur schmutzigwelke Gräser und die trostlose Öde der harten Stoppel bis zum Horizont. Es schien, als habe eine riesige Feuersbrunst das ganze Land verwüstet, von der ein am Boden flimmerndes gelbliches Leuchten Zeugnis gab, eine häßliche, fahle Färbung wie beim Gewitter. Alles hatte diesen kläglichen, gelben Ton, die ausgetrocknete Erde, die Stümpfe der abgemähten Ährenhalme, die vom Spurgeleise der Wagenräder durchfurchten Landwege. Beim geringsten Windstoße flogen große Staubwolken empor und überschütteten die Böschungen und Hecken mit grauem Mehl. Der reine Himmel aber, die helle Sonne hoben dies trübselige Bild noch deutlicher hervor.

Gerade an jenem Tage fegte der Wind in jähen, heißen Stößen über die Flur und jagte wirbelnde Staubballen vor sich her. Wenn die Sonne wieder durchbrach, schien sie blutrot und stach brennend die Haut. Seit dem Vormittag wartete Soulas, daß man ihm für sich und seine Tiere Wasser aus der Farm bringe; denn das nördlich von Rognes gelegene Stoppelfeld, auf dem er sich befand, war weit entfernt von den nächsten Pfützen. Auf dem Weideplatze, von den an Pferchhölzern befestigten Hürden umschlossen, lagen die Schafe und atmeten kurz und schwer. Die beiden Hunde hatten sich außerhalb der Umhegung niedergestreckt und keuchten ebenfalls mit hängender Zunge. Der Schäfer saß, um sich gegen Wind und Sonne zu schützen, mit dem Rücken an die zweirädrige Hütte gelehnt, die er bei jeder Verlegung des Weideplatzes mit sich führte; denn sie diente ihm als Schlafstätte und Speisekammer. Um Mittag brannte die Sonne scheitelrecht. Soulas erhob sich und spähte übers Feld nach Firmin aus, den er zur Borderie fragen geschickt, warum das Wasser nicht komme.

Endlich tauchte der kleine Hirt in der Ferne auf.

»Man kommt gleich,« rief er hinübereilend; »sie haben heute früh keine Pferde gehabt.«

»Und du Schafskopf hast nicht 'mal einen Liter Wasser mitgebracht?«

»Nein, daran hab' ich nicht gedacht. Ich selbst habe getrunken.«

Soulas schlug mit geschlossener Faust nach dem Burschen; doch dieser sprang zur Seite und wich dem Schlage aus. Der Alte fluchte ingrimmig und entschloß sich endlich trotz des Durstes, der ihm die Kehle dörrte, ohne Trunk zu essen. Auf sein Geheiß holte Firmin, mißtrauisch nach dem brummenden Alten schielend, aus dem Wagen ein acht Tage altes Brot, alte Nüsse und trockenen Käse; die zwei begannen zu essen. Die Hunde setzten sich vor ihnen auf die Hinterfüße; von Zeit zu Zeit fiel eine Rinde für sie ab, die so hart war, daß sie wie ein Knochen zwischen ihren Zähnen knackte. Der siebzigjährige Alte aß, trotzdem er keine Zähne mehr hatte, so schnell wie sein junger Gefährte. Er war immer noch gerade, zäh und nervig wie eine Dornengerte; nur das unter dem wüsten, entfärbten Haar hervorblickende erdfahle Gesicht war tief gefurcht. Der Anblick dieses Kopfes hatte viel Verwandtes mit jenen Bäumen, die über einem gestützten Rumpf dicht wucherndes Zweigwerk treiben.

Der Bursche entging der ihm zugedachten Züchtigung nicht; im Augenblick, wo er ohne Arg den Rest der Speisen an ihren Platz legte, ereilte sie ihn, der meinte, die Sache sei vergessen; er erhielt eine so wuchtige Ohrfeige, daß er in den Karren purzelte.

»Da! verwünschter Strohkopf, trink das auch noch!«

Bis zwei Uhr kam immer noch nichts. Die Hitze hatte zugenommen und war in der plötzlich eingetretenen Windstille schier unerträglich geworden. Zeitweise hob ein kleines Lüftchen die zu mehligem Staub vertrocknete Erde und wirbelte einen sandigen Rauch empor, der den quälenden Durst zu einer entsetzlichen Folter steigerte.

Endlich ließ Soulas, der mit stoischer Langmut stumm gewartet, ein zufriedenes Brummen hören.

»Meiner Seel', es ist Zeit!«

Fast nur faustgroß erscheinend, zeigten sich zwei Wagen am Horizont. In dem ersteren, den Hans führte, hatte der Schäfer deutlich die Wassertonne erkannt; auf dem zweiten fuhr Tron Säcke Getreide zu einer Mühle, deren hölzernes Gestell man in einer Entfernung von fünfhundert Metern gewahrte. Der Hürde gegenüber hielt Tron an, ließ seinen Wagen auf der Chaussee und begleitete unter dem Vorwande, ihm zu helfen, Hans bis zu dem Schäfer, um eine Viertelstunde zu verplaudern.

»Will man uns denn umkommen lassen?« rief ihnen der Alte entgegen.

Auch die Schafe hatten das Wasserfaß gewittert; sie sprangen auf und drängten mit kläglichem Blöken ungestüm an die Umhegung.

»Geduld,« versetzte Hans, »hier ist genug für euch alle.«

Sofort wurde ein Trog aufgestellt, und mittelst einer hölzernen Rinne leitete man das Wasser hinein. Die Leitung war schlecht gefügt; das Wasser tropfte daraus hervor; die Hunde fingen es im Fallen mit der Zunge auf. Der Schäfer und der kleine Hirt aber tranken gierig aus der Rinne, ohne sich Zeit zu lassen, ihre Flaschen zu füllen. Jetzt zog die ganze Herde an dem Trog vorüber; man vernahm nichts wie das Rieseln dieses lebenden Wassers und das glucksende Schlucken von Menschen und Tieren.

»Weil Ihr gerade da seid,« rief Soulas, nachdem er sich erquickt, »könnt Ihr mir ein wenig zur Hand gehen; ich will den Pferch weiter vorrücken.«

Hans und Tron halfen ihm. In den großen Stoppelfeldern pflegte der Weideplatz selten länger als zwei oder drei Tage an demselben Orte belassen zu werden; sobald die Schafe die wilden Kräuter abgegrast hatten, verlegte man den Weideplatz; so wurde der ganze Acker gleichzeitig nach und nach von den Schafen gedüngt. Während der Alte mit Hilfe seiner Hunde die Schafe zusammenhielt, rissen der Junge und die beiden Knechte die Pferchhölzer aus dem Boden, trugen die Hürden fünfzig Meter weiter und bauten sie dort von neuem zu einem großen Viereck auf, in das sich die Schafe, ehe es vollkommen geschlossen war, von selbst zurückzogen.

Soulas schob trotz seines hohen Alters die Hütte mit eigener Hand bis an die Hürden. Dann fragte er, auf Hans deutend:

»Was fehlt denn dem da? Er macht ja ein gottsjämmerliches Leichenbittergesicht.«

Korporal, dem der Schmerz das Herz abfraß, seit er meinte, Franziska sei für ihn verloren, nickte traurig.

»Aha!« fuhr der Greis fort, »da steckt ein Frauenzimmer dahinter! ... Diese verflixten Weibsbilder! Man sollte ihnen allesamt den Hals umdrehen!«

Mit seinem massigen Wuchs und seinen kindlich dreinschauenden runden Augen versetzte Tron lächelnd:

»So red't man, wenn man ausgemustert ist.«

»Ausgemustert?« erwiderte der Schäfer hitzig. »Weißt du das so genau? ... Übrigens, mein Junge, ich kenne eine, mit der du wohl tätest, nicht so gut befreundet zu sein; das könnt' ein schlechtes Ende nehmen.«

Diese Anspielung auf sein Verhältnis zu Jacqueline ließ den Koloß bis zu den Ohren erröten. Eines Morgens hatte Soulas die beiden hinter den Hafersäcken in der Scheune überrascht und in seinem Hasse gegen die einstige Geschirrwäscherin, die heute so hart mit ihrem früheren Kameraden war, endlich den Entschluß gefaßt, seinem Herrn die Augen zu öffnen. Doch beim ersten Worte, das er hervorgebracht, schaute ihn Hourdequin so wild an, daß der alte Schäfer das Geheimnis, das er schon auf den Lippen gehabt, verschwieg mit dem Vorsatz, nicht zu sprechen, wenn ihn nicht Cognette vielleicht durch seinen Abschied zum äußersten treibe.

Beide lebten seither auf dem Kriegsfuße: er, jeden Tag gewärtig, wie ein altes, gebrechliches Tier hinausgeworfen zu werden; sie, den Zeitpunkt abwartend, wo sie sich mächtig genug fühlen werde, um von dem Besitzer die Entlassung des alten Schäfers zu verlangen, der seinem Herrn ans Herz gewachsen war. In der ganzen Beauce gab's nicht einen Hirten, der wie Soulas verstand, seine Herde zu weiden, der sie ein Feld abgrasen ließ von einem Ende zum andern, ohne daß nur ein Hälmchen verloren ging.

Den Alten überkam jenes Bedürfnis zu sprechen, das bisweilen das Herz einsam lebender Menschen ausschüttet; er fuhr fort:

»Wenn meine Frau, das Luder, nicht bevor sie hin geworden, mir meine paar Groschen, wie ich sie verdiente, versoffen hätt', ich hätt' mich getummelt, aus der Farm auszurücken, um nicht all das Schandgetriebe mit anzusehen ... Diese Cognette, die kann was leisten! Die arbeitet mehr mit den Hinterbacken als mit den Händen. Gott, o Gott, ist das ein Frauenzimmer! Die Stellung, die sich die Person mit ihrer Haut errungen hat! Wenn man bedenkt, daß Herr Hourdequin sie im Bett seiner Seligen schlafen läßt, daß sie ihn dahin gebracht hat, mit ihr allein zu essen, als wenn sie seine wirkliche Frau wäre! Wir müssen uns gefaßt machen, daß sie uns alle eines Tages zum Teufel jagt und ihn selbst auch zu guter Letzt natürlich! ... Solch ein Fetzen, der es mit dem letzten Schweinkerl gehalten hat!«

Trons Fäuste ballten sich krampfhafter bei jedem Wort, das der Alte vorbrachte; der Bursch konnte in plötzliche Wutanfälle ausbrechen, die seine Riesenkraft entsetzlich machten.

»Jetzt ist's genug!« schrie er. »Wenn du noch ein Mann wärst, hätt' ich dich schon zu Boden geschlagen! ... Sie ist in ihrem kleinen Finger mehr wert als du, so groß und lang du bist!«

Soulas zuckte die Achseln bei diesem Drohwort. Er, der niemals lächelte, stieß plötzlich ein heiseres, ersticktes Lachen hervor gleich dem Knirschen eines unbenutzten Flaschenzuges.

»Großer Gott! ... Viechskerl! Du bist so einfältig, mein Junge, wie sie durchtrieben ist ... Wenn ich dir sage, daß sie's mit aller Welt gehalten hat! Ich geh herum, nicht wahr, ich brauch nur hinzuschauen und seh, ob ich will oder nicht, wie's die Mädel mit den Männern treiben! Aber was ich von der gesehen hab', wie oft ich die überrascht hab', nein, da hört die Gemütlichkeit auf! ... Sie war kaum vierzehn Jahre alt, da fing sie im Pferdestall mit dem alten Mathias an, einem Buckligen, der jetzt tot ist. Hernach nahm sie eines Tages, als sie am Backtrog stand, ein junger Bursch her, der kleine Saujunge Wilhelm, der jetzt Soldat ist. Darauf kamen alle Knechte an die Reihe, alle, die jemals hier gedient haben; auf dem Stroh, auf den Säcken, auf der Erde, wie sich's traf ... Übrigens wir brauchen nicht so weit zu suchen. Wenn du was Genaues wissen willst, da ist einer, den ich eines Morgens auf dem Heuboden mit ihr gesehen hab'.«

Er lachte von neuem und sah seitwärts zu Hans hinüber, der, seit von Jacqueline gesprochen wurde, verlegen zu Boden blickte.

»Soll heut einer versuchen, ihr zu nahe zu kommen,« knurrte Tron wütend wie ein Hund, dem man seinen Knochen nehmen will, ich zerbrech' ihm die Rippen, daß er's Aufstehen vergißt!«

Verwundert über diesen Anfall von Eifersucht schaute Soulas ihn einen Augenblick an, dann verfiel der alte Mann wieder in seine alltäglich stumpfe Gleichgültigkeit.

»Das ist deine Sache, mein Sohn«, schloß er kurz.

Tron ging zu dem Wagen zurück, den er zur Mühle fahren wollte. Hans blieb noch einige Augenblicke und half dem Schäfer die Pferchhölzer mit dem Schläger in den Boden treiben. Soulas aber, dem die Niedergeschlagenheit des Burschen auffiel, begann von neuem:

»Hoffentlich ist's nicht die Cognette, die dir das Herz so schwer macht?«

Er antwortete mit energischem Kopfschütteln.

»Also eine andere? ... Aber welche andere nur? Ich hab' dich nie mit einem Mädel gesehen.«

Dem Burschen fiel ein, daß die Alten oft einen guten Rat wissen; und da auch ihm das Bedürfnis überkam, sich auszusprechen, so erzählte er, was zwischen ihm und Franziska vorgegangen, und wie er nach der Schlägerei mit Buteau verzweifle, sie jemals zu besitzen. Hatte er doch einen Augenblick sogar gefürchtet, sein Gegner werde ihn verklagen wegen des zerbrochenen Armes, der ihm, obwohl schon halb geheilt, immer noch jede Arbeit unmöglich mache. Doch Buteau war vermutlich der Meinung gewesen, es sei nie gut, die Behörde ihre Nase in Privatangelegenheiten stecken zu lassen.

»Also hast du die Franziska gehabt?«

»Einmal, ja!«

Der Greis überlegte mit ernster Miene; endlich gab er seine Meinung kund:

»Mußt zum Papa Fouan gehen und ihm's erzählen. Vielleicht gibt er sie dir.«

Hans ward verdutzt; dieser einfache Schritt war ihm nicht eingefallen. Der Weidepferch war nunmehr hergestellt, der Bursche machte sich wieder auf den Weg und sagte, er wolle am selben Abend den alten Fouan aufsuchen. Während er sich entfernte, nahm Soulas seinen Wachtposten hinter der leeren Schäferhütte ein; aufrecht stand er da; seine hagere Gestalt hob sich wie ein grauer, dünner Streifen von der flachen Ebene ab. Der kleine Schweinehirt streckte sich im Schatten des Wägelchens zwischen den beiden Hunden hin. Der Wind hatte vollkommen aufgehört, das in der Luft schwebende Gewitter war ostwärts gezogen; aber es blieb immer noch so heiß; die Sonne glühte am reinblauen Himmel.

Abends machte sich Hans eine Stunde früher von seiner Arbeit frei und ging vor dem Nachtmahl den Papa Fouan bei Delhommes aufsuchen. Wie er das Tal hinabschritt, erblickte er das Ehepaar in seinem Weinberge beschäftigt, die Trauben von den wuchernden Blättern zu befreien; es war letzthin viel Regen gefallen, die Trauben reiften schlecht, es galt die paar sonnigen Tage auszunützen. Der Alte war nicht bei seinen Kindern; Hans beeilte sich, unter vier Augen mit ihm zu reden, was ihm bei weitem angenehmer war. Delhommes Anwesen befand sich am andern Ende von Rognes hinter der Brücke; es war ein kleines Anwesen, zu dem man in letzter Zeit noch einige Scheuern und Schuppen hinzugebaut hatte; drei unregelmäßige Gebäudekomplexe umschlossen den ziemlich geräumigen Hof, der jeden Morgen gefegt werden mußte, auf dem die Misthaufen mit der Meßschnur abgesteckt schienen.

»Grüß Gott, Papa Fouan!« rief Hans vom Wege aus mit etwas unsicherer Stimme.

Der Alte saß auf dem Hofe, einen Stock zwischen den Knien, das Haupt gebeugt und so vertieft, daß er nichts vernahm. Erst bei einem zweiten Zuruf hob er den Blick und erkannte den Besuch.

»Ihr seid's, Korporal! Kommt Ihr hier herüber?«

Er begrüßte ihn so natürlich und ohne den mindesten Groll, daß der Bursche eintrat. Doch er wagte nicht sofort, ihm von seiner Angelegenheit zu sprechen; der Mut verließ ihn bei dem Gedanken, daß er dem Alten so ohne weiteres sein Abenteuer mit Franziska enthüllen solle. Sie plauderten vom schönen Wetter, und wie gut es den Weinstöcken tue. Noch acht Tage Sonnenschein, und der Wein ist reif! Hans wollte dem Alten etwas Angenehmes sagen.

»Sie sind wie ein Bürger,« rief er; »im ganzen Lande ist nicht ein Mann so glücklich wie Sie.«

»Ja, gewiß.«

»Wenn man Kinder wie die Ihren hat! Denn man kann weit gehen, um bessere zu finden!«

»Ja, ja ... Allein Ihr wißt, jeder hat seinen Charakter.«

Fouans Stirn umwölkte sich. Seit er bei Delhomme lebte, zahlte ihm Buteau nicht mehr die Rente; es passe ihm nicht, hatte der Sohn erklärt, daß sein Geld der Schwester zugute komme. Jesus hatte niemals einen Sou hergegeben; und Delhomme stellte seine Zahlungen von dem Tage an, wo seine Schwiegermutter bei ihm Kost und Wohnung nahm, ein. Doch es war nicht der Mangel an Taschengeld, der den alten Mann bekümmerte; denn er bezog von Baillehache die hundertfünfzig Franken Zinsen von dem Erlös seines Hauses, was jeden Monat zwölf Franken fünfzig Centimes ausmachte. Damit konnte er seine kleinen Nebenausgaben bestreiten, die zwei Sous Tabak jeden Morgen, seinen Schnaps bei Lengaigne und seine Tasse Kaffee bei Macqueron; denn Fanny holte Branntwein und Kaffee nur in Krankheitsfällen aus ihrem Schrank hervor. Trotzdem Fouan also die Mittel hatte, sich außerhalb des Hauses zu vergnügen, und obwohl seine Tochter es ihm sonst an nichts fehlen ließ, fühlte er sich unglücklich und härmte sich ohne Unterlaß.

»Ja, ja,« fing Hans wieder an, ohne zu ahnen, daß er einen wunden Punkt berühre, »bei den anderen und bei sich daheim ist zweierlei.«

»Das ist es, sicher! das ist wahr!« entgegnete der Greis mit grollendem Weh in seiner Stimme.

Er erhob sich, als überkomme ihn plötzlich das Bedürfnis sich aufzulehnen:

»Wir wollen eins trinken ... Ich werd' hoffentlich das Recht haben, einem Freunde ein Glas Wein anzutragen.«

Doch auf der Schwelle überkam ihn schon wieder eine Furcht.

»Putzt Eure Füße, Korporal; denn, wißt Ihr, sie machen allerhand Geschichten mit der Reinlichkeit.«

Linkisch trat Hans ein, entschlossen, vor der Rückkunft der Hausleute sein Herz auszuschütten. Er war überrascht von der Ordnung und Sauberkeit in der Küche: das Geschirr glänzte, nicht ein Staubkorn lag auf den Schränken, die Fliesen des Fußbodens waren abgenützt vom vielen Scheuern. Der Raum sah rein und kalt aus wie unbewohnt. Bei einem mit Asche bedeckten Kohlenfeuer stand ein Topf Kohlsuppe vom vorigen Tage.

»Auf Eure Gesundheit«, rief der Alte, der aus dem Speiseschranke zwei Gläser und eine angebrochene Flasche genommen.

Seine Hand zitterte ein wenig, während er trank. Das Bewußtsein, sich etwas herausgenommen zu haben, regte ihn auf. Wie ein Mann, der alles aufs Spiel gesetzt hat, stellte er das leere Glas auf den Tisch und sagte plötzlich:

»Denkt Euch, seit vorgestern spricht meine Tochter nicht mit mir, weil ich gespien hab'! ... Ha? Speien? Spuckt nicht jeder Mensch? Ich spuck' aus, zum Kuckuck, wenn ich gerade mag ... Nein, nein, lieber bis ans Ende der Welt gehen, als sich so nörgeln lassen!«

Indem er sich noch ein Glas einschenkte, machte er seinem Herzen Luft. Glücklich, jemanden gefunden zu haben, dem er sein Leid anvertrauen konnte, brachte er alles vor, was ihn bedrückte, ohne dem andern Zeit zu lassen, den Mund zu öffnen. Es waren nur Kleinigkeiten, waren die grollenden Klagen eines Greises, dessen Fehler man nicht verzieh, den man mit so unnachsichtiger Strenge an eine ihm ungewohnte Lebensart binden wollte. Doch die schlechteste und roheste Behandlung hätte ihn nicht empfindlicher berühren können. Eine mit strenger Stimme gemachte Bewegung tat ihm weh wie ein Schlag ins Gesicht. Dazu kam, daß seine Tochter ungemein empfindlich war; sie besaß jenes ehrbaren Bäuerinnen eigene, leicht verletzte Selbstbewußtsein, das sich durch jedes falsch verstandene Wort beleidigt fühlt; so wurde der Verkehr zwischen ihr und ihrem Vater von Tag zu Tag schwieriger. Sie, die bei Gelegenheit der Teilung gewiß von allen Kindern am meisten Herz an den Tag gelegt, verbitterte sich, verfiel in eine förmliche Verfolgung des alten Mannes; war immerfort hinter ihm, wischte, fegte, wo er ging und stand; stellte ihn zur Rede für alles, was er tat, oder was er nicht tat. Mit einem Wort: es lag nichts Ernstes vor, nichts als eine moralische Folter, die den armen Alten aber so unglücklich machte, daß er sich oft in irgendeinen Winkel verkroch und weinte.

»Man muß nachgeben«, antwortete Hans auf jede neue Klage. »Mit etwas Geduld verständigt man sich schließlich.«

Doch Fouan ereiferte sich.

»Nein, nein!« versetzte er und zündete ein Licht an. »Nein, ich habe es satt! ... Wenn ich geahnt hätte, was mich hier erwartet! Ich hätte besser getan zu krepieren am Tage, wo ich mein Haus verkaufte ... Aber sie täuschen sich, wenn sie meinen, mich festzuhalten. Lieber will ich die Steine auf den Landstraßen klopfen.«

Ihm versagte die Sprache vor Aufregung; er ließ sich nieder, und der Bursche benützte die Gelegenheit, um endlich seine Sache vorzutragen.

»Hören Sie, Papa Fouan, ich wollte mit Ihnen reden von wegen der Geschichte neulich. Es hat mir sehr leid getan; aber ich mußte mich doch verteidigen, da der andere mich angriff ... Mit der Franziska bin ich einig. Wie die Sachen heute aber stehen, können nur Sie ein gutes Ende herbeiführen ... Sie müßten zu Buteau gehen, ihm alles auseinandersetzen.«

Der Alte ward ernst. Er bewegte das Kinn und suchte verlegen nach einer Antwort. Die Dazwischenkunft der Delhomme enthob ihn dieser Mühe. Sie schienen nicht überrascht, Hans hier zu finden, und ließen ihm den gewohnten freundlichen Empfang zuteil werden. Doch mit dem ersten Blick hatte Fanny die Flasche und die zwei Gläser auf dem Tische bemerkt. Sie nahm sie fort und holte ein Wischtuch; dann wandte sie sich zu dem Greise, an den sie seit achtundvierzig Stunden kein Wort gerichtet, und sagte schroff:

»Vater, du weißt, ich will das nicht.«

Fouan stand auf. Er bebte vor Zorn, daß man ihn vor dem Fremden zurechtwies.

»Was gibt's schon wieder? Hab' ich, zum Henker auch, nicht einmal das Recht, einem Freunde ein Glas anzutragen? ... Schließ deinen Wein ein, ich werde Wasser trinken.«

Jetzt war es Fanny, die ihrerseits aufs äußerste aufgebracht war, daß man sie des Geizes anklage. Erbleichend gab sie zurück:

»Du kannst den ganzen Keller austrinken und davon hin werden, wenn es dich freut ... Ich will nicht, daß du den Tisch beschmutzest mit deinen Gläsern, die übergehen und Ringe machen wie in einem Wirtshaus.«

Die Tränen traten dem alten Manne in die Augen. Er sagte bitter:

»Etwas weniger Reinlichkeit und etwas mehr Herz, das wäre besser, meine Tochter.«

Während sie geräuschvoll den Tisch säuberte, stellte er sich ans Fenster und schaute in die jetzt ganz schwarze Nacht hinaus, bis ins Mark hinein erschüttert von der großen Verzweiflung, die ihm das Herz brach.

Delhomme hatte vermieden, an dem Wortwechsel teilzunehmen, doch sein Stillschweigen schien das feste und verständige Auftreten seines Weibes zu billigen. Er wollte Hans nicht aufbrechen lassen, ohne vorerst mit ihm die Flasche zu leeren, zu welchem Zweck Fanny zwei Gläser auf Unterschalen herbeibrachte. Während die beiden Männer tranken, entschuldigte sie sich mit halblauter, bedächtiger Rede.

»Man hat keine Ahnung von der Schererei, die einem die alten Leute machen! Das hat allerhand Schrullen und Angewohnheiten und würde lieber umkommen, als sie sich abgewöhnen ... Der da ist nicht bösartig, dazu fehlt ihm schon die Kraft. Aber trotzdem möcht' ich lieber vier Kühe hüten als einen Alten.«

Hans und Delhomme nickten zustimmend. Sie aber ward durch das lärmende Eintreten ihres Sohnes Ernst unterbrochen. Er war wie ein Bursch aus der Stadt angetan mit Jackett und Beinkleidern von seltsamem Schnitt, beides fertig bei Lambourdieu gekauft, und einem kleinen Hut aus hartem Filz. Der Nacken über dem langen Halse war ausrasiert, der Junge hatte blaue Augen, ein ausdrucksloses, hübsches Gesicht und gezierte Manieren wie ein junges Mädchen. Ihm war von jeher das Land zuwider gewesen; am nächsten Tage sollte er nach Chartres ziehen, um bei einem Restaurateur, der ein öffentliches Tanzlokal hielt, in Dienst zu treten. Lange Zeit hatten die Eltern sich dieser Berufswahl widersetzt; endlich gab die Mutter nach, geschmeichelt durch den Gedanken, daß ihr Sohn mehr als ein Bauer werden wolle; sie überredete auch ihren Mann, seine Zustimmung zu geben. Heute feierte der junge Mensch seit dem frühen Morgen in Gesellschaft der Kameraden seinen Abschied aus dem Dorfe.

Einen Moment schien er verblüfft, hier einen Fremden zu finden; dann sagte er mit plötzlichem Entschluß:

»Weißt, Mutter, ich will ihnen bei Macqueron ein Essen zahlen. Ich brauche Kleingeld.«

Fanny schaute ihn starr an und öffnete die Lippen, um das Ansuchen abzulehnen. Doch sie war so eitel, daß die Gegenwart von Hans sie bestimmte, dem Wunsche ihres Sohnes zu willfahren. Natürlich richtete es sie nicht zugrunde, wenn der Junge zwanzig Franken ausgab. Steif und stumm verließ sie das Zimmer.

»Du bist in Gesellschaft?« fragte der Vater.

Er hatte jemand vor der Tür herumstreichen gesehen. Er ging hin, erkannte den Kameraden von Ernst und rief:

»So, so! es ist Delphin ... Komm doch herein, mein Freund.«

Delphin trat herzu, grüßte und entschuldigte sich. Er war in Leinenwams und blauer Bluse, ohne Halstuch; er trug schwere Arbeitsstiefel, seine Haut war bereits gebräunt von der Sonne.

»Gehst du«, fragte Delhomme, der den Knaben gut leiden konnte, »nächstens auch nach Chartres?«

»Bei Gott, nein! ich ging in der Stadt zugrunde.«

Der Vater warf einen Seitenblick auf seinen Sohn, während Delphin, ihm zu Hilfe kommend, fortfuhr:

»Für Ernst ist es gut, dorthin zu gehen, er trägt sich städtisch und spielt das Piston.«

Delhomme lächelte; das Pistonspiel seines Sohnes war sein Stolz. Fanny kam jetzt mit einer Menge Vierzigsousstücken zurück. Ernst öffnete seine Hand; bedächtig zählte sie ihm zehn Stücke hinein, die alle weiß bestaubt waren, denn sie hatten unter einem Sack Mehl gelegen. Die Frau hielt ihr Geld in den Schränken für nicht sicher genug geborgen und pflegte es deshalb in kleinen Summen in allen möglichen Winkeln des Hauses zu verstecken, unterm Getreide, in den Kohlen, im Sande, so daß, wenn sie etwas bezahlte, ihr Geld bald die eine, bald die andere Farbe hatte, weiß, schwarz oder gelb.

»Es wird reichen«, rief Ernst an Stelle eines Dankes. »Kommst du, Delphin?«

Die beiden Knaben trollten sich davon, man hörte ihr Lachen in der Ferne verhallen.

Hans sah, wie Fouan, der während der ganzen Szene sich nicht umgeblickt, das Fenster verließ und ins Freie hinaustrat. Er leerte sein Glas, nahm Abschied und folgte dem Alten, den er mitten im Hof in dem nächtlichen Dunkel stehend fand.

»Nun, Papa Fouan, wollten Sie zu Buteau gehen, damit ich die Franziska bekomme? ... Sie sind der Herr, Sie haben nur nötig zu reden.«

Mit gebrochener Stimme entgegnete der Greis:

»Ich kann nicht ... Ich kann nicht ...«

Dann gestand er seinen Entschluß: Es sei aus mit den Delhommes, am nächsten Tage werde er zu Buteau ziehen, der ihm Obdach angeboten. Wenn sein Sohn ihn schlage, werde er weniger leiden, als wenn ihn die Tochter mit Nadelstichen zu Tode quäle.

Verzweifelt über dies neue Hindernis, konnte Hans nicht länger an sich halten.

»Ich muß Ihnen sagen, Papa Fouan, die Franziska und ich –wir haben miteinander geschlafen.«

Der alte Bauer ließ ein einfaches »So?« hören. Er überlegte eine Weile, dann fragte er:

»Ist sie guter Hoffnung?«

»Das ist immerhin möglich«, gab Hans zurück, obwohl er vom Gegenteil überzeugt war.

»Dann muß man abwarten ... Ist sie guter Hoffnung, wird man weiter sehen.«

In diesem Augenblick zeigte sich Fanny unter der Tür und rief ihrem Vater zu, er solle zum Abendessen kommen. Er wandte sich um und schrie:

»Friß allein, ich leg' mich schlafen.«

In seinem heftigen Zorn ging er mit leerem Magen in seine Kammer.

Hans begab sich langsam auf den Heimweg. Sein Herz war so beklommen, daß er des Weges nicht achtete; plötzlich befand er sich wieder auf der Höhe. Der Himmel war dunkelblau und mit Sternen besät; die Nacht war drückend schwül. In der von keinem Hauche bewegten Luft fühlte man die Nähe eines vorüberziehenden Gewitters, ein jähes Leuchten durchblitzte den Himmel im Osten. Zur Linken aber gewahrte Hans, wie er den Blick hob, Hunderte von phosphorhell blinkenden Pünktchen, die wie Lämpchen glühten und sich beim Hall seiner Schritte ihm zuwandten. Es waren die Schafe, längs deren Weidepferch er dahinwandelte.

Die müde Stimme des alten Soulas erhob sich.

»Nun, Hans?«

Die am Boden ausgestreckten Hunde hatten sich nicht gerührt, sie witterten einen Mann vom Gute. Der Saujunge, den die Hitze aus der fahrenden Hütte vertrieben, schlief in einer Furche im Grase. Nur der Schäfer allein stand aufrecht inmitten der flachen, nachtverschleierten Flur.

»Nun, Hans, ist's abgemacht?«

Ohne nur seinen Schritt zu hemmen, gab der Bursche zurück:

»Er hat gesagt, wenn sie guter Hoffnung sei, werde man weiter sehen.«

Schon hatte er den Pferch passiert, als die Antwort des Alten ernst durch das nächtliche Schweigen zu ihm herüberhallte:

»Das ist richtig. Man muß warten.«

Hans setzte seinen Weg fort. Die Beauce lag wie erschlagen in bleischwerem Schlummer. Man ahnte die stumme Öde der versengten Stoppel, der ausgedörrten Erde an einem brandigen Geruch, an den Stimmchen der Grillen, deren wisperndes Zirpen leise knisterte wie Kohlenglut unter der Asche. Nur die Schattenkegel der Schober tauchten aus dem düstern, nackten Gelände auf. Von Zeit zu Zeit zog ein Blitz am Horizont eine hellviolette, rasch verlöschende Linie, die hart am Boden dahinglitt.


 << zurück weiter >>