Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Abends, als Pierre aus dem Borgo vor dem Vatikan heraustrat, that die Uhr inmitten der tiefen Stille des verdunkelten und bereits schlummernden Viertels einen lauten, tönenden Schlag: halb neun. Er war zu früh gekommen. Er beschloß zwanzig Minuten zu warten, um erst um neun Uhr, genau zur Stunde der Audienz, oben an der Thür der Gemächer zu erscheinen.
In der unendlichen Erregung und Trauer, die ihm das Herz zusammenpreßten, war diese Frist ihm eine Erleichterung. Als er anlangte, fühlte er sich von dem tragischen Nachmittag, den er in jenem Totenzimmer verbracht hatte, wo Dario und Benedetta jetzt, Arm in Alm, ihren ewigen Schlaf schliefen, an allen Gliedern zerschlagen, furchtbar matt. Er hatte nicht essen können; das grausame, schmerzliche Bild der zwei Liebenden verfolgte ihn und erfüllte ihn so, daß unwillkürliche Seufzer seiner Brust entfuhren, während unablässig Thränen in seine Augen traten. Ach, wie gern hätte er sich verstecken, nach Herzenslust weinen, das ungeheure Bedürfnis nach Thränen befriedigen mögen, an dem er erstickte! Es war eine Rührung, die sein ganzes Denken in Anspruch nahm; der klägliche Tod der beiden Liebenden fügte sich in seinem Geiste der aus seinem Buche hervorgehenden Klage an und erfüllte ihn mit einem noch größern Mitleid, einer wahrhaft angstvollen Nächstenliebe für alle Elenden und alle Leidenden dieser Welt. Diese Heraufbeschwörung so vieler körperlicher und moralischer Wunden in diesem Paris, in diesem Rom, wo er so viele ungerechte und ungeheuerliche Leiden gesehen, machte ihn derart rasend, daß er bei jedem Schritt fürchtete, in Thränen ausbrechen und die Arme zu dem schwarzen Himmel erheben zu müssen.
Da ging er, um sich ein wenig zu beruhigen, langsam auf dem Petersplatz spazieren. Zu dieser Stunde der Nacht herrschte hier eine ungeheure Finsternis und Einsamkeit. Als er anlangte, glaubte er sich in einem Meer von Schatten zu verlieren. Aber nach und nach gewöhnten sich seine Augen daran. Der riesige Raum ward nur von den vier Kandelabern mit sieben Brennern an den vier Ecken des Obelisken und von den wenigen Gasbrennern rechts und links, längs den zu der Basilika führenden Gebäuden erhellt. Unter dem Doppelportikus der Kolonnade brannten ebenfalls Laternen mit gelblichem Licht inmitten des gewaltigen Waldes der vier Säulenreihen, deren Schafte sie wunderlich abhoben. Auf dem Platze aber war nichts sichtbar als der farblose, wie gespenstisch aufsteigende Obelisk. Auch die Fassade von St. Peter tauchte, kaum erkenntlich, wie ein Traum, verschlossen, ausgestorben, in außerordentlicher, schlummernder, unbeweglicher und schweigender Größe auf. Den Dom sah er nicht; eine bläuliche, riesige Rundung auf dem Himmel verriet ihn kaum. Zuerst hatte er, irgendwo in der Tiefe dieses unbestimmten Dunkels das Rauschen der Fontänen gehört, ohne sie zu sehen; zuletzt unterschied er das dünne bewegliche Phantom der fortwährend aufschießenden Wasserstrahlen, die wie ein Regen wieder herabfielen. Und über dem ungeheuren Platze streckte sich der ungeheure, mondlose Himmel hin; er war wie aus dunkelblauem Sammet und die Sterne schienen die Dicke und den Glanz von Karfunkeln zu besitzen. Der Wagen mit seinen goldenen Rädern, seiner goldenen Deichsel lag umgekehrt über dem Dach des Vatikans, und da unten über Rom, auf der Seite der Via Giulia der prächtige, mit den drei goldenen Sternen seines Gürtels gezierte Orion.
Pierre hob die Augen zum Vatikan empor. Aber dort war nur eine Anhäufung von wirren Fassaden zu sehen und nur im Stockwerk der päpstlichen Gemächer leuchtete der Schein zweier Lampen. Bloß in dem innen erleuchteten Damasiushof funkelten die rückwärtige und die linke Fassade in dem weißen Widerschein ihrer großen Treibhausfenster. Und noch immer kein Geräusch, keine Bewegung, nicht einmal ein Verschieben der Schatten. Zwei Personen durchschritten den ungeheuren Platz; eine dritte kam, die ebenfalls verschwand und dann blieb nichts zurück, als ein sehr ferner Tonfall rhythmischer Schritte. Es war die reine Einöde; weder Spaziergänger noch Vorübergehende, nicht einmal der Schatten eines Herumstreichers waren unter der Kolonnade, in dem Säulenwalde zu sehen, der ebenso leer war wie die hundertjährigen Urwälder der ersten Zeiten. Und was für eine feierliche Einöde, was für eine stolz-trostlose Stille! Noch nie hatte er den Eindruck eines so unermeßlichen, trüben Schlummers voll von dem majestätischen Adel des Todes empfunden.
Zehn Minuten vor neun faßte Pierre einen Entschluß und wandte sich der Bronzethür zu. Ein einziger ihrer Thürflügel, am Ende des rechten Portikus stand noch offen; dort waren die Schatten noch dichter und hüllten sie in Nacht. Er erinnerte sich an die genauen Anweisungen, die Monsignore Nani ihm gegeben: an jeder Thür sollte er nach Herrn Squadra fragen, kein Wort hinzufügen – und jede Thür würde sich öffnen. Er würde sich bloß führen lassen brauchen. Niemand auf der Welt wußte jetzt, daß er hier sei, denn Benedetta war nicht mehr. Als er die Bronzethür durchschritten hatte und sich vor dem unbeweglichen Schweizer Gardisten befand, der mit verschlafener Miene den Eingang bewachte, sprach er einfach das verabredete Wort aus.
»Herr Squadra.«
Und da der Schweizer Gardist sich nicht rührte, ihm den Weg nicht vertrat, schritt er weiter, sofort nach rechts, zu der großen Halle der Scala Pia, der steinernen Treppe mit dem ungeheuren, viereckigen Treppenhause, die zum S. Damasiushof führt. Auch hier keine Seele zu sehen – nichts als das erstickte Echo der Schritte, nichts als der ruhige Schein der Gasbrenner, deren matte Kugeln das Licht milde bleichten.
Oben, während er den Hof durchschritt, erinnerte er sich, daß er ihn bereits mit seinem Portikus, seinem Springbrunnen, seinem weißen Pflaster in der brennenden Sonne von den Loggien des Raphael aus gesehen habe. Aber jetzt bemerkte er nicht einmal mehr die fünf bis sechs wartenden Wagen, die steif dastehenden Pferde, die starr auf dem Bock sitzenden Kutscher. Es war eine Einöde, ein unermeßliches, kahles und farbloses Viereck, wie im Grabesschlummer unter dem düstern Schein der Laternen liegend, deren Zurückstrahlungen die hohen Fenster der drei Fassaden erhellten. Etwas beunruhigt, von dem leichten Schauer der Leere und der Stille ergriffen, schritt er eiliger weiter und wandte sich nach rechts, zu dem von einer Marquise beschützten Perron, dessen wenige Stufen zur Treppe der Gemächer führten.
Dort stand ein prächtiger Gendarm in großer Uniform.
»Herr Squadra.«
Mit einer einfachen Geberde, wortlos, deutete der Gendarm auf die Treppe.
Pierre stieg hinauf. Es war eine sehr breite Treppe mit niedrigen Stufen, einem weißen Marmorgeländer und gelbangestrichenen Wänden. Das Gas in den matten Glaskugeln schien aus weiser Sparsamkeit bereits herabgeschraubt worden zu sein. Es konnte nichts Traurig-feierlicheres geben als diese majestätische, so bleiche und so kalte Kahlheit bei diesem Nachtlampenschein. Auf jedem Treppenabsatz stand noch ein Schweizer Gardist mit seiner Hellebarde Wache und in dem schweren Schlaf, der den Palast überkam, hörte man nichts mehr als die regelmäßigen Schritte dieser Männer, die fortwährend auf- und abgingen, zweifellos um nicht der Betäubung der Umgebung zu unterliegen.
Der Aufstieg über die Treppe inmitten dieses um sich greifenden Dunkels, dieser großen, schauernden Stille, schien kein Ende zu nehmen. Jedes Stockwerk teilte sich in Stücke: noch eines, und noch eines, und noch eines. Als er endlich auf dem Treppenabsatz des zweiten Stockwerks anlangte, war es ihm, als steige er seit hundert Jahren diese Treppe hinan. Hier, vor der Glasthür der Sala Clementina, von der bloß der rechte Thürflügel offen stand, hielt der letzte Schweizer Gardist Wache.
»Herr Squadra.«
Der Gardist wich beiseite und ließ den jungen Priester eintreten.
Dieser ungeheure Clementinensaal schien zu dieser Stunde, in dem dämmerigen Schein der Lampen grenzenlos zu sein. Die reiche Ausschmückung, die Skulpturen, Malereien, Vergoldungen, verschwammen und waren nichts mehr als eine unbestimmte, fahle Vision, gespenstische Mauern, auf denen der Widerschein der Kleinodien und Gesteine ruhte. Im übrigen war kein einziges Möbelstück darin zu sehen; die endlosen Fliesen, eine erweiterte Einöde, verloren sich im Hintergrunde des Halbdunkels.
Endlich glaubte Pierre am andern Ende des Saales, neben einer Thür, auf einer Bank Gestalten zu erblicken. Es waren drei Gardisten, die dort verschlafen saßen.
»Herr Squadra.«
Einer der Gardisten erhob sich langsam und verschwand. Pierre begriff, daß er warten sollte. Er wagte sich nicht zu rühren; das Geräusch seiner Schritte auf den Fliesen beunruhigte ihn. Er begnügte sich, umherzuschauen und die Mengen heraufzubeschwören, die diesen Saal bevölkert hatten. Noch heute war er ein Saal, der allen zugänglich war, den alle durchschreiten mußten, ein einfacher Wachensaal, stets vom Lärm zahlloser Schritte, eines unaufhörlichen Kommens und Gehens erfüllt. Aber wie drückend lastete der Tod auf ihm, sobald die Nacht ihn überkommen hatte – wie trostlos, wie müde war er von dem Vorüberziehen so vieler Dinge und so vieler Wesen!
Endlich kehrte der Gardist zurück und hinter ihm erschien auf der Schwelle des Nebenzimmers ein ganz schwarz gekleideter Mann von etwa vierzig Jahren, der etwas von einem Bedienten eines großen Hauses und einem Kirchendiener einer Kathedrale hatte. Er besaß ein schönes, tadelloses, rasirtes Gesicht, mit einer etwas starken Nase zwischen einem Paar großer, starrer und heller Augen.
»Herr Squadra,« sagte Pierre abermals.
Der Mann verbeugte sich, wie um zu sagen, daß er der Herr Squadra sei, dann lud er den Priester mit einer abermaligen Verneigung ein, ihm zu folgen, und beide betraten, einer hinter dem andern, ohne jede Eile die endlose Flucht der Säle.
Pierre, der das Zeremoniell kannte und mehrmals mit Narcisse darüber gesprochen hatte, erkannte beim Durchgehen die verschiedenen Säle, erinnerte sich an die Verwendung eines jeden und füllte sie mit den Personen, die das Recht hatten, sich darin aufzuhalten. Jeder Würdenträger kann, je nach seinem Range, nur eine gewisse Thür durchschreiten, so daß die Personen, die vom Papst empfangen werden sollten, bis zum heiligen Vater aus einer Hand in die andere gehen – aus der der Bedienten in die der Nobelgardisten, dann in die der Ehrenkämmerer, zuletzt in die der Geheimkämmerer. Aber von acht Uhr ab leeren sich die Säle und nur wenige Lampen brennen auf den Pfeilertischen; es ist nichts mehr als eine Flucht einsamer, halbdunkler Zimmer, die in dem erhabenen Nichts, in das der gesamte Palast versinkt, eingeschlossen sind.
Zuerst kam der Saal der Bedienten, der Bussolanti, der einfachen Thürsteher, die, in roten, mit dem päpstlichen Wappen gestickten Sammet gekleidet, die Besucher bis zur Thür des Ehrenvorzimmers zu geleiten haben. Zu dieser späten Stunde war nur noch ein einziger da; er saß auf einer Bank, in einem so dunkeln Winkel, daß sein roter Mantel schwarz auf den Knieen liegen. Leer war endlich auch das Ehrenvorzimmer, der Thronsaal, in dem der Papst 300 – 400 Personen auf einmal in öffentlicher Audienz empfängt. Den Fenstern gegenüber, auf einer niedrigen Estrade steht der Thron, ein vergoldeter, mit rotem Sammt bedeckter Lehnstuhl unter einem Baldachin vom selben Sammt. Daneben liegt das Kissen für den Fußkuß. Dann befinden sich rechts und links, einander gegenüber, zwei Pfeilertische; auf dem einen steht eine Stehuhr, auf dem andern ein Kruzifix zwischen hohen, Kerzen tragenden Armleuchtern mit vergoldeten Holzfüßen. Die rote Damasttapete mit den großen Louis XIV. Palmen steigt bis zu dem prunkvollen Fries empor, der die Decke mit allegorischen Sinnbildern und Figuren umrahmt, und das prächtige, kalte Marmorpflaster wird erst vor dem Thron von einem Smyrnateppich bedeckt. Aber bei Privataudienzen, wenn der Papst sich im kleinen Thronsaal oder gar in seinem Zimmer aufhielt, war der Thronsaal nichts mehr als ein Ehrenvorzimmer, wo die ganze Prälatenschaft, die hohen kirchlichen Würdenträger warteten, gemischt mit den Botschaftern, den großen Staatspersonen jeden Ranges. Den Dienst versehen hier die zwei Ehrenkämmerer; sie übernehmen die zur hohen Ehre einer Audienz zugelassenen Personen aus den Händen der Bussolanti, um sie selbst zur Thür des Nebenzimmers, des geheimen Vorsaals zu geleiten, wo sie sie den Geheimkämmerern übergeben. Das war der luxuriöseste, der lebhafteste Saal, sowohl durch den Glanz der Uniformen wie durch die Aufregung, die wuchs, je mehr man sich durch diese endlose Reihenfolge von Sälen dem von dem Erwählten und Einzigen bewohnten Tabernakel näherte. Das Herz, von dieser weisen Steigerung von geringerer bis zu unaufhörlich zunehmender Pracht bis zum Ersticken zusammengepreßt, klopfte immer stärker und stärker. Zu dieser nächtlichen Stunde war indessen keine Seele zu sehen, keine Bewegung, keine Stimme zu hören – nichts war da als die Stille, die von der dunkeln Decke über den roten Sammtthron herabsank, nichts als eine rauchige Lampe, die in dem leeren, schlafenden Saal an der Ecke eines Pfeilertisches brannte.
Herr Squadra, der sich noch nicht umgedreht hatte, sondern langsam und stumm weiterschritt, blieb einen Augenblick vor der Thür des geheimen Vorsaals stehen, wie um dem Besucher Zeit zu lassen, sich vor dem Betreten des Heiligtumes ein wenig zu fassen. Nur die Geheimkämmerer hatten das Recht, sich dort aufzuhalten, und nur die Kardinäle konnten hier warten, bis der Papst sie zu empfangen geruhte. An seinem leichten nervösen Schauer erkannte Pierre, nachdem Herr Squadra sich entschlossen hatte, ihn hineinzuführen, daß er das furchtbare Jenseits, die andere Seite dieser niedrigen, menschlichen Welt betrete. Unter tags behütete ein wachestehender Nobelgardist die Thüre; aber zu dieser Stunde war die Thür frei und das Gemach leer wie alle anderen. Um es zu bevölkern, mußte man die edlen und hochmögenden Persönlichkeiten heraufbeschwören, die es gewöhnlich in großer Festtracht füllten. Es war etwas zu schmal, gangförmig; zwei Fenster gingen auf das neue Viertel der Prati del Castello hinaus, während ein einziges Fenster am andern Ende, neben der in den kleinen Thronsaal führenden Thüre auf den Petersplatz hinausging. Hier zwischen dieser Thür und diesem Fenster saß gewöhnlich an einem kleinen Tische ein in diesem Augenblicke abwesender Sekretär. Und immer wieder zeigte sich derselbe vergoldete Pfeilertisch, mit demselben Kruzifix zwischen demselben Paar Lampen. Eine große Uhr in einem Gehäuse aus Ebenholz, mit Kupfer eingelegt, schlug schwer die Stunde. Die einzige Merkwürdigkeit unter der Decke mit den Goldrosetten war die Tapete; sie bestand aus rotem Damast und war mit gelben Schildern besät. Die zwei Schlüssel und die Tiara wechselten mit dem Löwen, der die Klaue auf die Weltkugel legte.
Aber Herr Squadra hatte bemerkt, daß Pierre, der Etikette zuwider, seinen Hut, den er im Saal der Bussolanti hätte lassen sollen, in der Hand behalten hatte. Nur die Kardinäle haben das Recht, das Barett bei sich zu behalten. Er nahm ihm den Hut mit einer diskreten Bewegung ab und legte ihn selbst auf den Pfeilertisch, um anzudeuten, daß er wenigstens hier bleiben müsse. Dann gab er, noch immer wortlos, mit einer einfachen Verbeugung zu verstehen, daß er den Besucher Seiner Heiligkeit anmelden wolle und daß dieser einen Augenblick in diesem Zimmer warten möge.
Als Pierre allein blieb, atmete er tief auf. Er erstickte, sein Herz klopfte zum Brechen. Trotzdem blieb sein Verstand klar; er hatte diese berühmten, diese prächtigen päpstlichen Gemächer im Halbdunkel sehr gut beurteilt. Sie waren mit den mit Stickereien geschmückten, mit Seide ausgeschlagenen Wänden und gemalten Friesen, den Plafonds, auf denen sich Fresken entfalteten, eine Flucht herrlicher Salons. Aber an Möbeln war nichts da als Pfeilertische, Schemel, Throne und die Lampen, die Uhren, die Kruzifixe, selbst die Throne waren nichts als Geschenke, die an großen Jubiläumstagen aus den vier Winkeln der Welt herbeigetragen worden waren. Nicht die geringste Behaglichkeit herrschte; alles war prunkend, steif, kalt und unbequem. Es war das alte Italien mit seiner fortwährenden Gala und seinem Mangel an vertraulichem, warmem Leben. Man hatte über die bewunderungswürdigen Marmorfliesen, auf denen die Füße erstarrten, ein paar Teppiche werfen müssen und zuletzt vor kurzem Heizapparate aufgestellt, die man übrigens aus Furcht, den Papst zu erkälten, nicht anzuzünden wagte. Was Pierre aber noch mehr auffiel, was ihm bis in die Knochen drang, während er jetzt wartend dastand, das war die außerordentliche Stille. Eine so tiefe Stille hatte er noch nirgends bemerkt; es war, als sei rings um ihn all das finstere Nichts des gewaltigen, in Schlaf versunkenen Vatikans in dieses Stockwerk, in diese Flucht einsamer, prächtiger und ausgestorbener Zimmer hinaufgestiegen, wo die kleinen, unbeweglichen Flammen der Lampen brannten.
Auf der Ebenholzuhr schlug es neun. Er geriet in Erstaunen. Wie, erst zehn Minuten waren verflossen, seit er die Bronzethür überschritten? Er hatte geglaubt, daß er seit Tagen unterwegs sei. Nun wollte er die nervöse Bedrückung, die ihn würgte, bekämpfen; denn er war nie seiner selbst sicher und fürchtete immer, seine Ruhe, seine Vernunft in einem Thränenanfall untergehen zu sehen. Er ging auf und ab, schritt an der Uhr vorüber, warf einen Blick auf das Kruzifix auf dem Pfeilertisch und betrachtete die Lampenkugel, auf der die fetten Finger eines Bedienten ihren Abdruck zurückgelassen hatten. Sie leuchtete mit so gelbem und schwachem Schein, daß er Lust hatte, sie höher zu schrauben; aber er wagte es nicht. Dann stand er, die Stirn an eine Scheibe gedrückt, vor dem Fenster, das auf den Petersplatz hinausging. Eine Minute lang ward er gepackt. Durch die klaffenden, schlecht schließenden Schalterläden breitete sich das ungeheure Rom vor ihm aus – Rom, so wie er es von den Loggien Rafaels aus gesehen, so wie er es sich an dem Tage gedacht hatte, an dem er von dem kleinen Restaurant auf dem Platze Leo XIII. am Fenster seines Zimmers zu sehen vermeinte. Nur war es jetzt das nächtliche, das von der Finsternis noch erweiterte Rom, grenzenlos wie der gestirnte Himmel. In diesem schrankenlosen Meer mit den schwarzen Wogen ließen sich mit Gewißheit nur die großen, durch das helle Weiß der elektrischen Beleuchtung in Milchstraßen verwandelten Straßen erkennen: der Corso Victor Emanuel, dann die Via Nazionale, dann der Corso, der sie im rechten Winkel durchschnitt und selbst in der gleichen Weise von der Via del Tritone durchschnitten wurde, die die Via S. Nicola del Tolentino fortsetzte, welche wiederum mit dem Thermenplatz und dem Bahnhof verbunden war. Auf der andern Seite des Corso Victor Emanuel und der Via Nazionale, gegen das alte Rom zu, flammten noch einige Plätze, einige Straßenecken, aber die Finsternis überflutete bereits alles. Das Uebrige war nur mehr ein Gewimmel kleiner, gelblicher Lichter, der kleinen Stückchen eines halb erloschenen, auf die Erde gefegten Himmels. Einige Konstellationen, einige glänzende, geheimnisvolle und edle Figuren bildende Sterne suchten vergeblich zu kämpfen und hervorzutreten. Sie verschwammen, verwischten sich in dem wirren Chaos des Staubes eines alten Sternes, der gleichsam hier zersprungen war und fortan nichts mehr als eine Art phosphoreszirenden Sandes seiner Herrlichkeit hinterließ. Was für eine dunkle, derart mit Licht bestreute Unendlichkeit war das, was für eine ungeheure, dunkle, unbekannte Masse, in der die siebenundzwanzig Jahrhunderte der ewigen Stadt, ihre Ruinen, ihre Monumente, ihr Volk, ihre Geschichte untergegangen zu sein schienen, so daß man nicht mehr zu sagen vermochte, wo sie begann oder wo sie endete! Vielleicht breitete sie sich bis an den unbegrenzten Rand des Dunkels aus, das die ganze Nacht umspannte, vielleicht war sie so zusammengeschrumpft, so verschwunden, daß die Sonne bei ihrer Rückkehr nur mehr das bißchen Asche beleuchtete!
Aber selbst angesichts dieses Schattenmeeres voll erhabenen Friedens steigerte sich die nervöse Angst Pierres, trotzdem er sich anstrengte, sie zu beruhigen, von Sekunde zu Sekunde. Er trat von dem Fenster fort und sein ganzes Wesen erzitterte, als er ein leichtes Geräusch von Schritten hörte. Er glaubte, daß man ihn holen komme. Das Geräusch kam aus dem Nebensaal, dem kleinen Thronsaal: er bemerkte nun, daß dessen Thür halb offen geblieben war. Da er nichts mehr hörte, wagte er sich in dem Fieber seiner Ungeduld vor und streckte den Hals aus, um etwas zu sehen. Es war abermals ein mit rotem Damast ausgeschlagener, ziemlich großer Saal, mit einem vergoldeten roten Sammetlehnstuhl unter einem Baldachin aus gleichem Sammet, und auch hier erblickte man den unvermeidlichen Pfeilertisch, das hohe, elfenbeinerne Kruzifix, die Uhr, die zwei Lampen, die Armleuchter, zwei große Vasen auf Sockeln, zwei andere von geringerer Höhe, mit dem Bilde des heiligen Vaters geschmückt, aus der Fabrik von Sévres; dennoch merkte man hier mehr Behaglichkeit. Der Smyrnateppich bedeckte das ganze Plattenpflaster, an den Wänden zogen sich einige Lehnstühle hin, ein falscher, mit Stoff verkleideter Kamin bildete das Gegenstück zu dem Pfeilertisch. Der Papst, dessen Zimmer auf diesen Saal ging, empfing hier gewöhnlich die Personen, die er ehren wollte. Der Schauer Pierres verstärkte sich bei dem Gedanken, daß er nur mehr dieses Gemach zu durchschreiten habe, daß dort, hinter jener einfachen Holzthür Leo XIII. sich befand. Warum ließ man ihn warten? Schickte man sich an, ihn in diesem Saal zu empfangen, um ihn nicht in eine zu große Intimität zuzulassen? Man hatte ihm von geheimnisvollen Besuchen zu solcher Stunde, von Unbekannten erzählt, die in derselben Weise, schweigend, hereingeführt wurden. Das waren große Persönlichkeiten, deren Name sehr leise geflüstert ward. Ihn mußte man wohl für kompromittirend halten, da man ohne Wissen der Umgebung in Muße mit ihm sprechen wollte, ohne sich zu etwas zu verpflichten. Dann erklärte er sich plötzlich die Ursache des gehörten Geräusches; er bemerkte auf dem Pfeilertisch neben der Lampe eine kleine Holzkiste, eine Art tiefer Henkeltasse, auf der sich die Ueberreste einer Abendmahlzeit, Geschirr, Eßzeug, eine Flasche und ein Glas befanden. Er begriff, daß Herr Squadra, nachdem er die abgetragenen Speisen im Zimmer bemerkt, sie herausgetragen hatte und dann wieder zurückgekehrt war, um noch ein paar häusliche Verrichtungen zu besorgen. Er kannte die große Mäßigkeit des Papstes, wußte, daß er seine Mahlzeiten auf einem schmalen Gueridon einnahm, wobei alles auf einmal in dieser kleinen Kiste hereingebracht wurde. Er nahm eine Fleischspeise, ein Gemüse, auf Befehl des Arztes zwei Schlückchen Bordeaux und vor allem Bouillon, Tassen Bouillon, die er gern den alten Kardinälen, seinen Lieblingen anbot, so wie man Thee anzubieten pflegt – ein kräftigender alter Junggesellenschmaus. Der gewöhnliche Tisch Leo XIII. war mit acht Franken per Tag festgestellt. O, Schwelgereien Alexander VI., o, Gelage und Prunkessen Julius II. und Leo X.! Aber aus dem Zimmer kam abermals ein leichtes Geräusch, das er sich nicht erklären konnte; er erschrak über seine Indiskretion und zog eilig den Kopf zurück, denn er glaubte den ganzen kleinen roten Thronsaal, trotz des todten Friedens, in dem er schlief, plötzlich aufflammen zu sehen.
Da er zu sehr bebte, um unbeweglich bleiben zu können, zog er es vor, mit kleinen Schritten auf und ab zu gehen. Dieser Herr Squadra – Er erinnerte sich jetzt, Narcisse von ihm sprechen gehört zu haben. Er war eine große Persönlichkeit, der wichtigste, einflußreichste Mann, der vielgeliebte Kammerdiener Seiner Heiligkeit, der einzige, der ihn bewegen konnte, an Empfangstagen eine reine weiße Sutane anzuziehen, wenn die, die er trug von Taback allzu beschmutzt war. Seine Heiligkeit bestand auch eigensinnig darauf, sich jede Nacht ganz allein in seinem Zimmer einzuschließen und niemand bei sich schlafen zu lassen; das geschah aus Unabhängigkeit, aber, wie es hieß, auch infolge der Angst des Geizhalses, der mit seinem Schatz allein schlafen will. Dies verursachte fortwährende Beunruhigung, da es nicht vernünftig war, wenn sich ein Greis dieses Alters derart verrammelte; Herr Squadra schlief bloß in einem Nebenzimmer, war aber stets auf der Lauer und immer bereit, auf den leisesten Ruf herbei zu eilen. Er war es auch, der sich ehrfurchtsvoll ins Mittel legte, wenn Seine Heiligkeit zu lange aufblieb, zu viel arbeitete. Trotzdem nahm er in diesem Punkte schwer Vernunft an; er stand auf, wenn er keinen Schlaf finden konnte, und ließ durch ihn einen Sekretär wecken, um Notizen zu diktiren, um den Entwurf einer Encyklika zu Papier zu bringen. Wenn die Abfassung einer Encyklika ihn beschäftigte, so hätte er Tag und Nacht dabei zubringen mögen, so wie einst, da er auf seine schönen lateinischen Verse stolz war, die Morgendämmerung ihn manchmal beim Feilen einer Strophe überraschte. Er schlief sehr wenig, denn er war die Beute fortwährender Arbeit, einer außerordentlichen Gehirnthätigkeit und ward stets von der Verwirklichung irgend einer alten Absicht verfolgt. Nur das Gedächtnis war in letzter Zeit etwas schwächer geworden. Vielleicht hatte Herr Squadra Seine Heiligkeit infolge irgend einer übermäßigen Arbeit leidender gefunden, da er, wie es geheißen hatte, noch tags zuvor so krank gewesen war. Uebrigens verschmähte er es zumeist, sich zu pflegen.
Während Pierre fortfuhr, leise auf und ab zu schreiten, wurde er so nach und nach von dieser hohen und erhabenen Gestalt durchdrungen. Von den geringen Einzelheiten des täglichen Lebens ging er zu dem geistigen Leben, zu der Rolle eines großen Papstes über, die Leo XIII. sicherlich zu spielen gedachte. Er hatte in S. Giovanni de Laterano den endlosen Fries gesehen, auf dem die Porträts der zweihundertzweiundsechzig Päpste dargestellt sind und er fragte sich, welchem Papste in dieser langen Reihe von Mittelmäßigen, Heiligen, Verbrechern und Genies Leo XIII. wohl gleichen wollte. Einem der ersten, so demütigen Päpste, einem jener, die einander während der ersten drei Jahrhunderte verborgenen Lebens folgten, die einfache Leiter von Leichenbestattungsvereinen, brüderliche Hirten der christlichen Gemeinde waren? Dem Papst Damasius, dem ersten großen Bauherrn, dem Gelehrten, der sich in geistigen Dingen gefiel, dem Gläubigen mit dem lebendigen Glauben, der den frommen Getreuen die Katakomben öffnete? Leo III., dessen kühne Hand durch die Salbung Karls des Großen den Bruch mit dem von dem großen Schisma bereits getrennten Orient vollendete, der kraft des einzigen, allmächtigen Willens Gottes und seiner Kirche, die fortan über die Kronen verfügte, dem Westen die Herrschaft gab? Dem furchtbaren Gregor VII., dem Tempelreiniger, dem Beherrscher der Könige? Innocenz III., Bonifacius VIII., den Herren der Seelen, Völker und Throne, die, mit dem grimmigen Bannfluch bewaffnet, mit solcher Gewalt das entsetzte Mittelalter beherrschten, daß der Katholizismus nie mehr so nahe der Verwirklichung seines Traumes stand? Urban II., Gregor IX., oder einem andern der Päpste, in deren Herz die brennende Leidenschaft der Kreuzzüge, die Sucht nach heiligen Abenteuern brannte, die die Mengen emportrug, der Eroberung des Unbekannten und Göttlichen zutrieb? Alexander III., der das Papsttum gegen das Kaiserreich verteidigte, bis zuletzt kämpfte, um von der höchsten Gewalt, in die Gott ihn eingesetzt, nichts abzutreten, und endlich siegte, indem er seinen Fuß triumphirend auf das Haupt Friedrich Barbarossas setzte? Julius II., der lange nach der traurigen Zeit von Avignon den Panzer trug und die politische Macht des heiligen Stuhles befestigte? Leo X., dem Prunkvollen, dem glorreichen Beschützer der Renaissance, eines ganzen großen Kunstzeitalters, der aber einen beschränkten, nicht vorausschauenden Geist besaß, da er Luther als einfachen empörten Mönch behandelte? Pius V., der finstern, rasenden Reaktion, der Scheiterhaufenflamme, die die wieder heidnisch gewordene Erde züchtigte? Einem der Päpste, die nach dem Trienter Konzil, als die Gläubigkeit in voller Unversehrtheit wieder eingesetzt, die Kirche durch ihren Stolz, ihre Intransigenz, ihr Beharren an dem vollständigen Respektiren der Dogmen gerettet war, in unumschränktem Glauben regierten? Oder jenem Papste zur Zeit des Verfalles des Papsttums, da es nicht mehr als ein den Prunk der großen europäischen Monarchie regelnder Zeremonienmeister gewesen – jenem Benedikt XVI., dem unermeßlichen Geiste, dem tiefen Theologen, der, nachdem seine Hände gebunden waren und nicht mehr über die Königreiche dieser Welt verfügen konnten, sein schönes Leben mit dem Regeln der himmlischen Dinge verbracht hatte? Und so rollte sich die Geschichte dieses Papsttums, die wundersamste Geschichte, die es gibt, vor ihm auf: es hatte alle Wechselfälle des Glückes gekannt, die niedrigsten, die elendsten, wie die höchsten, die blendendsten; es besaß einen hartnäckigen Willen zum Leben, der es trotz allem, inmitten der Brände, Gemetzel und Zusammenbrüche der Völker am Leben erhalten hatte; es stand in der Person seiner Päpste stets streitbar und aufrecht da. Sie waren das seltsamste Geschlecht unumschränkter, erobernder und gebietender Herrscher, das es je gegeben. Alle, selbst die Gebrechlichen und Schwachen waren die Herren der Welt, alle strahlten in dem unvergänglichen Ruhm des Himmels, wenn man sie so in diesem uralten Vatikan heraufbeschwor, wo ihre Schatten des Nachts sicherlich erwachten und inmitten dieser Grabesstille, deren Schauer von dem leichten Streifen ihrer Füße über die Marmorfliesen herkommen mußte, durch die endlosen Gänge, die ungeheuren Säle strichen.
Aber jetzt sagte sich Pierre, daß er den großen Papst, der Leo XIII. sein wollte, gar wohl kenne. Das war, ganz zu Anfang der katholischen Macht, Gregor der Große, der Eroberer und Organisator. Dieser war aus altem römischen Geschlecht und etwas von dem alten Kaiserblut pochte in seinem Herzen. Er verwaltete das vor den Barbaren gerettete Rom, ließ die geistlichen Domänen bestellen und teilte die Güter der Erde ein: ein Teil den Armen, ein Teil dem Klerus, ein Teil der Kirche. Dann war er der Erste, der die Propaganda schuf; er schickte seine Priester aus, die Nationen zu zivilisiren und zu pacificiren, und dehnte die Eroberung bis auf die Unterwerfung Großbritanniens unter das göttliche Gesetz Christi aus. Das war auch nach einem ungeheuren Zwischenraum von Jahrhunderten Sixtus V., der Finanzmann und Politiker, der Gärtnerssohn, der sich unter der Tiara als einer der umfassendsten und geschmeidigsten Geister einer an seinen Diplomaten fruchtbaren Zeit offenbarte. Er sammelte Schätze und war hart und geizig, um als Herr zu regieren, der in seinen Truhen stets das zum Krieg und zum Frieden notwendige Gold liegen hat. Er brachte Jahre in Unterhandlungen mit den Königen zu, er verzweifelte niemals am Siege. Ebensowenig wiedersetzte er sich seiner Zeit; er nahm sie hin, wie sie war, suchte sie dann zu Gunsten der Interessen des heiligen Stuhles abzuändern, war konziliant für alles und gegen alle und träumte bereits von einem europäischen Gleichgewicht, dessen Mittelpunkt und Herr er zu werden gedachte. Dabei war er ein sehr heiliger Papst, ein feuriger Mystiker, aber ein Papst, der der absoluteste, unumschränkteste Geist, zugleich ein zum Handeln entschlossener Staatsmann war, um das Reich Gottes auf dieser Erde zu sichern.
Aber in der Begeisterung, die wider seine Absicht, ruhig zu bleiben, wieder in ihm aufstieg und alle Klugheit und allen Zweifel wegfegte, fragte sich Pierre übrigens, warum er derart die Vergangenheit prüfte? War denn der wahre Leo XIII. nicht der seines Buches – der große Papst, der sich ihm offenbart, den er seinem Herzen nach geschildert, so wie die Herzen ihn ersehnten und erwarteten? Zweifellos war es nicht ein streng ähnliches Porträt, aber in seinen großen Linien mußte es wahr sein, damit die Menschheit nicht an ihrer Rettung verzweifle. Und ganze Seiten seines Buches stiegen, flammten vor seinen Augen auf; er sah seinen Leo XIII. wieder vor sich, den weisen Staatsmann, den Vermittler, der an der Einheit der Kirche arbeitete und sie für den nahen Tag des unvermeidlichen Kampfes stark und unbesiegbar machen wollte. Er sah ihn vor sich, befreit von den Sorgen der weltlichen Herrschaft, gewachsen, geläutert, strahlend in moralischer Pracht, die einzige über den Nationen aufrecht stehende Autorität; denn er hatte die tödliche Gefahr erkannt, die darin lag, wenn die sozialistische Lösung in den Händen der Feinde des Christentums gelassen ward, und war fortan entschlossen, in dem zeitgenössischen Streit wie einst Jesus für die Verteidigung der Armen und Geringen einzutreten. Er sah ihn, wie er sich auf die Seite der Demokratie stellte, die Republik in Frankreich anerkannte, die von ihren Thronen verjagten Könige im Exil ließ und die Weissagung verwirklichte, die Rom von neuem die Weltherrschaft verhieß, sobald das Papsttum den Glauben vereinigt haben und an der Spitze des Volkes marschiren würde. Die Zeit erfüllte sich: Cäsar war zu Boden geschlagen, der Papst allein blieb zurück. Würde das Volk, der große Stumme, den sich die beiden Mächte so lange streitig machten, sich nicht dem Vater hingeben, da dieser jetzt, wie er wußte, gerecht und barmherzig war, da er die brotlosen Arbeiter und die Bettler von der Straße mit glühendem Herzen und ausgestreckter Hand aufnahm? In der furchtbaren Katastrophe, die die verfaulten Gesellschaften bedrohte, in dem furchtbaren Elend, das die Städte verwüstete, war keine andere Lösung möglich als Leo XIII., der Geweissagte, der notwendige Erlöser, der Hirte, der gesandt ward, um seine Schafe durch die Wiederherstellung der christlichen Gemeinde, des vergessenen goldenen Zeitalters des Urchristentums vor dem nahen Unheil zu retten. Endlich herrschte die Gerechtigkeit, endlich strahlte die Wahrheit wie die Sonne, und alle Menschen waren versöhnt, nur mehr ein einziges, in Frieden lebendes, nur dem gleichmachenden Gesetz der Arbeit gehorchendes Volk unter dem hohen Schutze des Papstes, des einzigen Bandes der Barmherzigkeit und Liebe!
Nun packte es Pierre wie eine Flamme und trug, stieß ihn vorwärts. Endlich, endlich sollte er ihn sehen, ihm sein Herz ausschütten, seine Seele aufthun! Seit so vielen Tagen sehnte er diese Minute leidenschaftlich herbei, kämpfte er mit seinem ganzen Mute, um sie zu erreichen! Er erinnerte sich der unaufhörlich entstehenden Hindernisse, mit denen man ihn seit seiner Ankunft in Rom fesseln wollte; dieser lange Kampf, dieser schließliche, unerhoffte Erfolg verdoppelten sein Fieber, verstärkten seinen Wunsch, zu siegen. Ja, ja, er würde die Gegner seines Buches besiegen, zu Schanden machen. Konnte denn, wie er zu Monsignore Fornaro gesagt hatte, der heilige Vater ihn verleugnen? Hatte er denn nicht einfach seine geheimen Ideen ausgedrückt? Vielleicht zu früh, aber das war doch ein verzeihlicher Fehler! Er erinnerte sich auch, was er Monsignore Nani erklärt hatte – an dem Tage, da er geschworen, sein Buch niemals zu unterdrücken, da er nichts bereue, nicht ableugne. In dieser Minute prüfte er sich wieder, und in der heftigen nervösen Erregung, in die ihn das Warten nach der endlosen Wanderung durch diesen ungeheuren, ihn so stumm und finster umgebenden Vatikan versetzte, glaubte er im Besitze seiner ganzen Tapferkeit, seiner ganzen Willenskraft zu sein; sie sollten ihm helfen, sich zu verteidigen, seiner Ueberzeugung zum Siege zu verhelfen. Trotzdem geriet er immer mehr in Verwirrung und kam dahin, seine Gedanken zusammenzusuchen, sich zu fragen, wie er eintreten, was und in welchen Ausdrücken er sprechen würde. Wirre und schwere Dinge mußten sich in ihm angehäuft haben, denn ihr Gewicht trug viel zu seiner Beklemmung bei, ohne daß er sich davon Rechenschaft geben wollte. Im Grunde war er schon zerbrochen, erschöpft und besaß keine andere Spannkraft mehr als den Flug seines Traumes, den Aufschrei seines Mitleids mit dem abscheulichen Elend. Ja, ja, er würde rasch eintreten, auf die Knie fallen, sprechen wie er könnte, sein Herz überströmen lassen. Und sicherlich würde der heilige Vater ihm zulächeln und ihn mit den Worten wegschicken, daß er das Verdammungsurteil eines Buches nicht unterzeichnen würde, in dem er sich selbst, mit allen seinen liebsten Gedanken wiedergefunden habe.
Pierre wandelte eine solche Schwäche an, daß er abermals ans Fenster schritt, um seine brennende Stirn an eine eisige Scheibe zu lehnen. In seinen Ohren brauste es, seine Beine knickten zusammen, während das Blut mit heftigen Stößen in seinem Schädel hämmerte. Er bemühte sich, an nichts mehr zu denken. Er betrachtete das schattenüberflutete Rom und bat es, ihm ein wenig von jenem Schlummer zu schenken, in dem es unterging. Um sich von diesem Spuk abzuziehen, versuchte er die Straßen, die Monumente an der bloßen Art der Gruppirung der Lichter zu erkennen. Aber es war ein grenzenloses Meer; seine Gedanken verwirrten sich und trieben am Grunde dieses nächtigen, mit lügnerischen Lichtern bestreuten Abgrundes. Ach, um ruhig zu werden, um nicht mehr zu denken, muß Nacht sein, vollständige, wiederherstellende Nacht – eine Nacht, in der man vom Elend und Leid geheilt, auf immer schläft! Plötzlich hatte er das deutliche Gefühl, daß jemand unbeweglich hinter ihm stehe; mit einem leichten Zusammenfahren drehte er sich um.
In der That, da stand Herr Squadra in seiner schwarzen Livree und wartete. Er machte bloß eine seiner Verbeugungen, um den Besucher aufzufordern, ihm zu folgen; dann ging er wieder voran, schritt durch den kleinen Thronsaal, öffnete langsam die Thür des Zimmers, trat beiseite, ließ ihn eintreten und machte ohne jedes Geräusch die Thür wieder zu.
Pierre befand sich im Zimmer Seiner Heiligkeit. Er hatte sich vor einer jener niederschmetternden Gemütsbewegungen gefürchtet, die rasend machen oder lähmen; man hatte ihm erzählt, daß Frauen sterbend, ohnmächtig, wie berauscht ankamen, oder wie von unsichtbaren Flügeln gehoben, getragen, hereinstürzten. Aber plötzlich lief die Angst des Wartens, das wechselnde Fieber von vorhin in eine Art Schauer, in eine Reaktion aus, die ihn sehr ruhig machte. Seine Augen wurden klar und sahen alles. Beim Eintreten war ihm die entscheidende Bedeutung einer solchen Audienz ganz klar geworden: er, der einfache kleine Priester erschien vor dem Oberpriester, dem Haupt der Kirche, dem unumschränkten Herrn der Seelen. Sein ganzes religiöses und moralisches Leben sollte davon abhängen. Vielleicht war es dieser plötzliche Gedanke, der ihn an der Schwelle des gefürchteten Heiligtums, dem er ebenso zitternd zugeschritten, erstarren ließ; er hatte geglaubt, es nur bebenden Herzens, mit vernichteten Sinnen, bloß seine Kindergebete stammelnd, betreten zu können.
Später, als er seine Erinnerungen regeln wollte, entsann er sich, daß er Leo XIII. zuerst erblickt hatte; aber er sah ihn in dem Rahmen, in dem er sich befand – in diesem großen, mit gelbem Damast ausgeschlagenen Zimmer mit dem ungeheuren Alkoven, der so tief war, daß das Bett darin ebenso wie die ganze kleine Einrichtung, eine Chaiselongue, ein Tisch, ein paar Truhen, verschwanden. Es waren die berühmten Truhen, in denen sich, wie es hieß, der Schatz des Peterspfennig befand. Ein Möbel im Stil Louis' XV., eine Art Schreibtisch mit ziselirten Kupferbeschlägen stand einem großen, vergoldeten und bemalten Pfeilertisch im Stil Louis' XV. gegenüber, auf dem sich neben einem hohen Kruzifix eine brennende Lampe befand. Das Zimmer war kahl und nichts anderes als drei Lehnstühle und vier oder fünf mit heller Seide bezogene Stühle füllten den ungeheuren Raum. Den Fußboden bedeckte ein bereits sehr stark abgenützter Teppich. Auf einem der Lehnstühle, neben einem kleinen fliegenden Tischchen, auf das eine zweite, mit einem Schirm gezierte Lampe gestellt worden war, saß Leo XIII. Auf dem Tischchen lagen drei Zeitungen, zwei französische und eine deutsche; die letztere war halb auseinandergefaltet, als ob der Papst sie einen Augenblick beiseite gelegt hätte, um mit Hilfe eines langen, vergoldeten Silberlöffels ein neben ihm stehendes Glas Sirup umzurühren.
So wie Pierre das Zimmer gesehen, so sah er auch das Kostüm, die Sutane aus weißem Tuch mit weißen Knöpfen, das weiße Käppchen, die weiße Pellerine, den weißen, goldbefransten Gürtel, dessen Enden mit goldenen Schlüsseln bestickt waren. Die Strümpfe waren weiß, die Pantoffeln aus rotem, ebenfalls mit goldenen Schlüsseln bestickten Sammet. Am meisten überraschte ihn jedoch das Gesicht, die ganze Persönlichkeit, die ihm verkleinert vorkam, die er kaum erkannte. Das war seine vierte Begegnung mit ihm. Er hatte ihn an einem schönen Abend in einem wonnigen Garten gesehen, wie er lächelnd und vertraulich dem Geschwätz eines Lieblingsprälaten zuhörte, während er mit seinen kleinen, greisenhaften Schritten wie ein verwundeter Vogel umherhüpfte. Er hatte ihn im Beatifikationssaal gesehen als vielgeliebten, gerührten Papst, dessen Wangen sich vor Befriedigung röteten, während die Frauen ihm Geldbörsen, goldgefüllte, weiße Käppchen darbrachten, sich ihren Schmuck abrissen, um ihn ihm zu Füßen zu werfen, und sich gern das Herz herausgerissen hätten, um es ebenso hinzuwerfen. Er hatte ihn zu St. Peter gesehen – hoch auf dem Schild getragen, in all der Verklärung des sichtbaren, von der Christenheit angebeteten Gottes, gleich einem Götzen in seinem Schrein aus Gold und Edelsteinen eingeschlossen, starren Antlitzes, von hieratischer, erhabener Unbeweglichkeit. Und jetzt sah er ihn in diesem Lehnstuhl, in enger Vertraulichkeit wieder. Er sah so dünn, so gebrechlich aus, daß er eine Art Unruhe empfand, in die sich Rührung mischte. Insbesondere der Hals war seltsam, unwahrscheinlich fadendünn, der Hals eines kleinen, sehr alten, ganz weißen Vogels. Das alabasterweiße Gesicht besaß eine charakteristische Durchsichtigkeit; man sah das Lampenlicht durch die große, gebieterische Nase schimmern, als ob alles Blut daraus gewichen sei. Der ungeheure Mund mit den schneeigen Lippen durchschnitt mit einer dünnen Linie den untern Teil der Physiognomie und nur die Augen waren schön und jung geblieben; es waren wunderbare Augen, leuchtend schwarz wie schwarze Diamanten, von einem Glanz, einer Gewalt, die die Herzen öffnete und sie zwang, die Wahrheit mit lauter Stimme zu bekennen. Das spärliche Haar schaute in leichten weißen Locken aus dem weißen Käppchen hervor und legte eine weiße Krone über das magere weiße Gesicht, dessen Häßlichkeit von all diesem Weiß geläutert ward. Das Fleisch schien sich in dieser rein seelischen Weiße zu einer lautern Lilienblüte aufzulösen.
Aber auf den ersten Blick hatte Pierre festgestellt, daß Herr Squadra ihn nicht darum habe warten lassen, weil er den heiligen Vater nötigen wollte, eine reinere Sutane anzuziehen; denn die, die er trug, war von Tabak, von braunem Schmutz, der längs der Knöpfe herabgeflossen war, stark befleckt. Und gut bürgerlich hielt der heilige Vater ein Schnupftuch auf dem Schoß, um sich abzuwischen. Uebrigens schien er wohl und von seinem gestrigen Unwohlsein hergestellt zu sein; er erholte sich gewöhnlich so leicht, denn er war ein sehr mäßiger und sehr weiser Greis, der keinerlei organische Krankheit hatte und einfach aus natürlicher Erschöpfung täglich ein bißchen dahinschwand, so wie eine Fackel, die immer leuchten muß, zuletzt eines Abends erlischt.
Schon von der Thüre aus fühlte Pierre die funkelnden Augen, die zwei schwarzen Diamantenaugen auf sich gerichtet. Eine ungeheure Stille herrschte; die beiden Lampen brannten mit unbeweglicher, blasser Flamme in dieser ungeheuren Ruhe des schlummernden Vatikans, ohne daß man etwas anderes vernahm als in der Ferne das alte, am Grunde der Nacht versunkene Rom. Es glich einem Tintensee, in dem sich die Sterne spiegelten. Er mußte näher treten, machte die drei Kniebeugungen und beugte sich herab, um den auf einem Kissen ruhenden roten Sammetpantoffel zu küssen. Kein Wort, keine Geberde, keine Bewegung ging vom Papste aus; und als Pierre sich aufrichtete, sah er die zwei schwarzen Diamanten, das flammende, geistvolle Augenpaar noch immer auf sich gerichtet.
Endlich hob Leo XIII., der ihm die Demütigung des Fußkusses nicht hatte ersparen wollen und ihn jetzt stehen ließ, zu sprechen an. Er hörte dabei nicht auf, ihn prüfend zu betrachten, ihn bis ins tiefste Wesen der Seele zu durchforschen.
»Mein Sohn, Sie haben lebhaft gewünscht, mich zu sehen. Ich habe eingewilligt, Ihnen diese Befriedigung zu gewähren.«
Er sprach französisch, etwas unsicher, mit italienischer Aussprache und so langsam, daß man die Sätze wie unter Diktat hätte niederschreiben können. Die Stimme war stark, nasal, eine jener dicken, grollenden Stimmen, die man aus gewissen schwächlichen, scheinbar blutlosen und atemlosen Körpern mit Ueberraschung vernimmt.
Pierre hatte sich damit begnügt, sich nochmals zum Zeichen tiefer Dankbarkeit zu verbeugen; wie er wußte, erforderte es der Respekt, daß man, ehe man sprach, abwartete, bis man direkt gefragt ward.
»Sie leben in Paris?«
»Ja, heiliger Vater.«
»Gehören Sie zu einer der großen städtischen Pfarren?«
»Nein, heiliger Vater, ich versehe nur die kleine Kirche von Neuilly.«
»Ach ja, ja, ich weiß. Neben dem Bois du Boulogne, nicht wahr? ... Und wie alt sind Sie, mein Sohn?«
»Vierunddreißig, heiliger Vater.«
Ein kurzes Schweigen entstand. Leo XIII. hatte zuletzt den Blick gesenkt. Er ergriff mit seiner zarten, elfenbeinernen Hand wieder das Glas Sirup, rührte es mit dem langen Löffel um und trank einen Schluck. Er that es sachte, mit vorsichtiger, bedachter Miene, wie alles, was er denken und thun mußte.
»Ich habe Ihr Buch gelesen, mein Sohn. Ja, zum großen Teil. Gewöhnlich legt man mir nur Bruchstücke vor, aber jemand, der sich für Sie interessirt, hat mir das Buch direkt übergeben, indem er mich anflehte, es zu überfliegen. Auf diese Weise habe ich davon Kenntnis nehmen können.«
Und er machte eine leichte Geberde, in der Pierre eine Verwahrung gegen die Isolirung zu sehen glaubte, in der seine Umgebung ihn erhielt – jene verabscheuungswürdige Umgebung, die nach den Worten Monsignore Nanis selbst achtsam darüber wachte, daß nichts Beunruhigendes von der Außenwelt eindrang.
»Ich danke Eurer Heiligkeit für die mir erwiesene so große Ehre,« erlaubte sich nun der Priester zu sagen. »Es konnte mir kein größeres noch sehnlicher erwünschtes Glück zukommen.«
Wie glücklich war er! Er bildete sich ein, daß seine Sache gewonnen sei, da der Papst sehr ruhig, ohne jeden Zorn mit ihm über sein Buch redete, wie jemand, der ihn nun bis auf den Grund kannte.
»Sie stehen in Beziehungen zu dem Herrn Vicomte Philibert de la Choue, nicht wahr, mein Sohn? Die Aehnlichkeit gewisser Ihrer Ideen mit denen dieses sehr ergebenen Dieners, der uns andererseits kostbare Beweise seiner guten Gesinnung gegeben hat, fiel mir anfangs auf.«
»Allerdings, heiliger Vater, Herr de la Choue will mir wohl. Wir haben viel mit einander gesprochen; da ist es nicht verwunderlich, daß ich mehrere seiner liebsten Gedanken wiedergegeben habe.«
»Gewiß, gewiß. So auch die Zunftfrage. – Er beschäftigt sich viel mit ihr, sogar ein wenig zu viel. Zur Zeit seiner letzten Reise hat er mich mit seltener Beharrlichkeit damit unterhalten, ebenso wie jüngst ein anderer Ihrer Landsleute, einer der besten und vorzüglichsten Menschen, der Herr Baron von Fouras, der uns den schönen Pilgerzug des Peterspfennig hergeführt hat, nicht Ruhe hatte, bis ich ihn empfing, um dann beinahe eine Stunde darüber zu reden. Aber man muß sagen, sie sind gar nicht einig; denn der eine fleht mich an, etwas zu thun, was ich dem andern zufolge nicht thun soll.«
Das Gespräch schweifte gleich von Anfang an ab. Pierre fühlte, daß es von seinem Buche ablenkte, erinnerte sich aber, daß er dem Vicomte für den Fall, daß er den Papst sehen und die Gelegenheit sich darbieten sollte, förmlich versprochen hatte, einen Versuch zu machen, um ihn zu einem entscheidenden Ausspruch über die berühmte Frage, ob die Zünfte frei oder obligatorisch, offen oder geschlossen sein sollten, zu bewegen. Seit er in Rom war, hatte er Brief auf Brief des armen Vicomte erhalten, den die Gicht in Paris annagelte, während sein Nebenbuhler, der Baron, die wunderbare Gelegenheit des Pilgerzuges, dessen Führer er war, benützte, um dem Papst das einfache Zustimmungswort zu entreißen; dieses hätte er dann triumphirend zurückgebracht. Der Priester legte Gewicht darauf, sein Versprechen gewissenhaft zu erfüllen.
»Eure Helligkeit weiß besser als wir alle, wo die Weisheit ist. Herr von Fouras glaubt, daß die Rettung, die Lösung der Arbeiterfrage einfach in der Wiederherstellung der alten freien Zünfte liegt, während Herr de la Choue obligatorische, vom Staat beschützte und neuen Regeln unterworfene Zünfte wünscht. Sicherlich entspricht diese letztere Ansicht mehr den heutigen sozialen Ideen. Wenn Eure Heiligkeit geruhen würde, sich in diesem Sinne auszusprechen, vermöchte die junge katholische Partei in Frankreich sicherlich das schönste Resultat daraus zu erzielen. Eine ganze Arbeiterbewegung zum Ruhme der Kirche würde entstehen.«
»Aber ich kann es nicht,« antwortete Leo XIII. mit seiner ruhigen Miene. »In Frankreich verlangt man von mir stets Dinge, die ich nicht thun kann, nicht thun will. Was ich Ihnen erlaube, Herrn de la Choue von mir zu sagen, ist, daß wenn ich ihn auch nicht zufriedenstellen kann, ebenso wenig Herr von Fouras zufrieden gestellt werden wird. Er hat gleichfalls nur den Ausdruck meines Wohlwollens für Ihre teuren französischen Arbeiter, die für die Wiederherstellung des Glaubens so viel vermögen, von mir mitgenommen. Begreift doch endlich bei euch, daß es Detailfragen, mit einem Wort einfache Organisationsfragen gibt, in die ich mich unmöglich einlassen kann, wenn ich mich nicht der Gefahr aussetzen will, ihnen eine Wichtigkeit zu geben, die sie nicht besitzen, den einen heftiges Mißvergnügen zu bereiten, wenn ich den anderen ein zu großes Vergnügen machte.«
Ein schwaches Lächeln zog um seinen Mund. In diesem Lächeln zeigte sich der ganze konziliante, kluge Staatsmann, der fest entschlossen war, seine Unfehlbarkeit nicht in unnützen Abenteuern bloßzustellen. Und er trank wieder einen Schluck Sirup und wischte sich mit seinem Taschentuch ab, wie ein Herrscher, dessen Galatagewerk zu Ende ist, der sich Zeit nimmt und diese einsame, stille Stunde wählte, um ohne Hast so lange zu sprechen, wie er Lust hatte.
Pierre bemühte sich, ihn zu seinem Buche zurückzuführen.
»Der Herr Vicomte de la Choue war so gut zu mir – er erwartet das meinem Buche bestimmte Schicksal, als ob es sein eigenes Werk wäre! Darum wäre ich sehr froh gewesen, wenn ich ihm ein gütiges Wort Eurer Heiligkeit überbringen könnte.«
Aber der Papst fuhr fort, sich abzuwischen, ohne zu antworten.
»Ich habe ihn bei Seiner Eminenz dem Kardinal Bergerot kennen gelernt. Das ist auch ein großes Herz, dessen feurige Nächstenliebe genügen müßte, wieder ein gläubiges Frankreich zu schaffen.«
Diesmal war die Wirkung eine sofortige.
»Ach ja, der Herr Kardinal Bergerot! Ich habe seinen Brief an der Spitze Ihres Buches gelesen. Er hat an dem Tage, an dem er ihn Ihnen schrieb, eine sehr böse Eingebung gehabt und Sie, mein Sohn, waren sehr strafbar, als Sie ihn veröffentlichten. Ich kann noch immer nicht glauben, daß der Herr Kardinal Bergerot gewisse Stellen Ihres Werkes gelesen hatte, als er Ihnen seine volle und gänzliche Zustimmung sandte. Ich will ihn lieber der Unwissenheit und des Leichtsinns zeihen. Wie hätte er ihre Angriffe gegen das Dogma, Ihre revolutionären Theorien billigen können, die auf die vollständige Zerstörung unserer heiligen Religion hinzielen? Wenn er es gelesen hat, so hat er keine andere Entschuldigung als eine plötzliche, unerklärliche, unverzeihliche Verirrung. Freilich herrscht in einem kleinen Teile des französischen Klerus ein so böser Geist. Das sind die gallikanischen Ideen, die unablässig wie Unkraut aufschießen, das ist ein Frondeur-Liberalismus, der sich gegen unsere Autorität empört, den es fortwährend nach freier Prüfung und sentimentalen Abenteuern gelüstet.«
Er wurde lebhaft, italienische Worte mischten sich in seine zögernde, französische Rede und seine dicke, nasale Stimme drang hellklingend wie Metall aus seinem gebrechlichen, wie aus Wachs und Schnee gebildeten Körper.
»Mag der Herr Kardinal Bergerot es erfahren: an dem Tage, da wir nur mehr einen empörten Sohn in ihm sehen, werden wir ihn zerbrechen. Er schuldet das Beispiel des Gehorsams; wir werden ihm unsere Unzufriedenheit mitteilen und hoffen, daß er sich unterwerfen wird. Zweifellos sind Demut, Nächstenliebe große Tugenden, und wir haben sie stets gern ihn ihm geehrt. Aber sie dürfen nicht die Zuflucht eines rebellischen Herzens sein, denn sie sind nichts, wenn der Gehorsam sie nicht begleitet. Der Gehorsam, der Gehorsam ist der schönste Schmuck der großen Heiligen!«
Betroffen, verstört hörte Pierre zu. Er vergaß an sich selbst und dachte nur an den gütigen, duldsamen Mann, auf den er jetzt diesen allmächtigen Zorn herabgezogen hatte. So hatte Don Vigilio recht gehabt: die Angebereien der Bischöfe von Poitiers und Evreux sollten über seinen Kopf hinweg den Gegner ihrer ultramontanen Intransigenz, den sanften, guten Kardinal Bergerot, diese allem Elend, allen Leiden der Armen und Geringen offenstehende Seele treffen. Er war darüber verzweifelt; die Denunziation des Bischofs von Tarbes, dieses Werkzeugs der Väter der Grotte, die wenigstens nur ihn als Antwort auf die auf Lourdes bezügliche Stelle traf, nahm er noch hin, aber der tückische Krieg der beiden anderen erbitterte und versetzte ihn in schmerzliche Empörung. Aus dem schwachen Greise mit dem gebrechlichen Vogelhalse aber sah er jetzt einen so grimmigen, so furchtbaren Herrn aufsteigen, daß er erzitterte. Wie hatte er sich nur beim Eintreten vom äußern Schein täuschen lassen, wie hatte er glauben können, daß das nur ein armer, altersschwacher Mann sei, der sich nach Frieden sehnte und entschlossen war, alles zu bewilligen? Ein Hauch war durch das schlummernde Zimmer geweht und hatte wieder den Kampf mitgebracht, seine Zweifel, seine Angst wieder geweckt. Ach, dieser Papst war ganz so, wie man ihn ihm in Rom geschildert hatte, wie er ihn sich nicht hatte vorstellen wollen: mehr Geist als Gefühl, maßlos stolz, von Jugend auf vom höchsten Ehrgeiz erfüllt, so daß er seiner Familie den Triumph versprochen, um von ihr die notwendigen Opfer zu erlangen. Seit er den Päpstlichen Thron einnahm, zeigte er überall und in allem eine einzige Absicht: herrschen, um jeden Preis herrschen, als unumschränkter, allmächtiger Herr herrschen! Die Wirklichkeit stieg mit unwiderstehlicher Gewalt empor; dennoch wehrte er sich und blieb störrisch dabei, seinen Traum wieder in Besitz zu nehmen.
»O, heiliger Vater, ich würde mich so kränken, wenn Seine Eminenz infolge meines unseligen Buches auch nur eine Sekunde Verdruß hätte! Ich, der Schuldige, kann für meinen Fehler verantwortlich sein – aber Seine Eminenz, der nur seinem Herzen gehorcht hat, der nur durch seine allzu große Liebe zu den Enterbten dieser Welt gesündigt hätte!«
Leo XIII. antwortete nicht. Er hatte seine wunderbaren Augen, diese feurig lebensvollen Augen in dem unbeweglichen Gesicht eines Alabastergötzen, wieder zu Pierre erhoben und sah ihn abermals starr an.
Und in dem Fieber, von dem Pierre wieder ergriffen wurde, sah er ihn fortwährend an Glanz und Pracht zunehmen. Jetzt meinte er zu sehen, wie sich hinter ihm, durch alle Zeiten hindurch, die lange Reihe der Päpste hinzog, die er eben heraufbeschworen: die Heiligen und die Stolzen, die Krieger und die Asketen, die Diplomaten und die Theologen – die, die den Panzer trugen, die, die mit dem Kreuze siegten, die, die über Kaiserreiche verfügten, wie über einfache Provinzen, die Gott ihrer Hut anvertraut. Dann erschienen vor allem Gregor der Große, der Eroberer und Gründer, Sixtus V., der Unterhändler, der Staatsmann, der als Erster den Sieg des Papsttums über die besiegten Monarchen ins Auge faßte. Welche Menge prächtiger Fürsten, souveräner Herren, allmächtiger Gehirne und Arme, was für ein Haufen unerschöpflicher Willenskraft, genialer Hartnäckigkeit, grenzenloser Gewalt, lag hinter diesem blassen, unbeweglichen Greise! Ja, es war die ganze Geschichte des menschlichen Ehrgeizes, das ganze Bestreben, die Völker der Hoffart eines Einzigen zu unterwerfen, die höchste Macht, von der die Menschen je im Namen ihres eigenen Glückes erobert, ausgenützt, gemodelt wurden! Und zu was für einer geistigen Hoheit war dieser dünne, so blasse Greis selbst jetzt aufgestiegen, da sein irdisches Königtum ein Ende genommen! Er hatte gesehen, wie Frauen gleichsam von der aus seiner Person ausstrahlenden, furchtbaren Gottheit zerschmettert vor ihm in Ohnmacht fielen. Nicht nur die Aufsehen erregenden Ruhmesthaten, die vorherrschenden Triumphe der Geschichte rollten sich hinter ihm auf – nein, der Himmel selbst öffnete sich, das Jenseits strahlte in dem Glanze des Geheimnisvollen. Er hielt den Schlüssel vor der Thür des Himmels, er öffnete ihn den Seelen; das uralte Symbol, endlich von dem befleckenden irdischen Königtum befreit, lebte mit neuer Kraft wieder auf.
»O, heiliger Vater, wenn ein warnendes Beispiel gegeben werden muß, so strafen Eure Heiligkeit keinen andern als mich. Ich bin gekommen, da bin ich; mögen Eure Heiligkeit über mein Schicksal entscheiden, aber meine Strafe nicht durch Gewissensbisse verschärfen, einen Unschuldigen ins Verderben gezogen zu haben.«
Leo XIII. fuhr fort, ihn mit seinen brennenden Augen anzusehen, ohne zu antworten. Und er sah nicht mehr Leo XIII., den zweihundertdreiundsechzigsten Papst, den Statthalter Jesu Christi, Nachfolger des Apostelfürsten, souveränen Pontifex der Weltkirche, Patriarchen des Occident, Primas von Italien, Erzbischof und Metropolit der römischen Provinz, Souverän der weltlichen Domänen der heiligen Kirche – nein, er sah Leo XIII., von dem er geträumt, den erwarteten Messias, den Retter, der gesandt wurde, um das furchtbare soziale Unheil zu beschwören, in dem die alte, verfaulte Gesellschaft versank. Er sah ihn vor sich, mit seinem ungeheuren, geschmeidigen Geist, seiner brüderlichen Versöhnungstaktik, die Zusammenstöße vermeidend, auf die Einheit hin arbeitend, mit seinem von Liebe überströmenden Herzen unmittelbar zum Herzen der Mengen sprechend und zum Zeichen des neuen Bundes noch einmal sein bestes Blut hingebend. Er stellte ihn als die einzige moralische Autorität auf, als das einzig mögliche Band der Nächstenliebe und des Friedens, mit einem Wort als den Vater, der allein im stande ist, der Ungerechtigkeit unter seinen Kindern ein Ende zu machen, das Elend zu töten, das befreiende Gesetz der Arbeit wieder einzusetzen, indem er die Völker zu dem Glauben der Urkirche, zur Milde und Weisheit der christlichen Gemeinde zurückführte. Und diese hohe Gestalt nahm in der tiefen Stille des Zimmers eine unbesiegbare Allmacht, eine außerordentliche Majestät an.
»O Gnade, heiliger Vater! Hören Eure Heiligkeit mich an! Strafen Eure Heiligkeit nicht einmal mich, strafen Eure Heiligkeit niemanden, o niemanden – kein Wesen, kein Ding, nichts, was auf Erden leiden kann. Seien Eure Heiligkeit gut, o zeigen Eure Heiligkeit die ganze Güte, die die Schmerzen der Welt in Ihr Herz gelegt haben müssen!«
Und als er sah, daß Leo XIII. noch immer schwieg und ihn vor sich stehen ließ, fiel er auf beide Kniee nieder, als breche er bestürzt unter der wachsenden Bewegung zusammen, die ihm das Herz so schwer machte. In seinem Wesen fand etwas wie ein Zusammenbruch der Masse aller Zweifel, aller Angst, aller Trauer statt, die ihn von neuem erstickte und nun in einer unwiderstehlichen Flut hervorbrach. Da war zuerst der schreckliche Tag, der so tragische Tod Darios und Benedettas, dessen Grauen wie ein bleischweres Gewicht auf seinem Herzen lag. Dann kam alles, was er gelitten hatte, seit er sich in Rom befand: die nach und nach zerstörten Illusionen, das verwundete, intimste Zartgefühl, die von der Wirklichkeit der Menschen und Dinge verhöhnte jugendliche Begeisterung. Dann kam, noch eindringlicher, das ganze Menschenelend selbst: die heulenden Hungernden, die Mütter mit den versiegten Brüsten, die schluchzend ihre Säuglinge küßten, die arbeitslosen Väter, die sich mit geballter Faust empörten, das fluchwürdige Elend, das so alt wie die Menschheit ist, an der es seit dem ersten Tage nagt. Ueberall hatte er es angetroffen – wachsend, verzehrend, furchterweckend, ohne jede Hoffnung auf Heilung. Und zuletzt kam, noch ungeheurer, noch unheilbarer, ein namenloser Schmerz, der keine genaue Ursache hatte, ein Schmerz um nichts und um niemand, ein allgemeiner unbegrenzter Schmerz, in dem er sich badete und mit Verzweiflung aufgehen fühlte. Vielleicht war es der Lebensschmerz.
»O, heiliger Vater, ich existire nicht, mein Buch existirt nicht. Ich sehnte mich, o leidenschaftlich, Eure Heiligkeit zu sehen, um Erklärungen zu geben, um mich zu verteidigen. Aber ich weiß nichts mehr, ich finde kein einziges der Worte mehr, die ich sagen wollte, ich habe nichts als Thränen, Thränen, die mich ersticken ... Ja, ich bin nur ein armer Mensch, ich empfinde nur das Bedürfnis, Eurer Heiligkeit von den Armen zu erzählen. O, die Armen, die Unglücklichen, die ich seit zwei Jahren in unseren so elenden und traurigen Pariser Vorstädten gesehen habe! Die armen Kleinen, die ich aus dem Schnee auflas, die armen kleinen Engel, die seit zwei Tagen nichts gegessen hatten, die Frauen, an denen die Schwindsucht nagte, die in der Tiefe unsauberer Löcher, ohne Brot, ohne Feuer hockten – die Männer, die die Arbeitseinstellung aufs Pflaster geworfen, die es satt haben, um Arbeit zu betteln, wie man um ein Almosen bettelt, die trunken vor Zorn in ihre finstern Nester zurückkehren, erfüllt von dem einzigen Rachegedanken, die Stadt an allen vier Ecken anzuzünden! Und der Abend, der schreckliche Abend, da ich in das Schreckensgemach einer Mutter trat, die sich eben mit ihren fünf Kleinen getötet hatte! Die Mutter war, ihr Neugeborenes säugend, auf den Strohsack niedergefallen; die zwei kleinen Mädchen, zwei hübsche Blondköpfe, schliefen gleichfalls dort ihren ewigen Schlaf; die beiden Knaben lagen tot etwas weiterhin – der eine neben der Mauer, der andere auf dem Boden, in einer letzten Auflehnung herumgeworfen ... O, heiliger Vater, ich bin nichts mehr als ihr Abgesandter, geschickt von denen, die leiden und schluchzen, der demütige Delegirte der im Elend, unter der fluchwürdigen Härte, der furchtbaren sozialen Ungerechtigkeit sterbenden Armen. Und ich bringe Eurer Heiligkeit ihre Thränen, ich lege Eurer Heiligkeit ihre Qualen zu Füßen, ich lasse Eure Heiligkeit ihren Notschrei hören. Es ist ein Schrei, der wie aus dem Abgrund empordringt; er fordert Gerechtigkeit, wenn man den Himmel nicht zusammenbrechen lassen will ... O, seien Eure Heiligkeit gut, seien Eure Heiligkeit gut!«
Er hatte die Arme ausgebreitet, er beschwor ihn mit der Geberde, mit der man das göttliche Erbarmen anruft. Dann fuhr er fort:
»Und, heiliger Vater, ist das Elend in diesem ewigen, strahlenden Rom nicht ebenfalls furchtbar? Seit Wochen irre ich, wartend, aufs Geratewohl durch den berühmten Staub seiner Ruinen und stoße mich fortwährend an unheilbaren Uebeln, die mich mit Schrecken erfüllt haben. Ach, alles bricht zusammen, alles verscheidet! Es ist die Agonie so großen Ruhmes, die furchtbare Schwermut einer Welt, die an Erschöpfung und aus Hunger stirbt! ... Und habe ich nicht da, unter den Fenstern Eurer Heiligkeit ein grauenhaftes Viertel, unvollendete Paläste gesehen, die von einem unseligen Erbe heimgesucht sind, wie rhachitische Kinder, die nicht ans Ende ihres Wachstums gelangen können – Paläste, die bereits Ruinen, der Zufluchtsort alles jammervollen Elends von Rom geworden sind? Und was für ein Leidensvolk, gerade wie in Paris! Nur stellt es sich mit noch größerer Unverschämtheit offen dar, duldet und zeigt in seiner furchtbaren Unbewußtheit die ganze soziale Wunde, den fressenden Krebs. Ganze Familien bringen ihr hungriges Müßiggängerleben unter der herrlichen Sonne zu. Die Alten sind nun gebrechlich geworden, die Väter warten darauf, daß ihnen ein bischen Arbeit vom Himmel fällt, die Söhne schlafen im trockenen Grase, die Mütter und Töchter, vorzeitig verwelkt, schwatzen und schleppen sich faul hin. O, heiliger Vater, gleich morgen, wenn der Tag anbricht, möge Eure Heiligkeit dies Fenster öffnen und durch den höchsten Segen dieses große Kindervolk wecken, das noch in seiner Unwissenheit und seiner Armut schlummert! Möge Eure Heiligkeit ihm die fehlende Seele geben, eine Seele, die sich der Menschenwürde, des notwendigen Gesetzes der Arbeit, des freien und brüderlichen, bloß von der Gerechtigkeit geregelten Lebens bewußt ist! Ja, möge Eure Heiligkeit ein Volk aus diesem Gesindel von Unglücklichen schaffen, deren Entschuldigung darin liegt, daß sie an Geist und Körper so viel leiden, daß sie wie das Vieh leben, das lebt und stirbt, ohne etwas zu wissen, zu begreifen, das mit Schlägen bearbeitet wird!«
Nach und nach erstickte ihn das Schluchzen; von seiner Leidenschaft geschüttelt, fortgerissen, vermochte er nur noch stoßweise zu sprechen.
»Ist es nicht der heilige Vater, an den ich mich im Namen der Unglücklichen wenden muß? Sind Eure Heiligkeit nicht der Vater? Muß nicht der Abgesandte der Armen und Geringen vor dem Vater niederknieen, so wie ich in diesem Augenblick kniee? Muß er nicht dem Vater die ungeheure Last ihrer Schmerzen überbringen, und endlich Mitleid, Hilfe, Rettung, Gerechtigkeit, o vor allem Gerechtigkeit verlangen? Eure Heiligkeit sind der Vater: möge also Eure Heiligkeit weit die Thür aufthun, damit alle Welt eintreten kann, bis zu den Geringsten ihrer Kinder – die Getreuen, die zufällig Vorübergehenden, selbst die Empörer, die Verirrten, jene, die vielleicht eintreten, die Eure Heiligkeit vor den Fehlern der Vernachlässigung retten werden. Seien Eure Heiligkeit der Zufluchtsort nach den bösen Straßen, der zärtliche Empfang, der die Wanderer erwartet, die immerwährend brennende gastliche Lampe, die schon von ferne bemerkt wird und die Rettung im Sturm ist ... Und da Eure Heiligkeit die Macht sind, seien Eure Heiligkeit das Heil. Eure Heiligkeit vermögen alles; Eure Heiligkeit haben Jahrhunderte der Gewalt hinter sich, sind heutigentags zu einer moralischen Autorität emporgestiegen, die sich zum Schiedsrichter der Welt machte, und stehen hier vor mir, wie die Majestät der erhellenden und fruchtbar machenden Sonne selbst. O, seien Eure Heiligkeit der Stern der Güte und Barmherzigkeit, der Erlöser, nehmen Eure Heiligkeit die Arbeit Jesu wieder auf! Man hat sie im Lauf der Jahrhunderte verderbt, indem man sie in den Händen der Reichen und Mächtigen ließ, die zuletzt aus dem evangelischen Werke das fluchwürdigste Monument der Hoffart und Tyrannei machten. Das Werk ist verfehlt; möge Eure Heiligkeit es wieder von vorne anfangen, sich mit den Kleinen, den Geringen, den Armen aussöhnen, sie zum Frieden, zur Brüderlichkeit, zur Gerechtigkeit der christlichen Gemeinde zurückführen ... Und Eure Heiligkeit spreche es aus, spreche es aus, daß ich Eure Heiligkeit verstanden, daß ich nur einfach die liebsten Ideen, den einzigen, lebhaften Wunsch der Regierung Eurer Heiligkeit ausgesprochen habe. An dem übrigen, o an dem übrigen, meinem Buche, mir – was liegt daran! Ich verteidige mich nicht, ich will nur den Ruhm Eurer Heiligkeit und das Glück der Menschen. Sprechen Eure Heiligkeit es aus, daß Sie aus der Tiefe Ihres Vatikans das dumpfe Krachen der alten, verfaulten Gesellschaften gehört haben. Sprechen Eure Heiligkeit es aus, daß Sie vor Rührung und Mitleid zittern, daß Sie die furchtbare Katastrophe verhindern wollten, indem Sie Ihren wahnbethörten Kindern das Evangelium ins Gedächtnis rufen, indem Sie sie zur Zeit der Einfachheit und Reinheit, da die ersten Christen als unschuldige Brüder mit einander lebten, zurückführen. – Nicht wahr, o Vater, nur deshalb haben Eure Heiligkeit sich mit den Armen wieder ausgesöhnt, nur deshalb bin ich hier, um von ganzem Herzen, o, mit meinem ganzen armen Menschenherzen Mitleid, Güte, Gerechtigkeit von Eurer Heiligkeit zu verlangen!«
Aber nun erlag er der Aufregung und sank in einem Ausbruch lauten Schluchzens auf dem Boden zusammen. Sein Herz barst und ergoß sich. Es war ein ungeheures, ein endloses Schluchzen, eine fürchterliche Schlagwelle, die aus seinem ganzen Wesen hervorbrach. Sie kam noch von weiter her, von allen den unglücklichen Wesen, sie kam aus der Welt, deren Adern zugleich mit dem Lebensblut den Schmerz mit sich führen. Da lag der Abgesandte des Leides, wie er sich selbst genannt hatte, in seiner plötzlichen, nervösen Schwäche; und zu den Füßen dieses stummen, unbeweglichen Papstes lag mit ihm das ganze weinende Menschenelend.
Leo XIII., der sehr gern sprach und stets eine Anstrengung über sich selbst machen mußte, um anderen zuzuhören, hatte zuerst zweimal eine seiner bleichen Hände erhoben, um ihn zu unterbrechen. Dann als er nach und nach von Erstaunen ergriffen, selbst von der Rührung angesteckt ward, ließ er ihn in der Regellosigkeit der unwiderstehlichen Flut, die ihn fortriß, weitersprechen, seinen Aufschrei zu Ende kommen. Etwas Blut war ihm in das schneeige Gesicht gestiegen, seine Lippen und Wangen hatten sich schwach gerötet, während seine Augen in noch lebhafterem Glanz leuchteten. Sobald er ihn so ohne Stimme zu seinen Füßen niedergeworfen sah, geschüttelt von dem lauten Schluchzen, das ihm das Herz herauszureißen schien, geriet er in Unruhe und beugte sich zu ihm herab.
»Beruhigen Sie sich, mein Sohn, stehen Sie auf.« Aber das Schluchzen währte fort, überströmte und riß, eine rasende Klage der verwundeten Seele, das Murren des leidenden, ringenden Fleisches, alle Vernunft und allen Respekt mit sich fort.
»Stehen Sie auf, mein Sohn, das schickt sich nicht. Da, setzen Sie sich auf diesen Stuhl.«
Und mit einer gebietenden Geberde lud er ihn endlich ein, sich niederzusetzen.
Pierre erhob sich mühsam; er setzte sich, um nicht zu fallen. Er strich sich das Haar aus der Stirn und wischte sich wie wahnwitzig mit den Händen die brennenden Thränen ab, indem er sich zu fassen suchte. Er konnte nicht verstehen, was vorgefallen war.
»Sie rufen den heiligen Vater an. O gewiß seien Sie überzeugt, daß sein Herz voll von Mitleid und Zärtlichkeit für die Unglücklichen ist. Aber darum handelt es sich nicht, sondern um unsere heilige Religion. Ich habe Ihr Buch gelesen; ich sage es Ihnen gleich, es ist ein schlechtes Buch, das denkbar schlechteste und gefährlichste Buch und zwar gerade infolge seiner guten Eigenschaften, infolge der Stellen, die mich selbst interessirten. Ja, ich bin oft davon verführt worden; ich würde die Lektüre nicht fortgesetzt haben, wenn mich nicht der feurige Odem Ihres Glaubens und Ihrer Begeisterung gleichsam emporgetragen hätte. Der Gegenstand ist so schön und zieht mich so lebhaft an! »Das neue Rom!« O, zweifellos ließe sich unter diesem Titel ein Buch schreiben, aber in einem total andern Geiste! Mein Sohn, Sie glauben mich verstanden, sich in meine Schriften und Handlungen so eingelebt zu haben, daß Sie nur meine liebsten Ideen auszudrücken vermeinen. Nein, nein, Sie haben mich nicht verstanden und darum wollte ich Sie sehen, um Sie aufzuklären, zu überzeugen.«
Jetzt hörte Pierre stumm und unbeweglich zu. Er war doch gekommen, um sich zu verteidigen, er hatte diese Unterredung seit drei Monaten fieberhaft herbeigewünscht und siegesgewiß seine Argumente vorbereitet; und nun hörte er wie sein Buch gefährlich, verdammungswürdig genannt wurde, ohne daß er dagegen protestirte, ohne daß er alle die guten Gründe vorbrachte, die er für unwiderstehlich hielt. Eine außerordentliche Mattigkeit drückte ihn nieder; er war von seinem Thränenausbruch gleichsam erschöpft. Aber gleich würde er wieder tapfer sein und sagen, was er beschlossen hatte, zu sagen.
»Man versteht mich nicht, man versteht mich nicht!« wiederholte Leo XIII. mit gereizter, ungeduldiger Miene. »Besonders nicht in Frankreich. Es ist unglaublich, wieviel Mühe es mich kostet, mich dort verständlich zu machen! Zum Beispiel, die weltliche Herrschaft. Wie haben Sie glauben können, daß der heilige Stuhl jemals über diese Frage Vergleiche treffen würde? Diese Sprache ist eines Priesters unwürdig; das ist die Chimäre eines Unwissenden, der sich über die Bedingungen, unter denen das Papsttum bisher gelebt, unter denen es weiter leben muß, wenn es nicht von der Welt verschwinden will, keine Rechenschaft gibt. Sehen Sie nicht den Sophismus ein, wenn Sie erklären, daß es um so höher steht, je mehr es von den Sorgen seines irdischen Königtums befreit ist? Ach ja, das rein geistige Königtum, die Souveränität durch die Barmherzigkeit und die Liebe ist ein schönes Phantasiegebilde! Aber wer wird uns Respekt verschaffen? Wer wird uns einen Stein schenken, um unser Haupt darauf auszuruhen, wenn wir je verjagt werden und durch die Straßen irren? Wer wird unsere Unabhängigkeit sichern, wenn wir von der Gnade aller Staaten abhängen werden? Nein, nein, dieser römische Boden gehört uns, denn wir haben ihn von der langen Reihe der Vorfahren zum Erbe erhalten und er ist der unzerstörbare, ewige Boden, auf dem die heilige Kirche erbaut ist, so daß es den Zusammenbruch der heiligen römisch-katholisch-apostolischen Kirche wünschen heißt, wollte man ihn aufgeben. Uebrigens könnten wir es auch nicht; wir sind durch unsern Schwur vor Gott und den Menschen gebunden.«
Er schwieg einen Augenblick, um Pierre Zeit zu einer Antwort zu lassen. Aber dieser sah zu seinem Erstaunen, daß er keine Antwort fand, denn er bemerkte, daß dieser Papst sprach, wie er mußte. Das Wirre und Schwere, das sich in ihm angehäuft, das ihn vorhin im geheimen Vorsaal bedrückt hatte, hellte sich mit einemmale wieder auf und zeichnete sich mit immer größerer Deutlichkeit ab. Es war alles, was er seit seiner Ankunft gesehen, alles was er begriffen hatte, die Masse seiner Enttäuschungen, der bestehenden Wirklichkeit, unter deren Last sein Traum von einer Rückkehr zum Urchristentum bereits halb gestorben, zermalmt war. Er entsann sich plötzlich der Stunde, da er sich auf dem Dom von St. Peter, angesichts der alten, hartnäckig auf ihren Purpur bestehenden Stadt mit seinem Phantasiegebilde von einem rein geistigen Papst albern vorgekommen war. An diesem Tage war er vor dem wütenden Geschrei der den Papst-König akklamirenden Pilger des Peterspfennigs geflohen. Die Notwendigkeit des Geldes, dieser letzten Sklavenfessel des Papstes, hatte er hingenommen. Aber dann, als das wirkliche Rom, die uralte Stadt der Hoffart und der Gewalt ihm erschien, war alles zusammengebrochen. Das Papsttum würde darin ohne die weltliche Herrschaft nicht bestehen können. Zu viele Bande, das Dogma, die Ueberlieferung, die Umgebung, der Boden selbst machten es für ewig unwandelbar. Es konnte nur dem Scheine nach nachgeben; trotz allem würde eine Stunde kommen, in der die Unmöglichkeit, weiterzugehen, ohne Selbstmord zu begehen, seine Zugeständnisse aufhalten mußte. Das neue Rom würde sich vielleicht eines Tages nur außerhalb von Rom, in der Ferne verwirklichen; nur dort würde das Christentum wieder erwachen, denn der Katholizismus müßte an Ort und Stelle sterben, wenn der letzte Papst, an diesen Ruinenboden angenagelt, unter dem letzten Krachen des Domes von St. Peter verschwinden würde. Und dieser wird zusammenbrechen, wie der Tempel des Jupiter Capitolinus zusammengebrochen war. Was den heutigen Papst anbetraf, so flammte, mochte er auch kein Königreich mehr haben, mochte er auch die kränkliche Gebrechlichkeit seines hohen Alters, die blutlose Blässe eines sehr alten, wächsernen Götzenbildes besitzen, nichtsdestoweniger die brennende Leidenschaft nach der Weltherrschaft in ihm, war er nichtsdestoweniger der starrsinnige Sohn des Ahnen, der Pontifex Maximus, der Cäsar Imperator, in dessen Adern das Blut des Augustus, des Herrn der Welt floß.
»Sie haben den innigen Wunsch nach Einheit, der uns immer erfüllt hat, sehr richtig erkannt,« fuhr Leo XIII. fort. »An dem Tage, an dem wir den Ritus vereinigten, indem wir der ganzen katholischen Welt den römischen Ritus auferlegten, waren wir sehr glücklich. Das ist einer unserer liebsten Siege, denn er vermag viel für unsere Autorität. Ich hoffe auch, daß unsere Bemühungen im Orient uns zuletzt unsere lieben verirrten Brüder aus den Dissidentengemeinden zurückführen werden, ebensowenig wie ich nicht daran verzweifle, die anglikanischen Sekten zu überzeugen – abgesehen von den protestantischen Sekten, die in den Schoß der einzigen römisch-katholisch-apostolischen Kirche zurückkehren müssen, sobald sich die von Christus geweissagte Zeit erfüllen wird. Was Sie aber nicht gesagt haben, ist, daß die Kirche nicht das geringste vom Dogma aufgeben kann. Im Gegenteil, Sie scheinen geglaubt zu haben, daß eine Einigung entstehen, daß man sich von dieser und jener Seite Zugeständnisse machen wird; das ist ein verdammungswürdiger Gedanke, eine Sprache, die ein Priester nicht sprechen darf, ohne ein Verbrecher zu sein. Die Wahrheit ist absolut; kein Stein des Gebäudes darf verrückt werden. O, in der Form – soviel man will! Wir sind zur größten Versöhnlichkeit geneigt, wenn es sich nur um die Umgehung gewisser Schwierigkeiten, um eine vorsichtige Ausdrucksweise zur Erleichterung der Einigung handelt. Das ist gerade so wie unsere Rolle im zeitgenössischen Sozialismus. Wir müssen uns verstehen. Gewiß sind die, die Sie so richtig die Enterbten dieser Welt nannten, der Gegenstand unserer Sorge. Wenn der Sozialismus einfach den Wunsch nach Gerechtigkeit, die fortwährende Absicht ist, den Schwachen und Leidenden zu Hilfe zu kommen, so beschäftigt sich, so arbeitet niemand mit größerer Energie daran wie wir. Ist denn die Kirche nicht stets die Mutter der Betrübten, die Helferin und Wohlthäterin der Armen gewesen? Wir sind für allen vernünftigen Fortschritt, wir geben alle neuen sozialen Formen zu, die zum Frieden, zur Brüderlichkeit verhelfen werden. Aber den Sozialismus, der damit anfängt, Gott zu versagen, um das Glück der Menschen zu sichern, können wir nicht anders als verdammen. Das ist einfach ein Zustand der Wildheit, ein abscheulicher Rückfall, bei dem es nichts als Katastrophen, Brand und Gemetzel geben wird. Das ist auch etwas, was Sie nicht mit genügendem Nachdruck gesagt haben; denn Sie haben nicht dargelegt, daß außerhalb der Kirche keinerlei Fortschritt stattzufinden vermag, mit einem Worte, daß sie die einzige Einweihende, die einzige Führerin ist, der man sich furchtlos anvertrauen darf. Ja, es schien mir sogar – und das ist eines Ihrer Verbrechen – es schien mir, daß Sie Gott beiseite setzten, daß die Religion für Sie einzig und allein ein seelischer Zustand, eine Blüte der Liebe und Barmherzigkeit blieb, in der man sich bloß zu finden braucht, um sein Heil zu sichern. Eine fluchwürdige Häresie! Gott ist immer gegenwärtig, der Herr der Seelen und Körper, und die Religion bleibt das Band, das Gesetz, sogar die Regierung der Menschen, ohne die es nichts als Barbarei in dieser Welt und Verdammung in der andern geben könnte. Nochmals, an der Form liegt nichts; es genügt, wenn das Dogma bestehen bleibt. So beweist unsere Zustimmung zur Republik in Frankreich, daß wir das Schicksal der Religion nicht an eine selbst erhabene und uralte Regierungsform knüpfen wollen. Wenn die Zeit der Dynastien vorüber ist – Gott ist ewig. Mögen die Könige zu Grunde gehen, Gott aber lebe! Uebrigens hat die republikanische Staatsform nichts antichristliches an sich; im Gegenteil, es scheint, daß sie etwas wie ein Erwachen jener christlichen Gemeinde ist, von der Sie in wirklich reizenden Worten sprachen. Das Schlimmste ist, daß die Freiheit sofort eine Licenz wird und daß man uns unsern Vermittlungswunsch oft sehr böse lohnt. – Ach, mein Sohn, was für ein schlechtes Buch haben Sie geschrieben! Ich will ja glauben, daß es in der besten Absicht geschah. Und wie beweist Ihr Schweigen, daß Sie die verhängnisvollen Folgen Ihres Fehlers einzusehen beginnen!« Vernichtet, fuhr Pierre fort zu schweigen; er fühlte in der That, daß eines seiner Argumente nach dem andern wie an einem tauben, blinden, undurchdringlichen Felsen zusammenbrach. Es wäre nutzlos, es wäre ein Hohn gewesen, wenn er versucht hätte, sie in ihn hineinzutreiben. Wozu denn, da doch nichts in ihn eindrang? Er hatte jetzt nur noch einen Gedanken: er fragte sich mit Ueberraschung, wie ein Mann von dieser Intelligenz, diesem Ehrgeiz sich nicht einen klareren und genaueren Begriff von der modernen Welt gemacht habe? Offenbar war er über alles belehrt, unterrichtet, auf alles achtsam, hatte die unermeßliche Karte der Christenheit mit deren Bedürfnissen, Hoffnungen, Handlungen im Kopfe, und blieb inmitten des komplizirten Gewirres seiner diplomatischen Kämpfe hellsehend und klar. Und dennoch, was für Lücken! Es konnte nicht anders sein, als daß er von der Welt einzig und allein das wußte, was er von ihr während seiner kurzen Nuntiatur in Brüssel gesehen hatte. Dann kam sein Episkopat in Perugia, wo er sich nur in das Leben des jungen, entstehenden Italiens gemischt hatte, und nun war er seit achtzehn Jahren in seinem Vatikan eingeschlossen, von den übrigen Menschen isolirt, verkehrte mit den Völkern nur durch seine Umgebung, die oft höchst unintelligent, lügenhaft und verräterisch war. Außerdem war er ein italienischer Priester, ein Papst, abergläubisch und despotisch, von der Ueberlieferung gefesselt, den Einflüssen der Rasse und Umgebung, dem Geldbedürfnis, den politischen Notwendigkeiten unterworfen – ganz abgesehen von seinem ungeheuren Stolz, von der Gewißheit, daß er der Gott sei, dem man gehorchen muß, die einzige gesetzliche und vernünftige Macht auf Erden. Daher rühren die Ursachen der verhängnisvollen Mißgestaltung dieses außerordentlichen Kopfes, der er mit seinen Fehlern, seinen Mängeln mitten unter so vielen bewundernswerten Eigenschaften sein mußte; denn er besaß ein rasches Verständnis, einen geduldigen Willen, die unermeßliche Kraft, die verallgemeinert und handelt. Insbesondere aber die Intuition schien wunderbar zu sein; war sie es denn nicht, sie allein, die ihn in seinem freiwilligen Gefängnis aus der Ferne die ungeheure Entwicklung der heutigen Menschheit erraten ließ? So hatte er das deutliche Bewußtsein der furchtbaren Gefahr, in der er sich befand; er sah die steigende Flut der Demokratie, den grenzenlosen Ozean der Wissenschaft, der die schmale Insel, auf der der Dom von St. Peter noch triumphirt, zu überschwemmen droht. Er brauchte sich nicht einmal ans Fenster zu stellen; die Stimmen von außen drangen durch die Mauer und trugen ihm den Schrei der Geburt neuer Gesellschaften zu. Davon ging seine ganze Politik aus; er hatte nie einen andern Bedarf gehabt, als zu siegen, um zu herrschen. Wenn er die Einheit der Kirche wollte, so kam das daher, weil er sie für den Angriff, den er voraussah, stark und unbezwinglich machen wollte. Wenn er Versöhnung predigte, in Formsachen nach Kräften nachgab, die Kühnheit der amerikanischen Bischöfe duldete, so kam das von seiner großen, uneingestandenen Furcht vor einer Auflösung der Kirche selbst, vor irgend einem plötzlichen Schisma, das das Unheil beschleunigen würde. Ach, dieses Schisma! Er mußte es wie eine nahe Drohung, eine unvermeidliche Todesgefahr, gegen die man sich im voraus wappnen muß, in der Luft spüren, die von den vier Punkten des Horizonts kam. Wie gut erklärte diese Furcht seine zärtliche Rückkehr zum Volke, seine Beschäftigung mit dem Sozialismus, die christliche Lösung, die er dem Elend hienieden bot! Cäsar war zu Boden geworfen; war da nicht der lange Streit, wer von ihnen beiden, er oder der Papst das Volk haben sollte, durch die Thatsache beigelegt, daß der Papst allein aufrecht blieb und das Volk, der große Stumme endlich im Begriff war, den Mund aufzuthun und sich ihm hinzugeben? Der Versuch war in Frankreich gemacht worden; er ließ dort die besiegte Monarchie im Stiche, anerkannte die Republik und wollte sie stark und siegreich sehen; denn Frankreich war immer die älteste Tochter der Kirche, die einzige katholische Nation, die noch mächtig genug war, um eines Tages vielleicht die weltliche Herrschaft des heiligen Stuhles wieder herzustellen. Herrschen, herrschen! Also durch Frankreich herrschen, da es unmöglich zu sein schien, durch Deutschland zu herrschen! Durch das Volk herrschen, da das Volk der Herr der Throne war und sie austeilte! Durch die italienische Republik herrschen, wenn nur diese Republik ihm das dem Hause Savoyen entrissene Rom wiedergeben konnte – durch eine föderative Republik, die den Papst zum Präsidenten der Vereinigten Staaten Italiens machen würde, bis er der der Vereinigten Staaten Europas ward! Herrschen um jeden Preis, herrschen trotz allem – die Welt beherrschen, wie Augustus sie beherrscht hatte, dessen gieriges Blut das einzige war, was diesen erlöschenden, auf seine Herrschaft erpichten Greis aufrecht hielt!
»Und Ihr Verbrechen, mein Sohn,« fuhr Leo XIII. fort, »besteht endlich darin, daß Sie es gewagt haben, eine neue Religion zu verlangen. Das ist gottlos, blasphemisch, ein Sakrileg. Es gibt nur eine Religion – unsere heilige, römisch-katholisch-apostolische. Außerhalb ihr kann es nur Nacht und Verdammnis geben ... Ich verstehe wohl, daß Sie vorgeben, eine Rückkehr zum Christentum herbeiführen zu wollen. Aber die so sündhafte, so fluchwürdige protestantische Irrlehre hatte auch keinen andern Vorwand. So wie man sich von der strengen Beobachtung der Dogmen, dem unbedingten Respekt vor den Ueberlieferungen entfernt, stürzt man in die fürchterlichsten Abgründe ... Ach, das Schisma, das Schisma! Mein Sohn, das ist ein Verbrechen, für das es keine Verzeihung gibt, das ist die Ermordung des wahren Gottes, das unreine Tier der Versuchung, von der Hölle zum Verderben der Gläubigen aufgehetzt. Wenn es in Ihrem Buche nur diese Worte von der ›neuen Religion‹ gäbe, müßte man es zerstören, verbrennen wie ein tödliches Seelengift.«
Er sprach noch lange so weiter. Pierre aber dachte an das, was Don Vigilio ihm von den Jesuiten erzählt hatte, die im Dunkeln, im Vatikan wie anderwärts allmächtig waren und die Kirche unumschränkt regierten. War es also wahr, daß dieser staatsmännische Papst mit dem stets wachen Opportunismus, der von den Lehren des heiligen Thomas so durchdrungen zu sein glaubte, selbst unbewußt einer von ihnen, das fügsame Werkzeug in ihren gelenken sozialen Erobererhänden war? Auch er paktirte mit dem Jahrhundert, kam der Welt entgegen, ließ sich herab, ihr zu schmeicheln, um sie zu besitzen. Pierre hatte noch nie so grausam tief empfunden, daß die Kirche fortan darauf beschränkt war, nur durch Zugeständnisse und Schlauheit zu leben. Nun endlich ging ihm das, für einen französischen Priester anfangs so schwere Verständnis für diesen römischen Klerus, diese durch den Papst, seine Kardinäle, seine Prälaten dargestellte Regierung der Kirche auf. Gott in eigener Person hat sie mit der irdischen Verwaltung seines Gutes, der Menschen und der Erde, betraut. Sie fangen damit an, Gott beiseite, in den Hintergrund seines Tabernakels zu stellen, dulden nicht mehr, daß man über ihn verhandelt, schreiben die Dogmen als die Wahrheiten seines Wesens vor, kümmern sich aber selbst nicht mehr um ihn und verlieren keine Zeit damit, seine Existenz durch müßige, theologische Erörterungen zu beweisen. Offenbar existirt er, da sie in seinem Namen regieren. Das genügt. Sonach sind sie im Namen Gottes die Herren, willigen wohl ein, der Form nach Kandordate zu unterzeichnen, halten sie aber nicht, beugen sich nur vor der Gewalt und behalten sich stets ihre Oberhoheit vor, die schließlich eines Tages triumphiren wird. In Erwartung dieses Tages benehmen sie sich einfach wie Diplomaten, organisiren die langsame Eroberung wie Beamte des triumphirenden Gottes von morgen und die Religion mit dem Prunk, der Pracht, die die Mengen gewinnen, ist somit nichts als die öffentliche Huldigung, die sie ihm einzig und allein zu dem Zwecke erweisen, ihn über die entzückte, eroberte Menschheit regieren zu lassen – besser gesagt, um an seiner Statt zu regieren; denn sie sind seine sichtbaren, von ihm bestellten Vertreter. Sie stammen von dem römischen Recht ab, sie sind immer nur die Kinder dieses alten, heidnischen, römischen Bodens, und wenn sie fortbestanden, wenn sie ewig, bis zu der ersehnten Stunde, da die Weltherrschaft ihnen zurückgegeben werden wird, fortzubestehen glauben, so kommt das daher, weil sie die direkten Erben der Cäsaren, weil sie in ihren Purpur gehüllt, weil sie das ununterbrochene, lebendige Geschlecht aus dem Blute des Augustus sind.
Pierre schämte sich nun seiner Thränen. Ach, seine armen Nerven! Ach, die Hilflosigkeit des Empfindsamen, des Schwärmers! Scham ergriff ihn, als hätte er sich hier in der Nacktheit seiner Seele gezeigt. Großer Gott, und wie unnütz! In diesem Zimmer, in dem nie etwas Aehnliches gesprochen worden, vor diesem Papst-König, der ihn nicht hören konnte! Der politische Gedanke der Päpste, durch die Geringen und durch die Armen zu herrschen, flößte ihm Grauen ein. War der Gedanke, das von seinen ehemaligen Herren befreite Volk aufzusuchen, um sich nun seinerseits von ihm zu nähren, nicht teuflisch? Wahrlich, er hatte an dem Tage, da er sich einbildete, ein römischer Prälat, ein Kardinal, ein Papst wären im stande, die Rückkehr zur christlichen Gemeinde, eine neue Blüte des Urchristentums zuzugeben, die die alten, vom Haß verzehrten Völker pacificirt, wahnsinnig sein müssen. Ein solcher Einfall konnte Menschen, die seit Jahrhunderten die Herren der Welt waren, mit sorgloser Verachtung auf die Geringen und die Leidenden herabsahen, zuletzt der Barmherzigkeit und Liebe vollständig unfähig geworden waren, nicht einmal in den Sinn kommen.
Aber Leo XIII. sprach mit seiner dicken, unversiegbaren Stimme immer weiter und der Priester hörte, wie er sagte:
»Warum haben Sie jene von einem so bösen Geist befleckte Stelle über Lourdes geschrieben? Lourdes, mein Sohn, hat der Religion große Dienste erwiesen. Ich habe Leuten gegenüber, die mir die rührenden, fast täglich sich begebenden Wunder der Grotte erzählen kamen, öfters den lebhaften Wunsch geäußert, daß diese Wunder durch die strengste Wissenschaft bestätigt, festgestellt werden möchten. Aber nach dem, was ich gelesen habe, scheint es mir, daß heutzutage auch die Uebelwollenden nicht mehr zweifeln können, denn die Wunder sind fortan auch wissenschaftlich in unwiderleglicher Weise bewiesen worden ... Die Wissenschaft, mein Sohn, muß die Magd Gottes sein. Sie vermag nichts gegen ihn, und nur durch ihn allein gelangt sie zur Wahrheit. Alle Lösungen, die man wirklich zu finden angibt, die die Dogmen zu zerstören scheinen, werden eines Tages notgedrungen für falsch erkannt werden; denn die Wahrheit Gottes wird siegen, sobald die Zeit sich erfüllt hat. Es sind doch ganz einfache Gewißheiten, die schon die kleinen Kinder kennen, die für den Frieden, das Heil der Menschen genügen würden, wenn sie sich mit ihnen begnügen wollten ... Und, mein Sohn, seien Sie überzeugt, daß der Glaube mit der Vernunft nicht unvereinbar ist. Ist nicht der heilige Thomas da, der alles vorausgesehen, alles erklärt, alles geregelt hat? Ihr Glauben ist durch den Ansturm des Geistes der Forschung erschüttert worden; Sie haben Beunruhigungen, Beängstigungen kennen gelernt, die der Himmel den Priestern dieses altgläubigen Landes, dieses vom Blute so vieler Märtyrer geheiligten Roms ersparen möge. Aber wir fürchten den Geist der Forschung nicht; studiren Sie weiter, lesen Sie gründlich den heiligen Thomas und Ihr Glaube wird fester, entschiedener und triumphirend wiederkehren.«
Pierre nahm alle diese Dinge verstört entgegen, als ob ihm Stücke des Himmelskörpers auf den Schädel gefallen wären. O Gott der Wahrheit! Die Wunder von Lourdes sind wissenschaftlich bewiesen, die Wissenschaft ist die Magd Gottes, der Glaube mit der Vernunft vereinbar, der heilige Thomas genügt der Gewißheit des Jahrhunderts! O Gott, wieso antworten? Und wozu antworten?
»Es ist das sündhafteste und gefährlichste Buch, das existirt,« schloß Leo XIII. endlich. »Ein Buch, dessen bloßer Titel, ›Das neue Rom‹, an und für sich eine Lüge und ein Gift ist, ein Buch, daß um so verdammungswürdiger erscheint, als es alle Verlockungen des Stils, alle Verderbtheiten hochherziger Chimären besitzt – mit einem Wort ein Buch, das ein Priester, wenn er es in einer Stunde der Verirrung verfaßt hat, zur Strafe öffentlich, mit derselben Hand verbrennen muß, die diese irrenden, ärgerniserregenden Seiten schrieb.«
Pierre erhob sich plötzlich und stand aufrecht da. In der ungeheuren Stille, die sich um dieses ausgestorbene, so schwach beleuchtete Zimmer gebildet hatte, existirte nichts als das Rom vor den Fenstern, das nächtliche, schattenüberflutete, ungeheure, schwarze, nur von Sternenstaub bestreute Rom.
»Es ist wahr,« wollte er rufen, »ich hatte den Glauben verloren, aber ich glaubte ihn in dem Mitleid wieder zu finden, das das Elend der Welt mir ins Herz legte. Sie waren meine letzte Hoffnung, der erwartete Erlöser. Nun ist auch das ein Traum. Sie können kein neuer Jesus sein und am Vorabend des furchtbaren Bruderkrieges, der sich vorbereitet, Frieden unter den Menschen stiften. Sie können den Thron nicht lassen und mit den Geringen, mit den Armen durchs Land ziehen, um das erhabene Werk der Brüderlichkeit zu vollziehen. Wohlan, es ist aus mit Ihnen, aus mit Ihrem Vatikan, Ihrem heiligen Vater. Alles bricht unter dem Ansturm des aufsteigenden Volkes und der wachsenden Wissenschaft zusammen. Sie existiren nicht mehr; nichts existirt hier mehr als Schutt.«
Aber er sprach diese Worte nicht aus. Er verbeugte sich und sagte:
»Heiliger Vater, ich unterwerfe mich und verwerfe mein Werk.«
Seine Stimme zitterte vor bitterem Widerwillen; seine ausgebreiteten Hände machten eine hilflose Bewegung, als lasse er seine Seele fahren. Es war die genaue Unterwerfungsformel: Auctor laudabiliter se subjecit et opus reprobavit – der Verfasser hat sich löblicherweise unterworfen und sein Werk verworfen. Es gab keine höhere Verzweiflung, keine erhabenere Größe im Gestehen eines Irrtums und im Selbstmord einer Hoffnung. Aber welch furchtbare Ironie! Dieses Buch, das nie zurückzuziehen er geschworen, für dessen Sieg er so leidenschaftlich gekämpft hatte – nun verleugnete, nun unterdrückte er es mit einemmale selbst, nicht weil er es für strafbar hielt, sondern weil er eben eingesehen, daß es nutzlos, chimärisch war, wie der Wunsch eines Liebenden, ein Dichtertraum. Ach ja, wozu bei der Illusion eines unmöglichen Erwachens beharren, da er sich getäuscht, da er geträumt hatte, da er hier weder den Gott noch den Priester gefunden, den er zum Glück der Menschen ersehnte! Da war es besser, wenn er sein Buch gleich einem toten Blatt zu Boden warf, besser, wenn er es verleugnete, wie ein abgestorbenes, fortan nutzlos und sinnloses Glied von sich abschnitt!
Leo XIII. stieß, über einen so raschen Sieg etwas überrascht, einen leichten Ausruf der Befriedigung aus.
»Das ist sehr schön, sehr schön, mein Sohn! Sie haben da die einzigen weisen Worte gesprochen, die Ihrem Stande als Priester geziemen!«
Und er, der nie etwas dem Zufall überließ, der jede seiner Audienzen bis auf die Worte, die er sagen, bis auf die Gesten, die er machen würde, vorbereitete, wurde in seiner sichtlichen Befriedigung etwas milder und legte eine wirkliche Gutmütigkeit an den Tag. Da er die wahren Beweggründe dieser Unterwerfung, dieser Empörung nicht verstand, sich über sie täuschte, so genoß er die stolze Freude, ihn so leicht zum Schweigen gebracht zu haben; denn seine Umgebung hatte ihm von ihm das Bild eines schrecklichen Revolutionärs entworfen. Eine solche Bekehrung schmeichelte ihm daher sehr.
»Uebrigens, mein Sohn, habe ich von Ihrem hervorragenden Geiste nichts anderes erwartet. Es gibt keinen höheren Genuß als seinen Fehler zu erkennen, Buße zu thun und sich zu unterwerfen.«
Er hatte mit einer vertraulichen Geberde wieder nach seinem Glase Sirup auf dem Tischchen gegriffen und rührte es, ehe er den letzten Schluck trank, mit dem langen, vergoldeten Silberlöffel noch einmal um. Pierre fiel es besonders auf, daß er wieder wie zu Anfang so zusammengefallen aussah und von seiner hehren Majestät herabgesunken zu sein schien; er glich einem sehr alten Kleinbürger, der einsam sein Glas Zuckerwasser trank, ehe er sich zu Bette legte. Die Gestalt war, nachdem sie wie ein am Zenith aufsteigender Stern zugenommen und gestrahlt hatte, wieder am Horizont, knapp am Boden, in ihre menschliche Mittelmäßigkeit untergesunken. Mit seinem dünnen Halse, der dem eines kleinen, kranken Vogels glich, mit seiner greisenhaften Häßlichkeit, erschien er ihm wieder kränklich, gebrechlich. Diese Häßlichkeit erschwerte die Herstellung seiner Porträts, ob nun auf Gemälden oder Photographien, goldenen Medaillen oder Marmorbüsten; denn er sagte, daß man nicht den Papa Pecci, sondern Leo XIII., den großen Papst abkonterfeien müsse, von dem er der Nachwelt ein so hohes Bild zurücklassen wollte. Und Pierre wurde von neuem von dem auf den Knieen des Papstes liegen gebliebenen Schnupftuch, von der unsauberen, mit Tabak befleckten Sutane gestört, die er einen Augenblick nicht mehr gesehen hatte. Er empfand nichts mehr als ein gerührtes Mitleid mit einem so hohen, reinen und weißen Alter, nichts als eine tiefe Bewunderung für die hartnäckige Lebenskraft, die sich in die schwarzen Augen zurückgezogen hatte, nichts als die ehrerbietige Hochachtung des Arbeiters vor dem großen, von so zahllosen Gedanken und Handlungen überströmenden Gehirn mit seinen unermeßlichen Plänen.
Die Audienz war zu Ende; er verneigte sich tief. »Ich danke für den väterlichen Empfang, den Eure Heiligkeit mir zu teil werden lassen geruhten.«
Aber Leo XIII. geruhte ihn noch eine Minute zurückzuhalten, indem er wieder von Frankreich sprach und den lebhaften Wunsch ausdrückte, es zum größten Wohl der Kirche glücklich, ruhig und stark zu sehen. Und während dieser letzten Minute hatte Pierre eine seltsame Vision. Es war ein wahrer Spuk. Während er die elfenbeinerne Stirn des heiligen Vaters betrachtete, während er an sein hohes Alter dachte, bei dem ihn der geringste Schnupfen wegraffen konnte, fiel ihm, durch eine unwillkürliche Ideenverbindung die wild-große, übliche Scene ein: Pius IX., Giovanni Mastai, vor zwei Stunden verschieden, das Gesicht mit einem weißen Linnen bedeckt, von der verstörten päpstlichen Hausgenossenschaft umgeben; Kardinal Pecci, der Kardinalkämmerer, nähert sich dem Totenbette, läßt die Hülle entfernen und schlägt dreimal mit seinem silbernen Hammer auf die Stirn des Leichnams, jedesmal den Ruf ausstoßend: Giovanni, Giovanni, Giovanni! Und da der Leichnam nicht geantwortet hat, dreht sich der Kardinal, nachdem er sich einige Sekunden geduldet, um und spricht: »Der Papst ist tot!« Zu gleicher Zeit erblickte Pierre da unten in der Via Giulia den Kardinal Boccanera, den Kardinalkämmerer, der mit seinem silbernen Hammer wartete, und sah vor sich Leo XIII., Joachim Pecci, wie er, seit zwei Stunden verschieden, das Gesicht von einem weißen Linnen bedeckt, von seinen Prälaten umgeben, in diesem selben Zimmer lag. Und er sah wie der Kardinalkämmerer sich näherte, die Hülle entfernen ließ, und dreimal auf die elfenbeinerne Stirn schlug, indem er jedesmal den Ruf ausstieß: Joachim, Joachim, Joachim! Dann, da der Leichnam nicht geantwortet hatte, drehte er sich, nachdem er sich einige Sekunden geduldet, um und sprach: »Der Papst ist tot!« Erinnerte sich Leo XIII. an die drei Schläge, die er Pius IX. auf die Stirn gegeben – fühlte er manchmal auf seiner Stirn die eisige Furcht vor den drei Schlägen, die tödliche Kälte des Hammers, mit dem er den Kardinalkämmerer, den unversöhnlichen Gegner, den er, wie er wußte, in Kardinal Boccanera besaß, bewaffnet hatte?
»Gehen Sie in Frieden, mein Sohn,« sprach endlich Seine Heiligkeit wie zu einem letzten Segensspruch. »Ihr Fehler wird Ihnen erlassen werden, da Sie ihn gebeichtet haben und Abscheu darüber bezeigen.«
Ohne zu antworten, entfernte sich Pierre, dem üblichen Zeremoniell gemäß, rückwärts schreitend. Seine Seele war geängstigt; er nahm die Demütigung als die verdiente Strafe seiner Chimäre hin. Dreimal verneigte er sich tief; dann schritt er aus der Thür, ohne sich umzudrehen, gefolgt von den schwarzen Augen Leos XIII., die nicht von ihm wichen. Trotzdem sah er noch, wie er wieder nach der Zeitung griff, deren Lektüre er unterbrochen hatte, um ihn zu empfangen. Er hatte die Neigung zur Presse, eine lebhafte Neugierde nach Neuigkeiten bewahrt, obwohl er sich in seiner Isolirung oft über die Bedeutung der Artikel täuschte und gewissen derselben in einigen Punkten eine Wichtigkeit beimaß, die sie nicht besaßen. Die beiden Lampen brannten mit ruhigem, unbeweglichem Licht; das Zimmer versank wieder in seine große Stille und seinen unendlichen Frieden.
In der Mitte des geheimen Vorsaales stand Herr Squadra, schwarz und unbeweglich; er wartete. Als er bemerkte, daß Pierre in seiner erschreckten Betäubung, seinen Hut vergessend, an dem Pfeilertisch vorüberging, auf dem er ihn hatte liegen lassen, ergriff er vorsichtig diesen Hut und reichte ihn ihm mit einer stummen Verbeugung. Dann begann er wieder ohne jede Eile, mit demselben Schritt wie beim Kommen, ihm voraus zu gehen, um ihn in den Clementinensaal zurückzuführen.
Nun fand, in entgegengesetzter Richtung, derselbe ungeheure Spaziergang, das endlose Wandern durch endlose Säle statt. Noch immer keine Seele zu sehen, kein Geräusch, kein Hauch zu hören. In jedem der leeren Gemächer blakte die einzige, einsame, gleichsam vergessene Lampe und brannte noch schwächer in der noch größeren Stille. Die Einöde schien sich erweitert zu haben, je mehr die Nacht vorrückte, und die unter den hohen, vergoldeten Decken zerstreuten spärlichen Möbel, die Throne, Holzschemel, Pfeilertische, Kruzifixe und Armleuchter, die sich in jedem Saale wiederholten, in Finsternis tauchte. So kam nach dem Ehrenvorsaal, dessen Damast rot glühte, der Saal der Nobelgarde; er schlummerte in einem leichten Weihrauchduft, den eine am Morgen abgehaltene Messe zurückgelassen hatte. Dann kam der Tapetensaal, der Saal der palatinischen Garde, der Saal der Gendarmen; in dem darauf folgenden Saal der Bussolanti war der letzte der dienstthuenden Bedienten, auf dem Bänkchen sitzend, so fest eingeschlafen, daß er gar nicht erwachte. Die Schritte hallten schwach auf den Fliesen; das trübe Licht dieses geschlossenen, von allen Seiten wie ein Grab eingemauerten, in dieser späten Stunde von einem alles überschwemmenden Nichts überkommenen Palastes, erstickte sie. Endlich kam der Clementinensaal, den der Wachposten der Schweizer Garde eben verlassen hatte.
Bis zu diesem Saale hatte Herr Squadra nicht den Kopf gewandt. Noch immer stumm trat er, ohne eine Geberde, beiseite und ließ Pierre vorüber, indem er sich ein letztesmal verbeugte. Dann verschwand er.
Und Pierre stieg die beiden Stockwerke der monumentalen Treppe hinab, welche die matten Kugeln der Gasbrenner mit dem Lichte von Nachtlampen erhellten; eine außerordentliche Stille herrschte, seit die Tritte der wachestehenden Schweizer Gardisten nicht mehr auf den Treppenabsätzen widerhallten. Er durchschritt den Damasiushof, der leer und ausgestorben unter dem blassen Schein der Laternen des Perrons dalag, stieg die Scala Pia, die andere ebenso leere, in ihrem Halbdunkel ebenso ausgestorbene Riesentreppe hinab und durchschritt endlich die Bronzethür, die ein Thürsteher hinter ihm mit langsamem Druck zuschob und schloß. Und wie murrte, wie wild schrillte das harte Metall über all das, was diese Thür verschloß: diese zusammengehäufte Finsternis, diese wachsende Stille, die unbeweglichen Jahrhunderte, die die Ueberlieferung hier verewigte, die unzerstörbaren, mit ihren Mumienbinden aufbewahrten Dogmen, all die Ketten, die drücken und fesseln, den ganzen Apparat strenger Knechtschaft und höchster Gewalt, deren furchtbaren Widerhall die Echos der einsamen, dunklen Säle zurückwarfen.
Auf dem Petersplatz befand er sich inmitten dieser düsteren Unermeßlichkeit ganz allein. Kein verspäteter Spaziergänger, kein Wesen war zu sehen – nichts als zwischen den vier Armleuchtern die hohe, aus dem ausgedehnten Mosaik des kleinen grauen Pflasters auftauchende Erscheinung des Obelisken. Auch die Fassade der Basilika stieg wie ein bleicher Traum auf; gleich zwei ungeheuren Armen breitete sie die vierfachen Reihen der Säulen der Kolonnade aus, die, von Dunkelheit überflutet, einem steinernen Hochwald glichen. Sonst nichts. Der Dom war nur eine maßlose Rundung, die man an dem mondlosen Himmel kaum erriet. Bloß die Wasserstrahlen der Fontainen, die man zuletzt wie dünne, bewegliche Phantome unterschied, ließen ihre Stimme, ein endloses, traurig klagendes Gemurmel ertönen, das aus wer weiß was für einem Dunkel kam. Ach, die schwermütige Größe dieses Schlummers! Ach, dieser ganze berühmte Platz mit dem Vatikan, mit Sankt Peter, des Nachts, von Dunkel und Stille überflutet! Plötzlich schlug die Uhr zehn – so langsam und so laut, daß es schien, als hätte nie eine feierlichere, entscheidendere Stunde in einer tieferen, düsteren, unergründlichen Unendlichkeit geschlagen.
Pierre stand unbeweglich inmitten des weiten Raumes; sein ganzes, armes, zerbrochenes Wesen erzitterte. Wie, hatte er da droben kaum drei Viertelstunden mit dem weißen Greise gesprochen, der ihm seine ganze Seele herausgerissen hatte? Ja, das war das Ende: der letzte Glaube war ihm aus seinem blutenden Gehirn und Herzen herausgerissen worden. Das letzte Experiment war gemacht; eine Welt war in ihm zusammengebrochen. Mit einemmale fiel ihm Monsignore Nani ein, indem er bedachte, daß dieser allein recht gehabt hatte. Man hatte ihm gesagt, daß er zuletzt doch das thun würde, was Monsignore Nani wollte und jetzt sah er zu seiner Verblüffung, daß er es gethan hatte.
Aber eine plötzliche Verzweiflung, eine so furchtbare Angst ergriff ihn, daß er aus der Tiefe des nächtigen Abgrundes, in dem er sich befand, seine beiden zitternden Arme ins Leere erhob und ganz laut sprach:
»Nein, nein, hier bist Du nicht, o Gott des Lebens und der Wahrheit, Gott der Rettung! So komm doch, erscheine, da deine Kinder sterben, weil sie weder wissen, wer du bist noch wo du in der Unendlichkeit der Welten lebst!«
Ueber dem ungeheuren Platze breitete sich der ungeheure, dunkle, blausammetne Himmel, die stumme, beunruhigende Unendlichkeit aus, auf der die Gestirne zuckten. Der Wagen über den Dächern des Vatikans schien noch mehr nach rückwärts gefallen zu sein; seine goldenen Räder waren gleichsam vom rechten Wege abgewichen, seine goldene Deichsel ragte in die Luft. Orion dagegen, da unten, über Rom, auf der Seite der Via Giulia, war im Begriffe zu verschwinden und ließ nur noch einen einzigen der drei goldenen Sterne sehen, die seinen Gürtel zierten.