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XV.

Pierre war erst bei Tagesgrauen eingeschlummert; er war vor Aufregung gebrochen und brannte vor Fieber. Gleich bei seiner Rückkehr in den Palast Boccanera, in später Nacht, hatte er die furchtbare Totentrauer um Dario und Benedetta wiedergefunden und gegen neun Uhr, als er erwacht war und gefrühstückt hatte, wollte er sofort in die Wohnung des Kardinals hinabsteigen, wo man die Leichen der beiden Liebenden ausgestellt hatte, damit die Familie, die Freunde, die Schützlinge ihnen ihre Thränen und Gebete darbringen konnten.

Während er frühstückte, kam Victorine, die sich, bei all ihrer Verzweiflung tapfer und thätig, nicht niedergelegt hatte, und erzählte ihm die Ereignisse der Nacht und des Morgens. Aus prüdem Respekt vor dem Anstand hatte Donna Serafina einen neuen Versuch gemacht, um die beiden Leichen von einander trennen zu lassen. Dieses nackte Weib, das im Tode so fest den ebenfalls entkleideten Mann umschlang, verletzte ihre ganze Schamhaftigkeit. Aber es war keine Zeit mehr dazu; die Todesstarre war eingetreten, und was nicht im ersten Augenblick gethan worden war, konnte ohne eine furchtbare Entweihung nicht mehr geschehen. Ihr Liebesband war so mächtig, daß man, um sie von einander zu lösen, ihnen das Fleisch hätte abreißen, die Glieder zerbrechen müssen. Und der Kardinal, der bereits einmal nicht gestattet hatte, ihren Schlummer, ihren Ewigkeitsbund zu stören, hatte sich beinahe mit seiner Schwester gezankt. Unter seinem Priesterkleide fand er sich als Sohn seiner Rasse wieder, stolz auf die Leidenschaften von einst, die schönen, heftigen Liebschaften, die schönen Dolchstiche. Wenn die Familie zwei Päpste, große Feldherrn aufzähle, so hätten sie auch große Liebende verherrlicht, sagte er. Niemals würde er diese beiden Kinder anrühren lassen, die in ihrem Schmerzensleben so rein gewesen, die das Grab allein vereinigt hatte. Er war Herr in seinem Palaste. Man würde sie in dasselbe Schweißtuch einhüllen, in denselben Sarg einschließen. Die religiöse Feier würde zu S. Carlo stattfinden, in der benachbarten Kirche, deren Kardinalstitel er besaß, wo er ebenfalls der Herr war. Wenn es sein müßte, würde er bis zum Papst gehen. Und so gewaltig war sein so laut ausgesprochener Wunsch, daß alles im Hause sich ihm beugen mußte, ohne sich eine Geberde oder einen Laut zu erlauben.

Nun hatte sich Donna Serafina mit der letzten Toilette der Toten beschäftigt. Der Sitte gemäß, war die Dienerschaft dabei anwesend; Victorine, als die älteste und geliebteste Dienerin, hatte der Familie geholfen. Man hatte sich damit begnügen müssen, die beiden Liebenden zuerst in das aufgelöste Haar Benedettas, dieses duftende, dichte, lange, einem königlichen Mantel gleichende Haar zu hüllen; dann hatte man sie mit demselben weißseidenen, unter dem Halse zusammengezogenen Leichentuch bekleidet, das aus ihnen im Tode ein einziges Wesen machte. Nun hatte der Kardinal von neuem gefordert, daß man sie in seine Gemächer hinabtrage und in der Mitte des Thronsaales auf ein Paradebett lege, damit ihnen als den letzten des Namens, den zwei tragischen Verlobten, mit denen der einst so aufsehenerregende Ruhm der Boccanera in die Erde zurückkehrte, die letzte Huldigung erwiesen werde. Uebrigens hatte sich Donna Serafina diesem Plan sofort untergeordnet; denn sie hielt es für wenig anständig, daß man ihre Nichte, selbst als Tote, in diesem Zimmer, auf dem Bette eines jungen Mannes erblicke. Die hergerichtete Darstellung der Vorgänge war bereits im Umlauf; man erzählte sich von dem plötzlichen Absterben Darios, den ein ansteckendes Fieber in wenigen Stunden weggerafft, von dem wahnsinnigen Schmerz Benedettas, die auf seiner Leiche verschieden sei, indem sie ihn ein letztesmal in die Arme drückte, von den königlichen Ehren, die man ihnen erwies, von der schönen Totenhochzeit, die man ihnen bereitete, während sie beide auf demselben ewigen Ruhebette lagen. Ganz Rom, von dieser Geschichte von Liebe und Tod erschüttert, würde vierzehn Tage lang von nichts anderem sprechen.

In der Eile, die Pierre hatte, diese Unglücksstadt zu verlassen, wo er die letzten Fetzen seines Glaubens lassen mußte, wäre er am liebsten noch am selben Abend nach Frankreich abgereist; aber er wollte die Beisetzung abwarten und hatte daher seine Reise auf den nächsten Abend verschoben. Den ganzen Tag würde er noch hier, in diesem zusammenbrechenden Palaste, bei dieser Toten zubringen, die er geliebt hatte, und sich bemühen, für sie Gebete in der Tiefe seines leeren, zermalmten Herzens wiederzufinden.

Als er in das erste Stockwerk hinabgestiegen war und vor den Empfangsräumen des Kardinals stand, kam ihm die Erinnerung an den ersten Tag, da er hier erschienen war. Er empfing denselben Eindruck eines einstigen, nun abgenützten und vom Staube der Vergangenheit bedeckten fürstlichen Prunkes. Die Thüren der drei ungeheuren Vorzimmer standen weit offen, und die Säle mit ihren hohen, dunklen Decken waren infolge der frühen Morgenstunde noch leer. Im ersten, im Bedientensaal, befand sich nur Giacomo in schwarzer Livree; er stand unbeweglich vor dem unter dem Baldachin befestigten alten roten Hut mit seinen halbzerfressenen Tressen, zwischen denen die Spinnen ihr Netz spannen. Im zweiten, dem, wo einst der Sekretär sich aufhielt, erwartete der Abbé Paparelli, der Schleppträger, der auch das Amt eines Kammerherrn ausfüllte, die Besucher; er ging mit kleinen, leisen Schritten auf und ab, und noch nie hatte er, mit seiner erobernden Demut, seiner verdächtigen Miene, in der sich willfährige Allmacht aussprach, mehr einer sehr alten, von allzu strengen religiösen Uebungen fahlen und verrunzelten Jungfer geglichen. Im dritten Vorzimmer endlich, dem Ehrenvorsaal, wo das auf einer Kredenz liegende Barett sich dem großen, mächtigen Porträt des Kardinals im Zeremonienkostüm gegenüber befand, stand der Sekretär, Don Vigilio, der seinen kleinen Arbeitstisch verlassen hatte, bei der Thür des Thronsaales und begrüßte die Personen, die dessen Schwelle übertraten, mit einer Verbeugung. An diesem düstern Wintermorgen sahen diese Säle noch finsterer und zerrütteter aus; die Tapeten hingen in Fetzen, die spärlichen Möbel waren von Staub geschwärzt, die alten Schnitzereien zerfielen unter der fortgesetzten Arbeit der Würmer, und nur die Decken bewahrten den Prunk ihrer triumphirenden Vergoldungen und Malereien.

Aber Pierre, den der Abbé Paparelli eben mit einer übertrieben tiefen Verbeugung begrüßt hatte – man merkte aus ihr eine Art ironischen Abschied, wie man ihn einem Besiegten erteilt – ward insbesondere von der traurigen Großartigkeit dieser drei unermeßlichen, zerstörten Säle gepackt, die an diesem Tage in den zu einem Totengemach verwandelten Thronsaal führten, wo die zwei letzten Kinder des Hauses schliefen. Was für ein prächtiger und trostloser Totenprunk! Alle diese weit offenen Thüren, diese Leere der übergroßen Gemächer, die einst mit solchen Menschenmengen bevölkert waren und nun zur höchsten Trauer des Endes eines Geschlechtes führten! Der Kardinal hatte sich in seinem kleinen Arbeitszimmer eingeschlossen, wo er die Familienmitglieder, die intimen Freunde empfing, die darauf bestanden, ihm ihr Beileid zu bezeugen; Donna Serafina hatte ihrerseits ein Nebenzimmer gewählt, um die befreundeten Damen zu erwarten, deren Defilé bis zum Abend währen sollte. Pierre, den Victorine von diesem Zeremoniell unterrichtet hatte, mußte sich entschließen, unmittelbar in den Thronsaal zu treten, wo ihn abermals ein sich tief verbeugender Priester empfing; diesmal war es Don Vigilio, der, blaß und stumm, ihn nicht einmal zu erkennen schien.

Den Priester erwartete eine Ueberraschung. Er hatte sich eine vollständig verdunkelte Trauerkapelle vorgestellt, wo hunderte von Kerzen rings um einen in der Mitte des mit schwarzen Behängen ausgeschlagenen Saales stehenden Katafalk brennen würden. Man hatte ihm gesagt, daß die Aufbahrung hier stattfinde, weil die alte, im Erdgeschoß gelegene Kapelle des Palastes seit fünfzig Jahren geschlossen und außer Gebrauch war, und weil die kleine Privatkapelle des Kardinals sich für eine solche Zeremonie zu klein erweisen würde. Man hatte daher im Thronsaal einen Altar errichten müssen, wo seit dem Morgen eine Messe auf die andere folgte. Außerdem mußten auch in der Privatkapelle den ganzen Tag über Messen gelesen werden; desgleichen hatte man zwei andere Altäre errichtet, einen in einem kleinen, neben dem Ehrenvorsaal gelegenen Gemach, den andern in einer Art Alkoven, in den das zweite Vorzimmer auslief. So kam es, daß Priester, besonders Franziskaner, Mönche, die den armen Orden angehörten, ununterbrochen und gemeinschaftlich die Meßopfer auf diesen vier Altären celebrirten. Der Kardinal hatte gewünscht, daß das göttliche Blut keinen Augenblick aufhöre, in seinem Hause zu fließen, damit die beiden teuren, zusammen entflohenen Seelen erlöst würden. In dem trauernden Palaste, in den Trauersälen klingelten ohne Unterlaß die Glöckchen bei der Aufhebung; das schauernde Gemurmel der lateinischen Worte verstummte nicht, und unaufhörlich wurden Hostien gebrochen und Kelche geleert, so daß Gott sich keine einzige Minute aus dieser schweren, nach Tod riechenden Luft entfernen konnte.

Und Pierre fand zu seinem Erstaunen den Thronsaal gerade so wieder, wie er ihn am Tage seines ersten Besuches gesehen hatte. Nicht einmal die Vorhänge der vier großen Fenster waren zugezogen worden; das schwache, graue, kalte Licht des düstern Wintermorgens drang herein. Da waren unter der Decke aus geschnitztem und vergoldetem Holz wieder die roten Wandtapeten, ein großpalmiger, vom langen Gebrauch zerfressener Brokat; auch der alte Thron, der zur Wand gekehrte Lehnstuhl stand da und wartete vergeblich auf den Papst, der nie mehr kommen würde. Nur der neben diesem Thron errichtete, improvisirte Altar veränderte ein wenig das Aussehen des Raumes, aus dem man die wenigen Möbel, Stühle, Tische und Konsolen, entfernt hatte. In der Mitte hatte man auf einer niedrigen Stufe das Prunklager aufgestellt, auf dem Benedetta und Dario unter einer Masse von Blumen gebettet waren. Zu Häupten des Bettes brannten bloß zwei Kerzen, je eine an jeder Seite. Sonst nichts – nichts als Blumen, eine solche Fülle von Blumen, daß man nicht wußte, in welchem chimärischen Garten sie gepflückt worden sein mochten. Besonders waren weiße Rosen gestreut worden. Rosensträuße lagen auf dem Bette, Rosensträuße stürzten von dem Bette herab, Rosensträuße bedeckten die Stufe und strömten von der Stufe hinab bis auf die prächtigen Fliesen des Saales.

Pierre hatte sich dem Bette genähert; eine tiefe Bewegung erschütterte sein Herz. Diese zwei Kerzen, deren kleine, gelbe Flamme das blasse Tageslicht halb dämpfte, diese fortwährenden, leise klagenden Töne der daneben abgehaltenen Messe, dieser durchdringende, die Luft schwer machende Rosenduft erfüllten den großen, veralteten, staubigen Saal mit unendlicher Angst, mit einer grenzenlosen Trauerklage. Und keine Bewegung, kein Hauch war zu hören – nichts anderes als von Zeit zu Zeit ein leises Geräusch von unterdrücktem Schluchzen unter den wenigen Anwesenden. Die Bedienten des Hauses lösten sich unablässig ab; stets standen vier unbeweglich, wie treue, vertraute Wächter zu Häupten des Bettes. Von Zeit zu Zeit ging der Konsistorialanwalt Morano, der sich seit dem Morgen mit allem beschäftigte, eilig und leisen Schrittes durch das Gemach, und auf der Stufe knieten alle Eintretenden nieder, weinten und beteten. Pierre bemerkte dort drei Damen, die das Gesicht ins Taschentuch gedrückt hielten. Auch ein alter Priester befand sich dort, dessen Gesicht man nicht unterscheiden konnte; er zitterte vor Schmerz und hielt den Kopf gesenkt. Besonders aber rührte ihn der Anblick eines ärmlich gekleideten, jungen Mädchens, das er für eine Dienerin hielt; der Schmerz hatte sie derart auf die Fliesen niedergeworfen, daß sie nur mehr wie ein Bündel Elend und Leid dort lag.

Nun kniete er ebenfalls nieder und bemühte sich, während des berufsmäßigen Stammelns der Lippen die lateinischen Worte der heiligen Gebete wiederzufinden, die er so oft als Priester am Lager der Toten gesprochen hatte. Seine zunehmende Erregung verwirrte sein Gedächtnis; er versank in den herrlichen und schrecklichen Anblick der beiden Liebenden, von denen seine Blicke nicht lassen konnten. Unter der Rosenfülle zeichneten sich die umschlungenen Körper kaum ab, aber die bis zum Halse von dem seidenen Schweißtuch eingeschlossenen Köpfe tauchten daraus auf. Und wie schön waren sie noch, wie sie da, ihre Haare mit einander vermengend, beide auf demselben Kissen lagen! Es war die Schönheit der endlich befriedigten Leidenschaft. Benedetta, bis in Ewigkeit liebend und getreu, verzückt, weil sie ihren letzten Odem in einem Liebeskuß ausgehaucht, hatte ihr göttlich lachendes Gesicht behalten. Dario sah, trotz seiner letzten Freude, schmerzlicher aus – wie der Marmor der Leichensteine, die die Liebenden vergeblich umfassen. Und ihre Augen, die tief in einander tauchten, standen noch weit offen und fuhren fort, sich endlos, mit einer sanften Liebkosung anzusehen, die niemals mehr gestört werden sollte.

O Gott, war es also wahr, daß er diese Benedetta geliebt, mit einer so reinen, von jedem selbstsüchtigen Gedanken freien Liebe geliebt hatte? Und die köstlichen Stunden, die er in ihrer Nähe, in einem erlesenen Freundschaftsbunde verlebt hatte, der so süß war wie Liebe, bewegten Pierre bis in die tiefste Seele. Sie war so schön, so klug, so voll brennender Leidenschaft! Er selbst hatte einen so schönen Traum geträumt: seine befreiende Bruderliebe sollte dieses wunderbare Geschöpf mit der Feuerseele und dem lässigen Gehaben beleben; er sah in ihr das ganze alte Rom, das er für das Italien von morgen wecken und erobern hätte mögen. Er träumte davon, sie zu belehren, ihr durch die Liebe zu den Armen und Kleinen, die Flut des zeitlichen Erbarmens für Dinge und Wesen Herz und Geist zu erweitern. Jetzt hätte ihn das ein wenig zum Lächeln gebracht, wenn er nicht von Thränen überflossen wäre. Wie reizend war sie gewesen, während sie sich bemühte, ihn zufriedenzustellen, trotzdem unbesiegliche Hindernisse, Rasse, Erziehung, Umgebung sie abhielten, ihm zu folgen! Sie war eine fügsame Schülerin, aber wirklichen Fortschrittes nicht fähig. Dennoch schien sie sich ihm eines Tages zu nähern, als ob das Leid ihr Herz allem Erbarmen geöffnet hätte. Dann kam die Illusion des Glückes hinzu und sie hatte das Elend der anderen nicht mehr begriffen, war in der Selbstsucht ihrer eigenen Hoffnung und Freude aufgegangen. Großer Gott, kam es daher, daß dieses zum Verschwinden verurteilte Geschlecht so enden mußte? Es war manchmal noch so schön, so anbetungswürdig, aber so verschlossen gegen die Liebe zu den anderen, gegen das Gesetz der Nächstenliebe und Gerechtigkeit, das durch Regelung der Arbeit fortan allein die Welt retten konnte.

Dann regte sich in Pierre noch eine andere Verzweiflung, die ihn stammeln machte und keine ausdrücklichen Gebete finden ließ. Der Gewaltstreich war ihm eingefallen, der die beiden Kinder durch eine vernichtende Wiedervergeltung der Natur hinweggerafft hatte. Welch ein Hohn! Sie hatte der Jungfrau versprochen, nur dem erwählten Gatten das Geschenk ihrer Jungfräulichkeit zu bieten, sie hatte ihr ganzes Leben lang unter diesem Schwur wie unter einem Büßerhemde geblutet, um sich zuletzt im Tode, rasend vor Reue, brennend vor Verlangen, ganz hinzugeben, dem Geliebten in die Arme zu werfen! Und sie hatte sich mit der Raserei eines letzten Protestes hingegeben – die brutale Thatsache der drohenden Trennung, die sie auf die Täuschung aufmerksam machte und zu dem Instinkt der allgemeinen Liebe zurückführte, genügte. Das war wieder eine Niederlage der Kirche, das war wieder der große Pan, der Säer der Keime, der die Paare mit seiner stetig befruchtenden Geberde vereinigt. Wenn auch die Kirche zur Zeit der Renaissance unter dem Ansturm der aus dem alten römischen Boden ausgegrabenen Venusse und Herkulesse nicht zusammengebrochen war, so setzte sich der Streit doch ebenso grimmig fort und zu jeder Stunde drohten die neuen, von Saft überströmenden, nach Leben hungernden Völker, im Kampfe gegen eine Religion, die nur ein Gelüst nach dem Tode war, das alte katholische Gebäude niederzureißen, dessen Mauern schon von allen Seiten zusammenbrachen.

Und in diesem Augenblick hatte Pierre das Gefühl, daß der Tod dieser anbetungswürdigen Benedetta das höchste Unglück für ihn war. Er sah sie immerzu an und Thränen brannten in seinen Augen. Sie vernichtete sein Traumbild vollends. So wie am Abend zuvor, im Vatikan, vor dem Papst fühlte er seine letzte Hoffnung, die so ersehnte Auferstehung des alten Rom zu einem Rom voll Jugend und Wohlfahrt zusammenstürzen. Diesmal war es wahrlich zu Ende: Rom, das katholische, das fürstliche Rom war tot. Wie eine Marmorstatue lag es auf diesem Totenbette. Es hatte nicht zu den Geringen, den Leidenden dieser Welt, dringen können, und war nun in dem ohnmächtigen Aufschrei seiner selbstsüchtigen Leidenschaft verschieden, als es zu spät zum Lieben und Zeugen war. Nie mehr würde es Kinder gebären; das alte römische Haus war fortan leer, unfruchtbar und ein Erwachen nicht mehr möglich. Pierre, dessen Seele die teure Tote verwitwet, in Trauer um einen so großen Traum zurückgelassen hatte, empfand, als er sie so unbeweglich und eisig daliegen sah, einen solchen Schmerz, daß er sich schwach werden fühlte. Trübte das fahle, von den gelben Flecken der zwei Kerzen gestirnte Tageslicht sein Auge? Betäubte ihn der in der Todesluft noch trägere Rosenduft wie ein Rausch? Brauste das dumpfe, stetige Gemurmel des hinter ihm seine Messe beendenden amtirenden Priesters in seinem Schädel und hinderte ihn, seine Gebete wiederzufinden? Er fürchtete quer über die Stufe zu fallen, richtete sich mühsam auf und trat beiseite.

Dann, als er sich in eine Fensternische flüchtete, um sich zu erholen, traf er dort zu seinem Erstaunen Victorine, die auf einem halb versteckten Bänkchen saß. Donna Serafina hatte es ihr befohlen; sie wachte aus diesem Winkel über ihre zwei teuren Kinder, wie sie sie nannte, und ließ die Eintretenden und Fortgehenden nicht aus den Augen. Als sie sah, wie bleich und einer Ohnmacht nahe der junge Priester war, ließ sie ihn sofort sich niedersetzen.

»Ach,« sagte er sehr leise, nachdem er tief aufgeatmet hatte, »mögen sie wenigstens die Freude haben, anderswo zusammen zu leben, in einer andern Welt zu einem neuen Leben zu erwachen!«

Sie zuckte leicht die Achseln und antwortete ebenfalls mit sehr leiser Stimme:

»O, Herr Abbé, erwachen! Wozu denn? Hören Sie mal, wenn man tot ist, da ist es noch am besten, man bleibt tot und schläft. Die armen Kinder haben auf Erden Kummer genug gehabt; man darf ihnen nicht wünschen, daß es anderswo noch einmal anfängt.«

Dieses so naive und tiefe Wort der ungebildeten Ungläubigen jagte Pierre einen Schauer durch die Knochen. Und ihm, ihm hatten manchmal nachts, bei dem plötzlichen Gedanken an das Nichts vor Angst die Zähne geklappert! Sie kam ihm heldenhaft vor, weil sie nicht von Gedanken an Ewigkeit und Unendlichkeit beunruhigt ward. Ach, wenn alle Welt die ruhige Irreligiosität, die so weise, so heitere Sorglosigkeit des ungläubigen, gemeinen französischen Volkes besäße – was für eine plötzliche Ruhe, was für ein glückliches Leben würde unter den Menschen herrschen!

Und da sie fühlte, wie er erzitterte, setzte sie hinzu:

»Was soll denn noch nach dem Tode sein? Man hat sich den Schlaf wohl verdient; das ist noch das wünschenswerteste und tröstlichste. Wenn Gott die Guten belohnen und die Bösen bestrafen müßte, hätte er wirklich viel zu thun. Ist ein solches Gericht auch nur möglich? Ist denn nicht das Gute und das Böse in einem jeden so vermischt, daß es das beste wäre, alle Welt freizusprechen?«

»Aber diese beiden da, die so liebenswert, so geliebt waren, haben nicht gelebt,« murmelte er. »Warum sich nicht die Freude machen, zu glauben, daß sie anderswo belohnt und ewig Arm in Arm von neuem leben werden?«

Sie schüttelte abermals den Kopf.

»Nein, nein! ... Ich hab' es ja immer gesagt, daß meine arme Benedetta unrecht hatte, sich mit dem Gedanken an die andere Welt zu martern, indem sie sich ihrem Geliebten verweigerte, der sich so nach ihr sehnte! Wenn sie nur gewollt hätte – ich hätt' ihr den Geliebten in ihr Zimmer gebracht, ohne Standesamt und auch ohne Pfarrer! Das Glück ist so selten! Später, wenn keine Zeit mehr dazu ist, bereut man es so sehr! ... Ja, das ist die ganze Geschichte dieser beiden armen Herzchen. Es ist zu spät für sie, sie sind tot und es hilft nichts, wenn man die Liebenden unter die Sterne versetzt – sehen Sie, wenn man 'mal tot ist, ist man's; von dem Umarmen wird ihnen nicht mehr warm noch kalt.«

Nun überwältigten sie ebenfalls die Thränen; sie schluchzte.

»Die armen Kleinen! die armen Kleinen! Wenn man bedenkt, daß sie nicht einmal eine hübsche Nacht gehabt haben und jetzt die große Nacht da ist, die nicht mehr endet! ... Sehen Sie sie doch an! Wie weiß sie sind! Und denken Sie daran, wenn von den beiden Köpfen auf dem Kissen nichts mehr als die Knochen übrig sein werden, wenn nur die Knochen ihrer Arme sich noch umschlingen werden? ... Ach, mögen sie nur schlafen, mögen sie nur schlafen! Wenigstens wissen, wenigstens fühlen sie nichts mehr!«

Wieder trat eine lange Stille ein. Pierre, von dem Schauer seines Zweifels, von dem angstvollen Verlangen nach Ueberleben geschüttelt, blickte die Frau an, deren »schwache Seite« die Pfarrer nicht waren, die sich in ihrer bescheidenen, dienenden Stellung, seit fünfundzwanzig Jahren in ein fremdes Land verschlagen, dessen Sprache sie nicht einmal hatte erlernen können, ihre beauceronnische Freimütigkeit bewahrt hatte, die so friedlich und mit ihrer erfüllten Pflicht so zufrieden aussah. Ach ja, wer so sein könnte wie sie, wer das schöne Gleichgewicht eines gesunden, beschränkten Wesens haben könnte, das sich mit der Erde begnügte, das sich abends, nach Erfüllung des Tagewerkes, vollständig befriedigt niederlegte, unter der Bedingung, nie mehr zu erwachen!

Aber Pierre, der den Blick wieder auf das Totenlager gerichtet hatte, erkannte jetzt den alten Priester, der auf der Stufe kniete; man hatte seine Züge nicht erkennen können, weil er, von Schmerz niedergedrückt, den Kopf gesenkt hielt.

»Ist das nicht der Abbé Pisoni, der Pfarrer von S. Brigitta, wo ich ein paar Messen las? Ach, der Arme, wie er weint!«

»Er hat Grund dazu,« antwortete Victorine mit ihrer ruhigen Stimme. »An dem Tage, an dem es ihm einfiel, meine arme Benedetta mit dem Grafen Prada zu verheiraten, hat er wirklich einen schönen Streich gemacht. All die Greuel wären nicht eingetreten, wenn man dem lieben Kinde gleich ihren Dario gegeben hätte. Aber in dieser blöden Stadt sind sie alle toll mit ihrer Politik; der dort, der doch ein so braver Mann ist, glaubte ein wahres Wunder gethan und die Welt gerettet zu haben, indem er Papst und König vermählte, wie er mit dem sanften Lachen eines alten Gelehrten sagte, der nie etwas anderes als die alten Steine geliebt hat: Sie wissen ja, ihren alten Plunder, ihre patriotischen Ideen von vor hunderttausend Jahren. Und Sie sehen, heute weint er, was er weinen kann ... Der andere war auch da – es sind noch keine zwanzig Minuten her – der Pater Lorenzo, der Jesuit, der nach dem Abbé Pisoni der Beichtvater der Contessina war und das, was dieser machte, wieder rückgängig gemacht hat. Ja, ein schöner Mann, auch einer, der das Verpfuschen versteht, der das Glücklichsein hindert. Was für tückische Verwicklungen er in die Scheidungsgeschichte brachte! ... Es wäre mir lieb gewesen, wenn Sie dagewesen wären, um zu sehen, wie er erst niederkniete und dann ein großes Kreuzeszeichen machte. Er hat nicht geweint, o, der nicht! Er schien zu sagen, wenn die Sache so übel ausgegangen sei, so komme das daher, weil Gott sich zuletzt ganz davon zurückgezogen hätte. Um so schlimmer für die Toten!«

Sie sprach leise, unaufhaltsam, als erleichtere es sie, sich nach den schrecklichen Stunden der Verwirrung und Beklemmung, die sie seit gestern durchlebte, das Herz ausschütten zu können.

»Und die dort,« fuhr sie leiser fort. »Erkennen Sie sie nicht?«

Sie wies mit dem Blick auf das ärmlich gekleidete junge Mädchen, das er für eine Dienerin gehalten, das der Kummer, ein furchtbarer Schmerz auf die Fliesen vor dem Bette niedergeschmettert hatte. Sie hatte sich eben mit einer Bewegung rasenden Leidens aufgerichtet und den Kopf zurückgeworfen – einen Kopf von außerordentlicher Schönheit, von dem wunderbarsten schwarzen Haar überflutet.

»Die Pierina!« sagte er. »Die Arme!«

Victorine machte eine mitleidige, duldsame Geberde.

»Was sollte ich thun? Ich habe ihr erlaubt, heraufzukommen. Ich weiß nicht, wieso sie das Unglück hat erfahren können. Freilich streicht sie immerzu um den Palast. Sie ließ mich also herunterrufen ... wenn Sie gehört hätten, wie sie mich anflehte, wie sie mich mit lautem Schluchzen um die Gnade bat, sich ihren Fürsten noch einmal ansehen zu dürfen! ... Mein Gott, da auf Erden schadet es niemand, wenn sie alle beide mit ihren schönen, verliebten Augen voll Thränen ansieht. Sie ist seit einer halben Stunde da; ich habe mir vorgenommen, sie hinauszuschaffen, wenn sie sich nicht gut aufführt. Aber da sie vernünftig ist und sich nicht einmal rührt – mag sie bleiben und sich das Herz fürs ganze Leben anfüllen!«

Und wahrlich, diese Pierina, diese Tochter der Unwissenheit, der Leidenschaft und Schönheit, war ein erhabener Anblick, wie sie so zerschmettert, vernichtet zu Füßen des Brautbettes lag, auf dem die beiden umschlungenen Liebenden im Tode ihre erste und ewige Nacht zubrachten. Sie hatte sich auf die Hacken niedergelassen, ließ ihre zu schweren Arme mit ausgespreizten Händen herabhängen und verwandte, das Gesicht emporgerichtet, unbeweglich, wie in der Verzückung der Agonie erstarrt, keinen Blick von dem herrlichen, tragischen Paare. Nie noch hatte ein Menschenantlitz so schön ausgesehen, so in der Pracht des Schmerzes und der Liebe geleuchtet. Mit ihrer königlichen Stirn, ihren stolz anmutigen Wangen, ihrem göttlich vollkommenen Munde glich sie dem antiken Schmerz; aber sie war voll zuckenden Lebens. Woran dachte sie, was litt sie, während sie starr ihren Fürsten betrachtete, der nun für ewig im Arm ihrer Nebenbuhlerin lag? Erstarrte eine Eifersucht, für die kein Ende möglich war, das Blut in ihren Adern? Oder war es eher der bloße Schmerz, ihn verloren zu haben, sich sagen zu müssen, daß sie ihn zum letztenmal sehe – ohne Haß gegen dies andere Weib, das ihn vergeblich mit ihrem eigenen Leibe zu erwärmen versuchte, der ebenso kalt war wie der seine? Ihre verschleierten Augen blieben dennoch sanft, ihre bitter verzogenen Lippen bewahrten ihren zärtlichen Ausdruck. Sie kamen ihr so rein, so schön vor, wie sie da zwischen dieser Blumenfülle ruhten! Und sie, in ihrer eigenen Schönheit, ihrer königlichen, unbewußten Schönheit lag atemlos da – wie eine geringe Magd, wie eine liebende Sklavin, der ihre Herren im Sterben das Herz ausgerissen und mitgenommen haben.

Jetzt traten unaufhörlich, langsamen Schrittes, mit trauernder Miene Leute ein, knieten nieder, beteten ein paar Minuten lang und entfernten sich dann wieder mit derselben stummen, trostlosen Miene. Pierre krampfte sich das Herz zusammen, als er so auch die Mutter Darios, die noch immer schöne Flavia kommen sah. Sie ward korrekterweise von ihrem Gatten, dem schönen Jules Laporte, dem einstigen Sergeanten der Schweizer Garde, begleitet, aus dem sie einen Marquis Montefiori gemacht hatte. Sie war am Abend zuvor dagewesen, nachdem man sie von dem Tode benachrichtigt hatte; aber nun kam sie zeremoniös, in tiefe Trauer gekleidet, wieder. Sie war prächtig in all dem Schwarz, das zu ihrer etwas starken, junonischen Majestät sehr gut paßte. Als sie sich mit königlichem Anstand dem Bette genähert hatte, blieb sie einen Augenblick stehen; zwei Thränen, die nicht herabflossen, hingen am Rande ihrer Lider. Dann, ehe sie niederkniete, überzeugte sie sich, daß Jules an ihrer Seite sei und gebot ihm mit einem Blick, ebenfalls neben ihr niederzuknieen. Beide neigten sich am Rande der Stufe und verharrten die passende Zeit über im Gebet; sie gab sich sehr würdig und niedergeschlagen, er noch viel besser als sie, mit der vollendeten Verzweiflung eines Mannes, der in allen Verhältnissen des Lebens, selbst in den ernstesten, am rechten Platze ist. Dann erhoben sich beide und verschwanden durch die Thür, die zu den Gemächern führte, wo der Kardinal und Donna Serafina die Familie und die vertrauten Freunde empfingen.

Fünf Damen traten in einer Reihe ein, während zwei Kapuziner und der spanische Botschafter beim heiligen Stuhl hinausgingen.

»Ah, da ist die kleine Prinzessin!« sagte plötzlich Victorine, die seit einigen Minuten geschwiegen hatte. »Und wie betrübt! Sie hat unsere Benedetta sehr geliebt!«

Pierre sah in der That Celia eintreten, die für diesen gräßlichen Abschiedsbesuch ebenfalls Trauer angelegt hatte. Hinter ihr hielt die Kammerfrau, von der sie sich hatte begleiten lassen, unter jedem Arm einen ungeheuren Strauß weißer Rosen.

»Die liebe Kleine!« murmelte Victorine wieder. »Sie wollte, daß ihre Hochzeit mit ihrem Attilio zu gleicher Zeit stattfinde wie die Hochzeit der beiden armen Toten, die da ruhen! Jetzt sind sie ihr zuvorgekommen; sie haben schon Hochzeit gehalten; ihre Brautnacht ist schon da!«

Celia war sofort niedergekniet und hatte das Kreuzzeichen gemacht. Aber augenscheinlich betete sie nicht; mit verzweifeltem Staunen betrachtete sie die beiden teuren Liebenden, die sie so weiß, so kalt, in solcher Marmorschönheit wiederfand. Wie, nur wenige Stunden hatten dazu genügt? Das Leben war entflohen, diese Lippen würden sich nie mehr küssen? Sie sah sie noch vor sich, wie sie inmitten jener Ballnacht in lebendiger Liebe gestrahlt, triumphirt hatten. Ein wütender Protest stieg aus ihrem jungen, dem Leben offenstehenden, nach Lust und Sonnenlicht dürstenden Herzen gegen den albernen Tod auf. Dieser Zorn, dieser Schrecken, dieser Schmerz angesichts des Nichts, in dem alle Leidenschaft erstarrt, waren deutlich auf ihrem unschuldigen Gesichte zu lesen, das einer reinen, geschlossenen Lilie glich. Nie hatte ihr Unschuldsmund mit den über den weißen Zähnen geschlossenen Lippen, nie hatten ihre wie Quellwasser klaren, grundlosen Augen mehr das unergründliche Geheimnis, das Leben der Leidenschaft ausgedrückt, das sie nicht kannte, in das sie nun eintrat, das sich gleich an der Schwelle an diesen zärtlich geliebten Toten stieß, deren Verlust ihr das Herz aufwühlte.

Sachte schloß sie die Augen und bemühte sich, zu beten, während jetzt große Thränen aus ihren gesenkten Lidern flossen. Eine Weile verstrich in der bebenden Stille, die nur von dem leisen Geräusch der daneben zelebrirten Messe unterbrochen ward. Endlich erhob sie sich und ließ sich von der Kammerfrau die zwei weißen Rosensträuße geben, die sie selbst auf das Bett niederlegen wollte. Auf der Stufe stehend, zögerte sie etwas; zuletzt legte sie sie rechts und links auf das Kissen, auf dem die beiden Köpfe ruhten, als hätte sie sie mit diesen Blumen gekrönt. Sie mischte sie mit ihrem Haar und überduftete ihre jungen Stirnen mit diesem so süßen und so starken Wohlgeruch. Aber auch als ihre Hände nun leer waren, entfernte sie sich nicht, sondern blieb ganz in der Nahe, über sie gebeugt, stehen und suchte zitternd nach etwas, was sie ihnen noch sagen, was sie ihnen auf ewig zurücklassen könnte. Und sie fand es; sie beugte sich tiefer herab und drückte zwei lange Küsse, ihre ganze tiefe, liebende Seele auf die eisigen Stirnen der Gatten.

»Ach, die wackere Kleine,« sagte Victorine, deren Thränen flossen. »Sie haben es gesehen, sie küßte sie. Daran hat noch niemand gedacht, nicht einmal die Mutter. Ach, das wackere Herzchen! Sicherlich hat sie dabei an ihren Attilio gedacht.«

Als Celia sich umdrehte, um die Stufen hinabzusteigen, erblickte sie Pierina, die in stummer, schmerzlicher Anbetung noch immer halb zurückgeworfen dalag. Sie erkannte sie und wurde besonders gerührt, als sie sah, wie ein so lautes Schluchzen sie ergriff, daß ihr ganzer Körper, ihre Hüften und ihr Göttinnenhals davon furchtbar geschüttelt ward. Dieser Liebesschmerz erschütterte sie; alles übrige ging in diesem Unglück unter. Man hörte, wie sie halblaut, mit unendlich mitleidigem Ton sagte:

»Meine Liebe, beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich. Ich bitte Sie, seien Sie vernünftiger, meine Liebe.«

Als Pierina aber vor Ueberraschung, daß man sie so bedauerte und ihr beisprang, noch lauter schluchzte und im Begriffe war, Aergernis zu geben, hob Celia sie auf und stützte sie, aus Furcht, daß sie zu Boden fallen könne, mit beiden Armen. Dann führte sie sie in schwesterlicher Umarmung, wie eine Schwester in Liebe und Verzweiflung aus dem Saale, indem sie die sanftesten Worte an sie verschwendete.

»Gehen Sie ihnen doch nach, sehen Sie zu, was aus ihnen wird,« sagte Victorine zu Pierre. »Ich will nicht von hier fort; es beruhigt mich, wenn ich die teuren Kinder bewachen kann.«

An dem improvisirten Altar begann ein anderer Priester, ein Kapuziner, eine neue Messe; abermals erhob sich der dumpfe, lateinische Psalmengesang, während aus dem Nebensaal die Glöckchen der Aufhebung in das undeutliche Gemurmel der daneben abgehaltenen Messe tönten. Der Blumenduft wurde in der trüben, unbeweglichen Luft des ungeheuren Saales immer stärker und schwerer und verwirrte schmeichelnd die Sinne. Im Hintergrunde standen die Bedienten wie bei einem Galaempfang und rührten sich nicht. Vor dem Paradebette, das die zwei blassen Kerzen wie Sterne erhellten, nahm das Trauerdefile geräuschlos seinen Fortgang; Frauen, Männer standen hier einen Augenblick und gingen dann wieder, das unvergeßliche Bild der ihren letzten Schlaf schlummernden tragischen Liebenden mit sich nehmend.

Pierre holte Celia und Pierina in dem Ehrenvorsaal ein, in dem sich Don Vigilio aufhielt. Man hatte dort die paar Stühle aus dem Thronsaal in eine Ecke getragen und die kleine Prinzessin halte die Arbeiterin genötigt, sich auf einen Fauteuil niederzusetzen, damit sie sich ein wenig erhole. In Ekstase stand sie vor ihr, voll Entzücken über ihre Schönheit – sie sei schöner als alle, sagte sie. Dann sprach sie wieder von den zwei teuren Toten, die ihr ebenfalls sehr schön erschienen waren. Es war eine stolze und sanfte, außerordentliche Schönheit. Inmitten ihrer Thränen riß sie die Begeisterung hin. Als der Priester Pierina zum Reden brachte, erfuhr er, daß Tito, ihr Bruder, mit einer von einem schrecklichen Messerstiche durchbohrten Seite in großer Gefahr im Hospital liege; und seit dem Beginn des Winters war das furchtbare Elend auf den Prati del Castello noch gewachsen. Alle Welt hatte großen Kummer; die, die der Tod hinwegraffte, mußten sich freuen. Aber Celia verscheuchte mit einer Gebende unbesiegbarer Hoffnung das Leid, den Tod selbst.

»Nein, nein, man muß leben. Und, meine Liebe, wenn man schön ist, genügt das, um zu leben. Gehen Sie, meine Liebe, bleiben Sie nicht da; weinen Sie nicht mehr, leben Sie für die Freude, schön zu sein.«

Sie führte sie hinaus und Pierre blieb ans einem der Fauteuils sitzen; eine solche müde Traurigkeit überkam ihn, daß er Lust hatte, sich nie mehr zu rühren. Don Vigilio fuhr fort, jeden Besucher mit einer Reverenz zu begrüßen. In der Nacht hatte er einen Fieberanfall gehabt; er zitterte noch davon, war sehr gelb und seine Augen brannten unruhig. Er warf fortwährend Blicke auf Pierre, als verzehre ihn der Wunsch, mit ihm zu sprechen; aber die Angst, daß der Abbé Paparelli ihn durch die weit offenstehende Thür des Nebenvorzimmers sehen könne, bekämpfte zweifellos diesen Wunsch, denn er horte auch nicht auf, den Schleppträger lauernd zu beobachten. Endlich mußte dieser sich auf einen Augenblick entfernen; Don Vigilio näherte sich dem Priester.

»Sie waren gestern bei Seiner Heiligkeit?«

Erstaunt sah Pierre ihn an.

»O, ich habe es Ihnen ja schon gesagt, man erfährt alles. Was haben Sie gethan? Ganz einfach Ihr Buch zurückgezogen, nicht wahr?«

Das wachsende Erstaunen des Priesters sagte ihm alles, ohne daß er ihm sogar Zeit zu einer Antwort gelassen hatte.

»Ich dachte es mir, aber ich wollte Gewißheit darüber haben. Ach, das alles ist ihr Werk! Glauben Sie mir jetzt, sind Sie überzeugt, daß sie die ersticken, die sie nicht vergiften?«

Er mußte wohl von den Jesuiten sprechen. Vorsichtig streckte er den Hals aus und überzeugte sich, daß der Abbé Pavarelli noch nicht zurück sei.

»Und was hat Ihnen Monsignore Nani vorhin gesagt?«

»Verzeihung,« antwortete Pierre endlich, »ich habe Monsignore Nani noch nicht gesehen.«

»O, ich glaubte... Er ist vor Ihnen durch diesen Saal gegangen. Wenn Sie ihn im Vorsaal nicht sahen, so wird er sich wohl zu Donna Serafina und Seiner Eminenz begeben haben, um sie zu begrüßen. Er wird sicherlich wieder vorbeikommen; Sie werden ihn sehen.«

Dann setzte er mit der Bitterkeit des stets eingeschüchterten und besiegten Schwachen hinzu:

»Ich habe es Ihnen ja vorausgesagt, daß Sie zuletzt das thun würden, was er will.«

Aber er glaubte das leise Getrippel des Abbé Paparelli zu hören, kehrte rasch auf seinen Platz zurück und begrüßte zwei alte, eben eintretende Damen mit seiner Verbeugung. Pierre aber, der niedergedrückt, mit halbgeschlossenen Augen sitzen geblieben war, sah endlich die Gestalt Nanis in ihrer Wirklichkeit, ihrer höchsten Intelligenz und Diplomatie. Er erinnerte sich, was Don Vigilio ihm in jener famosen Enthüllungsnacht von jenem Manne erzählt hatte. Der Prälat war viel zu gewandt, um sich mit einem mißliebigen Kleide zu kennzeichnen; im übrigen war er bezaubernd, kannte die Welt durch seine Thätigkeit in den Nuntiaturen und im S. Offizio ans dem Grunde, nahm an allem teil, war in allem beschlagen, kurz, einer der Köpfe, eines der Gehirne der modernen schwarzen Armee, die mit ihrem Opportunismus das Jahrhundert zur Kirche zurückzuführen gedenkt. Plötzlich ward es vollständig Tag in ihm: er begriff, durch welche schmiegsame, bewunderungswürdige Taktik dieser Mann ihn zu dem Akt, den er von seinem scheinbar freien Willen erlangen wollte, zu dem rückhaltslosen Zurückziehen seines Buches geführt hatte. Zuerst hatte ihn bei der Nachricht von der Verfolgung des Buches ein lebhafter Aerger, die plötzliche Unruhe ergriffen, daß der exaltirte Verfasser zu irgend einer unangenehmen Empörung getrieben werden könne; sofort war sein Plan gefaßt, wurden Erkundigungen über diesen jungen, des Schisma fähigen Priester eingezogen, seine Reise nach Rom bewirkt und ihm die Einladung übermittelt, in einem alten Paläste abzusteigen, dessen bloße Mauern ihn erstarren und belehren sollten. Dann kamen von da an die unaufhörlich neu entstehenden Hindernisse; sein Aufenthalt wurde verlängert, indem man ihn hinderte, den Papst zu sprechen, indem man versprach, ihm die heißersehnte Audienz zu verschaffen, sobald die Stunde gekommen sei, nachdem man ihn alles anstoßen hatte lassen, nachdem man ihn überall herumgeführt hatte – von Monsignore Fornaro zum Pater Dangelis, vom Kardinal Sarno zum Kardinal Sanguinetti. Dann kam endlich, als die Dinge und Menschen ihn wankend, matt gemacht, mit Ekel erfüllt, dem Zweifel wieder ausgeliefert hatten, die Audienz, auf die man ihn seit drei Monaten vorbereitete, dieser Besuch beim Papst, der seinen Traum vollends in ihm töten sollte. Jetzt sah er Nani wieder vor sich, mit seinem feinen Lächeln, den hellen Augen eines klugen Staatsmannes, den ein Experiment belustigte; er hörte ihn wieder mit seiner leicht spöttischen Stimme wiederholen, daß es eine wahre Gnade der Vorsehung sei, wenn diese Verzögerungen ihm gestatteten, Rom zu besichtigen, nachzudenken, zu verstehen. Das sei ein ganzer Unterricht, eine ganze Erziehung, die ihm manche Fehler ersparen würde. Und er, der mit seiner Apostelbegeisterung angekommen war – der gebrannt hatte, zu kämpfen, der geschworen, niemals sein Buch zurückzuziehen! War es nicht die heikelste, die höchste Diplomatie, derart sein Gefühl an seiner Vernunft zerschellt zu haben, indem man sich an seine Intelligenz wendete, damit sie ohne ärgernisgebenden Kampf das unnütze, falsche Buch unterdrücke – etwas, was sich von selbst ergeben mußte, sobald sie angesichts des wirklichen Rom einsah, wie ungeheuer lächerlich es wäre, von einem neuen Rom zu träumen?

In diesem Augenblick erblickte Pierre Monsignore Nani, der aus dem Thronsaal kam; aber er empfand nicht das Gefühl der Gereiztheit und Erbitterung, das er erwartet hatte. Im Gegenteil, er war glücklich, als der Prälat, nachdem er ihn ebenfalls bemerkt hatte, herankam und ihm die Hand reichte. Aber er lächelte nicht wie gewöhnlich; seine Miene war sehr ernst, schmerzlich betroffen.

»Ach, mein lieber Sohn, was für eine entsetzliche Katastrophe! Ich komme von Seiner Eminenz. Er schwimmt in Thränen. Das ist furchtbar, furchtbar!«

Er setzte sich auf einen der Stühle nieder, indem er den Priester ebenfalls zum Sitzen einlud, und schwieg einen Augenblick; zweifellos war er vor Aufregung matt und bedurfte dieser paar Minuten Ruhe, um sich von der Last der Betrachtungen zu erholen, die sichtbarlich sein helles Gesicht verdüsterten. Dann schien er diesen Schatten mit einer Geberde verscheuchen zu wollen und fand sein liebenswürdig gefälliges Benehmen wieder.

»Nun, mein lieber Sohn, Sie haben mit Seiner Heiligkeit gesprochen?«

»Ja, Monsignore, gestern abend, und ich danke Ihnen für die große Güte, mit der Sie meinen Wunsch befriedigten.«

Nani sah ihn starr an, während ein unbezwingliches Lächeln auf seinen Lippen erschien.

»Sie danken mir. Ich sehe, Sie sind verständig gewesen und haben sich zu den Füßen Seiner Heiligkeit vollständig unterworfen. Ich war davon überzeugt, ich hatte von Ihrer hohen Intelligenz nichts anderes erwartet. Aber Sie machen mich doch sehr glücklich, denn ich konstatire mit Entzücken, daß ich mich in Ihnen nicht getäuscht habe.«

Er vergaß sich und fügte hinzu:

»Ich habe nie mit Ihnen diskutirt. Wozu denn, da die Thatsachen da waren, um Sie zu überzeugen? Und jetzt, wo Sie Ihr Buch zurückgezogen haben, wäre jede Diskussion noch unnützer. Trotzdem, bedenken Sie wohl: wenn es in Ihrer Macht läge, die Kirche zu ihrem Anfang, zu jener christlichen Gemeinde zurückzuführen, von der Sie eine so köstliche Schilderung entwarfen, so könnte sich die Kirche doch nur von neuem in jener Bahn bewegen, in die Gott sie einmal geführt hat, so daß sie nach Ablauf von ebenso viel Jahrhunderten genau wieder dort stünde, wo sie jetzt steht. Nein, Gott hat das, was er gethan hat, wohl gethan; die Kirche, so wie sie ist, muß die Welt regieren, so wie sie ist und sie allein hat zu wissen, wieso sie ihr Reich hienieden zuletzt sichern wird. Darum war Ihr Angriff gegen die weltliche Herrschaft ein unverzeihlicher Fehler, ein Verbrechen; denn indem Sie das Papsttum seiner Herrschaft entsetzen, liefern Sie es der Gnade der Völker aus. Ihre neue Religion ist nur der endgiltige Zusammenbruch aller Religion, die moralische Anarchie, die Erlaubnis zum Schisma, mit einem Wort die Zerstörung des göttlichen Gebäudes, jenes uralten, an Weisheit und Festigkeit so reichen Katholizismus, der bisher zum Heil der Menschen genügt hat, der allein sie zu retten vermag – morgen und bis in Ewigkeit.«

Pierre fühlte, daß er aufrichtig fromm war, einen wirklich unerschütterlichen Glauben besaß und die Kirche wie ein dankbarer Sohn liebte, fest überzeugt, daß sie die schönste, die einzige soziale Organisation sei, die die Menschheit glücklich machen könne. Wenn er die Welt zu regieren gedachte, so herrschte wohl die Freude am Regieren selbst vor, aber er war auch überzeugt, daß niemand sie besser regieren würde als er.

»O, gewiß, über die Mittel und Wege kann man streiten! Ich für meinen Teil will freundliche, möglichst humane Mittel, solche, die ganz mit dem Jahrhundert verträglich sind, das uns zu entschlüpfen scheint – gerade weil zwischen ihm und uns ein einfaches Mißverständnis besteht. Aber wir werden es zurückführen, davon bin ich überzeugt ... Und darum, mein lieber Sohn, freut es mich, Sie in unsern Schoß zurückkehren zu sehen, eins mit uns in Gedanken, bereit mit uns zu kämpfen – nicht wahr?«

Der Priester fand darin alle Argumente Leos XIII. wieder. Da er, nun keinen Zorn mehr, aber noch immer die offene Wunde seines herausgerissenen Traumes empfindend, eine direkte Antwort vermeiden wollte, verbeugte er sich abermals und sprach langsamer, um das bittere Zittern seiner Stimme zu verbergen:

»Ich wiederhole, Monsignore, wie sehr ich Ihnen dankbar bin, daß Sie mich mit der geschickten Hand eines vollendeten Chirurgen von meinen eitlen Illusionen befreiten. Morgen, wenn ich nicht mehr leiden werde, werde ich Ihnen eine ewige Dankbarkeit bewahren.«

Monsignore Nani fuhr fort, ihn lächelnd anzusehen. Er begriff sehr wohl, daß dieser junge Priester sich abseits halten würde, eine für die Kirche verlorene Kraft war. Was würde er morgen thun? Zweifellos eine neue Dummheit begehen. Aber der Prälat mußte sich daran genügen lassen, daß er ihm geholfen hatte, die erste wieder gut zu machen; die Zukunft konnte er nicht voraussehen. Und er machte eine hübsche Geberde, wie um zu sagen, daß jeder Tag seiner Aufgabe genüge.

»Mein lieber Sohn, erlauben Sie mir, zu schließen?« sagte er endlich. »Seien Sie verständig; Ihr Glück als Priester und Mensch liegt in der Demut. Sie werden schrecklich unglücklich sein, wenn Sie die wunderbare Intelligenz, die Gott Ihnen gegeben, gegen Gott anwenden.«

Dann schob er mit einer abermaligen Geberde diese ganze Angelegenheit beiseite; sie war nun vollständig beendet, er brauchte sich nicht mehr um sie zu kümmern. Nun verdüsterte ihn wieder die andere Angelegenheit, die auch zu Ende ging – aber auf so tragische Weise, durch den blitzähnlichen Tod der beiden Kinder, die da drin im Nebensaal ruhten.

»Ach, die arme Prinzessin, der arme Kardinal!« fuhr er fort. »Sie haben mir das Herz zerrissen! Noch nie ist eine, grausamere Katastrophe auf ein Haus herabgefahren. – Nein, nein, es ist zu viel! Das Unglück geht zu weit; die Seele empört sich dagegen!«

Aber in diesem Augenblick ertönte aus dem zweiten Vorzimmer ein Stimmengeräusch und Pierre sah zu seinem Erstaunen den Kardinal Sanguinetti vorübergehen, den der Abbé Paparelli mit verdoppelter Ehrerbietung geleitete.

»Wenn Eure Eminenz die Güte hätten, mir zu folgen, werde ich Eminenz selbst führen.«

»Ja, ich bin gestern abend von Frascati zurückgekommen, und als ich die traurige Nachricht hörte, wollte ich sofort mein Beileid und meinen Trost überbringen.«

»Eure Eminenz geruhe einen Augenblick, bei den Leichen zu verweilen, dann werde ich Ew. Eminenz zu Seiner Eminenz führen.«

»Sehr wohl. Man soll wissen, welchen ungeheuren Anteil ich an der Trauer dieses illustren Hauses nehme.«

Er verschwand im Thronsaal und Pierre, über eine solche Kühnheit erstaunt, blieb mit offenem Munde sitzen. Gewiß, er hielt ihn nicht für den unmittelbaren Mitschuldigen Santobonos, er wagte nicht, auszurechnen, bis wohin seine moralische Mitschuld reichte, aber als er ihn so vorübergehen sah, hocherhobenen Hauptes, mit so bestimmter Sprache, da empfing er die plötzliche, feste Ueberzeugung, daß er alles wisse. Wieso? Durch wen? Das hätte er nicht sagen können. Zweifellos auf die Weise, wie die Verbrechen in diesen finstern Tiefen, unter Leuten, die ein Interesse daran haben, sie zu erfahren, herauskommen. Er war starr über das hochmütige Auftreten dieses Mannes; er erschien vielleicht, um den Argwohn aufzuhalten, sicherlich aber, um einen Akt der Politik auszuführen, indem er seinem Nebenbuhler einen öffentlichen Beweis der Achtung und Liebe gab.

»Der Kardinal, hier!« konnte er nicht umhin, zu murmeln.

Monsignore Nani, der den Schatten der Gedanken Pierres in seinen Kinderaugen, die alles verrieten, verfolgte, stellte sich, als fasse er den Sinn dieses Ausrufs nicht richtig auf.

»Ja, in der That, ich habe erfahren, daß er seit gestern abend wieder in Rom ist. Er legte Gewicht darauf, nicht länger fernzubleiben, da es dem heiligen Vater besser geht und er seiner bedürfen könnte.«

Obwohl er das mit völlig unschuldiger Miene sagte, ließ sich Pierre keinen Augenblick dadurch irreführen, und nachdem er nun seinerseits den Prälaten angeblickt hatte, kam er zu der Ueberzeugung, daß auch er alles wisse. Mit einmal erschien ihm die ganze Sache in ihrer furchtbaren Verwicklung, in der ganzen Grausamkeit, die das Schicksal ihr verliehen hatte. Nani, ein alter vertrauter Freund des Palastes Boccanera, war doch gewiß nicht herzlos und liebte Benedetta, von soviel Schönheit und Anmut bezaubert, sicherlich. Das konnte erklären, warum er zuletzt in so sieghafter Weise die Annullirung der Ehe hatte aussprechen lassen. Aber Don Vigilio nach war diese um den Preis von Geld und unter dem Druck der offenkundigsten Einflüsse erlangte Scheidung einfach ein Skandal, den er anfangs in die Länge gezogen und dann einer aufsehenerregenden Lösung zugetrieben hatte, einzig und allein zu dem Zweck, den Kardinal am Vorabend des Konklaves, das alle Welt für nahe bevorstehend hielt, in Mißkredit zu bringen und von der Tiara zu entfernen. Uebrigens schien es außer Zweifel zu sein, daß der intransigente, gar nicht diplomatische Kardinal nicht der Kandidat des so geschmeidigen, eine allgemeine Einigung herbeisehnenden Nani sein konnte; so konnte die lange Arbeit des letzteren in diesem Hause, trotzdem sie der lieben Contessina zu ihrem Glücke verhalf, nichts anderes gewesen sein als die langsame, ununterbrochene Zerstörung des brennenden Strebens der Geschwister, der Kirche den dritten triumphirenden Papst aus ihrer alten Familie zu geben. Aber wenn er das auch immer gewollt, wenn er sich sogar einen Augenblick für den Kardinal Sanguinetti gestritten und seine Hoffnung auf ihn gesetzt hatte, so war es ihm doch nie eingefallen, daß es bis zu einem Verbrechen, bis zu dem albernen Greuel von einem an die falsche Adresse gelangenden und Unschuldige treffenden Gift kommen würde. Nein, nein, das war, wie er sagte, zu viel; dagegen empörte sich die Seele. Er bediente sich sanfterer Waffen; eine solche Roheit stieß ihn ab, erzürnte ihn. Auf seinem so rosigen, so gepflegten Gesicht lag noch der Ernst der Empörung, die ihn angesichts des weinenden Kardinals und dieser zwei traurigen, an seiner Stelle vernichteten Liebenden erfaßt hatte.

Pierre, in der Meinung, daß der Kardinal Sanguinetti noch immer der geheime Kandidat des Prälaten sei, ward trotzdem von dem Verlangen gequält, zu erfahren, bis wohin die moralische Mitschuld des letzteren an diesem verruchten Geschehnis gehe. Er setzte das Gespräch fort.

»Man sagt, daß Seine Heiligkeit auf Seine Eminenz den Kardinal Sanguinetti böse ist. Es ist natürlich, daß der regierende Papst den zukünftigen Papst nicht sehr gerne sieht.«

Monsignore Nani ließ sich einen Augenblick in aller Offenheit gehen.

»O, der Kardinal hat sich bereits drei- oder viermal mit dem Vatikan verzürnt und wieder ausgesöhnt! Auf jeden Fall braucht der heilige Vater keine posthume Eifersucht zu zeigen; er weiß, daß er Seine Eminenz sehr gut aufnehmen darf.«

Dann bereute er es, sich so bestimmt ausgedrückt zuhaben und verbesserte sich:

»Ich scherze. Seine Eminenz ist des hohen Lohns, der ihn vielleicht erwartet, vollständig würdig.«

Aber Pierre war orientirt: der Kardinal Sanguinetti war sicherlich nicht mehr der Kandidat Monsignore Nanis. Zweifellos war er der Meinung, daß er von seinem ungeduldigen Ehrgeiz zu geschwächt und durch die zweideutigen Verbindungen, die er in seinem Fieber mit aller Welt, sogar mit dem jungen, patriotischen Italien geschlossen, auch zu gefährlich geworden sei. Die Situation klärte sich: der Kardinal Sanguinetti und der Kardinal Boccanera würden einander verschlingen, gegenseitig unterdrücken – der eine mit seinen unaufhörlichen Ränken, vor keinem Kompromiß zurückschreckend, erfüllt von dem Traum, Rom durch die Wahlen zurückzuerobern – der andere, unbeweglich und hochaufgerichtet in seiner Intransigenz, das Jahrhundert in den Bann thuend, das Wunder, das die Kirche retten sollte, von Gott allein erwartend. Warum sollte man die beiden, so einander gegenüber gestellten Theorien sich nicht mit allem Extremen und Beunruhigendem, was sie besaßen, zerstören lassen? Wenn Bocccanera auch dem Gift entgangen war, so hatte ihn das tragische Ereignis nichtsdestoweniger getroffen und er war durch die Geschichten, von denen ganz Rom summte, vernichtet, als Kandidat fortan unmöglich; und wenn Sanguinetti sich endlich eines Nebenbuhlers entledigt zu haben glaubte, so hatte er nicht eingesehen, daß er sich selbst traf, daß er zu gleicher Zeit seine eigene Kandidatur vernichtete, indem er ihr durch eine solche in den Mitteln wenig wählerische, für alle bedrohliche Sucht nach Macht schadete. Monsignore Nani war darüber sichtbarlich entzückt: also weder der eine noch der andere; der Platz war frei. Es war die Geschichte von jenen zwei legendenhaften Wölfen, die sich bekämpft und aufgefressen hatten, ohne daß etwas von ihnen übrig blieb – nicht einmal die Schwänze. Auf dem Grunde seiner blassen Augen, seiner ganzen diskreten Persönlichkeit war nichts mehr da als ein furchtbarer Unbekannter, der von der allmächtigen Armee, zu deren geschicktesten Führern er zählte, endgiltig gewählte und beschützte Kandidat. Ein solcher Mann war nie unbeteiligt, hatte stets eine Lösung bereit. Wer also, wer sollte der Papst von morgen sein?

Er hatte sich erhoben und nahm von dem jungen Priester herzlichen Abschied.

»Mein lieber Sohn, ich zweifle, ob ich Sie wiedersehen werde ... Ich wünsche Ihnen glückliche Reise ...«

Trotzdem entfernte er sich nicht, sondern fuhr fort, Pierre mit seinem durchdringenden Blick anzusehen; zuletzt hieß er ihn sich wieder niedersetzen und ließ sich selbst wieder auf einen Stuhl nieder.

»Hören Sie, Sie werden doch sicherlich, gleich nach Ihrer Ankunft in Frankreich, den Kardinal Bergerot begrüßen gehen ... Haben Sie die Güte, mich ihm ehrfurchtsvoll zu empfehlen. Ich kannte ihn flüchtig, als er hier war, um sich den Kardinalshut zu holen. Er ist eine der größten Leuchten des französischen Klerus ... Ach, wenn ein solcher Geist für die Eintracht in unserer heiligen Kirche arbeiten wollte! Leider besitzt er, fürchte ich, Vorurteile der Rasse und Umgebung; er hilft uns nicht immer.«

Pierre hörte neugierig zu; er war überrascht, ihn so zum erstenmal, in dieser letzten Minute, von dem Kardinal sprechen zu hören. Aber dann that er sich keinen Zwang mehr an und antwortete mit aller Offenheit:

»Ja, Seine Eminenz hat über unsere alte Kirche von Frankreich sehr bestimmte Ansichten. So bekennt er, ein wahres Grauen vor den Jesuiten zu empfinden.«

Monsignore Nani unterbrach ihn mit einem leichten Ausruf und machte das erstaunteste, aufrichtigste Gesicht, das man sehen kann.

»Wie, Grauen vor den Jesuiten? Womit können die Jesuiten ihn beunruhigen? Es gibt keine mehr, die Geschichte mit den Jesuiten ist aus! Haben Sie welche in Rom gesehen? Haben diese armen Jesuiten, die hier nicht einmal mehr einen Stein besitzen, auf dem sie ihr Haupt ausruhen lassen können, Sie in irgend etwas gestört? ... Nein, nein, dieser Popanz soll nicht wieder in Bewegung gesetzt werden! Das ist kindisch!«

Nun sah Pierre ihn an; er wunderte sich über seine Ungezwungenheit, seine ruhige Kühnheit bei einer so brennenden Frage. Er wandte die Augen nicht ab und zeigte sein Gesicht offen, wie ein Buch der Wahrheit.

»O, wenn Sie unter Jesuiten die verständigen Priester verstehen, die, statt sich mit den modernen Gesellschaften in unfruchtbare, gefährliche Kämpfe einzulassen, sich bemühen, sie mit Menschlichkeit zur Kirche zurückzuführen – mein Gott, dann sind wir alle mehr oder weniger Jesuiten, denn es wäre wahnsinnig, die Zeit, in der man lebt, nicht in Anschlag zu bringen ... Uebrigens hänge ich mich nicht an Worte! Was liegt daran! Also gut, Jesuiten, wenn Sie es so haben wollen, Jesuiten!« Er lächelte abermals. Es war sein hübsches, so seines Lächeln, in dem so viel Spott und so viel Geist lag.

»Nun, wenn Sie den Kardinal Bergerot sehen, so sagen Sie ihm, daß es unvernünftig ist, die Jesuiten in Frankreich zu verfolgen, als Feinde der Nation zu behandeln. Gerade das Gegenteil ist wahr: die Jesuiten sind für Frankreich, weil sie für den Reichtum, für die Kraft und den Mut sind. Frankreich ist die einzige große katholische Nation, die noch aufrecht steht und herrscht, die einzige, auf die sich das Papsttum eines Tages fest stützen kann. Darum hat auch der heilige Vater, nachdem er einen Augenblick diese Stütze bei dem siegreichen Deutschland zu finden gehofft hatte, das Bündnis mit dem eben besiegten Frankreich geschlossen; denn er begriff, daß außer ihm kein Heil für die Kirche existire. Damit ist er aber nur der Politik der Jesuiten gefolgt, dieser schrecklichen Jesuiten, die euer Frankreich so haßt ... Sagen Sie außerdem dem Kardinal Bergerot, daß es sehr schön von ihm wäre, wenn er auf die Beruhigung hinarbeiten wollte, indem er zu verstehen gäbe, wie unrecht es von eurer Republik ist, dem heiligen Vater bei seinem Versöhnungswerk nicht mehr zu helfen. Er stellt sich, als halte er ihn für eine quantité négligeable; das ist ein gefährlicher Fehler für Regierende, denn wenn er auch aller politischen Wirksamkeit beraubt zu sein scheint, so ist er nichtsdestoweniger eine ungeheure moralische Kraft, die zu jeder Stunde die Gewissen aufwühlen, religiöse Agitationen von unberechenbarer Tragweite bewirken kann. Immer ist er es, der über die Völker verfügt, da er über die Seelen verfügt; die Republik handelt sehr leichtfertig, sogar in seinem Interesse, wenn sie zeigt, daß sie ihn nicht mehr fürchtet ... Und sagen Sie ihm endlich, daß es ein wahrer Jammer ist, wenn man sieht, in welcher erbärmlichen Weise diese Republik ihre Bischöfe wählt, gerade als ob sie ihr Episkopat absichtlich schwächen wollte. Abgesehen von einigen glücklichen Ausnahmen, sind eure Bischöfe recht armselige Geister, und demzufolge haben eure Kardinäle, mittelmäßige Köpfe, hier gar keinen Einfluß, spielen sie hier gar keine Rolle. Ach, was für eine traurige Figur werdet ihr bei dem nächsten Konklave spielen! Warum behandelt ihr also die Jesuiten, die in der Politik eure Freunde sind, mit einem so albernen, so blinden Haß? Warum benützt ihr nicht ihren intelligenten Eifer, der euch zu dienen bereit ist, so daß ihr euch der Hilfe des Papstes von morgen versichert? Ihr braucht sie; er muß bei euch das Werk Leos XIII. fortsetzen, dieses Werk, das so schlecht beurteilt, so bekämpft wird, das sich wenig um kleine, zeitliche Ergebnisse kümmert, das vor allem für die Zukunft, für die Vereinigung aller Völker in ihrer heiligen Mutter, der Kirche, arbeitet ... Sagen Sie das dem Kardinal Bergerot, sagen Sie ihm, daß er mit uns sein soll, daß er für sein Land arbeitet, in dem er für uns arbeitet. Der Papst von morgen! Aber darin liegt ja alles! Wehe Frankreich, wenn es nicht in dem Papste von morgen einen Fortsetzer Leos XIII. findet!«

Er hatte sich abermals erhoben, und diesmal ging er wirklich. Noch nie hatte er sich in dieser Weise, so lange ausgelassen. Aber sicherlich hatte er nur das gesagt, was er sagen wollte, und zwar zu einem Zweck, den er allein kannte; man fühlte, daß jedes seiner mit fester Langsamkeit und Milde gesprochenen Worte gereift, im voraus erwogen war.

»Adieu, mein lieber Sohn! Und nochmals, denken Sie über alles nach, was Sie in Rom gesehen und gehört haben; seien Sie recht vernünftig, verderben Sie Ihr Leben nicht.«

Pierre verneigte sich und drückte die kleine, fette und geschmeidige Hand, die der Prälat ihm reichte.

»Ich danke Monsignore nochmals für die bewiesene Güte und seien Monsignore überzeugt, daß ich nichts von meiner Reise vergessen werde.«

Er sah ihm nach, wie er in seiner seinen Sutane, mit seinem leichten, erobernden Schritt, der allen Siegen der Zukunft entgegen zu gehen glaubte, verschwand. Nein, nein, er würde nichts von seiner Reise vergessen! Er kannte jetzt diese Vereinigung aller Völker in ihrer heiligen Mutter, der Kirche, diese weltliche Knechtschaft, bei der das Gesetz Christi die Diktatur des Augustus, des Herrn der Welt ward. Und er zweifelte gar nicht, daß die Jesuiten Frankreich liebten – die älteste Tochter der Kirche, die einzige, die ihrer Mutter noch zur Wiedereroberung des Weltreiches verhelfen konnte; aber sie liebten sie, wie die schwarzen Heuschreckenschwärme die Felder lieben, auf die sie sich herabstürzen, die sie verzehren. Eine unendliche Trauer war wieder in sein Herz gezogen, denn er hatte das dumpfe Gefühl, daß in diesem alten, vernichteten Palast, in dieser Trauer und in diesem Zusammenbruch sie, wieder sie es waren, die die Schöpfer des Schmerzes und Unglücks sein mußten.

Just in diesem Augenblick bemerkte er, als er sich umdrehte, Don Vigilio, der vor dem großen Porträt des Kardinals an der Kredenz lehnte; er hielt das Gesicht in die Hände gedrückt, als wolle er für ewig verschwinden, vergehen, und alle seine Glieder zitterten, ebenso vor Furcht wie vor Fieber. In einem Augenblick, da keine Besucher mehr erschienen, war er einem Anfall entsetzter Verzweiflung erlegen und gab sich ihm ganz hin.

»Mein Gott, was ist Ihnen?« fragte Pierre, indem er näher trat. »Sind Sie krank? Kann ich Ihnen helfen?«

Aber Don Vigilio verstopfte sich die Augen, stotterte erstickend etwas hinter seinen zusammengepreßten Händen und gab nur seinen unterdrückten Schreckensschrei von sich:

»O, Paparelli, Paparelli!«

»Wie? Was hat er Ihnen gethan?« fragte der Priester erstaunt.

Da nahm der Sekretär die Hände vom Gesicht und gab abermals dem zitternden Bedürfnis nach, sich jemand anzuvertrauen.

»Wie, was er mir gethan hat? ... Ja, fühlen Sie denn nichts, sehen Sie denn nichts? Haben Sie bemerkt, wie er sich des Kardinals Sanguinetti bemächtigte, um ihn zu Seiner Eminenz zu führen? Welche freche Kühnheit! In einem solchen Augenblick Seiner Eminenz diesen verwünschten Nebenbuhler aufzudrängen! Und haben Sie gesehen, mit was für einer bösen Tücke er ein paar Minuten zuvor eine alte Dame hinauskomplimentirte – eine sehr alte Freundin, die Seiner Eminenz bloß die Hand küssen wollte? Seine Eminenz wäre über dies bißchen wahre Liebe so glücklich gewesen! ... Ich sage Ihnen, er ist der Herr hier, er öffnet oder schließt die Thür je nach seinem Belieben, er hält uns alle zwischen den Fingern, wie eine Fingerspitze Staub, die man in alle Winde streut!«

Pierre ward unruhig, als er sah, wie er bebte und wie gelb sein Gesicht war.

»Nun, nun, mein Lieber, Sie übertreiben.«

»Ich übertreibe ... Wissen Sie, was heute nacht vorgegangen ist, welcher Scene ich wider Willen beiwohnte? Nein, nicht wahr? Nun, ich werde es Ihnen erzählen.«

Er berichtete, daß Donna Serafina, als sie tags zuvor zurückgekehrt war, um in die furchtbare Katastrophe, die sie erwartete, hineinzugeraten, bereits mit zerrissenem Herzen heimkehrte; sie war ganz gebrochen von den bösen Nachrichten, die sie erhalten hatte. Im Vatikan, beim Kardinalsekretär, dann bei den Prälaten ihrer Bekanntschaft hatte sie die Ueberzeugung gewonnen, daß die Lage ihres Bruders sich seltsam verschlimmerte, und daß er sich im heiligen Kollegium immer zahlreichere Feinde geschafft hatte, so daß seine, im Vorjahr noch wahrscheinliche Erhebung auf den päpstlichen Thron fortan unmöglich geworden zu sein schien. Der Traum ihres Lebens brach plötzlich zusammen; der Ehrgeiz, den sie stets genährt, lag in Staub zerfallen zu ihren Füßen, Wieso? Warum? Sie hatte sich verzweifelt nach den Beweggründen erkundigt und von allerlei Fehlern und Schroffheiten des Kardinals erfahren. Er hatte unpassende Kundgebungen gethan, Leute durch ein Wort, durch eine Handlung verletzt, kurz, eine so herausfordernde Haltung angenommen, daß man hätte meinen können, er thue es absichtlich, um alles zu verderben. Das schlimmste war, daß sie in jedem dieser Fehler Ungeschicklichkeiten erkannte, die sie selbst mißbilligt und abgeraten hatte, die aber ihr Bruder, unter dem uneingestandenen Einfluß des Abbé Paparelli stehend, eigensinnig doch begangen hatte. Sie ahnte in diesem so demütigen, so niedrigen Schleppträger eine unheilvolle Macht, den Zerstörer ihres eigenen, so wachsamen und ergebenen Einflusses. Darum hatte sie trotz der Trauer, in der das Haus sich befand, die Exekution des Verräters nicht verzögern wollen, um so mehr als seine alte Kameradschaft mit dem schrecklichen Santobono, die Geschichte mit dem Korb Feigen, der aus den Händen des letzteren in die Hände des ersteren übergegangen war, sie in einem Argwohn erstarren ließ, den sie nicht aufklären wollte. Aber gleich bei ihren ersten Worten, als sie die förmliche Forderung stellte, daß der Verräter zur selben Stunde vor die Thür gesetzt werde, war sie bei ihrem Bruder auf einen plötzlichen, unbesiegbaren Widerstand gestoßen. Er wollte sie nicht anhören, ward aufgebracht und geriet in einen jener orkanähnlichen Zornanfälle, deren Heftigkeit alles wegfegte. Er sagte, daß es sehr schlecht von ihr sei, einen so bescheidenen, so frommen, heiligen Mann anzugreifen, und beschuldigte sie, darin das Spiel seiner Feinde zu unterstützen, die, nachdem sie ihm Monsignore Gallo getötet, seine letzte Zuneigung für diesen armen, unbedeutenden Priester zu vergiften suchten. Er nannte alle diese Geschichten abscheuliche Erfindungen und schwur, ihn zu behalten, sei es auch nur, um seine Verachtung der Verleumdung zu zeigen. Und sie hatte schweigen müssen.

Don Vigilio hatte sich, wieder von Schauern ergriffen, von neuem mit beiden Händen das Gesicht bedeckt.

»Ach, Paparelli, Paparelli!«

Und er stammelte dumpfe Schmähungen: der verdächtige Gleisner, der Bescheidenheit und Demut heuchelte, der gemeine Spion, der den Auftrag hatte, alles im Palaste zu sehen, zu hören, zu verderben – das unreine, zerstörende Insekt, das die edelste Beute beherrschte, die Mähne des Löwen verzehrte – der Jesuit, der echte Jesuit, Knecht und Tyrann zugleich, in seiner niedrigen Abscheulichkeit, seiner triumphirenden Geschmeißarbeit!

»Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich,« wiederholte Pierre. Trotzdem er die wahnsinnige Übertreibung berücksichtigte, überkam ihn selbst ein Schauer von dem furchtbaren Unbekannten, den drohenden und unbestimmten Dingen, die sich, wie er fühlte, wirklich in der Tiefe des Dunkels bewegten.

Aber seit Don Vigilio beinahe die schrecklichen Feigen gegessen hatte, seitdem der Blitz dicht neben ihm niedergefahren war, hatte er davon dieses Zittern, diesen Schrecken zurückbehalten, die nichts mehr beruhigen konnte. Selbst wenn er allein war, des Nachts, im Bette, bei verriegelter Thür, ergriff ihn die Angst, so daß er sich, seine Schreie erstickend, unter die Decken versteckte, als ob durch die Mauern Leute hereinkommen würden, um ihn zu erwürgen.

Atemlos, mit schwacher Stimme, als gehe er aus einem Kampf hervor, fuhr er fort:

»Ich habe es ja gesagt – an dem Abend, als wir in Ihrem Zimmer mit einander sprachen, trotzdem die Thür dreifach verschlossen war ... Es war unrecht von mir, mit Ihnen frei über sie zu sprechen, mir das Herz zu erleichtern, indem ich Ihnen erzählte, wessen sie fähig sind. Ich wußte, daß sie es erfahren würden, und Sie sehen, sie haben es erfahren, da sie mich töten wollten ... Sehen Sie, in diesem Augenblick begehe ich auch ein Unrecht, Ihnen das zu sagen, denn sie werden es erfahren, und diesmal werden sie mich nicht verfehlen ... O, es ist aus! Ich bin tot – dieses edle Haus, das ich für so sicher hielt, wird mein Grab sein!«

Ein tiefes Mitleid mit diesem fiebernden, von Schreckbildern verfolgten Gehirn, mit diesem Kranken, der sein verfehltes Leben vollends in den Beängstigungen des Verfolgungswahnes verwüstete, ergriff Pierre.

»Aber Sie müssen fliehen! Bleiben Sie hier nicht, kommen Sie nach Frankreich, gehen Sie fort, wo immer hin!«

Erstaunt sah ihn Don Vigilio an; er beruhigte sich einen Augenblick.

»Fliehen? Wozu? Nach Frankreich? Dort sind sie auch. Wo immer hin? Dort sind sie auch. Sie sind überall; ich würde vergeblich fliehen – ich wäre trotzdem bei ihnen, unter ihnen ... Nein, nein, da ziehe ich vor, hier zu bleiben. Lieber sterbe ich hier sofort, wenn Seine Eminenz mich nicht mehr verteidigen kann.«

Er richtete auf das große Porträt, auf dem der Kardinal in seiner roten Moiréesutane strahlte, einen Blick unendlichen Flehens, in dem noch ein Hoffnungsstrahl aufzuglänzen versuchte. Aber der Anfall kehrte wieder und schüttelte, überkam ihn mit verdoppelter Fieberwut.

»Lassen Sie mich, lassen Sie mich, ich bitte Sie ... Zwingen Sie mich nicht mehr zum Reden. Ach, Paparelli, Paparelli! Wenn er wiederkäme, wenn er uns sähe, wenn er mich sprechen hörte ... Ich werde nie mehr reden. Ich werde mir die Zunge anbinden, ich werde sie mir abschneiden ... Lassen Sie mich doch! Ich sage Ihnen, Sie töten mich – er wird wiederkommen und das ist mein Tod! Gehen Sie, o bitte, gehen Sie!«

Und Don Vigilio drehte sich zur Wand, als wollte er sich dort das Gesicht zerquetschen, den Mund mit Grabesstille vermauern, Pierre entschloß sich, ihn zu verlassen; denn er fürchtete, einen noch ernsteren Anfall hervorzurufen, wenn er darauf bestünde, ihm beizustehen.

Als Pierre in den Thronsaal zurückkehrte, fand er sich wieder inmitten der furchtbaren, unheilbaren Trauer des Hauses. Eine neue Messe folgte den früheren; fortwährend wurden Messen gelesen, deren gestammelte Gebete endlos die göttliche Gnade anflehten, damit sie die beiden teuren, entflohenen Seelen mit Wohlwollen aufnehme. Und in dem ersterbenden Duft der welkenden Rosen, vor den zwei erblichenen Sternen der Kerzen dachte er an diesen letzten Zusammenbruch der Boccaneras. Dario war der letzte des Namens. Mit ihm verschwanden die so lebenskräftigen Boccaneras, deren Name die Geschichte erfüllt hatte. Man begriff die Liebe des Kardinals – dessen einzige Sünde der Stolz auf den Namen geblieben war – zu diesem zarten Knaben, den letzten des Geschlechtes, den einzigen Sproß, durch den der alte Stamm wieder grünen konnte; und wenn er, wenn Donna Serafina die Scheidung und dann die Heirat gewünscht hatten, so rührte das, mehr noch als aus dem Wunsche, dem Skandal ein Ende zu machen, von der Hoffnung her, aus den beiden schönen Kindern ein neues, starkes Geschlecht erstehen zu sehen; denn Vetter und Base blieben hartnäckig dabei, nicht zu heiraten, wenn man sie nicht einander gäbe. Jetzt lag dort auf dem Paradebette mit ihnen, in ihrer unfruchtbaren Todesumarmung, die letzte Hülle, der armselige Rest einer so langen, glänzenden Reihe von Fürsten, Prälaten und Feldherrn, die nun das Grab verschlingen würde. Es war aus; aus einem alten Mädchen, das nicht mehr Weib war, aus einem alten Priester, der aufgehört hatte, ein Mann zu sein, würde nichts mehr erstehen. Die beiden blieben einander gegenüber stehen, unfruchtbar, gleich wie zwei Eichen, die allein von dem einstigen, verschwundenen Walde übrig sind und nach ihrem Absterben bald eine vollständig flache Ebene hinterlassen werden. Welch ein ohnmächtiger Schmerz lag in diesem Ueberleben! Wie traurig, sich sagen zu müssen, daß man das Ende von allem ist, daß man das ganze Leben, die ganze Hoffnung des Morgen mit sich nimmt! Aus dem Gestammel der Messen, aus dem ermattenden Duft der Rosen, aus der Blässe der zwei Kerzen fühlte Pierre jetzt den Zusammenbruch dieser Trauer, die Schwere, des Steines heraus, der für immer hinter einer erloschenen Familie, hinter einer verschwundenen Welt zufallen würde.

Er begriff, daß er als Hausgenosse Donna Serafina und den Kardinal aufsuchen müsse, und ließ sich sofort in das Nebenzimmer führen, in dem die Prinzessin empfing. Sie saß, in Schwarz gekleidet, sehr dünn, sehr gerade auf einem Lehnstuhl, von dem sie sich langsam und würdevoll einen Augenblick erhob, um den Gruß jedes Eintretenden zu erwidern. Mit starrer Miene, den körperlichen Schmerz besiegend, hörte sie die Beileidsbezeugungen an und antwortete keine Silbe. Aber Pierre, der sie näher kennen gelernt hatte, erriet aus den eingefallenen Zügen, dem leeren Blick, dem bitter verzogenen Munde das Schreckliche, was in ihrem Innern vorging, alles was in ihr zusammengebrochen war, ohne daß eine Hoffnung auf Wiederherstellung möglich war. Nicht nur das Geschlecht war zu Ende, auch ihr Bruder würde niemals Papst werden, trotzdem sie so lange Zeit geglaubt hatte, daß die Ergebenheit, die Entsagung einer Frau, die diesem Traume ihr Gehirn und ihr Herz, ihre Sorgen, ihr Vermögen, ihr verfehltes Gattin- und Mutterleben geopfert, ihn dazu machen würde. Vielleicht blutete inmitten so vieler Ruinen am meisten die Wunde dieses enttäuschten Ehrgeizes. Als der junge Priester, ihr Gast, eintrat, stand sie auf, so wie sie sich bei allen anderen erhoben hatte; aber es gelang ihr, in die Art ihres Aufstehens eine gewisse Abschattirung zu legen, und er fühlte sehr wohl, daß er in ihren Augen noch immer der kleine französische Priester, der unterste Diener im Hausstande Gottes war, da er es nicht einmal verstanden, sich zum Range eines Prälaten zu erheben. Als sie sich, nachdem sie seine tiefe Verbeugung mit einem leichten Neigen des Kopfes entgegengenommen, wieder niedergelassen hatte, blieb er noch einen Augenblick aus Höflichkeit stehen. Kein Geräusch, kein Wort störte den düstern Frieden des Gemaches. Dennoch waren vier bis fünf Damen, Besucherinnen, anwesend; sie saßen ebenfalls in verzweifelter, stummer Unbeweglichkeit da. Was ihm aber am meisten auffiel, war die schwächliche Gestalt des Kardinals Sarno, eines der alten Freunde des Hauses, der mit seiner linken, höheren Schulter, zusammengebeugt, fast liegend, mit geschlossenen Lidern in einem Fauteuil lehnte. Er hatte, nachdem er sein Beileid ausgesprochen, noch etwas länger verweilt und war dann, von der schweren Stille, der erstickend warmen Luft überkommen, eingeschlafen. Alles respektirte seinen Schlummer. Träumte er in diesem Schlummer von der Karte der gesamten Christenheit, die er hinter seinem niedrigen, stumpfgeformten Schädel liegen hatte? Setzte er im Traum, hinter der fahlen Maske des von einem halben Jahrhundert beschränkten Beamtenlebens abgestumpften, alten Bureaukraten die furchtbare Erobererarbeit fort, die Erde aus der Tiefe seines düsteren Zimmers im Palaste der Propaganda zu unterwerfen und zu regieren? Die Damen richteten gerührte und ehrerbietige Blicke auf ihn; man schalt ihn manchmal sanft, daß er zu viel arbeite, und sah in dieser Schlafsucht, die ihn seit einiger Zeit überall ergriff, das Uebermaß seines Genies und seines Eifers. Pierre aber sollte von dieser allmächtigen Eminenz nur dieses letzte Bild mit sich nahmen: ein erschöpfter Greis, nach der Erregung eines Trauerfalles ausruhend, schlafend wie ein altes, reines Kind, ohne daß man wissen konnte, ob dies beginnender Blödsinn sei oder die Ermüdung nach einer im Dienste Gottes zugebrachten Nacht, um Gott über irgend einen fernen Kontinent herrschen zu lassen.

Zwei Damen entfernten sich, drei andere erschienen, Donna Serafina hatte sich von ihrem Sitze erhoben, gegrüßt und saß nun wieder in ihrer starren Haltung, mit gerade aufgerichteter Büste und harter, verzweifelter Miene da. Der Kardinal Sarno schlief noch immer. Nun meinte Pierre zu ersticken; eine Art Schwindel ergriff ihn, sein Herz schlug heftig. Er verbeugte sich und ging hinaus. Dann, als er durch den Speisesaal schritt, um sich in das kleine Arbeitszimmer zu begeben, in dem der Kardinal Boccanera empfing, sah er sich dem Abbé Paparelli gegenüber, der die Thür eifersüchtig hütete.

Als der Schleppträger ihn witterte, schien er zu begreifen, daß er ihm den Eintritt nicht verwehren könne. Uebrigens stand ja nichts von ihm zu befürchten, da der Eindringling am nächsten Tage, geschlagen und beschämt, wieder abfahren würde.

»Sie wünschen Seine Eminenz zu sprechen? Gut, gut! ... Gleich, warten Sie!«

Und da er der Meinung war, daß er sich der Thür zu sehr nähere, trieb er ihn, zweifellos aus Furcht, daß er ein Wort erlauschen könne, an das andere Ende des Zimmers.

»Seine Eminenz ist noch mit Seiner Eminenz dem Kardinal Sanguinetti eingeschlossen. Warten Sie, warten Sie da!« In der That hatte sich Sanguinetti bestrebt, sehr lange neben den zwei Leichen im Thronsaal auf den Knieen liegen zu bleiben. Dann verlängerte er auch seinen Besuch bei Donna Serafina, um zu beweisen, welchen Anteil er an der Verzweiflung der Familie nehme, und nun war er seit mehr als zehn Minuten bei dem Kardinal, ohne daß man durch die Thür etwas anderes hörte als von Zeit zu Zeit das Murmeln ihrer Stimmen.

Aber als Pierre hier Paparelli wieder traf, wurde er von neuem von all dem verfolgt, was Don Vigilio ihm erzählt hatte. Er sah ihn an: er war so dick, so kurz, von einem häßlichen Fett gebläht, und glich mit seinem schlaffen Gesicht, das zu vierzig Jahren von Runzeln entstellt ward, in seiner unsaubern Sutane einer sehr alten Jungfer, aus der das Cölibat einen halbschlaff gewordenen Schlauch gemacht hatte. Er geriet in Erstaunen. Wie hatte sich der Kardinal Boccanera, dieser stolze Fürst, der in dem unzerstörbaren Stolz aus seinen Namen den Kopf so hoch trug, sich von einem solchen Wesen überwältigen und beherrschen lassen können, das so grausam häßlich war und derart von Niedrigkeit und Ekel strotzte? Waren ihm nicht gerade dieser körperliche Verfall der Kreatur, diese tiefe moralische Demut als außerordentliche Heilsgaben, die ihm mangelten, aufgefallen und hatten ihn zuerst beunruhigt, dann verführt? Sie verhöhnten seine eigene Schönheit, seinen eigenen Stolz. Er, der nicht so entstellt werden konnte, dem es nicht gelang, sein Verlangen nach Ruhm zu besiegen, mußte durch eine Anstrengung seines Glaubens dahin gelangt sein, dieses unendlich häßliche, unendlich kleine Wesen zu beneiden, zu bewundern, als eine höhere, die Thore des Himmels weit öffnende Macht der Buße, der menschlichen Erniedrigung zu ertragen. Wer wird je die Gewalt erklären, die das Ungeheuer über den Helden, der mit Ungeziefer bedeckte, ein Gegenstand des Abscheus gewordene Heilige über die Mächtigen dieser Welt besitzt, die ihre irdischen Freuden mit den ewigen Flammen bezahlen zu müssen fürchten? Ja, das war der Löwe, den das Insekt verzehrt; soviel Kraft und Glanz ward von dem Unsichtbaren zerstört. Ach, wer so sein könnte, wie diese schöne, des Paradieses so sichere Seele, die zu ihrem Heil in diesem unsauberen Körper eingeschlossen war! Wer die glückselige Demut dieses Geistes, dieses hervorragenden Theologen besäße, der sich jeden morgen mit Ruten geißelte und einwilligte, nichts als der unterste der Diener zu sein!

Der Abbé Paparelli, mit fahlem Fett angesackt, stand da und beobachtete Pierre mit seinen kleinen, grauen Augen, die inmitten der tausend Falten seines Gesichtes blinzelten. Dieser begann von Unbehagen ergriffen zu werden, indem er sich fragte, was wohl die beiden Eminenzen sich zu sagen hätten, da sie so lange Zeit mit einander eingeschlossen waren. Was für eine Zusammenkunft mochte das sein, wenn Boccanera in Sanguinetti den Bischof vermutete, zu dessen Schützlingen Santobono gehörte! Was für eine kühne Ruhe besaß der eine, da er zu erscheinen gewagt hatte – und was für eine seelische Kraft, was für eine Herrschaft über sich selbst der andere, da er im Namen der heiligen Religion einen Skandal vermied, indem er schwieg, indem er den Besuch als ein einfaches Zeichen der Achtung und Zuneigung aufnahm! Aber was konnten sie sich zu sagen haben? Wie interessant wäre es gewesen, sie beisammen zu sehen, zu hören, wie sie diplomatische, für eine solche Zusammenkunft passende Worte mit einander wechselten, wahrend in ihren Seelen wütender Haß tobte!

Plötzlich öffnete sich die Thür und der Kardinal Sanguinetti kam wieder zum Vorschein; sein Gesicht war ruhig, nicht röter als gewöhnlich, sogar ein wenig blasser und bewahrte das richtige Maß der Trauer, die er zu zeigen für gut befand. Nur seine unruhigen, immerfort kreisenden Augen verrieten, wie er sich freute, von einer im Grunde sehr schweren Plage befreit zu sein. Er entfernte sich in der Hoffnung, daß fortan er der einzige mögliche Papst sei.

Der Abbé Paparelli war herbeigestürzt.

»Wenn Eminenz geruhen wollen, mir zu folgen, ich werde Eminenz hinausbegleiten ...«

Er wandte sich zu Pierre:

»Sie können jetzt eintreten.«

Pierre sah ihnen nach, wie sie verschwanden – der eine so demütig, der andere so triumphirend. Dann trat er ein und erblickte sofort im Mittelpunkte des schmalen, mit einem einfachen Tisch und drei Stühlen ausgestatteten Arbeitszimmers den Kardinal Boccanera; er stand noch aufrecht, in der hohen, edlen Haltung da, die er angenommen hatte, um Sanguinetti, den gefürchteten, verwünschten Thronrivalen, zu begrüßen. Und sichtbarlich hielt sich Boccanera in der Phantasie ebenfalls für den einzig möglichen Papst, für den, den das Konklave von morgen wählen mußte.

Aber als die Thür sich geschlossen hatte, als er diesen jungen Priester, seinen Gast, erblickte, der dem Tode seiner zwei teuren, nun für ewig in dem Nebensaale schlummernden Kinder beigewohnt hatte, da wurde der Kardinal von einer unsagbaren Bewegung, von einer unerwarteten Schwäche befallen, in der seine ganze Energie unterging. Das war die Genugthuung, die seine Menschlichkeit nahm, jetzt, da sein Nebenbuhler ihn nicht mehr sehen konnte. Er schwankte, wie ein alter Baum unter der Axt erzittert, und sank, plötzlich von lautem Schluchzen erstickt, auf einen Stuhl nieder. Und als Pierre, dem Zeremoniell gemäß, den Smaragd küssen wollte, den er am Ringfinger trug, hob er ihn auf und wies ihm dicht vor sich einen Platz an, indem er mit gebrochener Stimme murmelte:

»Nein, nein, mein lieber Sohn, setzen Sie sich dahin, warten Sie ... Entschuldigen Sie mich – lassen Sie mich einen Augenblick – das Herz bricht mir.«

Er schluchzte in seine gefalteten Hände hinein; er vermochte sich nicht zu beherrschen, vermochte den Schmerz nicht mit seinen noch kräftigen Fingern, die er sich auf die Wangen, aus die Schläfen drückte, in sich hineinzupressen.

Thränen stiegen nun auch in die Augen Pierres, wahrend er ebenfalls das furchtbare Geschehnis noch einmal durchlebte; es erschütterte ihn, diesen hohen Greis, diesen gewöhnlich so stolzen, so selbstbeherrschten Heiligen und Fürsten weinen zu sehen. Er war nun nichts mehr als ein armes, im Todeskampf und Schmerz ringendes Wesen – so hilflos, so schwach wie ein Kind. Trotzdem er selbst erstickte, wollte er sein Beileid aussprechen und suchte nach ein paar guten Worten, um diese Verzweiflung ein wenig zu lindern.

»Ich bitte Eure Eminenz, an meinen tiefen Kummer zu glauben. Ich bin von Eminenz mit Güte überhäuft worden und legte Gewicht darauf, sofort auszusprechen, wie sehr dieser unersetzliche Verlust ...«

Aber der Kardinal hieß ihn mit einer mutigen Geberde schweigen.

»Nein, nein, sprechen Sie nicht, ich bitte Sie, sprechen Sie nicht!«

Und Stille herrschte, während er, von seinem Kampf geschüttelt, noch immer weinte und abwartete, bis er wieder stark genug sei, um sich zu beherrschen. Endlich bezähmte er seinen Schauer und entfernte langsam die Hände von seinem allmälich ruhiger gewordenen Gesicht. Es war nun wieder das Antlitz eines glaubensstarken, dem Willen Gottes unterworfenen Gläubigen. Da Gott sich geweigert hatte, ein Wunder zu thun, da er sein Haus so hart strafte, so hatte er zweifellos seine Gründe dafür und ihm, einem seiner Diener, einem der hohen Würdenträger seines irdischen Hofes, blieb nichts übrig, als sich zu beugen.

Das Schweigen dauerte noch einen Augenblick – dann sprach er, und es war ihm gelungen, seiner Stimme einen natürlichen und gefälligen Klang zu geben:

»Sie verlassen uns, mein lieber Sohn? Sie reisen morgen ab?«

»Ja, morgen. – Ich werde mir die Ehre geben, mich von Eurer Eminenz zu verabschieden und nochmals für die mir bewiesene unerschöpfliche Güte zu danken.«

»So haben Sie also erfahren, daß die Indexkongregation Ihr Buch verdammt hat, wie es ja unvermeidlich war?«

»Ja, ich hatte die ungewöhnliche Ehre, von Seiner Heiligkeit empfangen zu werden, und zu seinen Füßen habe ich mich unterworfen und mein Werk verworfen.«

In den feuchten Augen des Kardinals begann wieder eine Flamme aufzusteigen.

»Ah, das haben Sie gethan! Das war wohl gethan, mein lieber Sohn! Es war nur Ihre strikte Pflicht als Priester, aber in unserer Zeit gibt es so viele, die nicht einmal ihre Pflicht thun! ... Als Mitglied der Kongregation habe ich das Versprechen gehalten, das ich Ihnen gab, nämlich Ihr Buch zu lesen und besonders die von der Anklage bezeichneten Stellen sorgfältig zu studiren. Wenn ich aber später neutral blieb, wenn ich mich stellte, als interessirte ich mich für die Sache nicht, so daß ich sogar die Sitzung versäumte, in der das Urteil gefällt wurde, so geschah das nur, um meiner armen, lieben Nichte ein Vergnügen zu machen – sie liebte Sie, sie verteidigte Sie ...«

Die Thränen überwältigten ihn wieder; er unterbrach sich, denn er fühlte, daß er wieder schwach werden müßte, wenn er das Andenken Benedettas, der Angebeteten, der Beweinten heraufbeschwören würde. Darum fuhr er mit streitbarer Herbigkeit fort:

»Aber, mein lieber Sohn, gestatten Sie es mir, zu sagen, daß es ein fluchwürdiges Buch ist! Sie haben mir beteuert, daß Sie das Dogma respektirten, und ich frage mich noch immer, durch welche Verirrung Sie in eine solche Verblendung geraten konnten, daß Sie selbst das Bewußtsein Ihres Verbrechens verloren! Das Dogma respektiren – großer Gott, wenn das ganze Werk die Verneinung unserer heiligen Religion selbst ist! Sie haben also nicht gefühlt, daß eine neue Religion verlangen die alte, die einzig wahre, die einzig gute, die einzig ewige vollständig verdammen heißt? Das genügte, um aus Ihrem Buche das tödlichste Gift, eines jener schmachvollen Bücher zu machen, die einst durch Henkershand verbrannt wurden, heutzutage aber notgedrungenerweise im Umlauf gelassen werden, nachdem man sie mit dem Interdikt belegt und gerade dadurch der perversen Neugierde bezeichnet hat, was die ansteckende Fäulnis des Jahrhunderts erklärt ... Ach, gar wohl habe ich darin die Ideen unseres ausgezeichneten, poetischen Verwandten, des lieben Vicomte Philibert de la Choue erkannt! Ein Literat ist er, ja, ein Literat! Literatur, nichts als Literatur! Ich bitte Gott, ihm zu verzeihen, denn er weiß sicherlich weder was er thut noch wohin er mit seinem elegischen Christentum steuert, das für schönrednerische Arbeiter und für junge Leute beiderlei Geschlechts bestimmt ist, deren Seele durch die Wissenschaft unbestimmter Gattung geworden ist. Ich behalte meinen Zorn nur für Seine Eminenz den Kardinal Bergerot auf, denn dieser weiß, was er thut, thut, was er will ... Sagen Sie nichts, verteidigen Sie ihn nicht. Er bedeutet die Revolution in der Kirche; er ist gegen Gott!«

In der That hatte sich Pierre, obwohl er sich vorgenommen, nicht zu antworten, nicht zu streiten, angesichts dieses wütenden Angriffes gegen den Mann, den er auf der Welt am meisten verehrte und liebte, eine protestirende Handbewegung entschlüpfen lassen. Uebrigens gab er nach und beugte sich abermals.

»Ich kann meinen Abscheu, ja, meinen Abscheu vor diesem ganzen hohlen Traum von einer neuen Religion nicht genügend ausdrücken,« fuhr Boccanera rauh fort. »Meinen Abscheu vor diesem Appell an die häßlichsten Leidenschaften, der die Armen gegen die Reichen aufhetzt, indem man ihnen Gott weiß was für eine Teilung, eine heutzutage unmögliche Gemeinschaft verspricht! Vor diesem niedrigen Umschmeicheln des gemeinen Volkes, indem man ihm, ohne es je thun zu können, eine Gleichheit und eine Gerechtigkeit verspricht, die von Gott allein kommt, die Gott allein am bezeichneten Tage durch seine Allmacht endlich wird herrschen lassen können! Vor dieser eigennützigen Nächstenliebe, die man gegen den Himmel selbst mißbraucht, um ihn der Unbilligkeit und Gleichgiltigkeit anzuklagen, vor dieser thränenseligen, erschlaffenden, fester und starker Herzen unwürdigen Nächstenliebe! Als ob das menschliche Leid nicht zum Heile notwendig wäre, als ob wir nicht, je mehr wir leiden, größer, reiner würden und dem unendlichen Glücke näher kämen!«

Er erhitzte sich; er war demütig und zugleich hochmütig. Was ihn so erbitterte, war seine Trauer, seine Herzenswunde; der Axthieb hatte ihn einen Augenblick niedergeworfen; aber nun erhob er sich herausfordernd gegen den Schmerz, störrisch an seiner stoischen Vorstellung von einem allmächtigen Gott festhaltend, der der Herr der Menschen war und seine Glückseligkeit nur seinen Erwählten vorbehielt.

Abermals machte er eine Anstrengung, um sich zu beruhigen, und fuhr sanfter fort:

»Nun, mein lieber Sohn, der Schafstall steht immer offen und Sie sind ja in ihn zurückgekehrt, da Sie bereuten. Sie können gar nicht glauben, wie glücklich ich darüber bin.«

Pierre bemühte sich nun seinerseits, Versöhnlichkeit zu zeigen, um dieses heftige, gekränkte Herz nicht noch mehr zu zerreißen.

»Eure Eminenz können sicher sein, daß ich trachten werde, kein einziges dieser gütigen Worte zu vergessen, ebenso wenig wie ich den väterlichen Empfang Seiner Heiligkeit Leos XIII. vergessen werde.«

Aber diese Phrase schien Boccanera in seine frühere Aufregung zurückzuversetzen. Anfangs stieß er nur dumpfe, halb unterdrückte Worte hervor, als kämpfe er, um den jungen Priester nicht unmittelbar auszufragen.

»Ach ja, Sie haben Seine Heiligkeit gesehen, haben mit ihm gesprochen und er hat Ihnen wohl sicherlich gesagt – wie allen Fremden, die ihm ihre Aufwartung machen – daß er Versöhnung, Frieden will ... Ich, ich sehe Seine Heiligkeit nur bei den unvermeidlichen Gelegenheiten; es ist jetzt bereits mehr als ein Jahr her, seit ich nicht mehr zur Privataudienz zugelassen wurde.«

Dieser öffentliche Beweis von Ungnade, dieser heimliche Kampf, der gerade so wie zu Zeiten Pius' IX. zwischen dem heiligen Vater und dem Kardinalkämmerer herrschte, erfüllte den letzteren mit Bitterkeit. Er konnte sich nicht zurückhalten, zu sprechen, wobei er sich zweifellos sagte, daß er einen Vertrauten, einen sicheren Menschen vor sich habe, der außerdem am nächsten Tag abreiste.

»Friede, Versöhnung! Mit diesen schönen Worten, die so oft der wahren Weisheit und des wahren Mutes bar sind, kommt man weit... Die furchtbare Wahrheit besteht darin, daß die achtzehn Jahre der Zugeständnisse Leos XIII. alles in der Kirche erschüttert haben, und daß der Katholizismus, wenn er noch lange regiert, in Staub zerfallen wird wie ein Gebäude, dessen Säulen unterminirt wurden.«

Pierre, den das sehr interessirte, konnte sich nicht enthalten, Einwendungen zu erheben, um sich zu belehren.

»Aber hat er sich nicht sehr klug benommen, hat er nicht das Dogma geschützt, in eine unbezwingliche Festung untergebracht? Mit einem Wort, wenn er auch in vielen Punkten nachgegeben zu haben scheint, so geschah es immer nur der Form nach.«

»Ach ja, der Form nach!« fuhr der Kardinal mit wachsender Leidenschaft fort. »Er hat Ihnen wie allen anderen gesagt, daß er, wenn auch im Grunde unerschütterlich, der Form nach gern nachgebe. Ein beklagenswertes Wort, eine zweideutige Diplomatie, wenn es nicht einfach eine niedrige Heuchelei ist! Meine Seele empört sich gegen diesen Opportunismus, dieses Jesuitentum, das Listen gegen das Jahrhundert gebraucht, das nur dazu angethan ist, den Zweifel, die Verwirrung des ›rette sich wer kann‹, unter die Gläubigen zu schleudern! Das ist die erste Ursache unheilbarer Niederlagen, das ist eine Feigheit, die schlimmste Feigheit, das Wegwerfen der Waffen, damit man sich schneller zurückziehen kann, die Scham darüber, ganz selbst zu sein, die Maske, die in der Hoffnung acceptirt wird, die Welt zu betrügen, durch Verrat bei dem Feinde einzudringen und ihn zu vernichten! Nein, nein, die Form ist alles bei einer überlieferten, unwandelbaren Religion, die achtzehnhundert Jahre lang das Gesetz Gottes selbst gewesen, die es noch heute ist, bis ans Ende aller Zeiten bleiben wird!«

Er konnte nicht sitzen bleiben; er erhob sich und begann durch das enge Gemach zu schreiten, das er mit seiner hohen Gestalt auszufüllen schien. Und nun besprach, nun verdammte er heftig die ganze Regierung, die ganze Politik Leos XIII.

»Die Einheit, die famose Einheit, die er, was man ihm so zum großen Ruhm anrechnet, in der Kirche wieder herstellen will – sie ist nichts als der wütende, blinde Ehrgeiz eines Eroberers, der sein Reich erweitert, ohne sich zu fragen, ob die neuen, unterworfenen Völker sein altes, bisher so treues Volk nicht desorganisiren, verderben, mit allen Irrtümern anstecken werden. Wie, wenn die orientalischen Schismatiker, wenn die Schismatiker der anderen Länder beim Wiedereintritt in die katholische Kirche sie verhängnisvoll umwandeln, so daß sie sie töten, eine neue Kirche aus ihr machen? Es gibt bloß eine Weisheit: nur das sein, was man ist, aber es fest bleiben, ... Und ist nicht auch dieses angebliche Bündnis mit der Demokratie, diese Politik, die genügt, um den uralten Geist des Papsttums zu verdammen, eine Gefahr und zugleich eine Schande? Die Monarchie ist ein göttliches Recht; sie aufgeben heißt gegen Gott gehen, mit der Republik paktiren, von der ungeheuerlichen Lösung träumen, den Wahnwitz des Menschen zu benützen, um wieder eine größere Macht über sie zu erlangen. Jede Republik ist ein anarchischer Zustand, und darum bedeutet die Anerkennung der Republik, einzig und allein zu dem Zwecke, um sich mit dem Traum einer unmöglichen Versöhnung zu schmeicheln, den verbrecherischsten Fehler, die Erschütterung der Idee der Autorität, der Ordnung, ja sogar der Religion... Sehen Sie nur, was er mit der weltlichen Herrschaft gemacht hat. Er fordert sie wohl noch, er stellt sich, als sei er bezüglich der Frage von der Rückgabe Roms intransigent. Aber hat er nicht in Wirklichkeit den Verlust bereits vollzogen, hat er nicht endgiltig darauf verzichtet, da er anerkennt, daß die Völker das Recht haben, über sich zu verfügen, daß sie ihre Könige verjagen und wie die Tiere frei in den Wäldern leben können?«

Er hielt plötzlich inne und erhob in einem Ausbruch heiligen Zornes beide Arme zum Himmel.

»Ach, dieser Mann, dieser Mann, der durch seine Eitelkeit, seine Sucht nach Erfolg der Ruin der Kirche gewesen sein wird! Dieser Mann, der nicht aufhörte, alles zu verderben, alles aufzulösen, alles zu zerbröckeln, um die Welt zu regieren, die er auf diese Weise wieder zu erobern meint! Warum, allmächtiger Gott, warum hast du ihn noch nicht zu dir zurückgerufen?«

Und dieser Anruf des Todes hatte einen so aufrichtigen Klang, der Haß, der in ihm lag, ward durch das Verlangen, Gott, der hienieden in Gefahr war, zu retten, so vergrößert, daß auch Pierre von einem heftigen Schauer überlaufen ward. Jetzt begriff er diesen Kardinal Boccanera, der Leo XIII. fromm, leidenschaftlich haßte; er begriff, daß er aus der Tiefe seines dunklen Palastes, seit Jahren schon, auf den Tod des Papstes lauerte – diesen Tod, den er in seiner Eigenschaft als Kardinalkämmerer offiziell festzustellen hatte. Wie mußte er darauf warten, wie wünschte er mit fieberhafter Ungeduld die selige Stunde herbei, da er, mit dem silbernen Hämmerchen bewaffnet, die drei symbolischen Schlage auf den Schädel des eisig, starr, auf seinem Bette ausgestreckten, von seinem päpstlichen Hof umgebenen Leos XIII. thun würde! Ach, könnte er doch endlich an diese Gehirnwand klopfen, um ganz sicher zu sein, daß keine Antwort mehr kam, daß nichts mehr da drin war, nichts als Nacht und Schweigen. Und der Ruf »Joachim, Joachim, Joachim!« würde dreimal ertönen; und da der Leichnam nichts antwortete, würde der Kardinalkämmerer sich umdrehen, nachdem er sich einige Sekunden geduldet hätte, und würde dann sagen: »Der Papst ist tot!«

»Trotzdem ist die Versöhnung eine Waffe der Epoche,« fuhr Pierre fort, der ihn auf die Gegenwart zurückführen wollte. »Nur um sicher zu siegen, willigt der heilige Vater ein, in Formfragen nachzugeben.«

»Er wird nicht siegen, er wird besiegt werden!« rief Boccanera. »Nie noch hat die Kirche den Sieg davongetragen, wenn sie nicht auf ihrer Integrität, auf der unwandelbaren Ewigkeit ihres göttlichen Wesens beharrte. Und es steht fest, an dem Tage, an dem sie an einem einzigen Stein ihres Gebäudes rühren lassen wird, wird sie zusammenbrechen... Erinnern Sie sich an den schrecklichen Augenblick, den sie zur Zeit des Konzils von Trient durchlebte. Die Reformation hatte sie eben tief erschüttert, die Zügellosigkeit der Disziplin und der Sitten wurde überall ärger; es war eine steigende Flut von Neuerungen, von Gedanken, die der Geist des Bösen eingehaucht, von ungesunden Plänen, die die Hoffart des in voller Freiheit losgelassenen Menschen erzeugte. Und selbst viele Mitglieder des Konzils waren beunruhigt, angefressen, bereit, für die wahnsinnigsten Modifikationen zu stimmen – es war ein wahres Schisma, das sich den anderen anschloß. Nun denn, wenn der Katholizismus zu jener kritischen Zeit, angesichts einer so großen, drohenden Gefahr vom Unheil errettet wurde, so kam das nur daher, weil die von Gott erleuchtete Mehrheit das alte Gebäude unversehrt erhalten hat, weil sie den göttlichen Starrsinn besaß, sich in das starre Dogma einzuschließen, weil sie in nichts nachgab, in nichts, in nichts – weder in der Sache selbst noch in der Form ... Heutzutage ist die Lage gewiß nicht schlimmer als zur Zeit des Konzils von Trient. Nehmen wir aber an, daß sie gerade so schlimm sei, und sagen Sie mir, ob es nicht edler, mutiger und für die Kirche sicherer ist, wenn man, wie einst, die Tapferkeit besitzt, laut zu sagen, was sie ist, was sie war, was sie sein wird. Für sie gibt es kein Heil als in ihrer vollständigen, unbestreitbaren Souveränität, und da sie stets durch ihre Intransigenz gesiegt hat, heißt es sie töten, wenn man sie mit dem Jahrhundert versöhnen will.«

Er ging wieder mit seinen mächtigen, nachdenklichen Schritten von einem Ende des Zimmers zum andern.

»Nein, nein, keine Anbequemung, Kein Nachlassen, keine Schwäche! Die Mauer aus Erz, die den Weg versperrt, der granitne Grenzstein, der eine Welt begrenzt! ... Mein lieber Sohn, ich habe es Ihnen bereits am Tage Ihrer Ankunft gesagt. Den Katholizismus den neuen Zeiten anbequemen wollen, heißt sein Ende beschleunigen, wenn er wirklich, wie die Atheisten behaupten, von einem nahen Tode bedroht wird. Er würde niedrig, schändlich sterben, statt aufrecht, würdig, stolz, in seiner alten, glorreichen Königswürde ... Ah, aufrecht sterben, nichts von der Vergangenheit verleugnen, der Zukunft trotzend, seinen ganzen Glauben bekennend!«

Und dieser Greis von siebenzig Jahren, der furchtlos, mit der Geberde eines künftigen Jahrhunderten trotzenden Helden der endgiltigen Vernichtung entgegenblickte, schien noch zu wachsen. Der Glaube hatte ihm diesen ruhigen Frieden gegeben; es war der Frieden, den die Erklärung des Unbekannten durch das Göttliche dem Geiste verleiht, dessen Bedürfnis nach Gewißheit sie vollständig befriedigt, indem sie ihn ausfüllt. Er glaubte, er wußte, und hegte über den Tag nach dem Tode weder Zweifel noch Furcht. Aber eine stolze Schwermut klang jetzt aus seiner Stimme.

»Gott vermag alles, selbst sein Werk zu zerstören, wenn er es schlecht findet. Wenn morgen alles zusammenfallen, die heilige Kirche unter Trümmern verschwinden, die ehrwürdigsten Heiligtümer unter den herabstürzenden Welten zusammenbrechen würden, so müßte man sich beugen und Gott anbeten, dessen Hand, nachdem sie die Welt geschaffen, sie wieder zu seinem eigenen Ruhm vernichtet. Ich warte, ich unterwerfe mich im voraus seinem Willen, der allein sich bekannt machen kann; denn nichts geschieht, ohne daß er es will. Wenn die Tempel wirklich erschüttert sind, wenn der Katholizismus wirklich morgen in Staub zerfallen muß, so werde ich da sein, um der Diener des Todes zu sein, so wie ich der des Lebens war. Ich bekenne sogar, es steht fest, daß es Stunden gibt, da schreckliche Zeichen mich betroffen machen. Vielleicht ist in der That das Ende der Zeiten nahe und werden wir jenem Zusammenbrechen der alten Welt beiwohnen, mit dem uns gedroht wurde. Die Würdigsten, die Höchsten werden zerschmettert, als ob der Himmel sich irre und in ihnen die Verbrechen der Erde strafe. Habe ich nicht den Hauch des Abgrunds, in dem alles untergehen wird, gespürt, seit mein Haus für Sünden, die mir unbekannt sind, von dieser furchtbaren Trauer heimgesucht ward, die es in den Schlund hinabstürzt, für ewig in die Nacht zurückkehren läßt?«

Er beschwor die zwei teuren Toten im Nebengemach herauf, die unaufhörlich anwesend waren. Ein Schluchzen stieg ihm wieder in die Kehle; seine Hände zitterten, ein letztes Aufbäumen des Schmerzes schüttelte seinen großen Körper, ehe er sich mit Anstrengung unterwarf. Ja, da Gott sich erlaubt hatte, ihn so grausam anzugreifen, sein Geschlecht zu unterdrücken, da er mit dem Größten, mit dem Getreuesten begonnen hatte, mußte die Welt endgiltig verdammt sein. War das Ende seines Hauses nicht das nahe Ende von allem? Und in seinem hehren Fürsten- und Priesterstolz entrang sich ihm ein Schrei höchster Ergebung, während seine beiden Arme sich abermals gen Himmel erhoben.

»O Allmächtiger, geschehe also dein Wille! Mag alles sterben, mag alles zusammenbrechen, alles in die Nacht des Chaos zurückkehren! Ich werde in diesem zerstörten Palaste aufrecht bleiben, ich werde warten, bis mich seine Trümmer begraben. Und wenn es dein Wille ist, daß ich der erhabene Totengräber deiner heiligen Religion werde, o, so sei ohne Furcht: ich werde nichts Unwürdiges thun, um ihr Leben um einige Tage zu verlängern! Ich werde sie aufrecht halten wie mich selbst, ebenso stolz, ebenso unwandelbar wie zur Zeit ihrer Allmacht. Ich werde sie mit derselben tapfern Hartnäckigkeit bekennen und nichts von ihr aufgeben – nichts, weder von der Disziplin, noch vom Ritus, noch vom Dogma. Und wenn der Tag kommen wird, werde ich sie mit mir begraben, werde sie lieber ganz mit mir in die Erde nehmen, ehe daß ich etwas von ihr abtrete, werde sie in meinen erstarrten Armen halten, um sie dir zurückzustellen, so wie du sie deiner Kirche in die Hut gegeben ... O Allmächtiger, Allerhöchster, verfüge über mich, mache aus mir, so es dein Wille ist, den Papst der Zerstörung, des Todes der Welt!«

Pierre, von Furcht und Bewunderung gepackt, erzitterte vor der außerordentlichen Gestalt, die da aufstieg – dem letzten Papst, der das Leichenbegängnis des Katholizismus anführte. Er begriff, daß Boccanera oft davon geträumt haben mußte; er dachte ihn sich, wie er in seinem Vatikan, in seinem vom Blitz aufgerissenen St. Peter aufrecht, allein inmitten der ungeheuren Säle stand, die sein entsetzter, feiger Hofstaat verlassen hatte. Langsam, gekleidet in die weiße Sutane – solcherart in Weiß um die Kirche trauernd – stieg er noch einmal in das Heiligtum hinab, um dort zu warten, bis der Himmel am Abend der Zeiten herabfiele und die Erde zermalmte. Dreimal richtete er das große Kruzifix auf, das die letzten Krämpfe des Bodens umgeworfen hatten. Dann, als das letzte Krachen den Marmorboden spaltete, riß er es in seine Arme und verschwand mit ihm unter den einbrechenden Gewölben. Und eine königlichere, eine wildere Größe konnte es nicht geben.

Mit einer Geberde – denn er hatte keine Stimme mehr – aber ohne Schwäche, unbesiegbar und trotz allem seine hohe Gestalt gerade aufrichtend, verabschiedete der Kardinal den jungen Priester. Dieser fand in seiner Leidenschaft für die Schönheit und Wahrheit daß er allein groß sei, daß er allein recht habe, und küßte ihm die Hand.

Am Abend, als die Besuche aufgehört hatten, bei angebrochener Nacht, schloß man die Thüren des Thronsaales und machte sich an die Sarglegung. Die Messen waren beendigt, die Glöckchen der Aufhebung klingelten nicht mehr, das Gestammel der lateinischen Worte verstummte, nachdem es zwölf Stunden lang den beiden teuren, toten Kindern ins Ohr geklungen hatte. Nichts war mehr übrig als der ersterbende Duft der Rosen, der heiße Geruch der zwei Wachskerzen in der stillen, schweren Luft. Da die Kerzen mit ihren zwei blassen Sternen den ungeheuren Saal gar nicht erleuchteten, hatte man Lampen herbeigebracht, die die Bedienten gleich Fackeln in der Faust hielten. Der Sitte gemäß waren alle Diener des Hauses anwesend, um ihren Herren, die für immer zur Ruhe gehen sollten, ein letztes Lebewohl zu sagen.

Es entstand eine Verzögerung. Morano, der seit dem frühen Morgen eifrig bemüht war, über die tausend Einzelheiten zu wachen, lief noch einmal weg, da der dreifache Sarg zu seiner Verzweiflung nicht kam. Endlich trugen ihn Bediente herauf und man konnte anfangen. Der Kardinal und Donna Serafina standen neben einander bei dem Bette. Auch Pierre stand dort, desgleichen Don Vigilio. Victorine begann die beiden Liebenden in ein einziges Leichentuch, ein großes Stück weiße Seide, zu hüllen; es war, als bekleide man sie mit demselben Brautgewande, dem heitern, reinen Kleide ihres Bundes. Dann traten zwei Bediente vor und halfen Pierre und Don Vigilio, sie in den ersten Sarg zu legen, der aus Fichtenholz und mit rosa Atlas ausgefüttert war. Er war gar nicht breiter, als die gewöhnlichen Särge es sind – so jung, von so zarter Anmut waren die beiden Liebenden, so eng verknüpfte sie die Umarmung, die einen einzigen Körper aus ihnen machte. Als sie im Sarge lagen, setzten sie darin ihren ewigen Schlaf fort; ihr duftendes Haar, das sich mit einander mischte, verbarg halb die beiden Köpfe, und als dieser erste Sarg in den zweiten aus Blei und dann in den dritten aus Eichenholz eingeschlossen worden war, als die drei Deckel verlötet und zugeschraubt worden waren, konnte man die Gesichter der zwei Liebenden noch immer durch die runde, mit einer dicken Glasscheibe versehene Oeffnung, die nach römischer Sitte in allen drei Särgen angebracht war, erblicken. Auf ewig von den Lebenden getrennt, allein auf dem Grunde dieses dreifachen Sarges, lächelten sie einander noch immer zu und sahen sich noch immer mit ihren beharrlich offen bleibenden Augen an. Sie hatten nun die Ewigkeit für sich, um ihre unendliche Liebe auszukosten.


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