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Am nächsten Tage, nach der Rückkehr vom Friedhof, nach der Beerdigung, frühstückte Pierre allein auf seinem Zimmer; er behielt sich vor, nachmittags vom Kardinal und Donna Serafina Abschied zu nehmen. Am Abend, mit dem Zuge, der um zehn Uhr siebenzehn Minuten abging, sollte er Rom verlassen. Nichts hielt ihn mehr zurück; er hatte nur noch einen Besuch zu machen, der ihm am Herzen lag – einen letzten Besuch bei dem alten Orlando, dem Helden der Unabhängigkeit, dem er förmlich versprochen, nicht nach Paris zurückzukehren, ohne vorher ein langes Gespräch mit ihm gehabt zu haben. Gegen zwei Uhr ließ er sich einen Fiaker holen, der ihn in die Via Venti Settembre brachte.
Während der ganzen Nacht war ein feiner Regen gefallen, dessen Feuchtigkeit die Stadt in einen grünen Dunst einhüllte. Dieser Regen hatte aufgehört, aber der Himmel blieb sehr düster, und die Fassaden der großen neuen Paläste der Via Venti Settembre sahen unter diesem Dezemberhimmel mit ihren ganz gleichen Balkonen, ihren regelmäßigen Fensterreihen, die kein Ende nahmen, fahl, unendlich schwermütig aus. Besonders das Finanzministerium, diese gewaltige Anhäufung von Mauerwerk und Skulpturen, nahm das Aussehen einer toten Stadt, die unendliche Trauer eines großen, blutlosen Körpers an, den das Leben verlassen hat. Die Luft war durch den Regen milder geworden; es war beinahe heiß, eine feuchte Fieberwärme herrschte.
In der Vorhalle des kleinen Palastes Prada begegnete Pierre zu seiner Ueberraschung vier bis fünf Herren, die im Begriffe waren, die Ueberröcke abzulegen; ein Diener sagte ihm, daß der Herr Graf eine Besprechung mit Unternehmern habe. Uebrigens, da der Herr Abbé den Vater des Grafen besuchen wolle, brauche er nur in den dritten Stock hinaufzusteigen. Die kleine Thür, rechts auf dem Treppenabsatz.
Aber im ersten Stock sah sich Pierre plötzlich Prada gegenüber, der seine Unternehmer empfing. Er bemerkte, daß er furchtbar bleich wurde, als er ihn erkannte. Seit dem entsetzlichen Drama hatten sie sich nicht gesehen. Der Priester begriff daher, welche Angst, welche ungelegene Erinnerung an eine moralische Mitschuld, welche tödliche Unruhe sein Anblick in diesem Manne hervorrufen mußte.
»Sie kommen zu mir? Sie haben mir etwas zu sagen?«
»Nein, ich reise ab und will mich von Ihrem Vater verabschieden.«
Pradas Blässe nahm noch zu; ein Zittern bewegte sein ganzes Gesicht.
»Ah, zu meinem Vater. Er ist ein wenig leidend – schonen Sie ihn.«
Und seine Angst verriet wider seinen Willen deutlich, was er befürchtete: ein unvorsichtiges Wort, vielleicht sogar eine letzte Mission, den Fluch jenes Mannes und jener Frau, die er getötet hatte. Sicherlich würde dann auch sein Vater sterben.
»Ach, wie ärgerlich, daß ich nicht mit Ihnen hinaufgehen kann! Diese Herren erwarten mich. Mein Gott, wie ärgerlich! So wie ich nur kann, komme ich nach. O, gleich, gleich!«
Da er nicht wußte, wie er ihn zurückhalten solle, mußte er ihn wohl mit seinem Vater allein lassen, während er selbst von seinen Geldangelegenheiten, die sich verschlechterten, hier unten angenagelt ward. Aber mit wie angstvollen Augen sah er ihm nach, wie flehte sein ganzes Zittern! Sein Vater, die einzige, wirkliche Liebe, die große, reine und treue Leidenschaft seines Lebens!
»Lassen Sie ihn nicht zu viel reden, heitern Sie ihn auf. Nicht wahr, Sie werden das thun?«
Oben wurde die Thür nicht von Battista, dem seinem Herrn so ergebenen ehemaligen Soldaten geöffnet, sondern von einem ganz jungen Manne, was Pierre anfangs nicht einmal bemerkte. Er fand das ganz kahle, ganz weiße Zimmer mit seiner einfachen hellen, blaugeblümten Papiertapete, mit seinem ärmlichen, hinter einem Wandschirm stehenden Eisenbette, den als Bibliothek dienenden paar Brettern an einer Wand, dem schwarzen, hölzernen Tisch und den zwei Rohrsesseln wieder, die die ganze Einrichtung ausmachten. Und aus dem breiten, hellen, vorhanglosen Fenster bot sich dasselbe wunderbare Panorama von Rom – ganz Rom, bis zu den fernen Bäumen des Janiculus. An diesem Tage war es von einem bleiernen Himmel erdrückt, von düstertraurigen Schatten überflutet. Aber der alte Orlando selbst, mit seinem prächtigen, alten weißen Löwenkopf, dem mächtigen Gesicht, den jugendlichen Augen, in denen noch die Leidenschaften funkelten, die einst in dieser Feuerseele gegrollt, hatte sich nicht verändert. Pierre fand ihn in demselben Lehnstuhl, neben demselben, mit denselben Zeitungen bedeckten Tisch wieder; seine Beine waren von derselben schwarzen Decke bedeckt, verhüllt, als ob diese toten Beine ihn da in einem steinernen Gehäuse unbeweglich festhielten, so daß man sicher war, ihn nach Monaten, nach Jahren ohne jede Veränderung, mit seinem lebendigen Oberkörper, seinem von Kraft und Intelligenz leuchtenden Gesicht wiederzufinden.
Dennoch schien er an diesem trüben Tage niedergeschlagen zu sein und sein Gesicht sah düster aus.
»Ach, da sind Sie, mein lieber Herr Froment! Seit drei Tagen denke ich an Sie; ich stelle mir die gräßlichen Tage vor, die Sie in dem tragischen Palaste Boccanera mitmachen mußten. Mein Gott, was für ein entsetzlicher Fall! Das Herz dreht sich mir im Leibe um; diese Zeitungen da wühlen mir mit den neuen Einzelheiten, die sie bringen, noch mehr die Seele auf.«
Er deutete auf die Zeitungen, die auf dem Tische zerstreut lagen. Dann verscheuchte er mit einer Geberde die düstere Geschichte, die Gestalt der toten Benedetta, die ihn verfolgte.
»Nun, und Sie?«
»Ich reise heute abend ab; ich wollte Rom nicht verlassen, ohne Ihnen die tapferen Hände geschüttelt zu haben.«
»Sie reisen ab? Und Ihr Buch?«
»Mein Buch – Ich bin vom heiligen Vater empfangen worden – ich habe mich unterworfen, ich habe mein Werk verworfen.«
Orlando sah ihn starr an. Ein kurzes Schweigen entstand, während dessen ihre Augen sich alles sagten, was zu sagen war. Weder der eine noch der andere fühlte die Notwendigkeit einer längeren Erklärung.
»Sie haben recht gethan,« schloß der Greis einfach. »Ihr Buch war eine Chimäre.«
»Ja, eine Chimäre, eine Kinderei, und ich habe es selbst verdammt, im Namen der Wahrheit und der Vernunft.«
Auf den schmerzlichen Lippen des zerschmetterten Helden erschien wieder ein Lächeln.
»Sie haben also alles gesehen und verstanden. Sie wissen jetzt alles?«
»Ja, ich weiß alles und darum wollte ich nicht fort, ohne das gute, offenherzige Gespräch mit Ihnen geführt zu haben, das wir uns versprachen.«
Orlando ward dadurch sehr erfreut. Aber plötzlich schien er sich des jungen Mannes zu entsinnen der die Thür geöffnet und dann bescheiden seinen Platz auf einem abseits beim Fenster stehenden Stuhl eingenommen hatte. Er war fast noch ein Kind, keine zwanzig Jahre alt, noch unbärtig, von einer blonden Schönheit, wie sie manchmal in Neapel blüht. Er hatte langes, gelocktes Haar, eine Lilienhaut, einen Rosenmund und vor allem träumerisch schmachtende Augen von unendlicher Sanftmut. Der Greis stellte ihn väterlich vor: Angiolo Mascara, der Enkel eines seiner alten Kriegskameraden, des epischen Mascara von den Tausend, der als Held, von hundert Wunden durchbohrt, gefallen war.
»Ich ließ ihn herkommen, um ihn auszuschelten,« fuhr er lächelnd fort. »Stellen Sie sich vor, dieser Kerl mit dem Mädchengesicht läßt sich in die neuen Ideen ein! Er ist Anarchist, einer von den drei bis vier Dutzend Anarchisten, die wir in Italien haben. Im Grunde ist er ein braver kleiner Bursche, der nur noch seine Mutter hat und sie, dank der kleinen Stelle, die er besitzt, aushält; aber eines schönen Tages wird man ihn wegjagen. – Höre, mein Kind, Du mußt mir versprechen, vernünftig zu sein.«
Da antwortete Angiolo, dessen abgenützte, reinliche Kleider in der That das anständige Elend verrieten, mit ernster, musikalischer Stimme:
»Ich bin vernünftig; die anderen, alle anderen sind es nicht. Wenn alle Menschen vernünftig sein und Wahrheit und Gerechtigkeit wünschen werden, dann wird die Welt glücklich sein.«
»O, glauben Sie nicht, daß er nachgeben wird!« rief Orlando. »Mein armes Kind, Gerechtigkeit, Wahrheit! Frage doch den Herrn Abbé, ob man je weiß, wo sie liegen. Nun, man muß Dir Zeit geben, zu leben, zu sehen und zu verstehen!«
Und ohne sich mehr um ihn zu bekümmern, wandte er sich wieder zu Pierre. Aber Angiolo blieb mit sehr verständiger Miene in seinem Winkel sitzen, hielt die brennenden Augen auf die Sprechenden gerichtet und war ganz Ohr, verlor keines ihrer Worte.
»Mein lieber Herr Froment, ich habe es Ihnen ja gesagt, daß Ihre Ideen sich ändern, und die Bekanntschaft mit Rom Sie auf richtigere, viel bessere Ansichten bringen würde, als alle schönen Reden, mit denen ich Sie zu überzeugen versucht hätte. So habe ich nie gezweifelt, daß Sie Ihr Buch vollständig freiwillig, wie einen unangenehmen Irrtum zurücknehmen würden, sobald Dinge und Menschen Sie über den Vatikan aufgeklärt haben würden. Aber wir wollen den Vatikan beiseite lassen, nicht wahr? Es läßt sich dort nichts machen, als ihn in seinem langsamen, unvermeidlichen Ruin zusammenbrechen zu lassen. Was mich noch interessirt, was mich noch begeistert, das ist das italienische Rom – unser Rom, das wir so liebevoll eroberten, so fieberhaft wiedererstehen ließen, das Sie als quantité négligeable behandelten. Nun aber haben Sie es gesehen und jetzt, da Sie es kennen, können wir darüber reden wie Leute, die einander verstehen.«
Als intelligenter, vernünftiger Mann, der, von der Lähmung festgenagelt, fern vom Kampfe, ganze Tage Zeit zum Nachdenken und zur Unruhe hatte, gab er sofort vieles zu, gestand die begangenen Fehler ein und anerkannte den beklagenswerten Zustand der Finanzen, die ernsten Schwierigkeiten aller Art. Ach, seine Eroberung, sein angebetetes Italien, für das er gern wieder das Blut aus seinen Adern hergegeben hätte – in welch tödliche Sorgen, in welch unsagbare Leiden war es von neuem geraten! Sie hatten aus verzeihlichem Stolz gesündigt, sie waren zu rasch vorgegangen, indem sie ein großes Volk improvisiren, indem sie aus dem antiken Rom mit einem Zauberschlage eine große, moderne Hauptstadt machen wollten. Daher rührte der Wahnsinn der neuen Viertel, diese wahnwitzige Spekulation in Gründen und Bauten, die die Nation dem Bankerott so nahe gebracht hatte.
Pierre unterbrach ihn sanft, um ihm die Formel mitzuteilen, zu der er nach seinen Gängen und Studien in Rom gelangt war.
»O, dieses Fieber, diese Freßlust der ersten Zeit, dieser finanzielle Zusammenbruch ist noch nichts. Alle Wunden, die das Geld schlägt, heilen wieder. Aber das Schlimme ist, daß euer Italien erst geschaffen werden muß ... Es hat keine Aristokratie mehr, noch kein Volk, nur ein erst geborenes, gefräßiges Bürgertum, das im Begriff ist, die reiche künftige Ernte auf dem Halme zu verzehren.«
Ein Schweigen entstand. Orlando schüttelte traurig den Kopf, wie ein alter, fortan ohnmächtiger Löwe. Die harte Deutlichkeit der Formel traf ihn ins Herz.
»Ja, ja, das ist der Grund; Sie haben richtig beobachtet. Warum lügen, warum es leugnen, da die Thatsachen da sind und allen in die Augen springen? Mein Gott, dieses Bürgertum, diese Mittelklasse, von der ich Ihnen bereits erzählt habe, daß sie auf Stellen, Aemter, Auszeichnungen, Federbüsche so erpicht und dabei so geizig ist, ihr Geld so hütet, daß sie es in Banken anlegt und nie in der Agrikultur, in der Industrie oder im Handel aufs Spiel setzt! Sie wird bloß von dem Bedürfnis verzehrt, zu genießen, ohne etwas zu thun, und ist so unintelligent, daß sie nicht einsieht, daß sie ihr Land durch diesen Ekel vor der Arbeit, diese Verachtung des Volkes, durch die einzige Leidenschaft, kleinbürgerlich, umgeben von der Gloriole, irgend einer Verwaltungsbehörde anzugehören, zu leben, tötet ... Und diese sterbende Aristokratie, dieses entthronte, ruinirte, in die Entartung endender Rassen herabgesunkene Patriziat! Der größte Teil davon ist ins Elend geraten, die anderen, die wenigen, die noch ihr Geld behalten haben, werden unter zu schweren Steuern erdrückt, besitzen nur noch tote Vermögen, die sich nicht mehr erneuen können, durch fortwährende Teilungen vermindert werden und bestimmt sind, mit den Fürsten selbst in dem Zusammenbruch der alten, nun nutzlos gewordenen Paläste zu verschwinden. Und endlich das Volk, dieses arme Volk, das so viel gelitten hat, noch leidet, aber an sein Leid so gewöhnt ist, daß es nicht einmal den Gedanken an ein Losreißen zu fassen scheint. Blind und taub treibt es die Dinge so weit, daß es vielleicht die ehemalige Dienstbarkeit zurückwünscht, liegt in stumpfer Niedergeschlagenheit wie ein Tier auf seinem Mist da, ist vollständig unwissend – diese abscheuliche Unwissenheit ist die einzige Ursache seines Elends – hat keine Hoffnung, kein Morgen, nicht einmal den Trost, zu verstehen, daß wir dieses Italien, dieses Rom nur für das Volk, einzig und allein für das Volk erbaut haben und es in seinem einstigen Glanze wiederaufstehen zu lassen bemüht sind. Ja, ja, keine Aristokratie mehr, noch kein Volk und ein so beunruhigendes Bürgertum! Da muß man manchmal der Angst der Pessimisten, jener Leute erliegen, die behaupten, daß all unser Unglück noch nichts ist, daß wir noch viel schrecklicheren Katastrophen entgegengehen, als ob wir erst bei den ersten Symptomen des Endes unserer Rasse, den Vorläufern der letzten Vernichtung wären!«
Er hatte seine langen, zitternden Arme dem Fenster, dem Licht entgegengestreckt, und Pierre erinnerte sich mit tiefer Bewegung an jene angstvoll stehende Geberde, die der Kardinal tags zuvor bei seinem Appell an die göttliche Macht gemacht hatte. Diese beiden, im Glauben so entgegengesetzten Männer besaßen dieselbe verzweifelte, wilde Größe.
»Und doch haben wir, wie ich Ihnen schon am ersten Tage sagte, nur etwas Logisches und Unvermeidliches gewollt. Dieses Rom, das mit seiner glänzenden und gebietenden Vergangenheit so schwer auf uns lastet – wir mußten es zur Hauptstadt nehmen, denn Rom allein war das Band, das lebende Sinnbild unserer Einheit und zugleich die Verheißung der Ewigkeit, die Erneuerung unseres großen Traumes von Auferstehung und Ruhm.«
Er sprach weiter, indem er alle unglücklichen Eigenschaften, die Rom als Hauptstadt besaß, anerkannte. Es war eine reine Dekorationsstadt, eine Stadt, deren Boden erschöpft, die abseits vom modernen Leben liegen geblieben war, eine ungesunde Stadt, in der weder Industrie noch Handel möglich waren, eine Stadt, die inmitten der sterilen Wüste ihrer Campagna von einem unbesiegbaren Tode überkommen ward. Dann stellte er sie den anderen Städten an die Seite, die auf sie eifersüchtig waren: Florenz, das so gleichgiltig und dabei so skeptisch geworden war, das eine nach den rasenden Leidenschaften, den Blutströmen seiner Vergangenheit unerklärliche, glückliche Sorglosigkeit besaß; Neapel, dem noch seine helle Sonne genügt, Neapel mit seinem Kind gebliebenen Volk, von dem man nicht weiß, ob man es seines Elends und seiner Unwissenheit wegen bemitleiden soll, da es sich an ihnen so träge zu werden scheint; Venedig, das sich darein ergibt, nichts anderes zu sein als ein Wunder der alten Kunst, das man unter Glas setzen sollte, um es unversehrt zu erhalten, das in dem Prunk und der Hoheit seiner Annalen eingeschlafen ist; Genua, ganz seinem thätigen, lärmenden Handel hingegeben, eine der letzten Königinnen des Mittelmeeres, dieses heutzutage geringen Sees, der einst das üppige Meer, der Mittelpunkt war, durch den sich alle Reichtümer der Welt wälzten; Turin und vor allem Mailand, diese so lebhaften, so modernen Industrie- und Handelsstädte, die die Touristen als nichtitalienisch mißachten, die sich beide aus dem Ruinenschlaf retteten und in die westliche Entwicklung eintraten, die das nächste Jahrhundert vorbereitet. Ach, dieses alte Italien! Mußte man es also wie ein staubiges Museum, gleich jenen erlesenen Nippes, die man aus Furcht, ihren Charakter zu zerstören, nicht auszubessern wagt, zum Vergnügen der Künstlerseelen zusammenfallen lassen, so wie seine kleinen Städte in Umbrien und Toskana es schon thun? Also entweder ein naher, unvermeidlicher Tod oder die Haue der Niederreißer, das Zubodenwerfen schwankender Mauern, das Schaffen von Städten der Arbeit, der Wissenschaft, der Gesundheit, kurz ein ganz neues, wirklich aus der Asche entstehendes, für die neue Zivilisation der Menschheit geschaffenes Italien!
»Aber warum sollten wir verzweifeln?« fuhr er mit Macht fort. »Wenn Rom auch schwer auf unseren Schultern lastet, so ist es doch nichtsdestoweniger der Gipfel, den wir erreichen wollten. Wir sind dort angelangt, wir bleiben dort und warten die Ereignisse ab ... Uebrigens, wenn die Bevölkerung auch aufgehört hat, zuzunehmen, so bleibt sie doch bei etwa viermalhunderttausend Seelen stehen, und an dem Tage, da die Ursachen, die die steigende Flut hemmten, verschwinden, kann sie ruhig wieder zu steigen anfangen. Wir haben das Unrecht begangen, zu glauben, daß Rom ein Berlin, ein Paris werden würde; bisher scheinen sich dem alle Arten von sozialen, historischen, sogar ethischen Verhältnisse zu widersetzen. Aber wer kennt die Ueberraschungen, die das Morgen bringen kann? Kann man uns die Hoffnung, den Glauben untersagen, der in dem in unseren Adern fließenden Blute liegt – dem Blute der einstigen Welteroberer? Ich, ein Zerschmetterter, ein Vernichteter, der ich mich mit meinen toten Beinen nicht mehr aus diesem Zimmer rühre, ich habe Stunden, da mein Wahnwitz mich wieder packt, da ich an Rom wie an meine unbesiegbare, unsterbliche Mutter glaube, da ich die zwei Millionen Einwohner erwarte, die kommen müssen, um jene traurigen, leeren und schon zusammenbrechenden neuen Viertel, die Sie besuchten, zu bevölkern. Gewiß, sie werden kommen. Warum sollten sie denn nicht kommen? Sie werden sehen, Sie werden sehen, alles wird sich bevölkern, man wird noch dazu bauen müssen. Und dann, offen gestanden: kann man eine Nation, die die Lombardei besitzt, arm nennen? Ist unser Süden an und für sich nicht schon ein unerschöpflicher Reichtum? Lassen Sie nur Friede entstehen, den Süden mit dem Norden verschmelzen und ein ganzes Geschlecht von Arbeitern aufwachsen – da der Boden, der so fruchtbare Boden vorhanden ist, wird wohl eines Tages die große, erwartete Ernte aufwachsen und in der brennenden Sonne reifen!«
Die Begeisterung trug ihn empor; ein wahres Jugendfeuer entflammte seine Augen. Pierre, schon gewonnen, lächelte und sagte, als er sprechen konnte: »Das Problem muß von unten, vom Volk aus wieder angefaßt werden. Man muß Menschen schaffen.«
»Jawohl, so ist's!« rief Orlando. »Ich wiederhole es unaufhörlich: Italien muß geschaffen werden. Man könnte meinen, daß ein Ostwind den menschlichen Samen, den Samen der kräftigen und mächtigen Völker, anderwärts, fern von unserer alten Erde, getragen hat. Unser Volk ist nicht wie euer französisches Volk ein Behälter von Menschen und Geld, aus dem man mit vollen Händen schöpft. Diesen unerschöpflichen Behälter möchte ich aber bei uns entstehen sehen. Ja, von unten also muß man wirken! Ueberall müssen Schulen errichtet, die Unwissenheit verjagt, die Roheit und Faulheit mit Hilfe von Büchern bekämpft werden; die geistige und moralische Erziehung muß uns das arbeitende Volk geben, dessen wir bedürfen, wenn wir nicht aus dem Einverständnis der großen Nationen verschwinden wollen. Ich sage es nochmals: für wen haben wir denn gearbeitet, indem wir Rom zurücknahmen, indem wir ihm eine dritte Glanzzeit schaffen wollten, wenn nicht für die Demokratie von morgen? Und wie erklärlich ist es, daß alles zusammenbricht, daß nichts mehr kräftig sprossen will, da diese Demokratie vom Grund aus fehlt! ... Ja, ja, die Lösung des Problems liegt nur dort! Ein Volk, eine italienische Demokratie muß geschaffen werden!«
Pierre war unruhig verstummt; er wagte nicht zu sagen, daß eine Nation sich nicht leicht ändere, daß Italien das war, wozu der Boden, die Geschichte, die Rasse es gemacht hatten und daß es gefährlich sein könnte, wenn man es mit einemmal ganz verwandeln wollte. Besitzen nicht die Völker wie die einzelnen Kreaturen eine thätige Jugend, ein strahlendes Alter der Reife, ein mehr oder minder langsames, dem Tode zuführendes Greisenalter? Großer Gott, ein modernes, demokratisches Rom! Die modernen Roms heißen Paris, London, Chicago. Er begnügte sich damit, vorsichtig zu sagen:
»Aber glauben Sie nicht, daß ihr, in Erwartung dieser großen Erneuerungsarbeit durch das Volk, wohl daran thätet, vernünftig zu sein? Eure Finanzen sind in so schlechtem Zustand, ihr macht so große, soziale und volkswirtschaftliche Schwierigkeiten durch, daß ihr euch der Gefahr noch ärgerer Katastrophen aussetzt, ehe ihr Menschen und Geld habt. Ach, was für ein kluger Minister wäre das, wenn einer von euren Ministern von der Tribüne aus sagen würde: ›Nun wohl, unser Stolz hat sich geirrt, wir hatten unrecht, uns von heut auf morgen als große Nation zu improvisiren; dazu braucht es mehr Zeit, mehr Arbeit und Geduld. Wir willigen also ein, noch nichts zu sein als ein junges Volk, das sich sammelt, das in seinem Winkel arbeitet, um sich zu stärken, ohne bis auf weiteres eine vorherrschende Rolle spielen zu wollen; wir rüsten ab, wir schränken das Kriegsbudget, das Marinebudget, alle Budgets äußerlicher Prahlerei ein, um uns nur der innern Wohlfahrt, dem Unterricht, der körperlichen und sittlichen Erziehung des großen Volkes zu weihen, das wir – wir schwören es – in fünfzig Jahren sein werden.‹ Bremsen, ja, bremsen! Darin liegt eure Rettung!«
Orlando hatte ihm zugehört; nach und nach war er wieder düster geworden und in sein ängstliches Sinnen zurückgefallen. Er machte eine matte, unbestimmte Geberde und sagte halblaut:
»Nein, nein, ein Minister, der solche Sachen sagen würde, würde ausgepfiffen werden. Das wäre ein zu hartes Eingeständnis, das man von einem Volke nicht verlangen kann. Die Herzen aller würden von Ekel erfüllt werden, die Brust zersprengen. Und dann, wäre es vielleicht nicht noch gefährlicher, wenn man alles, was schon gethan wurde, plötzlich zusammenbrechen ließe? Wie viele fehlgeschlagene Hoffnungen, wie viele Ruinen, wie viele unnütz verschwendete Materialien gäbe es da! Nein, wir können uns nur noch durch Geduld und Mut retten, indem wir vorwärts, immer vorwärts gehen! Wir sind ein sehr junges Volk; wir haben die Einheit, zu deren Eroberung andere Nationen zweihundert Jahre gebraucht haben, in fünfzig Jahren schaffen wollen. Nun denn, diese Uebereilung muß bezahlt werden, wir müssen warten, bis die Ernte reift und unsere Scheuern füllt.«
Mit einer abermaligen, stärkeren, weiteren Geberde beharrte er steif auf seiner Hoffnung.
»Sie wissen, ich bin immer gegen das Bündnis mit Deutschland gewesen. Ich habe es vorausgesagt, es hat uns zu Grunde gerichtet. Wir waren noch nicht groß genug, um gemeinschaftlich mit einer so reichen und mächtigen Persönlichkeit einherzuschreiten; nur im Hinblick auf den fortwährend bevorstehenden, für unvermeidlich gehaltenen Krieg leiden wir derzeit so grausam unter den zermalmenden Budgets einer großen Nation. Ach, dieser Krieg, der nicht gekommen ist, hat unser bestes Blut, Mark und Gold aufgezehrt, ohne daß wir irgend welchen Nutzen davon hatten! Heute bleibt uns nichts mehr übrig, als mit einem Verbündeten zu brechen, der mit unserer Hoffart gespielt hat, ohne uns je in etwas zu nützen, ohne daß wir von ihm je etwas anderes erhielten als Mißtrauen und unheilvolle Ratschläge ... Aber all das war unvermeidlich und das will man in Frankreich nicht zugeben. Ich kann frei darüber sprechen, denn ich bin ein erklärter Freund Frankreichs; man grollt mir sogar deswegen. Erklären Sie also Ihren Landsleuten, die eigensinnig nicht begreifen wollen, daß wir am Tage nach der Eroberung Roms, in dem rasenden Verlangen, unsern einstigen Rang wieder einzunehmen, unsere Rolle in Europa spielen, uns als eine Macht bethätigen mußten, mit der man fortan zu rechnen hätte. Ein Zögern war nicht erlaubt; alle unsere Interessen schienen uns Deutschland zuzutreiben; das drängte sich mit blendender Gewißheit auf. Das harte Gesetz des Kampfes ums Leben lastet auf den Völkern ebenso verhängnisvoll wie auf den Individuen; das erklärt, das rechtfertigt den Bruch der beiden Schwestern, das Vergessen so vieler gemeinsamer Bande, der Rasse, der Handelsbeziehungen, ja sogar der geleisteten Dienste ... Zwei Schwestern! Ja, und jetzt zerreißen sie, jetzt verfolgen sie einander mit solchem Haß, daß auf beiden Seiten alle gesunde Vernunft abhanden gekommen zu sein scheint; mein armes, altes Herz blutet vor Schmerz, wenn ich die Artikel lese, die eure und unsere Zeitungen wie vergiftete Pfeile mit einander tauschen. Wann wird denn dieses brudermörderische Gemetzel enden? Wer von den beiden wird zuerst begreifen, wie notwendig der Frieden, das Bündnis der lateinischen Rassen ist, wenn sie inmitten der immer höher steigenden Wut der anderen Rassen am Leben bleiben wollen?«
Und mit der Gutmütigkeit des vom Alter entwaffneten Helden, der sich in die Träume geflüchtet hat, fügte er heiter hinzu:
»Hören Sie, mein lieber Herr Froment, Sie müssen mir versprechen, uns zu helfen, sobald Sie nach Paris zurückkehren. Schwören Sie mir, daß Sie in Ihrem Arbeitsfelde, wie klein es auch sein mag, für den Frieden zwischen Frankreich und Italien wirken werden. Denn es gibt keine heiligere Arbeit. Sie haben drei Monate unter uns gelebt, Sie können sagen, was Sie gesehen, was Sie gehört haben. O, thun Sie das ganz offen! Wenn wir unrecht haben, so habt ihr es sicherlich auch. Ei Teufel, Familienzwistigkeiten können ja nicht ewig dauern!«
»Gewiß,« antwortete Pierre befangen. »Leider sind sie gerade die zähesten. In der Familie, wenn das Blut sich gegen das eigene Blut erbittert, kommt es bis zu Messer und Gift. Dort ist ein Verzeihen nicht möglich.«
Er wagte nicht, seinen ganzen Gedanken auszusprechen. Seit er in Rom war, seit er hörte und urteilte, faßte sich ihm dieser Streit zwischen Frankreich und Italien zu einem schönen, tragischen Märchen zusammen. Es gab einmal zwei Prinzessinnen, die eine mächtige Königin, die Herrin der Welt, geboren hatte. Die ältere, die von der Mutter das Reich geerbt hatte, sah zu ihrem geheimen Kummer, daß die jüngere, die sich in einem benachbarten Lande niedergelassen, nach und nach an Reichtum, Kraft und Glanz zunahm, während sie selbst, gleichsam vom Alter geschwächt, zerstückelt, abnahm und so erschöpft, so zerbröckelt war, daß sie an dem Tage, da sie eine letzte Anstrengung machte, um die Weltherrschaft wieder zu erobern, sich geschlagen sah. Was für eine Bitterkeit, was für eine immerwährend offene Wunde war es für sie, da sie mit ansehen mußte, wie ihre Schwester sich von den schrecklichen Erschütterungen erholte, ihre blendende Pracht wieder gewann und durch ihre Kraft, ihre Anmut und ihren Geist über die Erde herrschte! Das würde sie nie verzeihen, mochte diese beneidete und gehaßte Schwester welche Haltung immer gegen sie einnehmen. Das war die unheilbare Wunde in ihrer Brust; das Leben der einen wurde durch das Leben der andern vergiftet, und dieser Haß des alten Blutes gegen das junge Blut würde sich erst mit dem Tode beruhigen. Vielleicht würde die ältere Schwester sogar an dem nahen Tage, da Friede zwischen ihnen entstünde, angesichts des augenscheinlichen Triumphes der jüngeren im tiefsten Herzen den endlosen Schmerz bewahren, daß sie die ältere und die Vasallin sei.
»Auf jeden Fall zählen Sie auf mich,« fuhr Pierre liebreich fort. »Dieser wütende Streit der zwei Völker ist in der That ein großer Schmerz, eine große Gefahr ... Aber ich werde nichts über euch sagen als das, was ich für die Wahrheit halte. Ich bin nicht im stande, etwas anderes zu sagen. Aber ich fürchte sehr, daß ihr sie nicht liebt, daß ihr weder durch euer Temperament noch durch die Gewohnheit auf sie vorbereitet seid. Die Dichter aller Nationen, die herkamen und mit der überlieferten Begeisterung ihrer klassischen Bildung über Rom sprachen, haben euch mit solchem Lob berauscht, daß ihr, wie mir scheint, wenig dazu angethan seid, die volle Wahrheit über euer heutiges Rom zu hören. Wenn man auch noch so sehr auf eure Hoffart Rücksicht nähme, so müßte man doch zur Wirklichkeit der Dinge gelangen und eben diese Wirklichkeit wollt ihr nicht zugeben; denn ihr seid in das Schöne verliebt und sehr empfindlich, gleich jenen Frauen, die sich bewußt sind, nicht mehr schön zu sein und wegen der geringsten Bemerkung über ihre Runzeln verzweifelt sind.«
Orlando war in ein kindliches Lachen ausgebrochen.
»Gewiß, man muß die Dinge immer ein wenig verschönern. Wozu denn von häßlichen Gesichtern reden? Wir lieben auf der Bühne nur hübsche Musik, hübsche Tänze, hübsche Stücke, die Vergnügen machen. Das übrige, alles was unangenehm ist – guter Gott, das muß verborgen werden!«
»Aber ich gestehe gerne sofort den Hauptfehler meines Buches zu,« fuhr der Priester fort. »Dieses italienische Rom, das ich vernachlässigte, um es dem päpstlichen Rom, von dessen Wiedererwachen ich träumte, zu opfern, existirt, ist schon so mächtig, so triumphirend, daß es sicherlich das andere Rom ist, das vom Schicksal dazu bestimmt ward, mit der Zeit zu verschwinden. Wie ich schon bemerkte, besteht der Papst vergeblich darauf, unwandelbar in seinem immer rissiger werdenden, vom Ruin bedrohten Vatikan zu bleiben – alles um ihn entwickelt sich, und die schwarze Gesellschaft ist bereits eine graue Gesellschaft geworden, indem sie sich mit der weißen mischte. Das habe ich nie mehr gefühlt als bei dem Feste, das der Fürst Buongiovanni zur Verlobung seiner Tochter mit Ihrem Großneffen gab. Ich verließ es ganz entzückt, ganz eingenommen für eure Sache.«
Die Augen des Greises funkelten.
»Ah, Sie waren dabei! Nicht wahr, es war ein unvergeßliches Schauspiel und Sie zweifeln nicht mehr an unserer Lebenskraft, an dem Volke, das wir sein müssen, sobald die Schwierigkeiten von heute besiegt sind? Was liegt an einem Vierteljahrhundert, was liegt an einem Jahrhundert! Italien wird in seinem alten Glanz auferstehen, sobald das große Volk von morgen aus der Erde gesproßt sein wird! ... Freilich verabscheue ich diesen Sacco, weil ich ihn für die Verkörperung der Ränkeschmiede, der Genüßlinge halte, deren Begierden alles zurückhielten, indem sie sich auf die warme Beute unserer Eroberung stürzten, die uns so viel Blut und so viel Thränen gekostet hatte. Aber in meinem vielgeliebten Attilio, der wirklich Fleisch von meinem Fleisch ist, lebe ich wieder auf; er ist so zärtlich und so tapfer, er wird die Zukunft, das Geschlecht der Wackeren sein, deren Kommen das Land belehren und reinigen wird ... Ach, möge doch das große Volk von morgen aus ihm und dieser Celia, dieser anbetungswürdigen, kleinen Prinzessin erstehen! Stefana, meine Nichte, eine im Grunde vernünftige Frau, hat sie mir neulich hergebracht. Wenn Sie gesehen hätten, wie dieses Kind mir um den Hals fiel, mich mit den süßesten Namen nannte und sagte, daß ich der Pate ihres ersten Sohnes sein würde, damit er so heiße wie ich und ein zweitesmal Italien rette ... Ja, ja, möge es um diese nahe Wiege Friede werden, möge der Bund dieser teuren Kinder die unlösliche Vermählung zwischen Rom und der ganzen Nation sein, möge durch ihre Liebe alles wieder gut werden, alles wieder aufleuchten!«
Die Thränen waren ihm in die Augen gestiegen. Pierre, den diese in dem zerschmetterten Helden noch brennende, unauslöschliche Flamme der Vaterlandsliebe tief rührte, wollte ihm ein Vergnügen machen.
»Das ist der Wunsch, den ich selbst bei ihrem Verlobungsfeste ausgesprochen habe; ich sagte zu Ihrem Sohne beinahe dasselbe wie Sie. Ja, möge ihre Ehe bleibend und fruchtbar sein, möge aus ihr das große Land entstehen, das zu sein ich euch, jetzt, da ich euch kennen gelernt habe, von ganzem Herzen wünsche!«
»Das haben Sie gesagt!« rief Orlando. »Das haben Sie gesagt! Dann verzeihe ich Ihnen Ihr Buch, dann haben Sie endlich verstanden. Und das ›neue Rom‹ – da liegt es! Das Rom, das uns gehört, das wir, seiner glorreichen Vergangenheit wieder würdig, zum drittenmal zur Königin der Welt machen wollen!«
Mit einer seiner weiten Geberden, in die er alles, was ihm vom Leben blieb, legte, wies er auf das ungeheure Panorama, das sich vor dem hellen, vorhanglosen Fenster entfaltete – auf Rom, das sich in der Ferne, von einem Ende des Horizonts zum andern hinstreckte. Unter dem schieferfarbenen Himmel, in dieser so seltenen, winterlichen Trauerzeit nahm die Stadt eine Art höherer Majestät, die schwermütige Größe einer Königsstadt an, die heute noch verfallen, in der trüben Luft stumm und unbeweglich auf das glänzende Erwachen, die allseitig anerkannte, ihr von neuem verheißene Königswürde harrt. Von den neuen Vierteln am Viminal bis zu den fernen Bäumen des Janiculus, von den roten Dächern des Kapitols bis zu den grünen Wipfeln des Pincio lag die Schlagwelle der Terrassen, der Kampanile, der Dome wie ein weiter Ozean da, dessen tiefe, graue Wogen endlos hin und her schwankten.
Aber plötzlich wandte Orlando, von väterlichem Zorn ergriffen, den Kopf und fuhr den jungen Angiolo Mascara an.
»Du Bösewicht, Du! Also unser Rom gedenkst Du mit Bomben zu zerstören, unser Rom willst Du wie ein altes, erschüttertes, verfaultes Haus schleifen, um die Erde seiner auf ewig zu entledigen!«
Angiolo hatte bisher schweigend und leidenschaftlich dem Gespräche zugehört. Auf seinem unbärtigen, schönen, blonden Mädchengesicht zeigte sich die geringste Erregung in plötzlichem Erröten und besonders seine großen blauen Augen hatten gebrannt, als er von dem Volke reden hörte, von dem neuen Volke, das geschaffen werden sollte.
»Ja,« sagte er langsam mit seiner reinen, musikalischen Stimme, »ja, schleifen, keinen einzigen Stein davon übrig lassen! Aber zerstören, um es wieder aufzubauen!«
Orlando unterbrach ihn mit zärtlich spöttischem Lachen.
»Ah, Du wirst es wieder aufbauen! Das ist noch ein Glück!«
»Ich werde es wieder aufbauen!« wiederholte das Kind, sich erhebend, mit zitternder Stimme, wie ein erleuchteter Prophet. »Ich werde es wieder aufbauen – o, so groß, so schön, so edel! Braucht denn nicht die Weltdemokratie von morgen, die endlich befreite Menschheit eine einzige Stadt, die die Bundeslade, der Mittelpunkt der Welt selbst wäre? Und ist nicht Rom die auserwählte Stadt, die von den Prophezeiungen als die ewige, die unsterbliche, als diejenige bezeichnet wird, in der sich das Schicksal der Völker erfüllen wird? Aber damit sie das bleibende Heiligtum, die Hauptstadt der zerstörten Königreiche werde, in der sich einmal jährlich die Weisen aller Länder versammeln, muß man sie zuerst durch Feuer reinigen und nichts von den früheren Befleckungen in ihr zurücklassen. Dann, wenn die Sonne die Pestilenz des alten Bodens aufgesogen haben wird, dann werden wir sie wieder aufbauen – zehnmal schöner, zehnmal größer, als sie je gewesen. Und was für eine Stadt der Gerechtigkeit und Wahrheit wird endlich dieses seit dreitausend Jahren verkündete, erwartete Rom sein – ganz aus Gold, ganz aus Marmor, die Campagna vom Meer bis zum Sabiner- und Albanergebirge ausfüllend, so glücklich und so weise, daß seine zwanzig Millionen Einwohner nach der Regelung des Gesetzes der Arbeit in unvergleichlicher Daseinsfreude leben werden. Ja, ja, Rom, die Mutter, die Königin, die Einzige auf Erden, bis in Ewigkeit!«
Pierre hörte mit offenem Munde zu. Was, dahin kam es mit dem Blute des Augustus? Im Mittelalter hatten die Päpste nicht die Herren Roms sein können, ohne infolge ihres uralten Wunsches, die Welt von neuem zu regieren, das gebieterische Bedürfnis nach einem Wiederaufbauen Roms zu empfinden. In jüngster Zeit, als das junge Italien sich Roms bemächtigt hatte, erlag es sofort dem atavistischen Wahn der Weltherrschaft, wollte es seinerseits zur größten aller Städte machen und baute ganze Viertel für eine Bevölkerung, die nicht gekommen war. Und nun waren sogar die Anarchisten in ihrer Umsturzwut von demselben hartnäckigen, diesmal maßlosen Traum der Rasse besessen; sie verlangten ein viertes, ungeheuerliches Rom, dessen Vorstädte zuletzt die Kontinente an sich reißen sollten, um ihre befreite, zu einer einzigen Familie vereinte Menschheit darin unterzubringen! Das war die Krone von allem; nie würde es einen phantastischeren Beweis für das hoffärtige, herrschsüchtige Blut geben, das die Adern dieser Rasse verbrannt hat, seit Augustus ihr das Erbe seines unumschränkten Reiches und zugleich die wütende Anlage zu dem Glauben hinterließ, daß die Welt ihr gesetzlich gehöre und daß sie stets die Mission habe, sie wieder zu erobern. Das kam aus dem Boden selbst, das war ein Saft, der alle Kinder dieses historischen Humus berauscht hat, der alle antrieb, aus ihrer Stadt die einzige Stadt, diejenige zu machen, die regiert hat, die strahlend zu den von den Orakeln geweissagten Zeiten regieren wird. Und Pierre entsann sich der vier päpstlichen Buchstaben, des S. P. G. R. des alten, glorreichen Rom, das er überall in dem gegenwärtigen Rom wiedergefunden hatte. Es stand wie ein dem Schicksal erteilter Befehl, endgiltig zu siegen, auf allen Mauern, allen Abzeichen, bis zu den Schubkarren des städtischen Wegeamtes, die des Morgens den Kehricht fortführten. Pierre begriff nun die seltsame Eitelkeit dieser von der Größe der Ahnen verfolgten, von der Vergangenheit ihres Rom hypnotisirten Leute, mit der sie erklären, daß es alles in sich schließt, daß sie selbst nicht dahin gelangen, es kennen zu lernen, daß es die Sphinx ist, die eines Tages die Erklärung des Weltalls zu geben haben wird. Es ist so groß und so edel, daß alles darin größer und edler wird, daß sie in dieser lebhaften Illusion der Legende, in der es lebt, dieser unentwirrbaren Verwirrung von all dem, was groß hätte sein können und all dem, was nicht mehr groß ist, zuletzt von der ganzen Erde diese abgöttische Ehrfurcht von Rom verlangen.
»Aber ich kenne Dein viertes Rom,« fuhr Orlando, wieder heiter werdend, fort. »Es ist das Rom des Volkes, die Hauptstadt der allgemeinen Republik, von der schon Mazzini träumte. Freilich fügte er den Papst hinzu ... Siehst Du, mein Junge, wenn wir, die alten Republikaner, uns rallirt haben, so kam das daher, weil wir besorgten, das Land im Revolutionsfall in die Hände der gefährlichen Narren fallen zu sehen, die Dir den Kopf verdrehten. Meiner Treu, so haben wir uns in unsere Monarchie ergeben, die sich von einer guten, parlamentarischen Republik nicht merklich unterscheidet ... Nun, auf Wiedersehen. Sei vernünftig, denk daran, daß Deine arme Mutter stürbe, wenn Dir etwas zustieße ... Komm her, ich will Dir trotzdem einen Kuß geben.«
Angiolo errötete bei dem liebevollen Kuß des Helden wie ein junges Mädchen. Dann, nachdem er den Priester höflich mit einer Kopfbewegung begrüßt hatte, ohne ein Wort hinzuzufügen, entfernte er sich mit seiner sanften Miene, der Miene eines wachen Träumers. Ein Schweigen entstand. Da die Blicke des alten Orlando auf die auf dem Tische zerstreut liegenden Zeitungen gefallen waren, sprach er wieder von dem schrecklichen Trauerfall im Palast Boccanera. Ach, diese Benedetta, die er in den traurigen Tagen, da sie bei ihm wohnte, wie eine teure Tochter angebetet hatte! Was für ein blitzähnlicher Tod, was für ein tragisches Los, so von dem Tode des Mannes, den sie liebte, hinweggerafft zu werden! Und da ihm die Erzählungen der Zeitungen sonderbar vorkamen, da das Dunkle, was er da herausfühlte, ihn schmerzte und quälte, fragte er gerade nach näheren Einzelheiten, als sein Sohn Prada plötzlich, vom zu raschen Treppensteigen atemlos, eintrat. Sein Gesicht war von Unruhe verzerrt. Er hatte seine Bauunternehmer soeben mit ungeduldiger Rohheit fortgeschickt, ohne auf die ernste Lage, auf sein gefährdetes, dem Zusammenbrechen nahes Vermögen Rücksicht zu nehmen; er erlag einem solchen Verlangen, oben, bei seinem Vater zu sein, daß er ihnen nicht einmal zuhörte und sich nicht darum kümmerte, ob das Haus über seinem Kopf zusammenbrechen würde. Und als er oben, bei dem Greise war, galt sein erster, angstvoller Blick seinem Gesichte, um sich zu überzeugen, ob der Priester ihn nicht durch ein unvorsichtiges Wort zu Tode getroffen hätte.
Er erbebte, als er sah, daß der Greis über das schreckliche Ereignis, von dem er sprach, zu Thränen gerührt war und zitterte. Einen Augenblick glaubte er, daß er zu spät komme, daß das Unheil schon geschehen sei.
»O Gott, Vater, was fehlt Ihnen? Warum weinen Sie?«
Und er warf sich zu seinen Füßen nieder, ergriff knieend seine Hände und sah ihn leidenschaftlich, mit solcher Anbetung an, daß er ihm sein ganzes Herzblut darzubieten schien, um ihm den geringsten Schmerz zu ersparen.
»Ach, es ist der Tod der armen Frau,« antwortete Orlando traurig. »Ich sagte zu Herrn Froment, wie trostlos ich darüber sei und fügte hinzu, daß ich das Geschehene erst begreifen müßte. Die Zeitungen sprechen von einem plötzlichen Tode. Das ist immer etwas so Außerordentliches!«
Prada richtete sich mit sehr bleichem Gesicht auf. Der Priester hatte noch nicht gesprochen. Aber was für ein furchtbarer Moment! Wenn er antwortete, wenn er spräche!
»Sie waren dabei, nicht wahr?« fuhr der Greis fort. »Sie haben alles gesehen ... Erzählen Sie mir doch, wie es sich zugetragen hat.«
Prada sah Pierre an. Ihre Blicke trafen sich starr und drangen in einander ein. Alles spielte sich noch einmal zwischen ihnen ab. Da war wieder das schreitende Schicksal, da war Santobono, dem sie am Fuße der Abhänge von Frascati mit seinem kleinen Korbe begegneten; da war die Rückfahrt durch die schwermütige Campagna, das Gespräch über Gift, während der kleine Korb auf den Knieen des Pfarrers dahinfuhr und sich langsam schaukelte; da war vor allem die in der Einöde schlummernde Osteria, die kleine, plötzlich gestorbene schwarze Henne, mit einem violetten Blutstrom am Schnabel. Dann kam, in derselben Nacht, der strahlende Ball bei den Buongiovannis – ein wahrer Duft von Frauen, ein wahrer Triumph der Liebe. Zuletzt stand vor dem im silbernen Mondlicht schwarz sich abhebenden Palazzo Boccanera der Mann, der sich eine Cigarre anzündete und langsam, ohne den Kopf zu wenden, sich entfernte, indem er das dunkle Schicksal sein Todeswerk ausführen ließ. Diese Geschichte kannten sie beide, lebten sie wieder durch und hatten es nicht nötig, sie sich laut zu wiederholen, um sicher zu sein, daß sie einander bis ins tiefste Herz geschaut hatten.
Pierre hatte dem Greise nicht sofort geantwortet.
»O, es sind schreckliche Dinge vorgegangen,« murmelte er endlich, »schreckliche Dinge ...«
»Gewiß, das habe ich geahnt,« fuhr Orlando fort. »Sie können uns alles sagen ... Mein Sohn hat angesichts des Todes vergeben.«
Der Blick Pradas suchte abermals den Pierres und legte sich so schwer, so voll innigen Flehens auf ihn, daß der Priester tief erschüttert ward. Er erinnerte sich an die Herzensangst dieses Mannes während des Balles, an die gräßlichen Eifersuchtsqualen, die er wohl hatte erleiden müssen, ehe er dem Schicksal die Sorge für seine Rache überließ. Er stellte sich zusammen, was dann, nach der furchtbaren Lösung, in ihm vorgegangen sein mußte; zuerst das Erstaunen über diese Raschheit des Schicksals, diese Rache, die grausamer ausgefallen, als er verlangt hatte; dann die eisige Ruhe des ruhigen Spielers, der die Ereignisse abwartet, die Zeitungen liest und keine anderen Gewissensbisse empfindet als die des Feldherrn, den ein Sieg zu viele Menschen gekostet hat. Er hatte sofort begriffen, daß der Kardinal die Sache um der Ehre der Kirche willen begraben würde. Nur auf dem Herzen blieb ihm ein schweres Gewicht liegen – vielleicht war es die Sehnsucht nach jener so heißersehnten Frau, die er nie besessen, nie besitzen würde – vielleicht auch eine furchtbare, letzte Eifersucht, die er sich nicht eingestand, an der er allezeit leiden würde – die, sie im Grabe auf ewig in den Armen eines andern zu wissen. Und nun erhob sich aus dieser sieghaften Anstrengung, die Ruhe zu bewahren, aus diesem kalten, reuelosen Warten die Strafe, die Furcht, daß das mit den vergifteten Feigen einherschreitende Schicksal nicht nochmals auf seinem Wege innehalten und durch einen Rückschlag seinen Vater treffen könnte. Noch ein Donnerschlag, noch ein Opfer – das unerwartetste, das angebetetste. Seine ganze Widerstandskraft war in einer Minute zusammengebrochen; hilfloser und zitternder als ein Kind stand er dem Schrecken des Schicksals gegenüber.
»Aber,« sprach Pierre langsam, als suche er die Worte zusammen, »aus den Zeitungen haben Sie doch wohl entnommen, daß der Fürst zuerst verschied und die Contessina vor Schmerz starb, indem sie ihn zum letztenmal umarmte. Die Todesursachen ... mein Gott, Sie wissen, daß die Aerzte selbst sich gewöhnlich nicht genau auszusprechen wagen –«
Er hielt inne; er hörte plötzlich die Stimme der sterbenden Benedetta, wie sie ihm den schrecklichen Befehl erteilte: »Sie werden seinen Vater sehen. Ich beauftrage Sie, ihm zu sagen, daß ich seinen Sohn verflucht habe. Ich will, daß er es erfährt; er muß es wissen, um der Wahrheit und Gerechtigkeit willen.« Großer Gott, sollte er gehorchen? War das einer jener heiligen Befehle, die man ausführen muß, selbst wenn Thränen und Blut in Strömen fließen? Einige Sekunden lang fand der herzzerreißendste Kampf in ihm statt; er schwankte zwischen dieser Wahrheit, dieser Gerechtigkeit, auf die die Tote sich berufen, und seinem persönlichen Bedürfnis nach Vergebung, dem Grauen, das er vor sich selbst gehabt hätte, wenn er diesen Greis durch die Erfüllung seiner unversöhnlichen, niemand Nutzen bringenden Mission getötet haben würde. Und sicherlich mußte der andere, der Sohn, begreifen, daß irgend ein Kampf in ihm stattfinde, von dem das Schicksal seines Vaters abhing; denn sein Blick wurde noch schwerer, noch flehender.
»Man hat zuerst an eine Verdauungsstörung gedacht,« fuhr Pierre fort. »Aber das Uebel verschlimmerte sich so rasch, daß man erschrak und um einen Arzt lief.« Ach, die Augen Pradas, die Augen Pradas! Sie waren so verzweifelt geworden, und die rührendsten, die gewichtigsten Dinge malten sich in ihnen, so daß der Priester alle die entscheidenden Gründe aus ihnen herauslas, die ihn am Sprechen hindern sollten. Nein, nein, er würde den unschuldigen Greis nicht so treffen! Er hatte nichts versprochen; es hätte das Andenken der Toten mit einem Verbrechen belasten geheißen, wenn er ihrem letzten Hassesausbruch gehorcht haben würde. Prada selbst hatte während dieser wenigen, angstvollen Minuten ein ganzes Leben so gräßlichen Schmerzes durchgemacht, daß trotz alledem der Gerechtigkeit ein wenig Genüge geschehen war.
»Als nun der Arzt kam, erkannte er förmlich, daß es sich um ein ansteckendes Fieber handelte,« schloß Pierre. »Es herrscht kein Zweifel daran ... Ich habe heute vormittag dem Begräbnis beigewohnt; es war sehr schön und sehr rührend.«
Orlando drang nicht weiter in ihn, sondern begnügte sich, mit einer Geberde auszudrücken, daß auch er den ganzen Vormittag bei dem Gedanken an diese Beerdigung bewegt gewesen sei. Als er sich dann umdrehte und mit seinen noch zitternden Händen die Zeitungen auf dem Tische ordnete, sah Prada Pierre noch einmal mit einem festen Blick an, während er sich, von Todesschweiß erstarrt, schwankend an die Lehne eines Stuhles stützte, um nicht zu fallen; aber es war ein sehr sanfter Blick voll rasender Erkenntlichkeit, der »danke« sagte.
»Ich reise heute abend ab,« wiederholte Pierre; er war ganz erschöpft und wollte das Gespräch abbrechen. »Ich komme, um von Ihnen Abschied zu nehmen ... Haben Sie mir keinen Auftrag für Paris zu geben?«
»Nein, gar keinen,« sagte Orlando.
Aber mit einemmale besann er sich.
»Ei doch, ich habe einen Auftrag für Sie. Sie erinnern sich gewiß an das Buch meines alten Waffengefährten Theophil Morin, einem der Tausend Garibaldis – an dieses Handbuch für das Baccalaureat, das er übersetzen und für Italien bearbeiten lassen wollte. Ich bin sehr froh, denn man hat mir versprochen, es in unseren Schulen aufzunehmen; aber unter der Bedingung, daß er einige Aenderungen macht ... Luigi, reiche mir doch den Band her, der dort auf dem Brette liegt.«
Und als sein Sohn ihm den Band gereicht hatte, zeigte er Pierre die Notizen, die er mit Bleistift auf dem Rande gemacht hatte, indem er ihm die Aenderungen erklärte, die man von dem Verfasser bezüglich des allgemeinen Planes des Werkes erwartete.
»Seien Sie also so liebenswürdig, dieses Exemplar Morin, dessen Adresse auf der Rückseite des Buches steht, selbst hinzutragen. Sie ersparen mir dadurch einen langen Brief und werden ihm in zehn Minuten mehr und in bestimmterer, vollständigerer Weise sagen, als ich es auf zehn Seiten thun könnte. Und umarmen Sie Morin von mir; sagen Sie ihm, daß ich ihn noch immer liebe – o, von ganzem Herzen, wie einst, da ich noch meine Beine hatte und wir uns beide wie die Teufel im Kugelregen schlugen!«
Ein kurzes Schweigen – das Schweigen, die gerührte Befangenheit des Trennungsmomentes trat ein.
»Adieu also! Umarmen Sie mich, für ihn und für sich selbst; umarmen Sie mich zärtlich, so wie vorhin jenes Kind es gethan ... Mein lieber Herr Froment, ich bin so alt und so fertig, daß Sie mir wohl erlauben, Sie ›mein Kind‹ zu nennen und Sie wie ein Großvater zu umarmen, der Ihnen Mut und Frieden und den Glauben an das Leben wünscht, der allein zum Leben hilft.«
Pierre war so gerührt, daß die Thränen ihm in die Augen stiegen; und als er den zerschmetterten Helden von ganzer Seele auf beide Wangen küßte, fühlte er, daß auch er weinte. Mit der einen noch kräftigen Hand hielt er ihn wie ein Schraubstock einen Augenblick bei seinem Krankenstuhl fest, während er ihm mit der andern, mit einer erhabenen Geberde zum letztenmal Rom zeigte, das in seiner Trauer, unter dem aschfarbenen Himmel ungeheuer dalag. Seine Stimme wurde leiser, bebend und flehend.
»Und, bitte, schwören Sie mir, es trotz allem, allem zum Trotz zu lieben! Denn es ist die Wiege, es ist die Mutter! Lieben Sie es um dessentwillen, was es nicht mehr ist, um dessentwillen, was es sein will! ... Sagen Sie nicht, daß es aus mit ihm ist. Lieben Sie es, lieben Sie es, damit es noch bestehe, damit es ewig bestehe!«
Unfähig zu antworten, umarmte ihn Pierre abermals. Die so große Leidenschaft dieses Greises, der von seiner Stadt sprach, wie man zu dreißig Jahren von einem angebeteten Weibe spricht, erschütterte ihn, und er kam ihm mit seinem gesträubten weißen Löwenhaar, mit seinem hartnäckigen Wunsch nach einer nahen Auferstehung so schön, so groß vor, daß noch einmal der andere große Greis, der Kardinal Boccanera, vor ihm aufstieg. Auch er beharrte so störrisch bei seinem Glauben, gab nichts von seinem Traum auf und war bereit, von dem fallenden Himmel an Ort und Stelle zermalmt zu werden. Sie standen einander stets zu beiden Enden der Stadt gegenüber und nur ihre hohen Gestalten beherrschten den Horizont, während sie der Zukunft harrten.
Dann, nachdem Pierre sich von Prada empfohlen hatte und sich wieder auf der Straße, in der Via del Venti Settembre befand, blieb ihm nur noch eines übrig: in den Palast in die Via Giulia zurückzukehren, um seinen Koffer zu packen und abzureisen. Alle seine Abschiedsbesuche waren gemacht; er brauchte nur noch von Donna Serafina und dem Kardinal Abschied zu nehmen und ihnen für ihre so wohlwollende Gastfreundschaft zu danken. Für ihn allein würde ihre Thür sich öffnen; denn sie hatten sich nach der Rückkehr vom Begräbnis eingeschlossen und waren entschlossen, niemand zu empfangen. Von der Dämmerung an konnte Pierre daher glauben, daß er in dem ungeheuren, dunklen Palaste vollständig allein sei, da nur noch Victorine ihm Gesellschaft leistete. Als er den Wunsch bezeugte, mit Don Vigilio zu essen, meldete sie ihm, daß auch der Abbé sich in seinem Zimmer eingeschlossen habe, und als er, da er ihm wenigstens ein letztesmal die Hand drücken wollte, an die Thür des neben dem seinen gelegenen Zimmers klopfte, erhielt er nicht einmal eine Antwort. Er erriet, daß der Sekretär, von einem Anfall von Fieber und von Mißtrauen gepackt, ihn aus Furcht, sich noch mehr bloßzustellen, nicht empfangen wolle. Somit war alles geregelt; man kam überein, daß Victorine ihm, da der Zug erst um zehn Uhr siebenzehn Minuten abging, sein Abendbrot wie gewöhnlich um acht Uhr auf dem kleinen Tisch in seinem Zimmer auftragen lassen solle. Sie selbst brachte ihm eine Lampe und sprach davon, ihm seine Wäsche zurecht zu legen. Aber er wollte sich unbedingt nicht von ihr helfen lassen, und sie mußte ihn ruhig seinen Koffer packen lassen.
Er hatte eine kleine Kiste gekauft, da sein Handkoffer für die Wäsche und die Kleider nicht ausreichen konnte, die er sich, je länger sein Aufenthalt sich ausdehnte, von Paris hatte kommen lassen. Trotzdem dauerte die Arbeit nicht lange; bald waren der Schrank geleert, die Schubladen durchsucht, die kleine Kiste und der Handkoffer gefüllt und zugesperrt. Es war erst sieben Uhr; er hatte bis zum Abendbrot noch eine Stunde zu warten. Da fielen seine Blicke, während sie an den Wänden entlang gingen, um sicher nichts zu vergessen, auf das alte Bild, das Gemälde eines unbekannten Meisters, das ihn während seines Aufenthaltes so oft bewegt hatte. Gerade jetzt fiel das Licht der Lampe voll darauf und ließ es hervortreten; und auch diesmal traf es ihn ins Herz, um so tiefer, als er sich in dieser letzten Stunde einbildete, in dieser klagenden, tragischen Frauengestalt, die halb nackt, in einen Fetzen gehüllt, auf der Schwelle des Palastes saß, aus dem man sie verjagt hatte, und in ihre gefalteten Hände hinein weinte, das ganze Symbol seiner Niederlage in Rom zu sehen. War diese Verstoßene, diese Beharrlichliebende, die so schluchzte, von der man nichts wußte, weder wie ihr Gesicht aussah noch von wannen sie kam, noch was sie begangen – war sie nicht das Bild all der nutzlosen Versuche, bei der Wahrheit einzudringen, all der furchtbaren Hilflosigkeit, in die der Mensch versinkt, sobald es an der Mauer anstößt, die das Unbekannte verrammelt? Lange sah er sie an, und von neuem ergriff ihn die Qual, daß er fortgehen mußte, ohne ihr von den goldenen Haaren überflutetes Gesicht gekannt zu haben – dieses Gesicht voll schmerzlicher Schönheit, das er sich so jugendstrahlend, so geheimnisvoll entzückend vorstellte. Und er glaubte sie schon zu kennen, er war im Begriffe, sie endlich zu verstehen, als an die Thür geklopft wurde.
Zu seiner Ueberraschung sah er Narcisse Habert eintreten, der sich vor drei Tagen nach Florenz begeben hatte. Der künstlerisch bummelnde junge Gesandtschaftsattaché gefiel sich in solchen Ausflügen. Narcisse entschuldigte sich sofort wegen seines plötzlichen Eindringens.
»Du ist Ihr Gepäck, ich weiß, daß Sie heute abend reisen, da wollte ich Sie nicht wegfahren lassen, ohne Ihnen die Hand zu schütteln ... Und was für furchtbare Dinge sind vorgegangen, seit wir uns zum letztenmal sahen! Ich bin erst heute nachmittag zurückgekommen und konnte daher dem Leichenbegängnis von heute morgen nicht beiwohnen. Aber Sie können sich meine Ergriffenheit vorstellen, als ich diese zwei schrecklichen Todesfälle erfuhr.«
Er fragte ihn aus, denn als einer, der das düstere, legendenhafte Rom kannte, ahnte er irgend ein uneingestandenes Drama. Uebrigens drang er nicht weiter in ihn; er war im Grunde viel zu vorsichtig, um sich nutzlos mit furchtbaren Geheimnissen zu belasten. Er begnügte sich damit, über das, was ihm der Priester von den zwei eng umschlungenen, im Tode übermenschlich schönen Liebenden erzählte, in Begeisterung zu geraten und ward böse, weil niemand sie abgezeichnet hatte.
»Aber Sie selbst, mein Lieber, hatten es thun sollen! Es macht nichts, daß Sie nicht zeichnen können. Sie hätten Ihre Naivität hineingelegt, hätten vielleicht ein Meisterwerk hinterlassen.«
Dann beruhigte er sich.
»Ach, die arme Contessina, der arme Fürst! Aber es thut nichts; sehen Sie, in diesem Lande kann alles zusammenbrechen – sie haben die Schönheit besessen, und die Schönheit ist unzerstörbar!«
Pierre ward durch das Wort betroffen. Sie sprachen lange über Italien, Rom, Neapel, Florenz. »Ah, Florenz!« wiederholte Narcisse schmachtend. Er hatte sich eine Cigarre angezündet und sprach in langsamerem Ton, während er die Blicke rings um das Zimmer schweifen ließ.
Sie haben es hier gut gehabt, sehr ruhig. Ich war noch nie hier oben in diesem Stockwerk.«
Seine Augen fuhren fort, über die Wände zu schweifen; da wurden sie von dem alten, von der Lampe beleuchteten Gemälde aufgehalten. Einen Augenblick zuckten seine Lider überrascht; mit einemmal erhob er sich und trat näher.
»Was ist denn das? Was ist denn das? Das ist ja sehr gut, das ist ja sehr schön!«
»Nicht wahr?« meinte Pierre. »Ich verstehe mich darauf nicht, aber es hat mich vom ersten Tage an nicht weniger ergriffen. Und wie oft bin ich mit klopfendem, von unsagbaren Dingen geschwelltem Herzen davor stehen geblieben!«
Narcisse sprach nicht mehr, sondern betrachtete das Gemälde aus der Nähe mit der Sorgfalt eines Kenners, eines Sachverständigen, dessen scharfer Blick die Echtheit entscheidet und den Kaufwert bestimmt. Eine ganz seltsame Freude malte sich auf seinem blonden, schmachtenden Gesicht, während ein leises Zittern seine Finger ergriff.
»Das ist ein Botticelli! Ein Botticelli! Ein Zweifel ist nicht möglich. Sehen Sie doch die Hände an, die Falten der Draperien. Und der Ton des Haares, die ganze Manier, der Schwung der ganzen Komposition!... Ein Botticelli! O Gott, ein Botticelli!«
Er wurde ganz schwach und überströmte von wachsender Bewunderung, je mehr er in diesen so einfachen und so packenden Vorwurf eindrang. War das nicht akut modern? Der Künstler hatte unser ganzes, klägliches Jahrhundert, unsere Unruhe nur dem Unsichtbaren, unsere Not vorausgesehen, weil wir die auf ewig geschlossene Thür des Geheimnisvollen nicht überschreiten können. Und was für ein ewiges Symbol des Weltelends war dieses Weib, dessen Gesicht man nicht sah, das so rasend schluchzte, ohne daß man seine Thränen abwischen konnte! Welch ein Fund! Ein unbekannter Botticelli, ein Botticelli von dieser Qualität, der in allen Katalogen fehlte!
»Wußten Sie, daß es ein Botticelli ist?« unterbrach er sich.
»Meiner Treu, nein! Ich fragte eines Tages Don Vigilio, aber er schien aus diesem Gemälde nicht viel Aufhebens zu machen. Victorine, mit der ich ebenfalls darüber sprach, antwortete mir, daß alle diese alten Sachen nur Staubnester seien.«
Narcisse schrie vor Erstaunen auf.
»Wie, in diesem Hause hat man einen Botticelli, ohne es zu wissen! Ah, daran erkenne ich meine römischen Fürsten; die meisten von ihnen sind nicht im stande, sich unter ihren Meisterwerken auszukennen, wenn nicht die Zettel darauf kleben! ... Es ist ein Botticelli, der zweifellos ein bißchen gelitten hat, aber durch eine einfache Reinigung ein Wunder, ein famoses Bild werden wird. Ich glaube es zu niedrig zu schätzen, wenn ich sage, daß ein Museum dafür –«
Plötzlich verstummte er und sprach die Ziffer nicht aus, sondern vollendete den Satz mit einer unbestimmten Geberde. Der Abend rückte vor und als Victorine, von Giacomo gefolgt, eintrat, um auf dem kleinen Tische zu decken, drehte er dem Botticelli den Rücken zu und ließ kein Wort über ihn laut werden. Aber Pierre, dessen Aufmerksamkeit geweckt worden war, erriet, welche Gedanken in ihm arbeiteten, als er ihn setzt so kalt und seine malvenfarbigen Augen stahlblau werden sah. Es war ihm nicht mehr unbekannt, daß hinter dem engelhaften Jüngling, dem erkünstelten Florentiner ein in Geschäften sehr geriebener Patron steckte, der sein Vermögen bewunderungswürdig verwaltete und wie es hieß, sogar ein wenig geizig war. Er mußte lächeln, als er sah, wie er sich vor die neben dem Meisterwerk hängende schreckliche Jungfrau, eine schlechte Kopie eines Gemäldes aus dem achtzehnten Jahrhundert stellte und rief:
»Sieh mal, das ist ja gar nicht übel! Ein Freund hat mich beauftragt, ihm ein paar alte Bilder zu kaufen. Sagen Sie doch, Victorine, glauben Sie, daß Donna Serasina und der Kardinal jetzt, da sie allein sind, gern gewisse, wertlose Bilder loswerden möchten?«
Die Dienerin hob beide Arme in die Höhe, als wolle sie damit sagen, daß man, wenn es von ihr abhinge, ihretwegen alles forttragen konnte.
»O, Herr Habert, einem Händler gäben sie sie nicht, von wegen der häßlichen Gerüchte, die gleich in Umlauf kämen; aber einem Freunde werden sie sicherlich gerne dieses Vergnügen machen. Das Haus ist kostspielig; das Geld wäre willkommen.«
Pierre versuchte Narcisse vergeblich zum Abendbrot zurückzuhalten. Der junge Mann gab sein Ehrenwort, daß er erwartet werde. Er habe sich sogar schon verspätet. Und nachdem er dem Priester beide Hände gedrückt und liebevoll glückliche Reise gewünscht hatte, machte er sich davon.
Es schlug acht Uhr. Sobald Pierre allein war, setzte er sich an den kleinen Tisch und Victorine bediente ihn, nachdem sie Giacomo weggeschickt, der das Geschirr und die Schüsseln in einem Korbe herausgebracht hatte.
»Es kocht in mir, wenn ich sehe, wie langsam die Leute hier sind,« sagte sie. »Und außerdem, Herr Abbé, ist es mir ein Vergnügen, Sie bei Ihrer letzten Mahlzeit zu bedienen. Sie sehen, ich habe Ihnen ein kleines Diner nach französischer Art machen lassen: Seezunge au gratin und ein gebratenes Hühnchen.«
Er war von ihrer Aufmerksamkeit gerührt und freute sich, diese Landsmännin zur Gesellschaft zu haben, während er inmitten der ungeheuren Stille des alten, dunklen und verlassenen Palastes aß. In ihrer ganzen, dicken, rundlichen Figur prägte sich noch die Betrübnis, die Trauer um den schmerzlichen Verlust ihrer lieben Contessina aus; aber schon begann ihr Tagewerk, das sie wieder aufgenommen, ihre willig hingenommene Dienstbarkeit sie aufzurichten und gab ihr ihre behende Thätigkeit wieder. In der Demut eines armen Mädchens ergab sie sich in die schlimmsten Katastrophen dieser Welt. Sie plauderte fast heiter, während sie ihm die Schüsseln reichte.
»Wenn ich denke, Herr Abbé, daß Sie übermorgen früh in Paris sein werden! Wissen Sie, mir kommt es vor, als hätte ich Anneau gestern verlassen. Ach, die Erde ist dort so schön – ja, dick, goldgelb, nicht so wie ihre magere Erde hier, die nach Schwefel riecht. Und die frischen, hübschen Weiden am Rande unseres Baches! Und das Wäldchen, wo es so viel Moos gibt! Hier haben sie keines; sie haben nichts als ihre blechernen Bäume unter ihrer dummen Sonne, die das Gras röstet. Mein Gott, in der ersten Zeit hätte ich wer weiß was für einen guten Regen gegeben, der mich ordentlich durchnäßt und mir ihren schmutzigen Staub abgewaschen hätte. Noch heute klopft mir das Herz, sowie ich an den schönen Morgen bei uns zu Hause denke, wenn es tags zuvor geregnet hat und das ganze Land so milde, so angenehm aussieht, als wolle es nach dem Weinen lachen. Nein, nein, an ihr verteufeltes Rom werde ich mich nie gewöhnen können. Nein, was für Leute, was für ein Land!«
Ihre treue Anhänglichkeit an die Heimat, die sie noch nach einem fünfundzwanzigjährigen Aufenthalt fremd und unempfindlich bleiben ließ, belustigte ihn. Als Kind eines liebenswürdigen, gemäßigten, heitern, am Morgen von rosigen Nebeln überhauchten Landes graute ihr vor dieser Stadt des grellen Lichtes und der schwermütigen Vegetation. Er selbst vermochte sich nicht ohne lebhafte Bewegung zu sagen, daß er bald die lieblichen, köstlichen Ufer der Seine wiedersehen würde.
»Aber was hält Sie hier zurück, da jetzt Ihre junge Herrin nicht mehr ist?« fragte er. »Warum steigen Sie nicht mit mir in den Zug?«
Sie sah ihn voll Ueberraschung an.
»Ich, von hier weggehen, wieder da hinauf zurück? O nein, Herr Abbé, das ist unmöglich. Erstens wäre das gar zu undankbar, denn Donna Serafina ist an mich gewöhnt; es wäre sehr schlecht von mir, wenn ich sie und Seine Eminenz verlassen wollte, da sie im Unglück sind. Und dann, was soll ich denn anderswo anfangen? Mein Loch ist jetzt einmal hier.«
»So werden Sie also Anneau nie wiedersehen?«
»Nein, nie. Das steht fest.«
»Und es wird Ihnen nichts daran liegen, hier begraben zu werden, in dieser Erde zu schlafen, die nach Schwefel riecht?«
Sie brach in ein freimütiges Lachen aus.
»O, wenn ich tot bin, ist es mir gleich, wo ich bin! Zum Schlafen ist es überall gut, Herr Abbé! Es ist komisch, daß Sie sich so um das sorgen, was geschieht, wenn man tot ist. Gar nichts geschieht, bei Gott! Was mich beruhigt, was mich beschwichtigt, ist der Gedanke, daß es für alle Zeit aus sein wird und daß ich mich ausruhen werde. Der liebe Gott ist das unser einem, der so viel gearbeitet hat, wohl schuldig. Sie wissen, ich bin keine Fromme. O nein! Aber das hat mich nicht abgehalten, mich anständig aufzuführen; so wie Sie mich ansehen, habe ich nie einen Geliebten gehabt. Wenn man in meinem Alter so etwas sagt, sieht das dumm aus. Trotzdem sage ich es, denn es ist die reine Wahrheit.«
Sie lachte wieder, wie ein braves Mädchen, das an die Pfarrer nicht glaubte und keine einzige Sünde auf dem Gewissen hatte. Pierre wunderte sich abermals über diesen einfachen Lebensmut, die hohe, praktische Vernunft dieser so ergebenen Arbeiterin. Sie verkörperte ihm das ungläubige, gemeine Volk von Frankreich, das nicht mehr glaubt, nie mehr glauben wird. Ach, wer doch sein konnte wie sie, wer seine Aufgabe erfüllen und sich ohne hoffärtige Empörung, bloß in der Freude, seinen Teil an der Arbeit gethan zu haben, zum ewigen Schlaf niederlegen könnte!
»Also, Victorine, dann soll ich, wenn ich je durch Anneau komme, dem kleinen Wäldchen voller Moos in Ihrem Namen guten Tag sagen?«
»Thun Sie das, Herr Abbé. Sagen Sie ihm, daß ich es im Herzen habe und daß ich es darin jeden Tag wieder grün werden sehe.«
Da Pierre mit dem Abendbrot fertig war, ließ sie das Geschirr durch Giacomo wegtragen. Dann riet sie dem Priester, da es erst halb neun war, noch eine Stunde ruhig in seinem Zimmer zu bleiben. Wozu sollte er zu früh auf dem Bahnhof frieren? Um halb zehn würde sie einen Fiaker holen lassen und sobald der Wagen unten sei, würde sie es ihm melden und sein Gepäck herabtragen lassen. Er könnte also ganz ruhig sein; er brauche sich um nichts mehr kümmern.
Als sie sich entfernt hatte und Pierre allein war, empfand er in der That ein Gefühl von Leere, von seltsamer Abgeschiedenheit. Sein Gepäck, sein Koffer und die kleine Kiste lagen am Boden, in einem Winkel des Zimmers. Und wie stumm, wie wüst und ausgestorben war dieses Zimmer, das ihm schon wie fremd vorkam! Es blieb ihm nichts übrig, als abzureisen, er war schon abgereist und Rom ringsum war nur mehr ein Bild – das Bild, das er in der Erinnerung mitnehmen würde. Noch eine Stunde. Das kam ihm maßlos lang vor. Unter ihm schlief der dunkle, einsame Palast in der Vernichtung seines Schweigens. Er setzte sich nieder, um sich zu gedulden und versank in ein tiefes Sinnen.
Was er heraufbeschwor, das war sein Buch, »das neue Rom« – so wie er es geschrieben, so wie er es zu verteidigen gekommen war. Er erinnerte sich an den ersten Morgen auf dem Janiculus, am Rande der Terrasse von S. Pietro in Montono, im Angesichte des so ersehnten Rom, das so verjüngt, so kindlich sanft unter dem weiten, reinen Himmel dalag, als schwinge es sich in die Frische des Morgens auf. Dort hatte er sich die entscheidende Frage gestellt: konnte der Katholizismus sich erneuern, zum Geiste des Urchristentums zurückkehren, die Religion der Demokratie, der Glaube werden, den die erschütterte, in Todesgefahr befindliche moderne Welt erwartet, damit sie sich beruhigen und leben könne? Sein Herz klopfte vor Begeisterung und Hoffnung; kaum von seinem Unglück in Lourdes erholt, war er hergekommen, um hier ein zweites, letztes Experiment zu versuchen, indem er Rom um eine Antwort befragte. Und jetzt war das Experiment mißlungen; er kannte die Antwort, die Rom ihm durch seine Ruinen, seine Monumente, seinen Boden selbst, durch sein Volk, seine Prälaten, seine Kardinale, seinen Papst gegeben hatte. Nein, der Katholizismus konnte sich nicht erneuern! Nein, er konnte nicht zum Geiste des Urchristentums zurückkehren! Nein, er konnte nicht die Religion der Demokratie, der neue Glaube sein, der die alten, zusammenbrechenden, vom Tode bedrohten Gesellschaften retten würde. Wenn er auch demokratischen Ursprungs zu sein schien, so war er fortan an diesen römischen Boden festgenagelt, König wider Willen, unter Strafe des Selbstmords gezwungen, auf der weltlichen Herrschaft zu beharren; er war durch die Ueberlieferung gebunden, vom Dogma gefesselt, entwickelte sich nur scheinbar und war in Wirklichkeit auf eine solche Unbeweglichkeit beschränkt, daß das Papsttum in seinem ununterbrochenen Traum von der Weltherrschaft hinter der Bronzethür des Vatikans der Gefangene, das Gespenst eines achtzehnhundert Jahre alten Atavismus war. Dort, wo sein von der Liebe zu den Leidenden und Armen erhitzter Priesterglauben das Leben, eine Auferstehung der christlichen Gemeinde suchte, dort fand er den Tod, den Staub einer zerstörten Welt, für die ein Keimen nicht mehr möglich war, eine erschöpfte Erde, aus der nie mehr etwas anderes sprossen würde als dieses despotische Papsttum, das ebenso Herr über die Körper wie über die Seelen war. Auf seinen rasenden Aufschrei, der eine neue Religion verlangte, hatte Rom bloß die Antwort gegeben, daß es sein Buch, als von Ketzerei besteckt, verdammte, und er selbst hatte es in dem bittern Schmerz seiner Enttäuschung zurückgezogen. Er hatte gesehen, hatte verstanden; alles war zusammengebrochen und er selbst, seine Seele, sein Gehirn lagen unter den Trümmern.
Pierre erstickte. Er stand auf und öffnete weit das auf den Tiber gehende Fenster, um sich einen Augenblick hinauszulehnen. Gegen Abend hatte es wieder zu regnen begonnen; aber nun hatte der Regen abermals aufgehört. Die Luft war sehr milde, feucht, drückend milde. An dem aschgrauen Himmel mußte der Mond schon aufgegangen sein, denn man ahnte ihn hinter den Wolken, die er mit einem gelben, trüben, unendlich traurigen Licht beleuchtete. Bei diesem ruhigen Nachtlampenschein nahm sich der unermeßliche Horizont schwarz und gespensterhaft aus; gegenüber lag der Janiculus mit den zusammengehäuften Häusern von Trastevere, da unten, links, gegen die wirre Höhe des Palatin zu, der Lauf des Flusses, während rechts die gebietende Rundung des Domes von St. Peter sich von dem blassen Hintergrunde abhob. Den Quirinal konnte er nicht sehen, aber er wußte, daß er hinter ihm war und stellte sich vor, wie er in dieser so schwermütigen, so traumhaften Nacht mit seiner endlosen Fassade eine Ecke des Himmels absperrte. Und wie zu Ende gehend sah dieses vom Dunkel halb verzehrte Rom aus! Wie verschieden war es von dem Rom der Jugend und Chimäre, das er am ersten Tage von dem Gipfel des Janiculus erblickt und leidenschaftlich geliebt hatte! Zu dieser Stunde konnte er die finstere Masse des Hügels nur schlecht unterscheiden. Noch eine andere Erinnerung wurde in ihm wach – die an die drei höchsten Punkte, die drei symbolischen Gipfel, die von diesem Tage an für ihn die Geschichte Roms, des antiken, des päpstlichen, des italienischen Rom zusammengefaßt hatten. Aber wenn auch der Palatin derselbe entkrönte Berg geblieben war, auf dem sich nichts erhob als das Gespenst des Ahnen, des Kaisers und Pontifex Augustus, des Herrn der Welt, so sah er St. Peter und den Quirinal, die gleichsam den Platz gewechselt hatten, mit andern Augen an. Diesem mißachteten Königspalast, der ihm wie eine flache, niedrige Kaserne erschienen war, dieser neuen Regierung, die ihm den Eindruck eines weiheschänderischen Modernisirungsversuches an einer auserkorenen Stadt gemacht hatte, gestand er jetzt, wie er zu Orlando gesagt hatte, den beträchtlichen, wachsenden Platz am Horizont zu, den sie bald ganz einnehmen würden; St. Peter dagegen, dieser Dom, der ihm triumphirend, himmelsfarben, wie ein die Stadt beherrschender, durch nichts zu erschütternder Riesenkönig erschienen war, kam ihm jetzt rissig, schon kleiner vor. Er war einer jener ungeheuren Altertümer, deren Masse manchmal infolge der heimlichen Abnützung, des unbeachteten Zerbröckelns der Gerüste, mit einemmale zusammenstürzt.
Ein dumpfes Murmeln, ein klagendes Murren stieg von dem geschwollenen Tiber auf und Pierre erschauerte bei dem eisigen Grufthauch, der ihm übers Gesicht strich. Dieser Gedanke an die drei Gipfel, an das symbolische Dreieck, erweckte in ihm den Gedanken an das lange Leid des großen Stummen, des Volkes der Kleinen und Armen, um dessen Besitz Papst und König sich stets gestritten hatten. Dieser Streit dauerte schon lange, seit dem Tage, da bei der Teilung der Erbschaft des Augustus der Kaiser sich mit den Körpern begnügen und die Seelen dem Papst überlassen mußte. Dieser brannte von diesem Augenblick nur von dem Verlangen, die weltliche Herrschaft, deren man Gott in seiner Person belaubte, wieder zu erobern. Der Streit hatte das ganze Mittelalter erschüttert und mit Blut befleckt, ohne daß weder Kirche noch Reich sich über die Beute, die sie einander in Fetzen entrissen, einigen konnten. Endlich wollte der große Stumme, der Belästigungen und des Elends überdrüssig, sprechen; er schüttelte zur Zeit der Reformation das Joch des Papstes ab und begann später, in seinem wütenden Ausbruch von 1789, die Könige zu stürzen. Und davon war, wie Pierre es in seinem Buche beschrieben hatte, das außerordentliche Los des Papsttums, ein neues Glück ausgegangen, das dem Papst gestattete, den uralten Traum fortzusetzen. Der Papst verlor das Interesse an den gestürzten Thronen und versöhnte sich mit den Unglücklichen, denn er hoffte, diesmal das Volk zu erobern, endlich ganz zu besitzen. War es nicht etwas Wunderbares um diesen, seiner Königswürde beraubten Leo XIII., der sich für einen Sozialisten ausgeben ließ, der die Herde der Enterbten sammelte, der an der Spitze des vierten Standes, dem das nächste Jahrhundert gehören wird, gegen die Könige marschirte? Der ewige Kampf um diesen Besitz des Volkes wütete ebenso grimmig weiter, und zwar in Rom selbst, im engsten Raum; denn der Vatikan lag dem Quirinal gegenüber, der Papst und der König konnten sich von ihren Fenstern aus sehen und immer sich darum streiten, wem das Reich gehören solle; vor ihren Augen lagen die roten Dächer der Altstadt, lag dieses gemeine Volk, das sie sich noch immer streitig machten, wie der Falke und der Sperber sich um die kleinen Waldvögel streiten. Hierin lag, Pierres Ansicht nach, der Grund, warum der Katholizismus verdammt, einem verhängnisvollen Ruin geweiht war – gerade weil sein Wesen, monarchisch war, und zwar so sehr, daß das römisch-apostolische Papsttum auf die weltliche Herrschaft nicht verzichten konnte, wenn es nicht etwas anderes sein und verschwinden wollte. Vergebens heuchelte es eine Rückkehr zum Volke, vergeblich stellte es sich, als sei es ganz Gefühl – inmitten unserer Demokratie war kein Platz für die vollständige und universelle Oberhoheit, die es von Gott erhalten. Stets sah er aus dem Pontifex wieder den Imperator hervorsprießen. Das war es hauptsächlich, was seinen Traum getötet, sein Buch zerstört, den Trümmerhaufen aufgeschichtet hatte, vor dem er entsetzt, kraft- und mutlos stehen geblieben war.
Dieses in Asche gebadete Rom, dessen Gebäude verschwammen, preßte ihm zuletzt derart das Herz zusammen, daß er wieder auf den Stuhl neben seinem Gepäck sank. Noch nie hatte er eine solche Angst empfunden; es schien ihm, daß es mit seiner Seele zu Ende gehe. Er erinnerte sich, in welchem Lichte diese Reise nach Rom, dieses neue Experiment sich ihm infolge seines Unglücks in Lourdes dargestellt hatte. Er war nicht mehr hergekommen, um den naiven, vollständigen Glauben eines kleinen Kindes zu fordern, sondern den höherstehenden Glauben des Verständigen, der sich über Riten und Symbole erhebt und auf das größtmögliche, auf das Gewißheitsbedürfnis sich gründende Glück der Menschheit hinarbeitet. Wenn das zusammenbrach, wenn der verjüngte Katholizismus nicht die Religion, das Moralgesetz des neuen Volles sein konnte, wenn der Papst in Rom, mit Rom nicht der Vater, die Bundeslade, der geistige Führer war, dem alles gehörte und gehorchte, so bedeutete das in seinen Augen den Schiffbruch der letzten Hoffnung, das letzte Krachen, in dem die gegenwärtige Gesellschaft unterging. Dieses ganze Gerüst des katholischen Sozialismus, das ihm für die Befestigung der alten Kirche so vorteilhaft erschienen war, sah er jetzt auf der Erde liegen; er beurteilte es strenge, wie ein einfaches Uebergangsmittel, das vielleicht jahrelang die Ruinen stützen konnte. Aber all das war nur auf einem absichtlichen Mißverständnis, auf einer geschickten Lüge, auf Diplomatie und Politik aufgebaut. Nein, nein, es widerstrebte der Vernunft, daß das Voll wieder gewonnen und betrogen, geschmeichelt und dann geknechtet werden sollte! Das ganze System stellte sich als ausgeartet, gefährlich, zeitweilig dar und mußte zu den schlimmsten Katastrophen führen. Das war also das Ende. Nichts blieb aufrecht stehen, und die alte Welt sollte in der furchtbaren, blutigen Krisis, deren Nahen sichere Zeichen verkündeten, verschwinden. Und er hatte angesichts dieses Chaos kein Herz mehr, denn er hatte bei diesem Experiment von neuem seinen Glauben verloren. Er hatte gefühlt, daß es entscheidend sein werde; er war im voraus überzeugt gewesen, daß er entweder gestärkt oder für ewig zerschmettert daraus hervorgehen würde. Der Blitzstrahl war hinabgefahren. Großer Gott, was jetzt?
Die Angst packte ihn so rauh an, daß er sich erhob und im Zimmer umherzugehen begann, um ein wenig Ruhe Zu finden. Großer Gott, was sollte er anfangen, da er nun wieder dem ungeheuren Zweifel, der schmerzlichen Verneinung ausgeliefert war und die Sutane noch nie so schwer auf seinen Schultern gelastet hatte! Er erinnerte sich, mit welchem Aufschrei er sich geweigert hatte, sich zu unterwerfen; seine Seele könne sich nicht ergeben, hatte er zu Monsignore Nani gefügt, seine Hoffnung auf eine Rettung durch die Liebe könne nicht sterben; er würde mit einem zweiten Buche antworten, er würde sagen, in welcher neuen Erde die neue Religion sprossen müßte. Ja, ein flammendes Buch gegen Rom, in das er alles legen würde, was er gesehen, was er gehört hatte; ein Buch, das das wahre Rom, das unbarmherzige, lieblose Rom zeigen würde, das im Begriffe war, in der Hoffart seines Purpurs zu sterben! Er wollte nach Paris zurück, aus der Kirche austreten, bis zum Schisma gehen. Nun denn, sein Gepäck lag da, er reiste ab – er würde das Buch schreiben, würde der große, erwartete Schismatiker sein. Ach, kündigt denn nicht alles das Schisma an? Schien es nicht inmitten der seltsamen Bewegung der der Dogmen überdrüssigen und doch nach dem Göttlichen hungernden Geister nahe bevorzustehen? Leo XIII. war sich dessen wohl dumpf bewußt, denn seine ganze Politik, sein Streben nach der christlichen Einheit, seine Zärtlichkeit für die Demokratie hatten keinen andern Zweck, als die Familie um das Papsttum zu gruppiren, sie zu stärken und zu festigen, um den Papst für den nahen Kampf unbesiegbar zu machen. Aber die Zeit war gekommen; der Katholizismus würde bald am Ende der politischen Zugeständnisse angelangt und nicht mehr im stände sein, noch mehr nachzugeben, ohne daran zu sterben. Er würde gleich einem alten, hieratischen Götzen in Rom immobilisirt sein, während er sich anderwärts, in jenen Propagandaländern, wo er sich im Kampf mit den anderen Religionen befand, entwickeln konnte. Darum wohl war Rom verdammt, umsomehr als die Abschaffung der weltlichen Herrschaft, indem sie den Geist an die Vorstellung von einem rein geistigen, vom Boden befreiten Papste gewohnte, es begünstigen zu müssen schien, daß ein Antipapst in der Ferne aufstand, während der Nachfolger des heiligen Petrus gezwungen wäre, bei seiner apostolisch-römischen Fiktion zu beharren. Ein Bischof, ein Priester würde sich erheben. Wo? Wer hätte das zu sagen vermocht? Vielleicht da drüben, in diesem so freien Amerika, unter diesen Priestern, aus denen die Notwendigkeit des Kampfes ums Leben überzeugte Sozialisten, feurige Demokraten gemacht hat, die bereit sind, mit dem nächsten Jahrhundert vorwärts zu gehen. Und während Rom von seiner Vergangenheit, den Mysterien und den Dogmen nichts wird preisgeben können, wird dieser Priester von diesen Dingen alles aufgeben, was von selbst in Staub zerfällt. Dieser Priester, dieser große Reformator, dieser Retter der modernen Gesellschaft zu sein – welch ungeheurer Traum! Es war die Rolle des von den leidenden Volkern erhofften, herbeigerufenen Messias. Einen Augenblick ward Pierre davon bethört; ein Sturm von Hoffnung und Triumph hob ihn empor und trug ihn fort. Und wenn es nicht in Frankreich, in Paris sein konnte, so würde es in der Ferne, da drüben, auf der andern Seite des Ozeans, oder noch weiter, wo immer in der Welt geschehen, auf irgend einem Boden, der fruchtbar genug wäre, damit der neue Same zu üppiger Ernte aufgehe. Eine neue Religion! Eine neue Religion! So hatte er nach Lourdes aufgeschrieen. Eine Religion, die nicht hauptsachlich ein Gelüst nach dem Tode wäre! Eine Religion, die endlich das Reich Gottes, von dem das Evangelium spricht, hienieden verwirklicht, die den Reichtum nach Billigkeit teilte und zugleich mit dem Gesetz der Arbeit Wahrheit und Gerechtigkeit herrschen ließ!
In dem Fieber dieses neuen Traumes sah Pierre bereits die Seiten seines nächsten Buches, in dem er durch die Verkündigung des Gesetzes des verjüngten, befreienden Christentums das alte Rom vollends zerstören würde, vor sich aufflammen. Da fiel sein Blick auf einen Gegenstand, der auf einem Stuhl liegen geblieben war. Anfangs überraschte ihn sein Anblick. Es war auch ein Buch, das Werk Teophil Morins, das der alte Orlando ihm gegeben, damit er es seinem Verfasser zurückstelle; er wurde böse auf sich selbst, als er es erkannte, denn er sagte sich, daß er es sehr leicht hätte vergessen können. Ehe er seinen Handkoffer öffnete, um es hinein zu legen, behielt er es einen Augenblick in der Hand und blätterte darin; seine Gedanken hatten sich plötzlich geändert, als ob mit einemmale ein bedeutendes Ereignis, eine jener entscheidenden Thatsachen eingetreten sei, die eine Welt in Aufruhr bringen. Dennoch war es eines der bescheidensten Werte, das Schulhandbuch für das Baccalaureat und enthielt nichts als die Elemente der Wissenschaften; aber alle Wissenschaften waren darin vertreten und es faßte so ziemlich den gegenwärtigen Stand des menschlichen Wissens zusammen. Mit einem Worte, es war die Wissenschaft, die plötzlich, mit der Wucht, mit der unwiderstehlichen Energie einer allmächtigen, unumschränkten Macht in die Träumerei Pierres einbrach. Sie fegte nicht nur den Katholizismus wie Ruinenstaub hinweg, sondern alle religiösen Begriffe, alle Hypothesen vom Göttlichen schwankten und brachen durch sie zusammen. Dieser bloße Schulauszug, dieses unendlich kleine Schulbuch, der bloße, allgemeine Wunsch nach Wissen, dieser sich täglich ausbreitende, das gesamte Volk ergreifende Unterricht genügte, damit die Mysterien lächerlich wurden, die Dogmen zusammenbrachen und nichts von dem alten Glauben aufrecht blieb. Ein mit Wissenschaft genährtes Volk, das weder an Mysterien und Dogmen, noch an das Entschädigungssystem mittelst Strafen und Belohnungen glaubt, ist ein Volk, dessen Glaube für immer tot ist; und ohne Glauben kann der Katholizismus nicht bestehen. Das ist die Schneide des Hackmessers, das Messer, das herabfällt und durchschneidet. Wenn ein, wenn zwei Jahrhunderte dazu nötig sind, so wird die Wissenschaft sie abwarten. Sie allein ist ewig. Es ist naiv, wenn man sagt, daß die Vernunft dem Glauben nicht zuwider ist und daß die Wissenschaft die Magd Gottes sein muß. Wahr ist, daß von heute ab die heilige Schrift zu Grunde gerichtet ist und daß man sie, um ihre Bruchstücke zu retten, den neuen Gewißheiten anbequemen mußte, indem man zum Symbol Zuflucht nahm. Was für eine außerordentliche Haltung nimmt die Kirche ein, indem sie jedem, der eine den heiligen Büchern zuwiderlaufende Wahrheit entdeckt, verbietet, sich in entschiedener Weise auszusprechen; denn sie erwartet, daß diese Wahrheit eines Tages als Irrtum überführt werden wird! Der Papst allein ist unfehlbar, die Wissenschaft kann fehlen; man beutet ihr fortwährendes Tasten gegen sie aus und liegt auf der Lauer, um ihre Entdeckungen von heute in Widerspruch zu denen von gestern zu stellen. Was kümmern einen Katholiken ihre gotteslästerlichen Behauptungen, was liegt ihm an den Gewißheiten, mit denen sie das Dogma angreift, da er doch überzeugt ist, daß am Ende der Zeiten Wissenschaft und Glaube sich vereinigen werden, so zwar, daß die erstere buchstäblich wieder die Sklavin des letzteren geworden sein wird? War diese freiwillige Verblendung und diese, sogar das Sonnenlicht wegleugnende freche Haltung nicht wunderbar? Und das unterste Büchlein, das Handbuch der Wahrheit, setzte sein Werk fort, indem es allem zum Trotz den Irrtum zerstörte und die künftige Erde baute, wie die unendlich kleinen Teilchen, die Kräfte des Lebens nach und nach die Kontinente erbauten.
In dem hellen Licht, das plötzlich in Pierre entstand, fühlte er sich endlich wieder auf festem Boden stehen. Ist denn die Wissenschaft je zurückgewichen? Der Katholizismus ist es, der unaufhörlich vor ihr zurückweicht und unaufhörlich vor ihr zurückweichen müssen wird. Nie steht sie stille; Schritt für Schritt nimmt sie dem Irrtum die Wahrheit ab, und wenn man sagt, daß sie bankerott macht, weil sie die Welt nicht mit einemmale aufklären könnte, so ist das einfach unvernünftig. Wenn sie dem Geheimnisvollen ein immer geringer werdendes Gebiet läßt und zweifellos immer lassen wird, wenn eine Hypothese immer den Versuch einer Erklärung dieses Geheimnisvollen wird machen können, so ist es darum doch nicht weniger wahr, daß sie die alten Hypothesen – jene, die vor den eroberten Wahrheiten zusammenstürzen – zu Grunde richtet, mit jeder Stunde mehr zu Grunde richten wird. Und der Katholizismus befindet sich in dieser Lage; er wird es morgen noch mehr sein als heute. Wie alle Religionen ist er im Grunde nur eine Auslegung der Welt, ein höherer, sozialer und politischer Kodex, der dazu bestimmt ist, allen Frieden, alles mögliche Glück auf Erden herrschen zu lassen. Dieser Kodex, der die Gesamtheit der Dinge umfaßt, wird somit menschlich und sterblich, wie alles Menschliche. Man vermag ihn nicht abzusondern, indem man sagt, daß er auf der einen Seite durch sich selbst besteht, während die Wissenschaft auf der andern Seite existirt. Die Wissenschaft ist vollständig; das hat sie ihm bereits zu verstehen gegeben, das wird sie ihm wohl noch zu verstehen geben, indem sie ihn nötigt, die fortwährenden Breschen, die sie ihm schlägt, auszubessern – bis zu dem Tage, da sie ihn bei einem letzten Ansturm der leuchtenden Wahrheit hinwegreißen wird. Es gibt Stoff zum Lachen, wenn man sieht, wie Leute der Wissenschaft ihr eine Rolle zuweisen, ihr das Betreten dieses oder jenes Gebietes verbieten, ihr prophezeien, daß sie nicht weiter gehen wird und erklären, daß sie, schon jetzt müde, am Ende dieses Jahrhunderts abdanken wird. Ach, ihr kleinen Menschen, ihr beschränkten oder schlecht gebauten Gehirne, ihr Aushilfspolitiker, ihr Dogmatiker in den letzten Zügen, ihr, die ihr beharrlich die alten Träume wieder träumen wollt! Die Wissenschaft wird über euch fegen und euch forttragen wie trockene Blätter!
Und Pierre blätterte in dem einfachen Buche weiter und lauschte auf das, was es ihm von der hehren Wissenschaft erzählte. Sie kann nicht bankerott machen, denn sie, die einfach die allmäliche Eroberung der Wahrheit ist, verspricht nicht das Absolute. Nie hat sie sich angemaßt, die vollständige Wahrheit mit einemmale zu geben; gerade diese Art System ist Sache der Metaphysik, der Offenbarung, des Glaubens. Die Rolle der Wissenschaft liegt im Gegenteil nur darin, daß sie den Irrtum zerstört, je mehr sie fortschreitet und die Helle vergrößert. Somit bleibt sie in ihrem unaufhaltsamen Lauf, weit davon entfernt, Bankerott zu machen, die einzige Wahrheit, die für gesunde und gleichmäßige Köpfe denkbar ist. Was jene betrifft, die sie nicht befriedigt, jene, die das rufende Bedürfnis nach der vollständigen und unmittelbaren Erkenntnis empfinden, so bleibt ihnen das Hilfsmittel, zu irgend einer religiösen Hypothese Zuflucht zu nehmen; freilich unter der Bedingung, daß, wenn sie scheinbar recht behalten wollen, ihre Chimäre nur auf den erworbenen Gewißheiten aufbauen. Alles, was auf erwiesenem Irrtum aufgebaut wird, bricht zusammen. Wenn das religiöse Gefühl im Menschen weiterlebt, wenn das Bedürfnis nach einer Religion ewig ist, so folgt daraus nicht, daß der Katholizismus ewig ist; denn er ist eigentlich nur eine Religionsform, die nicht immer existirt hat, der andere Religionsformen vorausgingen und andere folgen werden. Die Religionen können verschwinden, das religiöse Gefühl wird andere schaffen, sogar mit Hilfe der Wissenschaft. Und Pierre dachte an jene angebliche Schlappe, die die Wissenschaft durch das gegenwärtige Erwachen des Mystizismus erlitten hatte. Er hatte dessen Gründe in seinem Buche angegeben: erstens den Niedergang des Freiheitsgedankens unter dem Volke, das bei der letzten Teilung betrogen ward, und zweitens das Unbehagen der bevorzugten Klasse, die über die Leere, in der ihre befreite Vernunft, ihr erweiterter Geist sie zurücklassen, verzweifelt ist. Es ist die Angst vor dem Unbekannten, die wieder erwacht; aber das ist nur eine natürliche, flüchtige Reaktion nach so viel Arbeit, im ersten Augenblick, da die Wissenschaft noch weder unsern Durst nach Gerechtigkeit, noch unser Verlangen nach Sicherheit, noch unsere uralte Vorstellung vom Glück befriedigt, die im Ueberleben, im ewigen Genießen besteht. Damit der Katholizismus, wie man verkündet, wieder erstehen kann, müßte der soziale Boden geändert werden; der aber vermag sich nicht zu ändern; er besitzt nicht mehr den nötigen Saft zur Erneuerung einer hinfälligen Formel, die die Schulen und Laboratorien täglich mehr töten. Der Boden hat sich verändert; eine andere Eiche wird darauf wachsen. Möge doch die Wissenschaft ihre Religion haben, wenn eine aus ihr sprossen muß! Denn diese Religion wird bald die einzig mögliche für die Demokratie von morgen, für die immer kenntnisreicheren Völker sein, bei denen der Katholizismus schon jetzt nur mehr Asche ist.
Und Pierre kam plötzlich zu einem Schluß, indem er an die Dummheit der Indexkongregation dachte. Sie hatte sein Buch verdammt und würde sicherlich auch das neue Buch, dessen Plan ihm eben aufgestiegen war, verdammen, falls er es je schreiben würde. Wahrlich, ein schönes Geschäft, arme Bücher schwärmerischer Träumer zu vernichten, Chimären, die sich wütend über Chimären stürzten! Und dieses kleine Schulbuch, das er da in den Händen hielt, diesen einzigen furchtbaren, stets triumphirenden Feind, der die Kirche sicherlich stürzen wird, hatte sie in ihrer Dummheit nicht mit dem Interdikt belegt! Es half nichts, daß es sich als armes Schulbuch so bescheiden gab: die Gefahr begann bei dem Alphabet, das die kleinen Kinder buchstabirten, sie wuchs, je mehr Kenntnisse der Schulplan aufnahm, sie kam zum Ausbruch mit den Ergebnissen der Physik, Chemie und Naturlehre, die die Schöpfung des Gottes der heiligen Schrift wieder in Frage stellten. Aber das Schlimmste war, daß der bereits entwaffnete Index diese bescheidenen Bücher, diese furchtbaren Soldaten der Wahrheit, diese Zerstörer des Glaubens nicht zu unterdrücken wagte. Welchen Wert hatte also all das Geld, das Leo XIII. dem verborgenen Schatze des Peterspfennigs entnahm, um damit die katholischen Schulen auszustatten, um dort das gläubige Geschlecht von morgen zu formen, dessen das Papsttum zu seinem Siege bedurfte! Welchen Wert besaß die Schenkung dieses kostbaren Geldes, wenn es nur zum Ankauf dieser geringen und furchtbaren Bücher diente! Niemals würde man sie genügend säubern können, denn sie enthielten stets zu viel Wissenschaft, jene wachsende Wissenschaft, deren Ausbruch zuletzt eines Tages den Vatikan und St. Peter in die Luft sprengen würde! Ach, was für ein Elend, was für ein Hohn war der alberne, nichtige Index!
Nachdem Pierre das Buch Theophil Morins in seinen Handkoffer gesteckt hatte, kehrte er ans Fenster zurück und hatte dort eine seltsame Vision. In der so milden und so traurigen Nacht, an dem wolkigen, von dem rostfarbigen Mond gelb gefärbten Himmel hatten sich schwebende Nebel erhoben, die die Dächer teilweise hinter ihren schleppenden, Leichentüchern gleichenden Fetzen verbargen. Ganze Gebäude waren vom Horizont verschwunden. Und er stellte sich vor, daß die Zeit sich erfüllt, daß die Wahrheit den Dom von St. Peter in die Luft gesprengt hatte. In hundert oder in tausend Jahren würde er somit zusammengebrochen, geschleift unter dem dunklen Himmel liegen. An dem aufregenden Tage, da er eine Stunde in ihm zubrachte, hatte er wohl gemerkt, daß er unter ihm schwanke und berste; mit Verzweiflung erblickte er von oben das eigensinnig bei dem Purpur der Cäsaren beharrende päpstliche Rom und sah von damals an voraus, daß dieser Tempel des katholischen Gottes zusammenbrechen würde, so wie der Tempel des Jupiter auf dem Kapitol zusammengebrochen war. Das war nun geschehen; der Dom hatte den Boden mit seinen Trümmern besät und nichts war mehr von ihm übrig als ein Stück des Chors mit fünf Säulen des Mittelschiffes, die noch ein Stück des Simses stützten. Insbesondere aber standen die vier Säulen des Kreuzarmes, die den Dom getragen hatten, die cyklopischen Pfeiler noch immer einsam und stolz, wie unzerstörbar unter den umliegenden Trümmern. Dichtere Nebel wälzten sich dahin; noch weitere tausend Jahre verstrichen zweifellos und nichts mehr blieb übrig. Jetzt waren auch die letzten Säulen, der Chor, sogar die riesigen Pfeiler niedergeworfen worden. Der Wind hatte ihren Staub davongetragen; man hätte den Boden durchglühen müssen, um unter den Nesseln und Dornen einige Bruchstücke von zerbrochenen Statuen, von Marmorplatten mit Inschriften zu finden, über deren Sinn die Gelehrten sich nicht einigen konnten. So wie einst am Kapitol, unter den verschütteten Trümmern des Jupitertempels, kletterten Ziegen in der Einsamkeit, in der großen, bloß von dem Summen der Fliegen ausgefüllten Stille träger Sommermittage umher und nährten sich von Sträuchern.
Jetzt erst fühlte Pierre, wie völlig alles in ihm zusammengebrochen war. Es war ganz aus; die Wissenschaft war Siegerin, von der alten Welt blieb nichts übrig. Wozu der Schismatiker, der erwartete Reformator sein? Hieß das nicht einen neuen Traum aufbauen? Nur der ewige Kampf der Wissenschaft gegen das Unbekannte, ihre Untersuchung, die im Menschen den Durst nach dem Göttlichen unablässig hetzte und verminderte, schien ihm jetzt von Wert zu sein und ließ ihn darauf harren, ob sie je derart triumphiren würde, daß sie der Menschheit eines Tages durch die Befriedigung aller ihrer Bedürfnisse Genüge thäte. In dem Bankerott seiner Apostelbegeisterung, angesichts der Ruinen, die sein ganzes Wesen, seinen toten Glauben, seine tote Hoffnung, den alten Katholizismus für die soziale und moralische Rettung zu benützen, bedeckten, hielt ihn nur noch die Vernunft aufrecht. Einen Augenblick hatte sie geschwankt. Daß er sein Buch geträumt, daß er diese zweite, schreckliche Krisis durchgemacht hatte, kam daher, weil sein Gefühl von neuem den Sieg über seine Vernunft davongetragen hatte. Beim Anblick der Leiden der Unglücklichen, bei dem unwiderstehlichen Wunsch, ihnen zu helfen, um die nahen Gemetzel zu beschwören, hatte seine Mutter in ihm zu weinen begonnen; so ließ ihn sein Bedürfnis nach Nächstenliebe die Bedenken seines Verstandes vergessen. Jetzt hörte er die Stimme seines Vaters, die hohe Vernunft, die grimmige Vernunft – die Vernunft, die einen Augenblick verdunkelt werden konnte, aber majestätisch wiederkehrte. So wie nach Lourdes protestirte er gegen die Verherrlichung des Lächerlichen und den Verfall des gesunden Menschenverstandes. Er war die Vernunft. Sie allein ließ ihn fest und aufrecht unter den Trümmern der alten Ueberzeugungen, sogar inmitten der Dunkelheiten und Fehlgeburten der Wissenschaft einherschreiten. Ach, die Vernunft! Nur durch sie würde er leiden, nur durch sie würde er befriedigt werden; er schwor, ihr, seiner einzigen Herrin, immer mehr Genüge zu thun, und wenn er auch das Glück dabei lassen müßte!
Was er anfangen würde? Es wäre vergebliche Mühe gewesen, das in dieser Stunde erfahren zu wollen. Alles hing in Schwebe; er hatte die ungeheure Welt vor sich. Sie war noch von den Ruinen der Vergangenheit versperrt, aber vielleicht schon morgen von ihnen befreit. Da drüben, in der traurigen Vorstadt, würde er den guten Abbé Rose wiederfinden, der ihm erst tags zuvor geschrieben hatte, er möge zurückkommen, recht rasch zurückkommen, um seine Armen zu pflegen, um sie zu lieben, zu retten, da dieses aus der Ferne so strahlende Rom sich der Barmherzigkeit taub verschloß. Und rings um den guten, friedlichen Priester würde er auch die fortwährend wachsende Flut der Unglücklichen wiederfinden – die aus dem Neste gefallenen, vor Hunger bleichen, vor Kälte zitternden Kleinen, die er auflas – die in entsetzlicher Not lebenden Familien, wo der Vater trinkt, die Mutter sich preisgibt, die Söhne und Töchter dem Laster und dem Verbrechen anheimfallen – ganze Häuser, durch die der Hunger strich – der widrigste Schmutz, die schmachvollste Gemeinschaftlichkeit – keine Möbel, keine Wäsche – ein tierisches Leben, das Befriedigung und Erleichterung sucht, wie es kann, wie Instinkt und Zufall es mit sich bringen. Dann kämen wieder die Winterfröste, das Unglück der Arbeitseinstellung, die Schwindsucht, die die Schwachen wie ein Stoßwind wegraffte, während die Starken, von Rache träumend, die Faust ballten. Eines Abends würde er vielleicht wieder in ein Schreckensgemach treten, in dem eine Mutter sich mit ihren fünf Kleinen getötet hätte. Die Jüngstgeborenen hielte sie im Arm, an ihrer leeren Brust, die anderen lägen zerstreut auf der kahlen Diele, im Tode endlich glücklich und gesättigt. Nein, nein, dieses finstere, zum Selbstmord führende Elend inmitten des großen, von Reichtum strotzenden, genußtrunkenen Paris, das für Vergnügungen Millionen auf die Straße streute, war nicht mehr möglich! Das soziale Gebäude war in seinen Grundfesten verfault, alles brach in Kot und Blut zusammen. Noch nie hatte er es so tief empfunden, wie nutzlos und trügerisch die Wohlthätigkeit war. Und mit einemmale ward er sich bewußt, daß das erwartete Wort, das Wort, das endlich aus dem Munde des großen, uralten Stummen, des zermalmten und geknebelten Volkes hervorbrach, das Wort »Gerechtigkeit« war. Ja, ja, Gerechtigkeit, nicht mehr Barmherzigkeit! Die Barmherzigkeit hatte das Elend nur verewigt; die Gerechtigkeit wird es vielleicht heilen. Nach Gerechtigkeit hungerten die Unglücklichen; nur ein Akt der Gerechtigkeit konnte die alte Welt hinwegfegen, um die neue wieder aufzubauen. Der große Stumme würde weder dem Vatikan noch dem Quirinal, weder dem Papst noch dem König gehören; in seinem langen, bald geheimen, bald offenen Kampf durch alle Zeiten hatte er nur so dumpf gegrollt und sich zwischen Pontifex und Kaiser, die ihn jeder für sich allein haben wollten, nur so gewehrt, um sich zu fassen, um an dem Tage, da er »Gerechtigkeit« schreien würde, auszusprechen, daß er niemand gehören wolle. Sollte dieser Tag der Gerechtigkeit und Wahrheit also endlich schon morgen anbrechen? In seiner Herzensangst, geteilt zwischen dem Bedürfnis nach dem Göttlichen, das den Menschen quält, und der Oberherrschaft der Vernunft, die ihm hilft, am Leben zu bleiben, war Pierre nur von einem überzeugt: er wollte seinen Schwur halten, als Priester ohne Glauben über den Glauben der anderen wachen und seinem Berufe keusch und ehrenhaft obliegen, voll stolzer Trauer, daß er seiner Intelligenz nicht habe entsagen können, so wie er seiner Liebessinnlichkeit und seinem Traum, der Retter der Völker zu werden, entsagt hatte. Und von neuem, gerade so wie nach Lourdes, wollte er warten.
Aber seine Betrachtungen an diesem Fenster, angesichts dieses von Dunkel überzogenen Rom, dessen Gebäude die Nebelflut zu schleifen schien und überschwemmte, waren so tief geworden, daß er nicht hörte, wie eine Stimme ihn rief. Er hörte nicht eher, als bis eine Hand seine Schulter berührte.
»Herr Abbé, Herr Abbé!«
»Es ist halb zehn,« sagte Victorine, als er sich endlich umdrehte. »Der Fiaker ist unten, Giacomo hat das Gepäck schon hinuntergetragen. Sie müssen fort, Herr Abbé.«
Dann, als sie sah, daß seine Lider noch ganz erschreckt zuckten, lächelte sie.
»Sie haben von Rom Abschied genommen. Der Himmel sieht recht häßlich aus.«
»Ja, recht häßlich,« sagte er einfach.
Nun gingen sie hinab. Er hatte ihr eine Hundertfranknote übergeben, die sie mit den Bedienten teilen sollte. Sie entschuldigte sich, daß sie die Lampe nehme und ihm vorangehe, »denn« erklärte sie, »man sehe kaum einen Schritt vor sich, so finster sei der Palast heute abend.«
Ach, diese Abreise, dieser letzte Gang durch den finstern und leeren Palast! Pierre ward davon erschüttert. Er hatte den letzten Abschiedsblick über sein Zimmer geworfen; solch ein Abschied erfüllte ihn immer mit Verzweiflung und riß ein Stück von seiner Seele ab, selbst wenn er ein Zimmer verließ, in dem er gelitten hatte. Dann, vor dem Zimmer Don Vigilios, aus dem nur eine schauernde Stille hervordrang, stellte er sich vor, wie er den Kopf in die Kissen drückte, den Atem zurückhielt, aus Furcht, daß sein Atem noch sprechen und die Rache auf ihn herabziehen könne. Aber besonders auf den Treppenabsätzen des zweiten und ersten Stockwerks, vor den geschlossenen Thüren Donna Serafinas und des Kardinals erzitterte er, da er gar nichts, nicht einmal einen Hauch hörte; es war als ginge er an Gräbern vorüber. Seit ihrer Rückkehr vom Begräbnis hatten sie kein Lebenszeichen gegeben; sie hatten sich eingeschlossen und damit auch das ganze Haus in Unbeweglichkeit versetzt. Man konnte weder ein gewispertes Gespräch noch den leisen Tritt eines Dieners vernehmen. Victorine ging, die Lampe in der Hand haltend, immer weiter und Pierre folgte ihr, indem er an die beiden dachte, die in dem zerstörten Palaste zurückblieben – die letzten aus einer halb zerfallenen, an der Schwelle einer neuen Welt stehenden Welt. Dario und Benedetta hatten alle Lebenshoffnung mitgenommen; nichts mehr war übrig geblieben als die alte Jungfer und der unfruchtbare Priester. Eine Auferstehung war nicht mehr möglich. Ach, diese endlosen, düster dunklen Korridore, die kalte, riesenhafte Treppe, die in Nichts hinabzuführen schien, diese ungeheuren Säle, deren Mauern vor Armut und Vernachlässigung barsten! Und der innere, friedhofähnliche Hof, mit seinem Unkraut, mit seinem Portikus, unter dem Venus- und Apollotorsen faulten! Und das einsame, von den reifen Orangen durchduftete Gärtchen, das niemand mehr betreten würde – jetzt, da man unter dem Lorbeerbaum, neben dem Sarkophag, nie mehr die herrliche Contessina treffen konnte! All das ging in der furchtbaren Trauer, in der Stille des Todes unter, und die beiden letzten Boccanera brauchten in ihrer wilden Größe nur noch abzuwarten, bis ihr alter Palast, gleich ihrem Gotte, über ihrem Haupte zusammenbrach. Und Pierre vernahm nichts anderes als ein ganz leises Geräusch, das zweifellos von trippelnden Mäusen herrührte. Vielleicht waren die Zähne eines Nagetiers, der Abbé Paparelli, irgendwo in den abgelegenen Zimmern dabei, die Mauern zu zerbröckeln, das alte Haus von unten aus endlos anzufressen, um seinen Zusammenbruch zu beschleunigen.
Der Fiaker mit seinen zwei Laternen, deren zwei gelbe Strahlen das Dunkel der Straße durchbrachen, hielt vor der Thür. Das Gepäck war schon aufgeladen; die kleine Kiste lag neben dem Kutscher, der Handkoffer auf dem Rücksitz.
Der Priester stieg sogleich ein.
»O, Sie haben Zeit,« sagte Victorine, die auf dem Trottoir stehen geblieben war. »Es fehlt nichts; ich freue mich, daß Sie so bequem wegfahren.«
In dieser letzten Minute tröstete es ihn, diese Landsmännin, diese gute Seele zur Seite zu haben, die ihn am Tage seiner Ankunft empfangen hatte und ihm nun bei der Abreise das Geleite gab.
»Ich sage nicht ›auf Wiedersehen‹, Herr Abbé, denn ich glaube nicht, daß Sie sobald wieder in ihre verteufelte Stadt zurückkommen werden ... Adieu, Herr Abbé.«
»Adieu, Victorine. Und ich danke Ihnen, von ganzem Herzen.«
Das Pferd hatte sich bereits in raschen Trab gesetzt und der Wagen bog in die engen, gewundenen Straßen, die zum Corsa Victor Emanuel führen. Es regnete nicht; das Wagendach war nicht hinaufgeschlagen worden, aber trotzdem die feuchte Luft milde war, ward dem Priester sofort kalt. Er wollte jedoch keine Zeit verlieren, indem er den Kutscher halten ließ; diesmal war es ein Schweigsamer, der nur Eile zu haben schien, seinen Fahrgast loszuwerden.
Als Pierre auf den Corso Victor Emanuel hinausgelangte, war er überrascht, ihn zu dieser noch frühen Nachtstunde schon so einsam zu finden. Die Häuser waren verrammelt, die Trottoirs leer, nur die elektrischen Lampen brannten in der schwermütigen Einsamkeit. Wahrlich, es war gar nicht warm und der Nebel schien zuzunehmen, die Fassaden immer mehr zu überschwemmen. Als er an der Cancelleria vorbeikam, schien es ihm, daß das streng regelmäßige, gewaltige Gebäude weiter hinausrücke, verschwinde; und weiterhin, rechts, am Ende der von wenigen, rauchigen Gashähnen erhellten Via d'Aracoeli war das Kapitol in völliger Finsternis untergegangen. Dann verengerte sich der breite Torso und der Wagen fuhr zwischen den zwei düsteren, erdrückenden Massen des dunklen Il Gesu und des schwerfälligen Palazzo Altieri durch. In diesem engen Korridor nun, wo selbst an schönen sonnigen Tagen die ganze Feuchtigkeit der alten Zeiten fühlbar ward, gab er sich, Leib und Seele von Schauer ergriffen, einer neuen Träumerei hin.
Plötzlich erwachte in ihm wieder jener Gedanke, der ihn schon manchmal beunruhigt hatte: nämlich, daß die von da unten, von Asien ausgegangene Menschheit immer in der Richtung der Sonne gewandert sei. Stets hatte ein Ostwind geweht, der den menschlichen Samen für die künftige Ernte gen Westen trug. Schon seit langer Zeit hatte Zerstörung und Tod die Wiege getroffen; es war, als könnten die Völker nur etapenweise vorrücken, indem sie einen erschöpften Boden, zerstörte Städte, dezimirte und entartete Bevölkerungen hinter sich ließen, je weiter sie von Sonnenaufgang gegen Sonnenuntergang, dem unbekannten Ziele zuschritten. Ninive und Babylon an den Ufern des Euphrat, Theben und Memphis an den Ufern des Nil waren in Staub zerfallen, vor Alter und Müdigkeit in eine tödliche Betäubung versunken, aus der kein Erwachen möglich war. Von da aus hatte diese Abgelebtbeit die Küsten des großen Mittelmeeres ergriffen, Tyrus und Sidon im Staube der Zeit begraben und späterhin das in voller Pracht von Altersschwäche heimgesuchte Karthago eingeschlummert. Diese vorwärts schreitende Menschheit, die von der verborgenen Kraft der Zivilisationen derart vom Orient dem Occident zugewälzt ward, bezeichnete ihre Tagreisen mit Ruinen. Welch furchtbare Sterilität besitzt heute diese Wiege der Geschichte, dieses Asien, dieses Aegypten, die zum Lallen der Kindheit zurückkehrten und unbeweglich, in Unwissenheit und Hinfälligkeit auf den Trümmern der antiken Hauptstädte, der einstigen Herrinnen der Welt liegen!
Während des Fahrens, mitten in seinem Sinnen, hatte Pierre die Empfindung, daß der in Nacht gehüllte Palazzo di Venezia unter irgend einem Ansturm des Unsichtbaren zusammenzubrechen scheine. Der Nebel hatte seine Zinnen umzogen; die hohen, kahlen, so furchtbaren Mauern bogen sich unter dem Druck des wachsenden Dunkels. Nach dem tiefen, grabenähnlichen Corso links, der ebenfalls einsam unter dem weißlichen Licht der elektrischen Lampen dalag, erschien rechts der Palazzo Torlonia, dessen einer Flügel von der Haue der Niederreißer aufgerissen war; weiterhin dagegen, wieder links, zog sich die düstere Fassade des Palazzo Colonna mit ihren geschlossenen Fenstern hin, als ob der von seinen Herren verlassene, seines einstigen Prunkes beraubte Palast ebenfalls die Niederreißer erwarte.
Während nun der Wagen langsam weiterrollte und die Via Nazionale hinaufzufahren begann, spann sich Pierres Träumerei fort. Hatte die Zerstörung, die die vorwärtsschreitenden Völker fortwährend hinter sich ließen, nicht nun auch Rom ergriffen? War nicht auch seine Stunde des Verschwindens gekommen? Griechenland, Athen und Sparta schlummerten in ihren glorreichen Erinnerungen und zählten für die heutige Welt nicht mehr. Der ganze untere Teil der italienischen Halbinsel war bereits von der fortschreitenden Lähmung ergriffen. Nun war, gleichzeitig mit Neapel, Rom an der Reihe. Es befand sich an der Grenze der Ansteckung, am Rande jenes Todesfleckens, der sich unablässig über den alten Kontinent ausbreitet, an jenem Rande, wo der Todeskampf eintritt, wo die erschöpfte Erde keine Städte mehr nähren oder tragen will, wo die Menschen selbst von ihrer Geburt an von Altersschwäche befallen zu sein scheinen. Seit zwei Jahrhunderten ging Rom abwärts, schied nach und nach aus dem modernen Leben aus, besaß keinen Handel, keine Industrie mehr, ja sogar keine Wissenschaft, keine Literatur und Kunst. Nun war es nicht allein St. Peter, der zusammenbrach, der so wie einst der Tempel des Jupiter Capitolinus das Gras mit seinen Trümmern besäte. In seiner finstern, schmerzlichen Träumerei sah Pierre ganz Rom mit einem letzten Krachen zusammenbrechen, die sieben Hügel mit dem Chaos seiner Ruinen bedeckten. Die Basiliken, die Paläste, ganze Viertel waren verschwunden und ruhten unter den Nesseln und Dornen. Gleich Ninive und Babylon, gleich Theben und Memphis war Rom nur mehr eine flache Ebene, bedeckt mit Trümmern, unter denen man vergeblich die Stelle der alten Gebäude zu erkennen versuchte. Nur Schlangen und Banden von Ratten bewohnten sie.
Der Wagen beschrieb eine Wendung und Pierre erkannte rechts in einer ungeheuren, nachtdunklen Bucht die Trajanssäule. Aber zu dieser Stunde war sie ganz schwarz, wie der abgestorbene Stamm eines Riesenbaumes, dessen Zweige durch sein hohes Alter abgefallen sind. Und weiter oben, als er, während er über den dreieckigen Platz fuhr, den Blick hob, erschien ihm der Baum, den er an dem bleifarbenen Himmel bemerkte – die Schirmpinie der Villa Aldobrandini, die dort wie die Anmut und der Stolz Roms selbst stand – fortan nur mehr wie ein Schmutzfleck, wie eine kleine Kohlenstaubwolke, die aus dem vollständigen Zusammenbruch der Stadt aufstieg.
Jetzt, am Ende dieses tragischen Traumes, wurde sein von unruhiger Bruderliebe erfülltes Herz von Entsetzen erfaßt. Wenn die durch die gealterte Welt gehende Erstarrung Rom überschritten, wenn sie die Lombardei erfaßt haben wird, wenn Genua, Turin und Mailand so einschlafen werden, wie Venedig bereits schläft, dann kommt also die Reihe an Frankreich. Sie wird über die Alpen gehen, der Sand wird die Häfen Marseilles gleich denen von Tyrus und Sidon zuschütten, Lyon in Einsamkeit und Schlummer versinken und zuletzt wird Paris, von der unbesiegbaren Betäubung ergriffen, in ein unfruchtbares, mit Disteln bewachsenes Steinfeld verwandelt, sich Rom, Ninive und Babylon im Tode anschließen, während die Völker ihren Marsch von Sonnenaufgang gen Sonnenuntergang mit der ewigen Sonne fortsetzen werden. Ein lauter Schrei drang durch das Dunkel – der Todesschrei der lateinischen Rasse. Die Geschichte, die in dem Becken des Mittelmeeres geboren zu sein schien, veränderte ihren Platz und der Atlantische Ozean ward heute der Mittelpunkt der Welt. Wie hoch stand der Tag der Menschheit? Befand sich die Menschheit, die von da unten, von der Wiege, von Sonnenaufgang ausgegangen war und von Etape zu Etape ihren Weg mit Ruinen bestreut hatte, in der Mitte des Tages, wenn der Mittag flammt? Dann also begann die andere Hälfte des Tages, dann kam die neue Welt nach der alten, dann waren die Städte Amerikas, wo die Demokratie vorbereitet wird, wo die Religion von morgen keimt, die herrschenden Königinnen des nächsten Jahrhunderts. Und dann kam, da unten, jenseits eines zweiten Ozeans, auf der andern Seite der Erde, der Wiege wieder sich nähernd, der unbewegliche äußerste Orient, das geheimnisvolle China und Japan, die ganze, drohende Zunahme der gelben Rasse.
Aber in dem Maße, wie der Fiaker die Via Nazionale hinanfuhr, fühlte Pierre den Alpdruck von sich weichen. Es wehte eine leichtere Luft und etwas mehr Hoffnung und Mut kehrten in ihn zurück. Die Bank jedoch machte ihm in ihrer neuen Häßlichkeit, ihrer noch kreidigen Ungeheuerlichkeit den Eindruck eines Gespenstes, das in seinen Totentüchern durch die Nacht wandert; der Quirinal hingegen bildete über den unbestimmten Garten nur eine schwarze, den Himmel durchkreuzende Linie. Aber die Straße stieg immer mehr an, erweiterte sich immer mehr und auf dem Gipfel des Viminal, auf dem Thermenplatz, als Pierre an den Ruinen des Diokletian vorbeifuhr, atmete er tief auf. Nein, nein, der Tag der Menschheit konnte kein Ende nehmen, er war ewig und die Etapen der Zivilisation würden einander endlos folgen. Was lag an dem Ostwind, der die gleichsam von der Kraft der Sonne getriebenen Völker nach Westen trug? Wenn es sein müßte, würden sie auf der andern Seite der Erdkugel zurückkommen, und mehrmals die Runde um die Erde machen, bis sie sich eines Tages in Frieden, Wahrheit und Gerechtigkeit niederlassen konnten. Nach der nächsten Zivilisation am Atlantischen Ozean, der nun der Mittelpunkt geworden und von herrschenden Städten besetzt sein wird, würde abermals eine Zivilisation erstehen, ihr Mittelpunkt würde der Stille Ozean sein, mit Küstenhauptstädten, die man noch nicht voraussehen konnte, deren Keime noch an unbekannten Gestaden schlummerten. Dann kamen wieder andere, immer wieder andere, bis in Unendlichkeit! Und in dieser letzten Minute kam ihm der zuversichtliche, rettende Gedanke, daß die große Bewegung der Nationen der Instinkt, das Bedürfnis der Völker nach einer Rückkehr zur Einheit war. Von einer einzigen Familie ausgegangen, strebten sie, obwohl sie sich später getrennt, in Stämme zerstreut und mit brudermörderischem Haß angefallen haben, wieder dahin, eine einzige Familie zu werden. Die Provinzen vereinigten sich zu Völkern, die Völker vereinigten sich zu Rassen und die Rassen würden sich zuletzt zu der einzigen, unsterblichen Menschheit vereinigen. Endlich eine Menschheit ohne Grenzen, ohne Kriege – eine Menschheit, die von der gerechten Arbeit, in allgemeiner Gütergemeinschaft lebt! War das nicht die Evolution, das Ziel der überall stattfindenden Arbeit, die Lösung der Geschichte? Möge doch Italien ein gesundes, starkes Volk werden, möge doch Eintracht zwischen ihm und Frankreich entstehen, möge diese Brüderlichkeit der lateinischen Rassen der Beginn der allgemeinen Brüderlichkeit werden! Ach, ein einziges Vaterland, eine beruhigte und glückliche Erde! In wie viel Jahrhunderten wird das sein? Und welch ein Traum war das?
Auf dem Bahnhof, inmitten des Gedränges, dachte Pierre nicht mehr. Er mußte seine Karte nehmen, sein Gepäck aufgeben und stieg sofort in den Waggon. Uebermorgen, bei Tagesanbruch, würde er in Paris sein.