Heinrich Zschokke
Die Rose von Disentis
Heinrich Zschokke

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40.
Ein Abschiedswort.

Des Landrichters Gemahlin empfing den Schützenhauptmann, wie die wohlthätige Erscheinung eines schirmenden Engels. Sie hatte nicht an seinem guten Willen gezweifelt, das ihr gegebene Versprechen zu lösen; aber für Rettung seines Lebens aus dem Kriegssturme gezittert, in welchem er unfrei fortgerissen worden war. Und obwohl sie unter allen Bewohnern von Disentis, kraft ihres Schutzbriefes, vielleicht am wenigsten die Rache der französischen Truppen zu fürchten hatte, war es ihr doch eine Beruhigung, einen Mann von Geist und Muth zur Seite zu haben, der sich selbst noch zum französischen Militär zählen konnte.

Das Beste, was Küche und Keller zu gewähren im Stande waren, wurde den beiden Abenteurern sofort freudig aufgetischt. Nichts in der Welt konnte den ehrlichen Uli besser trösten; er wurde wieder der mit seinem Schicksal zufriedenste Mann von der Welt. Denn, die stillen Leiden eines leeren Magens ungerechnet, hatte ihn nicht geringe Sorge gequält, wohin, bei dem Umschwunge der Dinge, seine ehrenwerthe Person in Sicherheit zu bringen sei. Als ein, wenn auch untergeordneter Anführer im Aufruhr, mußte er nun, gleich Anderen, ein landesflüchtiger Bettler werden, oder, wenn er blieb, von den Franzosen einer Kugel vor den Kopf gewärtig sein. Aus dieser bitteren Verlegenheit hatte ihn Herr Prevost schon unterwegs durch die Zusage gerettet, er wolle ihn, als seinen Diener, bei sich halten; und in dieser Eigenschaft empfing er auch von der Herrin des Schlosses sogleich Wohnung in dem alterthümlichen Gebäude. Ihr selbst aber gereichte es dabei zu einigem Troste, die kleine Besatzung ihrer Burg verstärkt zu sehen.

Nachdem Flavian ihr die Unglücksgeschichte des dreitägigen Feldzuges ausführlich vorgetragen hatte, sagte sie: Ich sehe es Ihren schlaftrunkenen Augen an, Sie sehnen sich nach Ruhe. Ich gönne sie Ihnen. Morgen, mein gütiger Freund, plaudern wir mehr. Nur noch zwei Worte. Ich habe Ihnen einen Brief des Paters Gregor zu übergeben. Der würdige alte Herr ist gestern oder heute im Gefolge des Abtes abgereist; wohin? ist mir unbekannt. Er bedauerte, Sie nicht mehr gesehen zu haben. Es ist nicht ganz recht, daß in einer so verhängnißschweren Zeit die frommen Hirten am ersten ihre Heerde verlassen, und sie einem schrecklichen Loose preisgeben, das vielleicht, ohne ihre Mitschuld, kaum so gekommen wäre. – Auch das Fräulein von Stetten hat sich geflüchtet.

So bin ich, fiel Flavian ein, meiner Verpflichtungen ledig, und kann mich, es komme, wie es wolle, nun Ihren Diensten, gnädige Frau, ausschließlich widmen.

Nein, lieber Hauptmann, nicht also; nicht länger, bis, nach Ankunft der französischen Truppen, die wahrscheinliche Gefahr für unser Haus vorüber gegangen sein wird. Länger halte ich Sie nicht zurück. Ich bin darin mit dem Fräulein von Stetten einverstanden. Gestern reiste die unglückliche Dame nach Brigels hinauf, wo sie bei einem meiner Bekannten, dem Ammann, welchem ich sie empfahl, mit ihrer Kranken, einstweilen wohl verwahrt sein wird. Dort, wenige Stunden Weges von hier, werden Sie von ihr erwartet.

Flavian unterwarf sich willig allen Wünschen und Anordnungen der Frau von Castelberg. – Nachdem sie ihn entlassen hatte, begab er sich in sein Zimmer, und las den Brief des Paters. Der Inhalt des freundlichen Schreibens, soviel Räthselhaftes es auch enthielt, wurde so anziehend und erregend für ihn, daß er es mehrmals durchlas und darüber fast den Schlaf verlor.

»Wer weiß,« hieß es darin, »ob ich Sie, mein lieber, junger Freund, je in diesem Leben wieder erblicke. In Tagen, gleich den gegenwärtigen, ist jede Zuversicht auf die nächste Stunde Verwegenheit. Ungern, doch gehorsam, muß ich, nebst einigen anderen Kapitularen, unseren gnädigen Herrn auf der Flucht in's Zurathal, nach Olivone, begleiten. Vielleicht erlaubt er mir aber, wie ich hoffe, noch unterwegs, die Rückkehr nach Disentis; denn meine Kräfte sind den Anstrengungen einer so angreifenden Reise über die rauhen Berge nicht mehr gewachsen. Auf jeden Fall jedoch nehme ich von Ihnen Abschied; Sie sind mir, durch Ihre tüchtige Gesinnungsweise, von Herzen werth und lieb geworden.«

»Das Haus Castelberg darf ich Ihnen nicht erst empfehlen; wohl aber wage ich eine flehentliche Fürsprache für das Fräulein Pauline von Stetten. Ich kenne sie von früheren Jahren her aus Deutschland. Sie war meine Freundin; sie ist es noch; und leider, zum Theil ist sie durch meine Schuld in diese unheilvolle Gegend verschlagen. Sie kam vor wenigen Monaten, einer Frau von Salis in Chur empfohlen, nach Bünden; dann hierher zum Besuch, wo Frau von Castelberg ihr unendlich viele Güte erwies. Da wurde sie durch das Einrücken der französischen Truppen, durch die aufrührerischen Volksbewegungen, durch die allgemeine Unsicherheit im Lande überrascht, und gezwungen, länger, als sie anfänglich wollte, zu verweilen. Ich selbst rieth dazu; sie schien mir hier, als Oesterreicherin, sicherer, als in Chur.«

»Bei Allem, was Ihnen, lieber Freund, theuer sein kann, und bei Allem, was für Sie mit einer gewissen heiligen Rose von Disentis irgend in Verbindung stehen mag, beschwöre ich Sie, sich der hülflosen Dame anzunehmen, bis sie in vollkommener Sicherheit sein wird. Ja, ich gestehe es Ihnen, diese Pauline, sie war einst die Liebe meiner Jünglingsjahre; eine Liebe, vor welcher, auch heute noch, ich nicht zu erröthen habe; eine Liebe, um derentwillen auch Pauline unvermählt geblieben ist. Nicht vergebens habe ich Sie daher an jene Rose von Disentis gemahnt. Auch Sie haben geliebt. Ich kenne das Geheimniß Ihres Herzens durch meine Freundin, welche zu Wien auch die Freundin desjenigen edeln Mädchens war, das, durch Bosheit der Menschen irre geführt, Sie, den Schuldlosen, verstieß und verdammte, und nachher, eben so unschuldig, von Ihnen verdammt worden ist.«

»Leben Sie wohl! Ich empfehle Sie dem Schutze Gottes. Lassen Sie Ihren jugendlichen, wenn auch gerechten Menschenhaß fahren; es leben der Guten und Heiligen noch Viele unter unseren, von Ihnen so genannten Halbthieren. Geben Sie Ihre, wenn auch edelgemeinten, Weltverbesserungspläne auf; nicht Sie, auch nicht der weiseste, und nicht der mächtigste Mensch, sondern die Hand einer allweisen Vorsehung allein, führt unser Geschlecht zur vollendeten Heiligung. Wir einzelne Sterbliche tragen jeder nur Sandkörner zum Bau des ewigen Gottestempels bei. Begnügen Sie sich, wo Sie es finden, auch mit dem Sandkorn; und Sie werden mit sich und der Welt zufriedener, das heißt, glücklicher werden. Dies wünscht aus ganzer Seele Ihr Freund

P. Gregorius.«

»Abtei Disentis, den 4. Mai 1799.«

Flavian hatte in der jüngsten Zeit viel zu ernste Erfahrungen gemacht, als daß die letzten Worte des lebensweisen Benediktiners für sein Gemüth nicht hätten Bedeutung haben sollen. Ihre Wahrheit wurde seine Ueberzeugung. Bei diesem Lebewohl des frommen Mannes war es ihm, als scheide ein höheres Wesen von ihm, welches ihm in den schwersten Stunden zum Troste, zur Belehrung, zur Geisteserhebung erschienen wäre.

Und jene Pauline, jene treue Jugendliebe des Greises – sie, die bisher für Flavian eine so bedeutungslose Person gewesen war, stand jetzt, wie ein unter des Schicksals Fügungen herbeigeführter Genius, da, der ihm vielleicht den Weg in sein verlorenes Paradies öffnen konnte. Manches, was bisher in räthselhafter Dunkelheit geblieben, und nur sein neugieriges Erstaunen gereizt hatte, klärte sich jetzt durch die zufällige Anwesenheit dieser Pauline, und durch ihr Verhältniß zu Elfriede auf. Elfriede von Marmels war also nur »irre geführt«; beweinte in Wien vielleicht noch die ehemalige Härte; war vielleicht noch dem gegebenen Gelübde treu. Wie viele berauschende Hoffnungen entspannen sich aus diesem Gedanken! – Das Werk der Trennung konnte vielleicht, wie manches Andere, nur Werk des boshaften Malariva gewesen sein. Er hatte es abgebüßt und schwer gebüßt.

Die Erinnerung an des Grafen Tod mahnte ihn, die ihm vom Verstorbenen anvertraute Brieftasche zu öffnen. Vielleicht konnte er dadurch schon jetzt Aufklärung über die heimlichen Ränke des Mannes erhalten. Er nahm das eingeschlagene Bündel Papiere hervor; riß es auf und durchmusterte flüchtig den Inhalt. Doch was er zu finden wünschte, suchte er umsonst. Außer einem Paar fast unleserlicher Briefe ohne Unterschrift, aus dem österreichischen Hauptquartier, nur Fragen und Weisungen in Militärsachen enthaltend, und mehrerer Briefe von einem Wiener Bankhause, welches vermuthlich die Geldgeschäfte des Grafen besorgte, bestand das Uebrige in Kapital- und Zinsverzeichnissen vom Vermögen des Grafen selbst, wie auch von dem der Baronin von Grienenburg und ihrer Stieftochter Elfriede von Marmels.

Gleichgültig, fast unzufrieden, band Flavian die Papiere zusammen, die für Malariva's Erben, so wie für beide Damen etwa, einige Wichtigkeit haben konnten, deren Beistand oder Vormund der Graf gewesen war. In des Jünglings Brust ertönten nun alle Gefühle sehnsüchtiger Liebe in erhöhtem Maße; Gefühle, die einst die reinste Seligkeit waren; und dann auch noch, in aller Bitterkeit, ein süßes Wehe brachten. Er berechnete die Stunden, die zwischen diesem Abend und dem Augenblicke lagen, wo er das Fräulein von Stetten kennen lernen sollte. Sie schien für ihn der Ring, welcher in der zerrissenen Kette zwischen Elfriede und ihm gefehlt hatte.


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