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[Geleitwort, Einleitung und Vorworte]

Geleitwort von Siegfried Wagner

Es ist sehr dankenswert, daß mein Vetter Daniel Ollivier die Memoiren und das Tagebuch unserer Großmutter Gräfin Marie d'Agoult veröffentlicht hat. Dadurch ist es dem objektiven Leser möglich, sich ein klares Bild von dem Wesen dieser bedeutenden Frau zu machen, nachdem ihm meistens nur gehässige Entstellungen ihres Charakters vor Augen gekommen sein werden. Auch in die Seele Franz Liszts gewinnt man neue Einblicke. Das Beglückende, zugleich auch das Tragische dieses Bundes offenbart sich durch das wahrhafte Bekenntnis.

Einleitung

Die Persönlichkeit der Gräfin d'Agoult ist in der Literaturgeschichte unter dem Namen Daniel Stern bekannt.

Wir wollen hier nicht an die Werke ihrer Phantasie über Geschichte, Ethik, Philosophie und Politik erinnern, die diesen Namen berühmt gemacht haben, noch die Äußerungen eines Geistes studieren, der sich mit so vielen unsterblichen Fragen beschäftigt hat. Der starke Freigeist ihrer edlen Gesinnung, die Kühnheit ihrer Ansichten, denen die Zeit fast immer recht gegeben hat, und die glänzenden Eigenschaften ihres Stiles sind schon früher von Sachverständigen Siehe hauptsächlich die Studie von L. de Rouchaud, am Kopfe der Ausgabe von 1880 der »Esquisses morales«. anerkannt worden. Im übrigen muß man die Offenbarung ihres Genies aus ihren Werken selber empfangen.

Man kannte die Wesensart der Gräfin d'Agoult bis heute wenig oder doch nur ungenügend. Ein aufsehenerregendes Drama durchkreuzte ihr Leben, störte seine natürliche Entwicklung und war die Ursache zu ihrer schriftstellerischen Laufbahn. Der Widerhall dieses Dramas tönte laut in der Öffentlichkeit, und so erfuhr sie zwar die Tatsachen aus dem Leben Daniel Sterns, aber seine sittliche Bedeutung und sein schmerzliches Pathos blieben ihr fremd.

Eine biographische Studie machen zu wollen, würde eine ganz andere Arbeit erheischen. Darum will ich nur kurz die großen wohlbekannten Linien dieses Lebens bis zu dem Tage ziehen, an dem das Drama begann.

Marie-Catherine-Sophie de Flavigny wurde in der Nacht vom 30. zum 31. Dezember 1805 in Frankfurt am Main geboren. Ihr Vater, der Vicomte de Flavigny stammte aus einer sehr alten burgundischen Familie und war Page der Königin Marie-Antoinette. Er wanderte aus und nahm Dienste in der »Prinzenarmee«. Er heiratete in Frankfurt Marie-Elise Bethmann, die Tochter des bekannten Bankherrn Bethmann. Als die Emigranten nach Frankreich zurückkehren durften, erwarben Graf und Gräfin Flavigny eine Herrschaft in der Touraine. Sie hatten zwei Kinder: Maurice, der später unter Louis-Philippe Pair von Frankreich wurde, dann nach der Revolution von 1848 das Departement Indres et Loire vertrat und nach dem Staatsstreich Abgeordneter im »Gesetzgebenden Körper« wurde. Seine Schwester war Marie de Flavigny. Marie verlebte ihre Jugend unter der Obhut ihres heißgeliebten Vaters auf dem Lande. Sein plötzlicher Tod war ihr erster großer Kummer. Sie wurde im Kloster Sacré-Coeur erzogen. Als sie zu ihrer Mutter zurückkehrte, war sie in dem vollen Glanze einer Schönheit, die berühmt gewesen ist. Ihre Erziehung galt der Welt als vollendet. Sie beherrschte mehrere Sprachen, spielte Klavier und sang. Ihre Mitgift war beträchtlich. Die Besten des Landes warben um ihre Hand. Aber ihre ernste Natur und ihr wahrhaft christliches Herz gaben nichts auf Reichtum und Größe, und ihre romantische Veranlagung wollte nichts von einer Standesehe wissen. Vor ihren Augen schwebte ein Ideal von Selbstlosigkeit, das sie in gegenseitiger Liebe mit einem tapferen und ehrenhaften Manne Der Graf Auguste de Lagarde, Pair von Frankreich. hatte verwirklichen wollen. Aber ein Mißverständnis trennte sie von ihm. Diese Enttäuschung traf sie tief, und sie beschloß in einem schroffen Wechsel ihres ganzen Strebens, die erste Partie anzunehmen, die sich ihr bieten würde. Am 16. Mai 1827 reichte sie dem Grafen Charles d'Agoult, Obersten der Kavallerie, der einem der berühmtesten Adelsgeschlechter der Provence entstammte, die Hand.

Von da ab lebte sie in Paris oder auf ihrem Gute Croissy im Mittelpunkte des glänzendsten Kreises und nahm an den erlesenen Vergnügungen des höchsten Adels teil. Man spielte in ihrem Hause Theater. Sie gab, selbst eine vollendete Musikkennerin, Konzerte, bei denen Rossini am Flügel saß, wo die Pasta, die Malibran, die Sonntag und Nourrit sangen und wo Liszt, Chopin und Paganini sich hören ließen. Sie wurde Karl X. vorgestellt. Ihr Erscheinen bei Hofe war ein Ereignis.

Trotz dieses anscheinend ausschließlich weltlichen Lebens trieb sie ernsthafte Studien in der Philosophie, den Naturwissenschaften und der Geschichte. Ihre Vorliebe für geistige Dinge und ihre schriftstellerische Begabung zeigte sich zuerst in Briefen, die man sich gegenseitig vorlas. Die anerkannte Unabhängigkeit ihres Verstandes, ihrer Haltung, und ihr entzückendes Wesen gaben ihr bald eine Ausnahmestellung in der erweiterten Gesellschaft, die sie sich schuf. Von diesen ersten Jahren, welche die Zeit von 1806 bis 1833 umfassen, hat sie in ihren »Erinnerungen« erzählt. Wer sie gelesen hat, weiß, wie dichterisch-anmutig sie die Ereignisse und die Freuden ihrer Jugend schildert und mit welch feinem Pinsel sie die Sitten der großen Welt während der Restauration malt.

Aber die Erfolge der Gräfin d'Agoult vermochten in ihrer weltlichen und gekünstelten Art weder ihrem Bedürfnis nach Offenheit, noch dem hohen Flug ihres Geistes zu genügen, der ungeduldig danach verlangte, sich außerhalb des engen Rahmens von Herkömmlichkeit und Vorurteil zu betätigen. In Wirklichkeit erstickte sie in einer Welt, deren enger Gedankenkreis für die Selbständigkeit und Kühnheit ihres eigenen einen unerträglichen Zwang bedeutete. Eine Ehe ohne Liebe hatte ihr häusliches Glück versagt. Die Verschiedenheit der Charaktere und der Anschauungen, die sich nach der Revolution von 1830 noch vergrößerte, entfernte sie mehr und mehr von ihrem Gatten. Ein heftiger Kummer (der Verlust ihrer ältesten, sechsjährigen Tochter, die an Gehirnfieber starb) vermochte nicht, die beiden im gemeinsamen Schmerze einander näherzubringen. Vielmehr erwies er nur noch deutlicher die Unmöglichkeit gegenseitigen Verstehens.

In dieser Zeit gab die Gräfin einer großen Leidenschaft nach. Sie floh vor der Heuchelei und der Lüge, die ihrer Ehrlichkeit zuwider waren; sie brach mit ihrer Welt und verließ ihre Heimat. Im Jahre 1835 folgte sie Franz Liszt und lebte mit ihm in der Schweiz und in Italien.

Dieses Zusammenleben dauerte ungefähr fünf Jahre. Über die innersten Vorgänge und Erlebnisse während dieses Abschnittes hat bisher niemand etwas Sicheres sagen können. Warum endete es?

Wenn man zur Beantwortung dieser Frage wahrscheinliche und zum Teil richtige Gründe angeführt hat, so trafen sie doch nicht die volle Wahrheit. Da es an einer Erklärung von der Hand der Gräfin selbst fehlte, so ward nur die Tatsache bekannt, aber ihre sittliche Ursache blieb im Zwielicht mehr oder weniger phantastischer Erläuterungen. Das Geheimnis, das über dem psychologischen Umschwung dieser fünf Jahre lag, war bis heute undurchdringlich. Man wußte nichts über die Einzelheiten und die Stufen der Begebenheit, in deren Verlauf sich die beiden gleich vornehmen und edlen, aber grundverschiedenen Menschen voneinander entfernten, nachdem die Leidenschaft sie scheinbar so stark vereint hatte.

Ende 1839 hielten sie eine Trennung für notwendig. Die Gräfin verließ Italien und kehrte mit ihren Kindern nach Paris zurück, während Liszt die Reihe seiner großen Tourneen begann, die seinen Ruf als unvergleichlicher Virtuose begründeten. Die Trennung sollte nur vorübergehend sein. Mit dem Verschwinden der materiellen und moralischen Fragen, die sie bedingt hatten, würde auch die Beruhigung, die sich daraus ergeben mußte, die Glut der ersten Liebe neu entfachen. Die Gräfin wenigstens wollte sich, als sie ihren grausamen Entschluß faßte, diese Hoffnung bewahren. Hatte sich auch das Band gelockert, so war es doch nicht gerissen. Sie führte nach 1839 einen umfangreichen Briefwechsel mit Liszt. Ziemlich regelmäßig trafen sie sich in Paris und im Auslande, und jedesmal lebte die Begeisterung der Zeit um 1835 wieder auf und ließ Hoffnungen erstehen, die nur zu bald vor dem Zusammenprall der Charaktere wieder schwanden. Liszts mehr und mehr der Öffentlichkeit gewidmetes Leben und seine triumphalen Erfolge vertieften noch die Kluft. Endgültig trennten sie sich erst 1844. Sie sahen sich von da ab nur noch ein- oder zweimal. Einzig über die Lage ihrer drei Kinder verhandelten sie fortan zuweilen schriftlich oder durch Dritte.

Die Krise, die der Bruch ihrer Beziehungen zu Liszt im Leben der Gräfin verursachte, entsprach der Heftigkeit ihrer Leidenschaft und den Opfern, die sie ihr gebracht. Die Pflicht, auf das Ideal verzichten zu müssen, das sie im Jahre 1835 in dem höchsten Überschwang ihrer Liebe von ihren heiligsten Pflichten abwendig gemacht hatte, die Notwendigkeit, den Mann zu verlassen, den sie immer noch liebte, riß eine schmerzende und unheilbare Wunde in ihr Herz.

Im Jahre 1845 schrieb sie in ihr Tagebuch: »Ich liebe ihn weit mehr, als ich mir einzugestehen wage.« Und später: »Die Liebe ist ewig. Man hat geglaubt, daß ich ihn nicht mehr liebe. Einige meinten sogar, auf meine Liebe sei der Haß gefolgt. Was für ein Irrtum! Immer dasselbe Ideal!« Der Leser wird die Wahrheit dieser Worte in den Blättern, die wir veröffentlichen, bestätigt finden. Die Gräfin, deren Leiden doch wohl der beste Beweis gegen die beharrliche Verkennung ihrer Gefühle waren, bewahrte den Kultus ihrer großen Liebe unberührt in ihrem Herzen. Diese Liebe war ja die Schöpferin ihrer Unabhängigkeit, ihr verdankte sie die große Arbeitskraft, die ihren Namen aus dem Dunkel ans Licht zog.

Aber als sie im Jahre 1839 nach Paris zurückkehrte, hatte die Zeit ihre lindernde Wirkung noch nicht getan. Die Wunde war noch zu frisch, die Aussicht, sie zu heilen, noch zu schwach, als daß ein anderes Gefühl denn Verzweiflung über ihr zerbrochenes Leben hätte aufkommen können.

Auch waren die Umstände bei ihrer Heimkehr nicht angetan, ihr Leid zu mildern. Sie unterwarfen die Gräfin im Gegenteil der furchtbarsten Probe, die einer Frau von ihrem Range und Charakter auferlegt werden kann. Wohl wurde Marie de Flavigny von ihrer Familie nicht verstoßen. Aber mußte ihre ungewöhnliche Lage nicht lange Zeit hemmend auf die Beziehungen zu ihren Verwandten wirken? Ihre alten Freunde hatten sich fast alle von ihr entfernt. Die Welt, die sie so schroff verlassen, und der sie in ihrem Stolze jetzt nicht entgegenkam, verzieh ihr nicht. Sie bezeugte ihr vielmehr alsbald ihre Feindseligkeit. Die Gräfin hatte also aus der Vergangenheit keine Stütze mehr, an der sie sich vertrauensvoll hätte aufrichten können. Sie war von nun an allein. Sie ward, wie sie in ihr Tagebuch schrieb, »ein neuer Mensch in einer neuen Welt«. Fragend blickte sie ihr Schicksal an. Wir kennen die Entwicklung, die sie selber ihren Fähigkeiten gegeben, wissen, daß sie diese bange Frage mit der Ausführung ihrer literarischen Pläne beantwortet hat. Wenn man bedenkt, daß der »neue Mensch« Daniel Stern geworden ist und daß ihre »neue Welt« die der hervorragendsten Vertreter französischen Geistes war, daß sich in diesem Kreise ihr glanzvolles und geachtetes Leben abgespielt hat und ihr Ruf als Schriftstellerin dort bestätigt wurde, so kann man dieser Frau, die im Jahre 1839 zur Einsamkeit verurteilt war, Bewunderung nicht versagen. Bewunderung verdient sie wegen ihrer sittlichen Stärke und wegen ihrer geistigen Kraft, ohne die eine so schöne Entwicklung unmöglich gewesen wäre.

Ein solches Frauenleben mußte natürlich die Neugier der Öffentlichkeit erregen. Sie wünschte vor allem das Drama kennenzulernen, welches das Hauptereignis dieses Lebens gewesen war. Der wachsende Ruf des berühmten Komponisten, der die erste Rolle darin gespielt, machte diese Neugier nur noch brennender. Sie wurde zuerst von einem ebenso verschiedenartigen wie leidenschaftlichen Klatsch der Zeitgenossen genährt. Nach und nach verhallte der Skandal, und die Feindseligkeiten der Gruppen, die sich immer in beiden Lagern um solche Abenteuer bilden, hörten auf. Aber nun beschäftigten sich Literatur- und Musikkritiker in rein geschichtlichem Interesse mit dem Ereignis, das die glänzende Schriftstellerin und den großen Komponisten zuerst zusammenführte und dann trennte. Die zahlreichen Biographen Liszts glaubten bei der Erzählung der romantischen Episode seines Lebens mit der Gräfin d'Agoult ihr Urteil über die ewige Frage nach der beiderseitigen Schuld, die ja immer bei solchen Zerwürfnissen erhoben werden, abgeben oder doch wenigstens andeuten zu müssen. Die Gräfin mußte das Unvermeidliche voraussehen, Sie wußte, daß sich ein Kampf über ihren Fall in der Öffentlichkeit erheben werde. Alle Arten von Stimmen würden sich hören lassen, und unter den gewichtigsten die der Freunde und Bewunderer Liszts, von denen sie annehmen konnte, daß ihre Aufrichtigkeit nicht immer ihre Parteilichkeit ausschließen würde. Mußte sie da nicht selber sprechen, und mußte ihr eigenes Zeugnis nicht gehört werden?

Dennoch kam der Gräfin nie der Gedanke, dieses Zeugnis als Verteidigungsmittel zu gebrauchen. Die Jahre, die sie mit Liszt verbracht hatte, waren nicht allein Jahre der Leidenschaft gewesen. Ihnen verdankte ihr Talent seinen Ursprung. Sie waren die Quelle ihrer Eingebungen gewesen. In Wirklichkeit bildeten sie ja nur eine Episode in ihrem Leben, das sich erst später in seiner vollen Bedeutung offenbarte. Wenn sie erzählte, was diese Freundschaft ihr gewesen, wie sie als Übergang von den Tagen ihrer Jugend zur höchsten Reife gedient hatten, so gehorchte sie damit ihrem Triebe, der sie schon in der Kindheit angehalten hatte, ihre Leiden und Freuden in Tagebüchern niederzulegen und sich in der Gewissenserforschung zu üben.

Das Leben, das sie sich außerhalb der bestehenden Regeln zurechtgemacht hatte, war ihr von den Unvollkommenheiten einer Gesellschaft auferlegt worden, unter der sie gelitten. Wenn sie Erklärungen über die große Krise ihres Lebens abgab, so war es, um aus ihren Leiden eine Belehrung für alle und daraus den Fortschritt abzuleiten, der die Frau von den Übelständen ihrer jetzigen Lage befreien sollte.

Sie hielt es, wie sie es auch zu Beginn ihrer »Erinnerungen« ausgesprochen hat, »in dieser Zeit der allgemeinen Erschütterung für die Pflicht eines jeden, der mit der alten Ordnung gebrochen und es gewagt hatte, die wichtigen Handlungen seines Lebens dem eigenen Gefühl und nicht der öffentlichen Meinung anzupassen, dem Tage einer freieren und wahrhaftigeren Gesellschaft vorauszueilen. Es sei eine sittliche Forderung, sich deutlich zu erklären und aus einer Tat, die für einfache Seelen den Skandal hätte bedeuten können, höchste Erbauung abzuleiten.«

In diesem Sinne faßte die Gräfin den Plan, ihre »Denkwürdigkeiten« zu schreiben, nachdem die ersten Erfahrungen ihrer Feder ihr die Gewißheit gebracht hatten, welche Aussichten sich ihr eröffneten. »Ich habe«, schrieb sie in ihren Notizen, während sie »Nélida« verfaßte, »dem Trieb gehorcht, der ›Memoiren‹ entstehen läßt.«

Indessen hinderten sie andere Bedenken und eine Art Unschlüssigkeit wegen der Ausführung, daran, die Arbeit, an der ihr soviel lag, vorzunehmen. Im Jahre 1864 schrieb sie: »Ich denke viel an meine Memoiren. Aber in welcher Form? Und in welcher Reihenfolge? Der Titel, den ich wählen mochte, wäre: »Mein Gewissen und mein Leben.« Später, im Jahre 1869, schien es, als fürchte sie, ihr Vorhaben sei zu groß für ihre abnehmenden Kräfte, und sie scheint daran gedacht zu haben, es auf das hauptsächlichste, auf eine Gewissensstudie zu beschränken.

siehe Bildunterschrift

Marie d'Agoult. Richard Wagner-Museum, Eisenach

Aber der Tod überraschte sie am 5. März 1876, und die »Denkwürdigkeiten« hatten in keinem ihrer Teile irgendeine Form erhalten. Nach ihrem Ableben fand man aber das Inhaltsverzeichnis. Wir lassen es folgen:

 

Denkwürdigkeiten.

1. Band

Erster Teil.
Vorrede.
Widmung.
Erste Jahre 1806-1807. »Und doch bleibt ein Zauber« (Littre).

Zweiter Teil.
Vorwort.
Die Welt.
Der Hof und die Salons. »Die Welt bedeutet Transformation« (Marc Aurel).
Die Mode 1827.
Die Mode 1833.

2. Band.

Dritter Teil.

Die Leidenschaft 1833.
Die Leidenschaft 1839. »Ecce Deus« (Dante).

Vierter Teil.
Jahre der Ungewißheit 1840.
Jahre der Ungewißheit 1848. »Was war ich erst« (Goethe).

Fünfter Teil.
Mein Geist und meine Bücher.

3. Band.

Sechster Teil.
Meine Ehrfurcht und meine Wißbegier.
Letzte Gedanken 1875. – Erfahrung und Hoffnung.

 

Die getreuen Vollstrecker ihres Willens haben im Jahre 1877 die ersten beiden Teile veröffentlicht, die entsprechend dem vorhergehenden Inhaltsverzeichnis, den ersten Band der »Denkwürdigkeiten« unter dem Titel »Meine Erinnerungen« bilden sollten. Wir haben weiter oben auf dieses Werk hingewiesen. Es hatte einen großen literarischen Erfolg.

Was ist aus den Manuskripten des zweiten und des dritten Bandes geworden? Waren sie in ihrer endgültigen und vollständigen Form vorhanden oder sind Teile davon nach und nach verlorengegangen? Wir können es unmöglich wissen. In den Papieren der Gräfin, die uns übergeben worden sind, befinden sich jedenfalls einige Manuskripte aus dem Teile der »Denkwürdigkeiten«, der nicht veröffentlicht worden ist. Es sind leider nur wenige. An manchen unvollendeten oder kaum skizzierten Stellen fehlt die letzte Gedankenarbeit der Verfasserin. Die Gräfin d'Agoult hat auch Notizen und ein Tagebuch aus gewissen Abschnitten ihres Lebens hinterlassen.

So wie sie sind, schienen sie uns, trotz ihrer Lücken, wert, bekannt zu werden. Sie klären uns mit ihrem freimütigen Bekenntnis über das Drama ihres Lebens auf, dem bisher immer die letzte Wahrheit gefehlt hatte. Sie machen uns mit ihren merkwürdigen Reiseeindrücken bekannt und berichten uns von den Anfängen und den Einzelheiten ihres literarischen Lebens und von ihrem Verkehr mit berühmten Männern ihrer Zeit. Sie bezeugen immer wieder aufs neue ihre Herzensreinheit, den Adel ihrer Gesinnung und die Hoheit ihres Charakters. Sie sind also nicht gleichgültig für die Geschichte einer Epoche, deren Anziehungskraft auf uns sich noch nicht verringert hat. Wir legen unseren Lesern dieses Erbe der Gräfin in dem vollen Vertrauen vor, daß es, unter diesen verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet, weder das Urteil der Zunft über die Schriftstellerin noch das der Sittenprediger über die Frau verringern wird.

Daniel Ollivier

Vorwort

… Was könnte man von der getreuen Zeichnung einer Ausnahmeerscheinung höheres erwarten als Genauigkeit? Hier soll man sie ganz finden. Dafür stehe ich ein. Und sollte etwas daran fehlen, so wäre es, weil ich so sehr grausame Erinnerungen wachrufen mußte, und weil ich aus irgendeiner Schwäche des Herzens und meiner Feder nicht an die Wirklichkeit herankommen konnte. Aber diese Wirklichkeit stammt aus einer Zeit, deren Sitten so verschieden von den heutigen waren (obwohl sie den Jahren nach noch gar nicht so fern ist), daß sie kaum noch in irgend etwas dem entspricht, was heute lebt und webt. Die heutige Jugend hat mit der vorigen nicht die geringste Ähnlichkeit. Sie ist voller Vorurteile, ist auf der Hut gegen deren vermeintliche Übergriffe und verfällt, in der Furcht, unter ihr leiden zu müssen, ins Extrem. Das ist in Frankreich so Sitte. Das Heute will nichts vom Gestern, das Morgen nichts vom Heute wissen, und so gehen wir von Gegensatz zu Gegensatz, und Vater und Sohn stehen sich, selbst in ihren Neigungen, fremder gegenüber, als man es anderswo durch Rasse und Entfernung ist.

Es ist also, um die Helden dieser Geschichte zu verstehen, notwendig, sie im Geiste einer Epoche zu sehen, deren Temperament sich von dem unsrigen in allem unterschied. Man war damals nicht wie wir heute fast ausschließlich mit wissenschaftlichen und industriellen Arbeiten beschäftigt, welche ohne Sorge um die irdische Welt, um das künftige Leben und um Gott, ein sehr hohes Ziel verfolgen, aber eins, das greifbar, menschlich und irdisch ist.

Damals aber war man von Sehnsucht nach einem idealen Leben zerquält. Man suchte in allen Dingen einen göttlichen Sinn. Nach dem furchtbaren Kampfe, der alle Grundfesten der alten Welt eben erst erschüttert, herrschte noch tiefe Erregung und bange Erwartung vor dem Unbekannten, dem Außergewöhnlichen und dem Unmöglichen. Altäre und Throne, Kaiserreiche, Republiken und Königtümer waren gestürzt und wiedererrichtet worden. Es gab Streitigkeiten ohne Ende mit ihrem verwirrenden Wechsel von Erfolg und Mißerfolg zwischen denen, die aufzubauen vermeinten und denjenigen, welche die Trümmer der Vergangenheit vollends niederreißen wollten. Die scheinbare Annäherung der Klassen hatte die Wünsche Ehrgeiziger überreizt. Nun stießen Vorurteile sie wieder auseinander. Das launische Spiel des Glückes hatte sie betrogen. Alle diese gegensätzlichen Gewalten, dieser schroffe Wandel in dem Schicksal der Völker und Menschen, machte die Jugend zum Spielball des Zweifels. Eine Glut, eine skeptische Not der Sinne und des Geistes versetzte sie in eine mächtige Gärung, die bitter war von Trauer und Ironie.

Im vorigen Jahrhundert hatten unsere Väter in frohem Überschwang die Schwermut des Kreuzes abgeschüttelt. Sie hatten das »Tal der Tränen« für immer verlassen. Nun hatte die Revolution die Menschen wieder weinen gelehrt. Die Seelenverfassung änderte sich. Ein Dichter fühlte das. Seine süßen und harmonischen Weisen brachten seinem Jahrhundert nicht den Glauben, auch nicht die strenge Zucht des Christentums zurück, sondern Rührung und schmerzliche Klage und die himmlischen Träume christlicher Empfindsamkeit. Das war eine neue Störung zu so vielen anderen. Sie ward in den nebelhaften Typen der Romantik verkörpert und verbreitete jene »unklare Atmosphäre der Leidenschaften«, jenen gärenden Überdruß, gegen die weder die Familie noch der Staat (die beide verachtet worden waren) Heilmittel hatten, und die nun in den Dichtungen Chateaubriands und seiner Nachahmer ihre einzige Zuflucht am Fuße von Altären fanden.

Es war ein eigenartiges Zusammentreffen! Fast zur gleichen Zeit drangen vom Ausland trostlose und verzweifelte Stimmen an unser Ohr. England, Deutschland, Polen und Italien wirkten mit in dem Chor unserer Klagen. In dem Nebel Ossians, der sich eben zerstreute, hörte man endlich auf Shakespeares tragische Verkündigung der modernen Schicksalstragödie. Hamlets Erscheinung tauchte in der Unordnung und der Nacht unseres Geistes auf. Von Ossian und Hamlet ward Werther beeinflußt, als er kniend aus Charlottens Hand die selbstmörderische Waffe empfing und küßte. Viel unermeßlicher in seinen Wünschen beschwor der alternde Faust den Geist des Bösen, neigte sich Manfred über schwindelnde Tiefen. Ortiz und Konrad prophezeiten im Wahnsinn den Todeskampf zweier stolzer Märtyrervölker. Und in diesem doppelten Strome, der in den übergetretenen Fluten von Ermattung, Auflehnung, Gottlosigkeit oder Schwärmerei einander entgegen war, versuchten sich die verstörten, fortgerissenen, ertrinkenden Menschen elendiglich an irgendein ödes Ufer zu retten.

Alle engelhaften und dämonischen Schöpfungen dieser qualvollen Jahre, alle Helden aus Romanen, Dramen und Dichtungen wie René, Obermann, Adolphe, Amaury, Lélia, Didier, Chatterton, Josephe Delorme und Jocelyn bezeugen den krankhaften Zustand, in den die falsche Wiedergeburt eines unverstandenen Christentums Geist und Einbildungskraft versetzt hatte.

Indessen drang aus dem Schoße der römischen Kirche plötzlich eine prophetische Stimme. Die Stimme eines »Gläubigen« sagte ihren Fall voraus, und um die christliche Gemeinde bildeten sich gegnerische Gemeinden, in denen man das Ende aller Dogmen und die neue Offenbarung und das Heil schon hienieden aus geheiligter Sinnenlust, durch den Priester der Kunst, den Kult der Schönheit, durch die Frau als Priesterin und Messias verkündigte. In diesen Versammlungen von jungen und kühnen Leuten wurden alle Urteilssprüche, alle Ungerechtigkeiten des Gesetzes oder der öffentlichen Meinung abgeschafft. Alle Gestürzten und alle Verdammten der Alten und der Neuen Welt, wie Prometheus, Satan, Kain, Ahasverus, Don Juan wurden wieder aufgehoben und verklärt. In ihrem Gefolge richteten sich die von der Gesellschaft Verdammten: Sträflinge, Ehebrecherinnen, Prostituierte und Bastarde frech auf und schüttelten über der verderbten Welt alle Schande aus, mit der sie sie bedeckt hatte.

Innerhalb solcher geistigen und sittlichen Zustände, in einer derart mit Elektrizität geladenen Atmosphäre trafen sich Franz und Marie. Die Liebe, die plötzlich in ihren Herzen entbrannte, trug alle Merkmale der Umwelt, in der sie entstanden war. Mehr als andere mußten sie ihrem Einfluß unterliegen, da sie beide mit der Empfindsamkeit von Dichtern und Künstlern belastet waren. Auch waren sie sich in Rasse und Temperament verwandt. Aber die ungeheuren Unterschiede in ihrer Erziehung und Herkunft mußten ihnen zahllose Schwierigkeiten in den Weg werfen. Tausend Schranken richteten sich zwischen ihnen auf und gaben der Leidenschaft, die sie einander zutrieb, eine schmerzhafte Angespanntheit, welche die Liebe in besser geregelten Zeiten nicht mehr kennen wird.

Die Leidenschaft brennt ewig im Herzen der Menschen! Immer wird Eros »der stärkste Gott« sein, ob er sich nun der Herzen Sapphos, Heloïsens, der Lavallière, der Espinasse, der Roland, Petrarcas oder Dantes bemächtigt. Dennoch kann man sich eine Gesellschaft vorstellen, in der seine Kraft besser in Schranken gehalten, und durch eine größere Harmonie aller Dinge gemildert, von der öffentlichen Meinung bereitwilliger aufgenommen werden wird.

Die blinde Leidenschaft, die in uns und um uns durch künstliche Schranken erbittert ist und die sich in einem Lande, das noch Vorurteilen unterworfen und voll der unglaublichsten Widersprüche ist, nicht anders als revolutionär äußern kann, wird erst dann ihre umstürzende Macht verlieren, wenn der Aufruhr der Ideen sich bei uns in den Sitten ausgewirkt hat, wenn aller Aberglaube, der immer noch aus der Vergangenheit vorhanden, verschwunden ist und die Moral nicht mehr auf den Geheimnissen des Glaubens, sondern auf vernünftiger Überzeugung beruht. Wenn ferner ein billigeres Verhältnis zwischen Recht und Pflicht den Gehorsam erleichtert, Bildung und Rechte zwischen Mann und Weib gleicher sind und die ungeheuerlichen Mißverständnisse nicht mehr bestehen, die sie heute so leicht zu gegenseitigen Feinden machen; wenn unerfahrene und schwache Wesen nicht mehr Opfer einer unauflöslichen Gebundenheit werden können, eine gerechtere Unterscheidung zwischen dem was erlaubt, geduldet, begünstigt und dem was verboten ist, der Verschiedenheit der Triebe geordnete Bahnen öffnet; wenn es schließlich dahin kommt, daß das Gesetz der Anziehungskraft und der Verwandtschaft (wie der Dichter Goethe, siehe Wahlverwandtschaften. der modernen Naturwissenschaft es vorausahnt) in der sittlichen Welt ebenso anerkannt wird, wie in der physischen, dann erst wird die Leidenschaft nicht mehr so schreckliche Verheerungen anrichten. Sie wird sich nicht mehr vergeblich auf der Suche nach einem eigennützigen Glück verzehren. Frauen wie Marie, begnadete Männer wie Franz werden dann nicht Schönheit, Genie, Güte, Begeisterungsfähigkeit und Mut, diese göttlichen Vorrechte, die ihnen veredelnden Einfluß auf ihresgleichen gewähren, und sie zu einer wohltätigen und hohen Bestimmung rufen, als unheilvoll für sich und andere ansehen. Sie werden sie erfüllen, ohne die bestehende Ordnung zu sprengen und zu durchbrechen.

Ob eine solche Gesellschaft nahe oder fern ist, das weiß niemand zu sagen. Kommen wird sie sicher, denn schon sieht man ihr Bild im Bewußtsein aller Starken und im Herzen aller aufrechten und tief veranlagten Menschen.

Heute, da ich diese Geschichte wieder lese, komme ich zu der Überzeugung, daß selbst der Durchschnittsmensch sich schwerlich vor einer so ungewöhnlichen Leidenschaft mit den allgemeinen Formeln der öffentlichen Meinung und mit gewissen Gemeinplätzen zufrieden geben kann, die in nichts mehr der Wahrheit entsprechen und keinen Widerhall in der Brust rechtschaffener Menschen finden.

Zweites Vorwort

Der genaue Titel meiner »Erinnerungen« und besonders dieses dritten Teiles hätte nach dem Beispiel Goethes: »Wahrheit und Dichtung« sein müssen.

Der Dichter des »Werther« hatte richtig empfunden, daß die wortgetreue Erzählung von Erlebnissen, wie sie der Zufall mit sich bringt, in ihrer ganzen Zusammenhanglosigkeit und Folgewidrigkeit einen ebenso unklaren Eindruck von der Wahrheit geben würde, wie unsere Gedanken und unsere Gespräche, wenn wir sie unordentlich, wahllos und sklavisch wiedergeben. Ihr Bild wird um so weniger treu sein, je mehr wir uns bemühen, es zu kopieren.

Denn das Leben ist unwahrscheinlich. Es zeigt sich dem, der es in der Nähe betrachtet, so verwickelt und unvernünftig, daß man darin weder Plan noch Gesetz erkennen kann. Aber von fern, von oben gesehen, werden seine großen Linien sichtbar. Was überladen, wiederholt und weitschweifig war, wird klar. Jedes Ding bekommt in der Perspektive seinen Platz und seinen Wert. Ein Ganzes kommt zum Vorschein: ein Charakter, eine Physiognomie, ein Zeichen, an dem man den göttlichen Baumeister erkennt.

Nur durch ein ähnliches Vorgehen, durch Beschränkung alles dessen, was in der Natur überflüssig und weitschweifend ist, durch die Wahl der Linien und Pläne, durch die richtige Harmonie der Werte, durch Verteilung von Licht und Schatten, gewinnt der Dichter oder der Künstler aus der Alltäglichkeit und der Verwicklung den typischen Ausdruck, die starke und einfache Einheit, die auf die Sinne, die Einbildungskraft und das Verständnis wirkt und sich in das Gedächtnis eingräbt. Auf diese Weise schaffen sie, jeder nach seiner Eingebung, die ideale Wahrheit, die zwar anders ist bei Homer, bei Phidias oder Virgil, anders bei Lionardo, Michelangelo, Velasquez und Rembrandt, anders auch bei Calderon, Shakespeare, Corneille oder Molière, die aber doch überall in ihrer seltenen Schönheit wahrer sein wird als die gewöhnliche Wahrheit.

Als ich meine »Erinnerungen« so niederschrieb, wie ich es glaubte, tun zu müssen, nämlich in völliger Reinheit des Herzens und des Geistes, ohne mich aber photographischer Treue rühmen zu wollen, maßte ich mir gewiß nicht an, mit den Meistern zu wetteifern und wie sie ein Werk von Dauer zu scharfen. Ich dachte vielmehr, wenn ich ein Buch schriebe, in dem ich beständig von mir spreche, würde ich gut daran tun, um nicht, wie es leicht vorkommt, mich ins Überflüssige, Indiskrete oder in noch Schlimmeres zu verlieren, mir ein Muster an den maßvollsten Schriftstellern zu nehmen und nicht alles sagen zu wollen, weil man sonst Gefahr läuft, alles schlecht zu sagen.

Noch eine andere Betrachtung bewog mich übrigens bei dieser Art von Beichte, in der ich weder den Geschmack noch die Schicklichkeit verletzen wollte, den Spuren Goethes oder Alfieris Berühmter italienischer tragischer Dichter, 1749-1803. zu folgen oder mir an Candolle Berühmter Genfer Botaniker, 1778-1841., Arago oder Quinet Französischer Philosoph, Dichter, Historiker, Politiker, 1803-1875., die uns zeitlich näherstehen, ein Muster zu nehmen. Ich fühlte mich weder berechtigt, noch hatte ich Lust, zu ungelegener Zeit in meine Erinnerungen die eines anderen zu verflechten. Denn es ist meine Überzeugung, daß die Feder einer Frau mehr als jede andere zu einer Auswahl in der Wahrheit verpflichtet ist, an der man echte Kunst erkennt und die zugleich ein sicheres Zeichen geschliffener Sitten ist.

Daher sollte man auf den folgenden Seiten nicht eine Übertragung der Wirklichkeit suchen, wie man sie heutzutage durch photographische Vorgänge erzielt.

Sehr viele Dinge und sehr viele Menschen werden stillschweigend übergangen. Einige verstreute Züge werden gesammelt, andere verwischt. Die Tatsachen sind nicht immer richtig datiert und mit allen Begleitumständen erzählt. Auch die Worte sind nicht mit stenographischer Treue wiedergegeben. Alles entspricht der Wahrheit, aber alles ist mehr ein Extrakt der Wahrheit und mehr zum Gebrauch selbständig Denkender, als für die Neugierigen.

Und doch muß ich bedauern, nicht einmal die Denker mit einer Schlußfolgerung oder mit einem sicheren Begriff von der Sittlichkeit zufriedenstellen zu können.

Wirkliche Sittlichkeit würde es, meiner Ansicht nach, sein, wenn man an allen unseren Handlungen nachweisen könnte, was frei und was zwangsmäßig daran geschehen ist: ein äußerst heikler Versuch, der mir bei dem heutigen Stand unserer Kenntnisse und unserer Fähigkeit zu analysieren, ganz unmöglich erscheint. Und doch, wie dürfte man sich ohne dieses Unterscheidungsvermögen einbilden, in Fragen des Herzens und besonders der Leidenschaft, ein gerechtes Urteil zu fällen? Die Freiheit ist zweifellos in der Teilnahme, die wir am menschlichen Leben nehmen, Voraussetzung. Aber welcher Art ist diese Freiheit? In welchem Maß und in welcher Absicht ist sie uns gegeben? Wann keimt sie in der Menschenbrust auf? Welchem Wechsel, welchen Verfinsterungen ist sie dort ausgesetzt? Wie gliedert sich die unbeständige und veränderliche Freiheit des Einzelwesens in die Beständigkeit der allgemeinen Ordnung ein? In welcher Beziehung steht das Gesetz zu dem, was wir den Zufall nennen, in welcher die Vernunft zur Leidenschaft und das Gewissen zum Instinkt? Hier lege ich meine Finger auf die Lippen und hülle mich in Schweigen. Ich überlasse es anderen, die klüger sind als ich, mit furchtloser Hand Probleme anzuschneiden, vor denen mein Verstand zurückschreckt.


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