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Nohant 1837, 5. Juni.
Heute sollte nach der Weissagung von Mademoiselle Lenormand Berühmte Wahrsagerin 1772-1848., ein denkwürdiger Tag in meinem Leben sein. Ein glückliches Ereignis sollte ihn kennzeichnen. Aber es war nur ein schöner, friedlicher, ruhiger Tag wie die meisten Tage meines neuen Lebens.
Ich wanderte an den Ufern des Indres mit seinen Ziehbooten und über Wiesen, auf denen Vergißmeinnicht, rote Disteln und Gänseblümchen in Fülle blühten, kletterte über Zäune von Bauernhöfen, stieß auf Gänsefamilien und schöne Rinderherden, die majestätisch auf der Weide wiederkäuten: das waren die einzigen Ereignisse dieses Tages. Mademoiselle Lenormand ist recht töricht, wenn auch noch nicht so töricht, wie die Leute, die sie für ihre Torheiten bezahlen. – Und doch, warum sollte man nicht auch von dem allgemein verbreiteten Glauben aller Zeiten an übernatürliche Gesichte, an eine innere Schau der Zukunft, an eine schicksalhafte Beziehung zwischen dem Gang der Gestirne und der menschlichen Bestimmung befallen sein …? Wir bedienen uns so gern des Satzes von dem allgemeinen Glauben, um das Dasein Gottes zu beweisen. Denken wir doch folgerichtig! Und wenden wir es ihn auch an, um das Vorhandensein von Wahrsagerinnen und Hexen zu beweisen …
Nach der Rückkehr vom Spaziergang hat er eines seiner in der Schweiz komponierten Stücke aus der Zeit unserer verzehrenden Leidenschaft und des grausamen Kampfes zwischen unseren beiden Naturen gespielt, die beide freimütig, edel und opferbereit, aber auch beide stolz und unersättlich sind. Franz empfand und begehrte die Liebe als junger, noch ungezähmter, lebensprühender Mann. Ich als Frau, die dem Schicksal mißtraut, die schmerzgebeugt und fern aller Wirklichkeit träumt und sich in eine unerreichbare Vollkommenheit verliert …
Dieses Stück war eine dichterische Zusammenfassung aller Erlebnisse auf unseren Spaziergängen. Die engen Beziehungen zwischen Natur und Musik hatten mich noch nie so beschäftigt. Am Morgen sprach mir George von der Verschiedenheit der Laute im Norden und im Süden und der Geräusche im Winter und im Sommer und machte dazu eine scheinbar sehr einfache Bemerkung, die aber, glaube ich, noch nicht gedacht worden ist. Sie sagte, daß der Sommerwind, der in den Blättern stirbt, nicht das scharfe Pfeifen haben könne, wie wenn er sich an verdorrten Stämmen breche. Und Wasser, das durch dichten Wald und grüne Wiesen sickere, habe nicht dasselbe Murmeln, wie Wasser, das zwischen kahlen Ufern rinne.
Sie fand, man könne diese Beobachtungen verallgemeinern und erweitern. Dann würde man wahrscheinlich in der Natur die ersten Grundlagen der Musik finden. Diese Beobachtungen könnten natürlich nicht von Denkern gemacht werden. Nur ein Träumer, nur ein in die Natur verliebter Dichter vermöge solange zu sinnen und zu lauschen, bis er zu einem Ergebnis käme. Und er müsse noch dazu Musiker sein. Ich weiß nicht, was an diesen zufällig hingeworfenen Gedanken zutrifft. Ich weiß nicht, ob es dem Menschen gegeben ist, in die Geheimnisse der Schöpfung einzudringen und das Gesetz der Töne, Farben und Düfte zu entdecken. Ein Menschenleben ist allzu kurz, aber vielleicht ist es der Menschheit gegeben, bis zu dem klaren Anblick des lichtspendenden Dreiecks vorzudringen, bis zum Verständnis der Natur, bis zu der Auffassung, daß der Mensch in Gott und Gott im Menschen ist. Denn Gott ist vielleicht das Leben, das seiner selbst bewußt geworden ist …
Den ganzen Abend war George wie gelähmt von einem lastenden Nichtsein. Arme und doch so große Frau! Die heilige Flamme, die Gott in sie gelegt, findet in der Außenwelt nichts mehr zu verbrennen und verzehrt innen alles was an Glauben, Jugend und Hoffnung noch bleibt. Barmherzigkeit, Liebe und Wollust, diese dreifache Sehnsucht der Seele, des Herzens und der Sinne, die allzu stark in dieser schicksalsmäßig bevorzugten Seele lodert, stieß auf Zweifel, Enttäuschung und Übersättigung, und weil George sie in das innerste ihres Wesens verbannte, ward ihr Leben ein Martyrium, das der Ruhm allerdings mit sovielen Kränzen zudeckt, daß das Mitleid der Masse nichts davon sieht. Und so bleibt ihr diese letzte Kränkung des Schicksals wenigstens erspart.
Und doch gibt es für sie noch die Hoffnung auf abgeklärte Heiterkeit. Der Mann, der den »Werther« und den »Faust« gedichtet hat, der zu den Abgründen des Unzulänglichen und Vergänglichen vorgedrungen ist, Goethe hat sein mächtiges Haupt in den Schoß einer wohltätigen Mutter gelegt, deren Brüste nie versiegen. Goethe hat mit Inbrunst die ganze Schöpfung geliebt. Von dem Stern, der den Weltenraum durchquert bis zum Insekten, der sich auf einem Halm wiegt, vom Wal, der den Ozean durchschneidet bis zur Monade, die in einem Wassertropfen lebt und stirbt, von der Ceder, deren Wipfel in die Wolken ragt bis zum Moos, das an ihrem Fuße wächst, hat Goethe alles mit der Unermeßlichkeit seiner Liebe umfaßt, und seine Liebe, die göttlicher Natur war, hat über seine Wangen eine gleiche und sanfte Helligkeit gebreitet, in der er uns ruhig und majestätisch erscheint, wie die Alten im Elysium. Oh, Gott, verleih George die abgeklärte Heiterkeit Goethes!
Fast den ganzen Tag hat die Erinnerung an Louise Die älteste Tochter, die gestorben war. über mir geschwebt. Dante hat eine Strafe in seiner Hölle vergessen: einen Menschen, der das geliebte und verlorene Wesen ganz in seiner Nähe sieht und in größter Schnelligkeit darauf zustürzt. In dem Augenblick aber, wo er es erreichen könnte, bricht er sich den Schädel gegen eine Eismauer, die sich plötzlich zwischen ihm und seiner Vision erhoben hat …
Wie oft ist mein Herz an dem Grabstein des seinen zerschellt!
6. Juni.
Niemand verspürt wie ich den beglückenden Einfluß des Morgens. Meine Nerven sind nach dem immer ruhigen Schlummer der Nacht entspannt. Die reine Luft, die in meine Brust dringt, gibt dem Lebensgefühl eine Kraft, die langsam unter der Schwere des Tages nachläßt. Böse Gedanken, Traurigkeit, Mutlosigkeit und Schuldbewußtsein sind Gäste späterer Stunden. Erst gegen Mittag beschatten sie mein Herz. Am Morgen aber hat noch kein Wort den Geist beunruhigt, die Einbildung getrübt, noch das Gefühl verletzt. Es gibt in der Tiefe der Seele wie auf dem Grunde des Pflanzenkelches einen Tropfen himmlischen Taues, der von der Mittagsonne aufgesaugt wird oder den der Tageswind zur Erde weht … Ohne Zweifel wird ein aufmerksamer Beobachter sich morgens besser fühlen als abends.
7. Juni.
Heute fühle ich mich erdrückt von der Last des Lebens. Was ist denn der Mensch? Er kennt weder die Ursachen noch den Zweck seines Daseins. Sein Herz gibt sich Hirngespinsten und Nichtigkeiten hin, und er ist Spielzeug eines unbekannten Zufalles, den die Glücklicheren Vorsehung nennen. Er wünscht zu glauben, wünscht zu lieben, wünscht zu erkennen. Und solchermaßen ist das Leben dieses unbeständigen, lügnerischen und feigen Lebewesens, das man Mensch nennt … Oh, Gott, warum muß ich dir entgegen sein, warum bin ich mir selber ein Ärgernis?
Auch Er trägt eine drückende Last, aber er trägt sie mit edlem, beharrlichem Mute. Viele halten ihn für ehrgeizig. Er ist es nicht, denn er kennt die Grenzen aller Dinge, und das Gefühl der Unendlichkeit trägt seine Seele jenseits allen Ruhmes und jeder irdischen Freude. Er ist eine auserwählte Natur! Gott hat ihn sichtbar mit einem geheimnisvollen Siegel gezeichnet. Mit einer Liebe voller Ehrfurcht und Traurigkeit betrachte ich seine Schönheit, den Adel und die Reinheit seiner Züge, die Harmonie in den schönen Linien seines Gesichtes. Sein Haar, das stark und überreich ist, wie die Mähne eines jungen Löwen, scheint teilzuhaben an dem Leben seiner Gedanken. Sein rascher Blick lodert und leuchtet wie das Schwert des Cherubim, aber selbst dann, wenn er am leidenschaftlichsten ist, am heißesten wünscht, spürt man, daß dieses Wünschen nichts grobes hat, und es vermöchte auch die zarteste Schamhaftigkeit nicht zu verletzen. Oft senkt sich sein milder und verschleierter Blick mit einem unsagbaren Ausdruck von Liebe und Zärtlichkeit auf mich und gibt mir bis in das Mark hinein das Gefühl eines Glückes, das allen unbekannt bleiben muß, die nicht so geliebt worden sind. Die Blässe seiner Stirn offenbart die Arbeit seiner Gedanken, und der starke Winkel seiner Kinnbacken bezeugt eine ungemeine Kraft des Willens. Eines Abends hatte er um seine Schläfe eine rotbraune Schärpe gewunden, die seine Haare verdeckte und deren Reflexe seiner Blässe etwas Strenges und Düsteres gaben. »Dante« rief einer von uns. Wahrhaftig, ich vermeinte den traurigen Florentiner vor mir zu sehen.
per una selva oscura,
che la diritta via era smarrita …
»In einem finstern Wald verschlagen, weil ich vom graden Weg mich abgewandt.« Dante, 1. 2-3.
Wenn er sich an den Hügel setzt und frei von allen Sorgen den Genius walten läßt, der sich seiner bemächtigt, gewinnt seine Schönheit einen Grad von Hoheit, den nur seine Hörer ermessen können. Seine Blässe nimmt zu, seine Nasenflügel weiten sich, ein nervöses Zittern bewegt seine Lippen, sein stolzer, gebietender Blick sucht nicht, fragt nicht mehr: er herrscht und befiehlt …
Aber was ist alle Schönheit, all das Genie im Vergleich zu den Schätzen an Tugend und Liebe, die Gott in seine Seele gesenkt hat? Wer wird je die Lauterkeit seiner Absichten, die Geradheit seines Willens und sein liebevolles Begreifen aller menschlichen Unzulänglichkeiten erfassen wie ich?
»Müßte es eine verdammte Seele geben«, sagte er mir eines Tages, »so möchte ich es sein.« Ein erhabenes Wort, das er mit der ganzen Einfachheit und Wahrhaftigkeit seines Herzens aussprach. Die Barmherzigkeit des hl. Vincent und eines hl. Franz vereint haben seine übermenschliche Hingabe an das Leid nicht übertroffen.
Und wer könnte den Zauber beschreiben, den er zu seinen menschlichen Tugenden und seiner überlegenen Intelligenz noch besitzt: seine natürliche Empfänglichkeit, die fast kindliche Heiterkeit und seinen geistvollen Frohsinn? Sie haben ihn, ohne ihn abzustumpfen, über ein Leben voller Überreizungen und fieberhafter Erregungen getragen. Man fragt sich erstaunt, wie solche Gegensätze in demselben Wesen einander begegnen und miteinander harmonieren können; wie in derselben Brust Eingebung und Logik, Leidenschaft und Überlegung, erfahrungsmäßiges Handeln und plötzliche Aufwallung, unerbittliche Traurigkeit und kindliche Freude sich nicht ausschließen und eine so ausgesprochene Persönlichkeit zu bilden vermögen.
8. Juni.
Ich gehöre nicht zu denen, die sagen: »Es war nur ein Traum!« Schon manchmal hatte mich eigenartiges Zusammentreffen von Ereignissen stark berührt. Eins der seltsamsten war dies: Heute morgen entsann ich mich, geträumt zu haben, daß ich in plötzlicher Verliebtheit Bocage Berühmter Schauspieler seiner Zeit. ein Rendez-vous gegeben hatte. Ich hatte mich dazu maskiert, wie Damen der Regence es zu tun pflegten. Wir hatten einige Bemerkungen über die Seltsamkeit meines Traumes gemacht. Sonst sprachen wir nie von Bocage. Ich glaube auch nicht, daß ich je an ihn gedacht habe. Es war länger als ein Jahr her, daß ich ihn auf der Bühne gesehen, wo er mir übrigens stets nur den Eindruck eines recht mittelmäßigen Schauspielers gemacht hat. Er hat sich durch unsere heutige Bourgeoisie vollständig aus dem Gleise bringen lassen. Am Ende der Mahlzeit meldete ein Diener, ein Herr wünsche George zu sprechen … Sie geht hinaus und führt Bocage herein!
Franz und ich erstarrten wie bei der Erscheinung eines Gespenstes. Abends drehte sich die Unterhaltung natürlich um das Drama, um Schauspielerinnen, Schauspieler usw.
Wie immer erkannte man Victor Hugo große Eigenschaften als Schriftsteller zu: Beharrlichkeit, Kühnheit und eine gewisse Erhabenheit. Leider aber läßt ihn ein beklagenswerter Dünkel, der jede Freundschaft und jede Vertraulichkeit ausschließt, Dinge sagen wie: »Ich halte in der einen Hand die politische, in der andern die literarische Welt.« Wenn man ihn in seiner Wohnung sähe, sagte Franz, bedauere man immer, daß kein Las Cases da sei, um sein Tagebuch zu schreiben.
A propos der X… hat er behauptet, daß die Gewohnheit, Komödie zu spielen, die Aufrichtigkeit im Leben in lästigster Weise beeinflußt, und daß eine Schauspielerin unter gewissen Umständen schwerlich Drama und Wirklichkeit voneinander zu trennen vermöge. Bocage behauptet dagegen, daß die X… mit zunehmender Bedeutung als Schauspielerin moralischer geworden sei. Die Gewohnheit, dichterische Gemütserregungen wiederzugeben, habe ihr Leben etwas geläutert. »Daraus kann man schließen«, sagte Franz, »daß aus einer Straßendirne, die sie war, eine Kokotte geworden ist.« Und um ihr Bild zu vollenden, fügte er hinzu, daß sie vom Lichtschneuzer bis zum dramatischen Schauspieler alle Existenzen, alle Laster und alle Eigenschaften der Theaterwelt in sich aufnähme.
Bocage hat George bestürmt, ein Drama zu schreiben. Kein Zweifel, daß es gelingt, und zwar mit Glanz.
Ich versuchte Bocage wegen eines Dramas von Mickiewicz Berühmter polnischer Dichter 1798-1855. zu sprechen. Aber als er mich diesen Namen wiederholen ließ mit der Frage »Was für eine Miss?«, habe ich nicht weiter davon geredet.
9. Juni.
Man macht viel Wesens von der Mutterliebe. Ich muß gestehen, daß ich nie die Stufenleiter der allgemeinen Bewunderung hinaufgestiegen bin. Einerseits bewundere ich die Liebe zu den Kleinen (Ausdruck von Madame Montgolfier Schriftstellerin.) nicht, weil sie kein geistiges Gefühl, sondern nur ein blinder Instinkt ist, in dem jedes gewöhnliche Tier dem Menschen überlegen ist. Diese Liebe nimmt in der Regel mit dem zunehmenden Alter der Kinder ab und erlischt gänzlich, wenn sie unabhängig werden. Es ist sogar nicht selten (obwohl man das allgemein als eine Ungeheuerlichkeit betrachtet), daß Mütter heimlich eifersüchtig auf ihre Töchter sind oder sich voller Bitterkeit gegen die Herrschaft auflehnen, die ihre Söhne mit dem Recht der Stärkeren ausüben wollen. Die andere Liebe, die einsichtiger und bei genauer Betrachtung von höherer Art ist, setzt sich ebenfalls aus zwei Persönlichkeitsmomenten zusammen, die weniger zu bewundern sind, als man gemeinhin sagt. Das eine ist die angeborene Leidenschaft der Herrschsucht im Menschen, eine Leidenschaft, die nirgends eine so vollkommene Befriedigung findet, wie in der Ausübung der mütterlichen Pflichten. Das andere ist die Liebe zum Ich, die sich auf Wesen von unserm Fleisch und Blut überträgt, in denen wir unsere Unvollkommenheiten, unsere Fehler und Untugenden in anmutig-kindlicher Form wiederfinden. Diese zweite Liebe vergeht meist auch mit der Zeit. Der Mangel an Gegenseitigkeit läßt sie notwendigerweise erlöschen … Aber es hat keinen Zweck, darüber zu reden. Lassen wir sie ruhig glauben, daß es etwas Großes ist, wenn sie ihre Kinder nähren, wie die Hündin ihre Jungen. Lassen wir sie auch glauben, daß sie sich aufopfern, während sie doch nur selbstsüchtig sind. Und lassen wir sie immer wieder sagen, daß die Mutterliebe hoch über allem steht, während sie sich doch nur daran hängen wie an einen Notnagel. In Wirklichkeit sind sie zu feige, zu eitel und zu anspruchsvoll, um wahre Liebe zu empfinden und echte Freundschaft zu verstehen, denn diese beiden Gefühle können nur in starken Herzen keimen.
Solange Solange Dudevant, Tochter der George Sand. (Madame Aurore Dudevant.) ist ein schönes, wunderbar ebenmäßig gewachsenes Mädchen. Sie ist munter, kräftig und voller Anmut in ihrer Kraft. Wenn der Wind in ihren Haaren spielt, die in natürlichen Locken über ihre römischen Schultern fallen, und wenn die Strahlen der Sonne ihr Gesicht bescheinen, das blendend weiß und in leuchtendem Inkarnat glänzt, ist sie wie eine junge Göttin, die ihren Wäldern entflohen ist. Die Götter lächeln ihr zu, und Vögel, Insekten, Pflanzen und Blumen grüßen sie, wenn sie vorüberschreitet. Ihre Seele ist ebenso stark wie ihr Leib. Ihre Intelligenz neigt den exakten Wissenschaften zu. Sie hat ein liebevolles Herz und einen leidenschaftlichen, unbezähmbaren Charakter. Solange ist für das Absolute im Guten wie im Bösen bestimmt. Ihr Leben wird Kampf und Streit sein. Sie wird sich nicht unter die allgemeinen Vorschriften beugen. In ihren Fehlern wird Größe, in ihren Tugenden Hoheit sein.
Maurice Maurice Dudevant, Sohn der George Sand. scheint mir einen lebenden Gegensatz zu seiner Schwester zu bilden. Der wird ein Mann von gesundem Menschenverstand, von Grundsätzen und ruhiger Kraft. Seine Persönlichkeit wird sein Leben meistern. Er wird bedächtig bis in seine Neigungen sein, die übrigens nicht sehr zahlreich sein werden. Er wird Geschmack an geruhsamen Freuden und am Besitz finden, wenn ihn nicht ein besonderes Talent in die Künstlerlaufbahn wirft, was sehr leicht möglich ist.
Sonntag, 11.
Der Abbé de Lamennais ist soeben aus der Redaktion des Journal »Le Monde« ausgeschieden. Ich weiß den wirklichen Grund noch nicht, der ihn mit der Verwaltung veruneinigt und veranlaßt hat, nach vier Monaten ein Unternehmen, das mit den »most sanguine hopes« begonnen wurde, im Stiche zu lassen. Ich betrachte diesen mißlungenen Versuch als unangenehm für ihn. Er hat sich in die Karten sehen lassen und in seine geheimen politischen Gedanken, die man für sehr viel revolutionärer hielt, Einblick gewährt. Er ist aber nicht über christliche Allgemeinheiten hinausgegangen, und die befriedigten niemanden. Er hat seinen Neuerungsideen keine regierungsfähige Form gegeben. Er hat mit einem Wort Predigten gehalten, wo man Leitartikel erwartete. Die Zukunft wird ihn für einen großen Propheten erklären, den Schriftsteller aber lehnt die Gegenwart ab. Seine Eigenschaft als Priester, seine ultramontane Vergangenheit machen ihn immer wieder seinen neuen Parteigenossen verdächtig. Sie werden ihn nie als ihr Oberhaupt ansehen. Er ist dazu verdammt, den Republikanismus als Liebhaberei zu betreiben. Eine Rolle, die unter der Würde seines Genies und seines Charakters ist. Lamennais ist fünfzehn Jahre zu alt. Wäre er ebensoviel jünger, so hätte er weniger überlegt, wäre er weniger um die Schwierigkeiten seiner Stellung herumgegangen. Er würde vollständiger mit Rom gebrochen und sein gegenwärtiges Leben reinlicher vom vergangenen, seinen Glauben von seinen Irrtümern, seine Sympathien von seinen Vorurteilen geschieden haben. Das wäre groß, fast übermenschlich gewesen. Anstatt dessen könnte man meinen, daß er durch sein Schweigen und Verschweigen einen sanfteren Übergang von seinem ultramontanen Feuereifer zu seinen demokratischen Zornausbrüchen zu bilden sucht. Um den Graben zu überspringen, hat er das eine Ufer hinabsteigen wollen, um das andere hinaufzuklettern. Und so mußte er auf dem Grunde plantschen.
Er ist auch recht ungeschickt mit George gewesen. Er hat nicht begriffen, daß sie kam, um ihre Geistesgaben ganz zur Verfügung zu stellen; daß sie seinen Ansichten blind ergeben war und gewissermaßen Handlanger seines Gedankens werden wollte. Er hat nicht gefühlt, daß er die Schriftstellerin, die am fähigsten war, seine Ideen volkstümlich zu machen, ermutigen und sie ihr in einer weniger strengen, aber dafür um so hinreißenderen Form hätte mitteilen müssen. Er hat sich ihr nur zögernd genähert, hat gemessen und höflich auf Herzensüberschwang geantwortet. Schließlich trat er ihren Überzeugungen entgegen und gab sich nicht einmal Mühe, sie für die eigenen zu gewinnen. Auch ist das berüchtigte Bündnis, von dem man soviel gesprochen hat, mehr scheinbar als tatsächlich gewesen. Bei größerer Mäßigung auf beiden Seiten hätten die beiden Intelligenzen sich der Wahrheit nähern können, soweit Menschen sich ihr zu nähern vermögen. Denn einzeln verlieren sie einen Teil der Macht, die sie vereinigt auf ihre Zeit ausgeübt hätten.
Montag, 12.
Ich habe immer bemerkt, daß Liebende und selbst die, deren Liebe mit der Zeit größer geworden und sich durch ihre Dauer geheiligt hatte, den ersten Stunden ihrer werdenden Neigung nachweinen. Ist es nicht kindisch, Irrtümer zu beklagen, ohne die es vielleicht keine Liebe gäbe? Und die für ihre Dauer nicht notwendiger sind als die Blumenblätter, die den Blütenstaub umgeben und schützen, die aber welken und zu Staub zerfallen, sobald die Befruchtung sich vollzogen hat?
Mittwoch, 14.
Die Nacht war warm und ruhig. Letzter menschlicher Lärm war seit langem im Räume verstummt. Die Natur war wieder sich selbst überlassen. Sie schien sich der Abwesenheit der Menschen zu freuen, denn sie sandte alle ihre Stimmen und all ihren Duft zum Himmel. Eine dichte Wolke bedeckte den Mond, aber rings um ihre dunkle Masse brach ein leuchtendes Strahlen hervor, wie es auch aus der Seele eines Gerechten bricht, wenn Mißgeschick mit seiner ganzen Schwere auf ihm lastet. Die Nachtigall sang ihren wunderbaren Liebesgesang, und selbst das niedrigste Geschöpf unserer Felder fand, so gut es konnte, eine klare und silberne Stimme, um das Universum zu feiern. Die Familie war auf der Terrasse versammelt. Einige von uns träumten, andere waren in Gedanken. Wer weder träumte noch sann, unterhielt sich …
Aber plötzlich gab es keine Träumerei, keine Worte mehr, noch Gedanken. Schweigen legte sich auf unsere Lippen, und Sammlung senkte sich in unsere Herzen. Der Meister hatte sich an den Flügel gesetzt. Ein mächtiger Akkord drang zu uns durch die Luft … Wir warteten, bis seine Phantasie ihren Flug nahm und uns mit sich auf blumige Auen entführte, empor zu schimmernden Wolken, in unbekannte Welten oder in jene unbekannteste von allen vielleicht, die wir in uns tragen … Hört ihr in schrecklicher Finsternis den raschen Lauf eines Rosses, dessen Flanken der Sporn blutig schlägt? Hört ihr das Ächzen des Windes und das Rascheln der Blätter? Seht ihr den Vater, der in seinen Armen das bleiche, bebende Kind hält? Ein Mysterium voller Entsetzen plant in den Lüften.
»Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?«
Das Roß rast und rast immer weiter. Es verschlingt den Raum. Es läßt aus dem Herzen der Steine tausend Funken sprühen. Das erhöht noch den nächtlichen Graus …
»Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.«
Aber eine schmeichelnde Stimme, voller Süßigkeit, ertönt hinter einem Vorhang von Laub. Hört nicht darauf, denn sie ist treulos und trügerisch wie der Sang der Sirenen …
»Mein Vater, hörest du nicht, was Erlenkönig mir leise verspricht?«
Das Roß rast und rast immer weiter. Es verschlingt den Raum. Es läßt tausend Funken aus dem Herzen der Steine springen. Das erhöht noch den nächtlichen Graus …
»Sei ruhig, bleib' ruhig, mein Kind, in dürren Blättern säuselt der Wind.«
Die Stimme beginnt wieder sanfter, schmeichelnder, verführerischer. Sie verspricht dem Kinde duftende Blumen, Spiele am Ufer des Flusses, Tänze zum Klange der Saiten …
»Mein Vater, mein Vater, siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düsteren Ort?«
»Mein Sohn, mein Sohn, ich seh' es genau, es scheinen die alten Weiden so grau.«
Die Stimme beginnt wieder, süß und sanft, dann wird sie plötzlich drohend. Das Kind stößt einen herzzerreißenden Schrei aus …
»Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an …«
Der Vater fühlt, wie kalter Schweiß sein Gesicht überströmt. Er preßt die Flanken seines Pferdes und drückt das ächzende Kind an seine Brust. Endlich erreicht er den Hof. Er atmet auf, seine Angst hat geendet …
»In seinen Armen das Kind war tot …«
Seht ihr die Träume eurer Jugend an euren Augen vorüberziehen? Hört ihr die Stimme der Erfahrung? Erlebtet ihr den Kampf des Ideals mit der rauhen Welt? O Dichter, Dichter! Und ihr Frauen, die ihr alle Dichter mit dem Herzen seid, hört auf die düsteren und verzweifelten Klänge des Meisters. Seht auf seine bleiche Stirn und auf seine schon gefurchten Wangen. Hütet euch vor Erlkönig! Seht, mit welchem Siegel er seine Opfer zeichnet! Diese Stelle ist fast wörtlich unter dem Titel: »Der Erlkonig während Nourrit sang«, in dem dritten Briefe eines Musikschülers, in der »Gazette Musicale« vom 11. Februar 1838 veröffentlicht Siehe Chautavoine, Franz Liszt »Romantische Blätter«, Felix Alcan.
Nacht vom 14./15.
Wir haben die Nacht auf der Terrasse verbracht, rund um einen Tisch, an dem sich jeder nach seinem Geschmack und nach seinen Fähigkeiten beschäftigte. In dem Schweigen der Natur ergab das Geräusch unserer abgerissenen Gespräche, die gesammelte Helligkeit unserer Lampen, der bläuliche Widerschein der Spiritusflamme auf dem Scharlach von Georges Gewand eine phantastische Szene, in deren Kreis die Hexen Macbeths oder die Hexen des Blocksberges sehr wohl hineingepaßt hätten. Charles Didier Französischer Literat und Journalist 1805-1864. war eben angekommen. Sein argwöhnischer Geist hatte schon öfters an unwesentlichen Tatsachen Anstoß genommen, die unaufhörlich sein inneres Mißbehagen nährten und seine Eitelkeit und seine Freundschaft für uns in Widerstreit brachten. Bei dem leisesten Worte bedeckte sich seine Stirn mit plötzlicher Röte. Hinter seiner goldgefaßten Brille spähte sein Auge aufmerksam nach dem Ausdruck unserer Gesichter, und oft erstarrte das Lächeln auf seinen Lippen bei einem mißtrauischen oder zweifelnden Gedanken. Unglücklicher Charakter! Krankhafter Ehrgeiz, Löwenherz im Igelkleide! Und doch bin ich ihm gut.
Eine Stunde vor Sonnenaufgang waren wir zu Pferde, George und ich, und gewannen die Ufer des Indres. Niemals hatte ich den unsagbaren Zauber dieser Morgenstunden so stark verspürt. Alle Weite verliert sich in einem Meer von Nebel, der durchsichtiger wird, je näher man kommt. Man erkennt die Wiesen, die Bäume und Felder wie durch einen leichten Gazeschleier. Tau bedeckt die Rasenflächen und bildet einen silbernen Schmelz über ihrem frischen Grün. Sobald die Sonne aufgeht, hebt sich der Nebel langsam. Alle Halme richten ihre gebeugten Stengel auf, eine Lerche, die in der Furche schlief, steigt auf und verliert sich, in Verzückung beim Anblick der Königin der Erde, in die Tiefen des Himmels und berauscht sich an ihrem seligen Liede.
Wir hatten eine Furt des Indres passiert und sprengten im Galopp einen steilen Pfad inmitten eines Roggenfeldes hinan, das die Seiten der Anhöhe mit seinem welligen Kleide bedeckte. Es war ganz besät mit rotem Mohn und fröhlichen Kornblumen. Bald kamen wir an eine Stelle, wo der Pfad das Roggenfeld verließ. Er verengerte sich merklich und beherrschte den Fluß in einer beträchtlichen Höhe. Ein Abhang, der beinahe steil und ganz feucht war von Tau, ließ wenig Hoffnung, daß man sich bei einem Sturz werde halten können. Prinzessin Mirabella fand, daß es recht schade für die Menschenart wäre, wenn ihr blondes Gelock in dem unbedeutenden Flüßchen ertränke. Ihr Begleiter Piffoël, der sich weniger notwendig für die Menschenart fühlte und der infolgedessen niemals Furcht hatte, seine Haut dranzuwagen, beschwichtigte nichtsdestoweniger mit Anmut die aristokratische Furcht der Prinzessin. Er sprang behende vom Pferde, legte je einen Arm in die beiden Zügel und stieg rasch den Pfad hinab, auf dem die Prinzessin nur mit Vorsicht und Umsicht marschierte. Man erreichte die Mühle. Neue Verlegenheit. Bignat, der feurige Renner der Prinzessin, hatte einen Fehler (welcher Sterbliche hat nicht einen?): Er ließ sich niemals gutwillig besteigen. Er trat vorwärts, wich zurück, verübte tausend Unarten. Als der Müller aus Berry das sah, nahm er ohne weiteres die Prinzessin in seine schwarzen, von Mehl geweißten Arme und setzte sie in den Sattel, ehe sie noch Zeit hatte, über die Neuheit dieses Vorgehens zu staunen.
Es schlug sechs Uhr, als wir in La Châtre eintraten. Wir ließen Vater Bourgoing wecken; er gab mir ein Glas Milch und führte mich auf die Rosenterrasse, auf der George mir so schöne Briefe im Anfang unserer Freundschaft »par procuration« geschrieben hatte. Diese Briefe waren mein Entzücken. Ich fand darin eine Eigenart, einen Zauber und eine Genialität, die mich seltsam anzog. Es schien mir nur, daß sie mich allzusehr mit Dichteraugen sah und daß sie mich in meiner natürlichen Gestalt nicht mehr würde lieben können. Im übrigen war sie für alles, was ich bisher gekannt, so unzugänglich, daß ich nicht wußte, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte, was ihr gefallen oder nicht gefallen, ihr angenehm oder unangenehm sein könnte. Als sie nach Chamonix kam, machte mich diese Befangenheit kühl und unsicher. Ihre »Jungenstreiche« brachten mich aus der Fassung. Ich fühlte mich gar nicht recht behaglich und war infolgedessen keineswegs liebenswürdig. Das betrübte mich, weil ich so leidenschaftlich ihre Freundschaft suchte. Aber je mehr meine Betrübnis überhandnahm, um so mehr überwucherte sie den Rest meiner Freundlichkeit und meiner Anmut. Und als sie ging, fürchtete ich, die einzige Gelegenheit, ihre Freundin zu werden, verloren zu haben …
Aber heute bin ich hundert Meilen von den Ufern des Indres entfernt. Wir wollen schnell dahin zurückkehren, denn dort fand ich Freundschaft, Vergessen meines Leids und den Frieden meiner Seele.
22. Juni.
Warum verlangt mein Herz seit meiner frühesten Kindheit so stark nach Traurigkeit? Warum schlingt sich mein Denken, wie Epheu, um Ruinen und verwitterte Baumstämme, die der Wurm benagt und die der leiseste Hauch des Winters fällen kann? Warum irre ich immer zwischen Gräbern und lese schon tausendmal gelesene Inschriften wieder, die mir sagen, daß an dem und dem Tage meine heilige Unwissenheit starb, an jenem andern meine Hoffnung und an dem da die Jugend meines Herzens.
Warum sucht die Amsel die bittere Frucht des Wachholderbaumes für ihre tägliche Nahrung? Ach, auch meine arme Seele nährt sich von bitteren Gedanken …
O Gott, wenn das der Weg zu dir ist, dann will ich nicht klagen.
25. Juni.
Vielleicht ist die beneidenswerte Leichtigkeit, mit welcher der Mensch sich selber abschwört, der traurigste Beweis für seine Erbärmlichkeit. Er entäußert sich seiner Persönlichkeit sozusagen, wenn er seine Vergangenheit, seine Ansichten, seine Gefühle, Schmerzen und Freuden verleugnet. In dem Maße, wie sein zages Herz Dinge, denen es vorübergehend Verehrung erwiesen, verrät, spottet er der Stunden hingegebener Zärtlichkeit anstatt sie mit andächtigem Schweigen zu ehren. Heute lacht er über die Begeisterung, die ihm am Tage zuvor Tränen entlockt hat. Kaum tritt er in eine neue Phase seines Daseins, so sehnt er sich nach der eben beendeten. Er achtet weder gebrochene Freundschaften, noch gebrochene Herzen. Er schmäht sich selber, wenn er die Gefühle schmäht, durch die er etwas gewesen und in deren Sinn er gehandelt hat. Denn seine Neigungen waren ja Bestandteile seines Wesens. Wenn er mehrere Freunde hat, so ist es, um sich bei dem einen über den anderen zu beklagen. Nimmt er sich eine neue Freundin, so sagt er ihr, daß er nie eine andere hat lieben können. Und so fährt er in die Grube und hat alles belogen, sogar sein eigenes Herz. Arme Sterbliche! Es ist ein Jammer, sein Elend so stark zu fühlen!
George sagte zu Franz: »Die Musik von Meyerbeer schafft nur Bilder. Beethoven läßt Gefühle und Ideen erstehen. Meyerbeer läßt ein großartiges Schauspiel an unsern Augen vorüberziehen. Er stellt seine Personen vor uns auf. Beethoven läßt uns in die tiefsten Tiefen unseres Ichs einkehren. Alles, was man gefühlt und gelitten hat, Liebe, Leid, Träume, alles erhält Leben beim Hauch seines Genius und wirft uns in unendliche Träumerei.
Der eine macht objektive, der andere subjektive Musik. Sie, Franz, vereinigen beides.«
Montag, 3. Juli.
Ich bin eben erwacht. Ich habe geweint. Aber nicht über mich. Gewiß nicht. Ich weinte bei dem Gedanken an ein anderes Schicksal, das ich als unwiderruflich verloren betrachte … Ich werfe mich vor dir nieder, o mein Gott, ich bete dich an und segne dich. Verdiene ich es, daß du den holdesten Strahl deiner unendlichen Güte über mir leuchten läßt und mir Liebe in ihrer ganzen Reinheit geschenkt hast? Die allumfassende Liebe in ihrer ganzen Freiheit und Kraft? Ich danke dir, denn heute fühle ich, daß die Macht der Liebe unsere Seelen läutert und daß sie unsere vergangenen Fehler weit fortgeworfen hat, wie die dem Gletscher innewohnende Kraft alle unreinen Körper wieder hinausschleudert, die ihn trüben. Seid gesegnet, ihr bitteren Tränen, Herzeleid du und ihr grausamen Kämpfe. Denn ihr habt den Vorsatz zur Aufrichtigkeit in uns gefestigt. Die Aufrichtigkeit, dies bescheidene Heldentum im praktischen Leben, ist ein notwendiger Bestandteil unseres Daseins geworden. Lüge und Verschweigen werfen ihre eisigen Schatten nicht zwischen uns. Wir wissen, daß wir fehlen können, ach fehlen müssen! Aber wir wissen auch, daß jeder unserer Fehler, der von liebevoller Barmherzigkeit betaut ist, neue Tugenden in uns keimen lassen kann. Wahrheit, heilige Wahrheit, du bist das Brot der Schwachen und der Quell, der nie versiegt bis in Ewigkeit.
Didier hat mit Franz Freundschaft geschlossen, die von Dauer sein wird, glaube ich. Denn sie ist mehr auf Achtung, als auf gegenseitiger Anziehung gegründet.
Ich glaube, daß ich besser geworden bin als einst, weil ich meine Freunde liebe und doch ganz deutlich ihre Fehler und ihre Lächerlichkeiten sehe. Ich bedarf ihrer nicht im geringsten. Ich fühle sehr wohl, daß ich bei ihnen keinen Trost finden kann. Denn ich persönlich bin keinem Schmerz und keiner Freude zugänglich, es sei denn, sie kämen von »ihm« oder durch »ihn«. Ich liebe meine Freunde also ohne Berechnung und viel mehr ihret- als meinetwegen.
Vergangene Nacht hatte ich eine türkische Zigarette geraucht und konnte nicht einschlafen. Da fing ich an, über die Begriffe Gut und Böse nachzudenken. Sicherlich gibt es Gut und Böse. Es ist da, wie das Schöne und das Häßliche. An Verbrechen und Tugend könnte man allenfalls zweifeln. Daß es aber verbrecherische und tugendhafte Menschen gibt, das kann man gewiß ganz in Abrede stellen. Hat die Seele nicht ebenso ihren Ausdruck wie der Leib? Übt die Erziehung nicht dieselbe Wirkung auf die Seele aus, wie die Hygiene auf den Körper? Sind wir imstande, einzuschätzen, wie sich im Leben eines Menschen seine natürlichen Neigungen, die Lehren, die er empfangen, die Vorbilder, die ihn umgeben, die Versuchungen, die ihn belagern, und der Grad von sittlicher Erkenntnis, der ihm mitgegeben ist, zusammensetzen? Wenn man das wahre Wort eines Phrenologen, der die Egoisten »Idioten des Herzens« nennt, verallgemeinert, so gelangt man logischerweise zu einer Freisprechung des Bösen. Fehlt nicht den Idioten der Sinn für das Recht, das uns die hohen Freuden der Tugend der brutalen Befriedigung des Lasters vorziehen läßt? Sind tugendhafte Menschen etwas anderes als Künstler, die mit einem erlesenen Sinn für das sittliche Schöne begabt sind? Sie behauen ihre Seele, wie der Bildhauer den Stein behaut und nach einem idealen Vorbild formt, das in ihnen lebt. Wer hat den Bösen werden lassen, der nicht fähig ist, sein Herz der Sonne der Gerechtigkeit zu erschließen? Wer hat in den tugendhaften Menschen den Magnet gelegt, der immer das Gute anzieht?
Die Gesellschaft hat nicht das Recht, die Schuldigen zu strafen. Um dies Recht zu haben, müßte sie für die sittliche und religiöse Erziehung aller und für die Erfüllung ihrer rechtmäßigen Forderungen Sorge tragen. Das hat sie aber nicht getan. Sie hat also nur das Recht, zu verbessern oder zu verhindern, daß sie Schaden anrichten.
Dienstag, 4.
Gestern abend haben wir einen Artikel von Sainte-Beuve über Frau von Krüdener Gattin eines russischen Diplomaten, deren abenteuerliches Leben in Mystizismus und Askese endete. Zahlreiche Literaten wie Xavier Marnier, Sainte-Beuve, Charles Eynard usw., haben ihr Studien gewidmet. 1764-1824. gelesen. Sein Urteil über die Prophetin von 1814 ist nur unvollkommen. Er schildert sie als launisch, eitel und kokett sogar in ihrem Fanatismus, mit einem Wort als Weib, denn gerade die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Leben berühmter Frauen überzeugt uns davon, daß die Frau achtzehn Jahrhunderte nach Christi Geburt noch kindisch mit großen Gefühlen, Selbstverleugnung und Heldentum spielt. Verlangt keine Logik von ihr. Wenn sie auch auf Grund ihrer Studien dazu gelangt, sich ihrer in ihren Reden zu bedienen, praktisch wird sie sie doch nicht anwenden, denn niemals sucht sie ihren Halt in sich, sondern immer in andern, sei es nun, daß sie ihren Schwerpunkt in die Liebe, die Eitelkeit oder in ihre Ohnmacht legt.
Der Artikel von Saint-Beuve hat die Fehler und Vorzüge, die sich in allen seinen Sachen finden; ein allzu gedrechselter Stil, endlose Sätze, die keine Melodie haben, betonte Vorliebe für anmaßende Ausdrucksweise, aber oftmals eine erstaunliche Feinheit der Bewertung, eine große Genauigkeit und die geglücktesten Worte, um die zartesten Nuancen wiederzugeben.
Montag, 24.
Heute morgen habe ich Nohant verlassen. George gab uns mit Mallefille Dramatischer Dichter und Romanschriftsteller 1813-1868. und Rey Journalist, Politiker, Volksvertreter von 1848. das Geleit bis La Châtre. Die beiden jungen Leute leiden an dem Übel unseres Zeitalters: ihr überspannter Ehrgeiz steht im Gegensatz zu ihrer Armut, was um so grausamer ist, als sie täglich in Berührung mit der Üppigkeit einer ganzen Klasse von Menschen kommen, die nicht mehr wie einst als die rechtmäßig höhere anerkannt und genehmigt ist, sondern deren Überlegenheit lediglich auf ihrem Reichtum beruht und auf allem, was er an Macht und Vorrechten mit sich bringt. Mallefille, der davon träumte, die französische Bühne zu reformieren, ist angewidert vom Drama und will nach Cirkassien gehen. Zum Glück hat er Quarantäne in Nohant gemacht, und wir haben, glaube ich, Dämpfer auf seinen glühenden Tatendrang und seine Ruhmgier gesetzt. Vielleicht wird er sich ganz einfach nur mit der Erziehung von Maurice befassen. Rey zielt auf nichts geringeres als auf eine Menschheitsdichtung, die in einem halben Jahre fertig sein soll. Dieses Poem, das er seit Jahren in seinem Kopfe herumträgt, soll die psychologische Geschichte des mikrokosmischen Menschen, wenn ich richtig verstanden habe, darstellen. Er spricht ohne Prahlerei, aber mit einer erstaunlich ruhigen Hoffnung davon. Seine Unterhaltung, die meistens ein langer und drückender Gemeinplatz ist, läßt nicht sehr auf das Werk eines neuen Dante oder Milton hoffen!!
Der Aufenthalt in Nohant hat mir gutgetan. Der Frohsinn Georges hat bei mir, obwohl er mir wenig sympathisch ist, die Heiterkeit, die sonst auf meiner Stirn so wenig zu sehen ist, geweckt. Sie hat auch den poetischen Sinn in mir erhöht und infolgedessen meiner Fähigkeit zu genießen einen neuen Aufschwung verliehen. Ferner hat sich mein Selbstgefühl befestigt. Aus einem übertriebenen Mißtrauen gegen mich selbst bin ich zu einer gerechteren Einschätzung meines Wertes gelangt. Wenn es auch nicht gut ist, eine zu hohe Meinung von sich zu haben, so ist es doch sehr schädlich, zu gering von sich zu denken. Ich habe übrigens eingesehen, daß es keine Abgründe zwischen den einzelnen Menschen gibt. Der eine besitzt Eigenschaften des Herzens, der andere Überlegenheit des Geistes, und die Intelligenzen stehen gar nicht in so großem Mißverhältnis zueinander. Beide können sich sehr wohl ergänzen, ohne sich gegenseitig beherrschen zu wollen. Werde ich es in zwei Worten sagen können? Es war mir sehr nützlich, neben George, dem großen Dichter, auch George, das ungezähmte Kind zu sehen. George, diese bis in ihre Verwegenheit schwache Frau, die so wandelbar in ihren Gefühlen und Ansichten, unlogisch in ihrem Leben ist und die immer durch den Zufall der Dinge, selten von der Vernunft und der Erfahrung regiert wird! Ich habe eingesehen, wie kindisch es von mir war, zu glauben (und dieser Gedanke hatte mich oft mit Traurigkeit erfüllt), daß sie allein Franzens Leben alle Entwicklungsfähigkeiten hätte geben können und daß ich nur ein unglückliches Hindernis zwischen zwei Schicksalen gewesen bin, die bestimmt waren, ineinander aufzugehen und sich zu ergänzen.
Die Kathedrale von Bourges ist das vollkommenste Denkmal der Gotik, das ich kenne. Als ich sie betrat, ward ich von Ehrfurcht ergriffen und das Gefühl der Unendlichkeit umfing mich ganz. Das ist so recht ein christlicher Tempel, in dem der Mensch klein wird und wo Gott sich in geheimnisvollen Tiefen verbirgt. Die schlanken Säulen recken sich kühn zum Himmel, wie der Glaube unserer Väter, und die Bogen der Gewölbe neigen sich zueinander wie Seelen, die sich in der Barmherzigkeit suchen. Einen Augenblick brachen sich die Strahlen der Abendsonne in den gotischen Fenstern und färbten die Gewölbe mit violetten und purpurnen Tönen. Sie verschleierten die harten Umrisse der Linien und bauten über unseren Köpfen einen zauberhaften Dom aus Äther und Licht … Ich verharrte lange in schweigender Betrachtung, aber ich fühlte, daß ich nicht mehr anbetete. Ich bestaunte die Größe des gekreuzigten Menschen, dem mehr Tempel errichtet wurden als die Cäsaren je Paläste besaßen, und das einfache, aber schreckliche Wort von Pierre Leroux Französischer Philosoph und Économiste 1797-1871. setzte sich an das Ende aller meiner Erwägungen: »Und doch ist Christus nicht auferstanden.«
Franz verglich die großen katholischen Kirchenschiffe mit einem Strande, von dem das Meer zurückgewichen ist. Die Flut der Völker hat sich von der Kirche entfernt, und sie liegt verlassen und stumm.
Ich liebe das Reisen, weil es in mir das Gefühl der Einheit meines Lebens erweckt. Wenn ich mit ihm unbekannte Länder durchstreife, fühle ich, daß er mein einziger Halt ist, meine einzige Hilfe und mein einziger Führer, daß mein Schicksal allein in ihm ist, daß ich es ihm frei und freiwillig ausgeliefert und daß ich in der Tat nur in seinem Herzen Tempel und Vaterland habe.
Er sagte mir, daß ihm beim Anblick schöner Gegenden und grandioser Denkmäler das Schöne immer erst durch mich offenbar werde. Ich sei für ihn wie das Wort, durch das sich ihm die Schönheit der Dinge enthülle.
31. Lyon.
Eben habe ich die »Fischer« von Leopold Robert Berühmter Maler der französischen Schule 1794-1835. gesehen, die M. P. erworben und zum Nutzen der Arbeitslosen ausgestellt hat. Eine große und schöne Komposition, prächtige Farben, tiefer Ausdruck. Auf der Rechten des Bildes sieht man zwei Männer von erhabener Auffassung. Der eine richtet den Blick mit edler Entschlossenheit empor, der andere sitzt mehr im Schatten in einen Mantel gehüllt und scheint mit bitterer Sehnsucht und düsterer Verzweiflung zu kämpfen. Diese beiden Männer, besonders der letzte, sind byronische Typen von wunderbarer Schönheit. Ich wurde von einem innerlichen Zittern befallen, das der Anblick großer Dinge immer in mir hervorruft. Meine Augen füllten sich mit Tränen, mit den himmlischen Tränen, die tags zuvor meine Wimpern gefeuchtet hatten, als ich Schuberts Lieder vernahm. Heilige Geheimnisse der Kunst! Ihr seid unendlich und unerfindlich, wie Gott!
Gestern habe ich Nourrit in kleinem Kreise einen ganzen Abend Schubertsche Lieder vortragen hören. Er sang mit anbetungswürdiger Zartheit: »Sei mir gegrüßt!« In der Wiedergabe der »Sterne« hat er eine gewaltige Höhe des Ausdrucks erreicht. Er war ein Hierophant, der begeistert die Wunder der Schöpfung preist. Er war mehr Priester in diesem Augenblick, als sehr viele Priester, und wenn wir dem Schwung, den er unseren Herzen gab, nachgegeben hätten, so wären wir in die Knie gesunken, um anzubeten …
Nourrit ist ein ausgezeichneter Künstler und ein schätzenswerter Mensch. Er verläßt die Oper verfrüht, ohne damit aber seine Laufbahn zu beenden. Wie die großen Künstler von heute, sinnt auch er darüber, wie man die Kunst unter das Volk bringen und die Kleinen durch Einweihung in die Kunst fördern könne. Wie Mainzer Der Abbé Mainzer, gebürtig aus Trier, 1807-1831, hatte soeben in Paris Gesangs- und Musikkurse für die Arbeiter eröffnet. also, nur erweitert und auf breiterer Stufe verwirklicht. Seine Pläne sind edel und wahrhaft menschlich. Wenn wir wieder in Frankreich sind, will Franz wahrscheinlich auch ähnliches unternehmen, und vielleicht werden wir große Ergebnisse sehen, wenn man die Teilbemühungen und Versuche, die bis dahin allzu unvollkommen und zersplittert waren, vereint.
Enfanti Führer der Saint-Simon-Schule. hat sich in die Nähe von Lyon zurückgezogen. Ich habe eine große Verehrung für ihn und hege einen ähnlich lebhaften Wunsch, ihn kennenzulernen, wie es bei M. de Lamennais der Fall war. Ich habe einige Seiten von Briefen abgeschrieben, die er an M. Arles, einen Kaufmann, der kürzlich durch den amerikanischen Bankrott ruiniert worden ist, gerichtet hat:
»Den Kopf im Ungemach zu senken, mutete mich stets als schwächlich an. Ihn zu senken, wenn wir Ruhm erlangen, ist und bleibt ein Zeichen edler Demut. Denn wenn sich der Stolze an der Brust eines Freundes oder einer Frau anklagt, so Gott ihn straft, dann wird er sich in seiner ganzen Würde unter einem strengen, aber liebevollen Wort erheben und sich gestärkt von dem Tau gemeinsamer Tränen wiederaufrichten können. Aber damit er die Kraft habe, sich auch vor einer Menschenmenge zu demütigen, die ihn am liebsten vernichten und kreuzigen möchte, dazu mußte Gott seinen eingeborenen Sohn schicken, auf daß er uns diese übermenschliche Lehre vorlebe. Trotz seines ungeheuren Stolzes demütigte sich dieser gekreuzigte Gottessohn vor seinem Vater, doch er lieferte mit seiner Tat die ganze Welt dem Satan aus. Unvollkommene Wesen, die wir sind! Wir sehen in anderen Menschen unvollkommene Wesen gleich uns. Wir verachten die Welt nicht, wir fluchen ihr nicht. Wir wollen sie nur besser machen und uns durch sie vervollkommnen. Behalten wir unseren Ruhm still für uns. Bleiben wir ihr gegenüber auch dann demütig, wenn sie uns die Ehre erweist, die ihr eigentlich zukommt, und seien wir demütig in uns, wenn sie uns mit Ruhm bedeckt, nur um unsere Schwächen zu verschleiern. Laßt uns ihre Fehler bekennen und richten wir sie, wenn sie uns verkennt und uns zu schlecht beurteilt! Laßt uns unsere Schwäche eingestehen und ihre Lossprechung erbitten, wenn sie uns überschätzt hat.
Aber wir wollen uns nicht unter ihrer ungerechten und kalten Hand beugen, die uns hinstrecken will. Sie wird uns zermalmen wie Jesus. Und blähen wir uns auch nicht vor ihrem schmeichelnden Hauch, der uns wiegen und erfrischen will. Wir würden zugrundegehen, wie Napoleon. Beugen wir uns aber, beugen wir uns nieder bis zur Erde unter der Rute einer Mutter, die uns liebt, unter dem eifersüchtigen Zorn einer Frau, die uns anbetet, vor den Tränen unserer Kinder, wenn unsere Fehler ihnen wehgetan haben. Denn diese alle lieben uns wie Angehörige lieben. Doch das ist Familienbrauch, nicht politisches Gesetz. Was dem Geheimnisvollen ansteht, eignet sich nicht für den Markt. Die Massen werden immer von den Menschen erwarten, daß sie sanft und nachgiebig zuhause, aber stark und rauh auf dem Forum sind. Das wahre Heilmittel für jede Gesellschaft, die in sich selbst zerfällt, ist das Leben in der Gemeinschaft mit anderen Gesellschaften. Ohne die europäischen Kriege, ohne Napoleons weltumspannende Sendung, die er Frankreich gab, würde man bis zur Vernichtung des letzten Mannes mit dem Schafott gespielt haben, und es wäre nur der Henker übriggeblieben. Aber der Henker hat sich zum Kaiser gemacht, und mit seinen Knechten ist er durch die Welt gejagt. Durch sie haben wir zwanzig Jahre lang im Ruhm gelebt, und durch sie hat das Blut von zwanzig Völkern sich vermischt, die heute mehr als je geneigt sind, sich als eine Familie anzuerkennen.
Sie wissen, daß man die Aussprüche großer Dichter und ihre Prophezeiungen nicht immer wörtlich nehmen darf. Man sollte aber sorgfältig auf den Gott hören, der sich in ihrem Busen regt. Ich kümmere mich also wenig um die republikanischen Hoffnungen eines Chateaubriand, Lamennais oder Ballanche, weil ich weiß, wie es im Herzensgrunde dieser drei Männer aussieht. Sie sind nicht erst gestern geboren. Wir kennen sie auswendig, und wir wissen genau, daß Moral, Religion und Hierarchie ihre Musen sind. Alle drei haben seit einigen Jahren große Sympathie für die furchtbaren Schmerzen des Volkes gewonnen. Sie hatten bis dahin alle Poesie ihres Herzens für die großen Mißgeschicke von Königen und Päpsten verwandt. Sie sangen nur für Thron und Altar. Und nun färbt, wie dies bei wahren Dichtern der Fall ist, diese letzte Leidenschaft und diese ihre letzte Liebe alle ihre Gedanken.
Ebensowenig glaube ich, wenn ich die ähnliche und jüngere Dreieinigkeit: Sainte-Beuve, Reynaud und Leroux betrachte, an die Bilder, die mir ihre heiße Phantasie verkündet, aber ich spüre den Gott in ihnen, und bin sicher, daß die Menschheit einer Ära der Freiheit, Wahrheit und Rechtschaffenheit entgegengeht. Was schließlich ihre Republik betrifft, so ist sie ein Wahn.«
Ein Bedürfnis, Teil an einer Gemeinschaft zu haben, das wenige Gute, das ich tun könnte, auf ein festes Ziel zu richten, aus einem Einzelwesen Mitglied einer Familie zu werden, einer der tausend Strahlen, die nach einem Mittelpunkt streben, macht sich manchmal bei mir fühlbar. Wenn ich Enfantin sähe, würde ich vielleicht Schülerin Saint-Simons werden. Freilich ohne einen lebendigen Glauben, nur einfach, weil unter allen modernen und sozialen Systemen die Doktrin von Saint-Simon am vollkommensten alle meine Sympathien umfaßt.
5. August.
Die Ebene von Grenoble macht schon einen verführerisch-südlichen Eindruck. Weinstöcke, Maisfelder, Maulbeerbäume und flache Dächer deuten an, daß der Winter hier keine Dauer hat und an Kraft verliert.
Wir wandern zur großen Karthause hinauf. Der Anstieg am Ufer eines einsamen Gebirgsbaches, im Schatten der Fichten, Buchen und Kastanien ist nicht beschwerlich. Je weiter man in diese einsame Schlucht eindringt, um so mehr verengert und verdüstert sie sich. Auf das Rauschen des Wassers folgt Schweigen. Der Pflanzenwuchs wird immer schöner, als wolle er den Menschen für immer in den Frieden des Herrn locken. Ich habe viele Alpenberge bestiegen, aber nirgends noch habe ich einen so großen Eindruck von dieser zusammenhängenden Gebirgskette empfangen wie hier. Die Alpen gliedern sich in drei Gebiete, die sehr verschieden voneinander sind. Zuerst Pflanzenwuchs und Ackerbau, dann die Region der Fichten und Weiden, die immer spärlicher wird, bis hinauf zu den nackten Felsen und zum ewigen Schnee. Aber hier ist nichts dergleichen. Immer liegt ein grüner Laubteppich unter unseren Füßen. Immer wölbt sich ein Dom von Laub zu unseren Häupten, und eine verborgene Stimme ruft uns eindringlich zu: »Venite ad me, qui laboratis!« Die Beschreibung der Großen Karthause ist zum Teil in einem Briefe Liszts an Louis de Rouchand vom September 1837 wiedergegeben. Siehe Chantavoine, wie oben.
Es war Sonntag. Nach vierstündigem Marsche kündete uns Glockenläuten die Nähe des Klosters an. Mir ist der Eintritt verboten. Die Mittelmäßigkeit der Anlagen, die Gewöhnlichkeit einiger Karthäuser, die mich anreden, lassen mich das nicht bedauern. Ich sehe lieber unter einer Baumgruppe würfelspielenden Kindern und prächtigen Kühen zu, die zutraulich die duftenden Kräuter des Rasens weiden. Um uns herum sind die Höhen steil und dicht bewaldet. Ein einziger kleiner Vogel erfüllt die Luft mit seiner durchdringenden Weise. Ich mußte den freien Gesang der Waldkinder und die friedliche Lust der Herde mit den strotzenden Eutern in einem unwillkürlichen Vergleich der Enthaltsamkeit, den Kasteiungen und der Klausur der Karthäuser gegenüberstellen. Diese heiligen Verirrungen waren einst nützlich und sogar notwendig. Aber heutzutage …? Hat der Mensch heute nicht eine würdigere und höhere Art, Gott anzubeten? Muß er denn freiwillig das Elend seiner Natur noch mit schweren und unfruchtbaren Leiden vergrößern? Könnte der Verzicht, unter einem gewissen Gesichtspunkt betrachtet, nicht wie eine Beleidigung des Schöpfers erscheinen? Oh, wieviel gottesfürchtiger ist der Mensch, der mit Liebe und Dankbarkeit die Güter genießt, welche die Natur ihm mühelos gibt und die ihm sein Fleiß verschafft!
Franz, der im Grunde katholischer ist, als ich, sagte mir, daß ein klug rechnender Papst einen ungeheuren Gewinn aus den Klöstern ziehen könne, die ja alle mehr oder weniger von ihm abhängen. Wenn er sie nämlich zu geistiger Arbeit oder gar zu industrieller Bewirtschaftung heranzöge. Ein neuer Gregor mit Verständnis für unser Zeitalter, hätte dem Katholizismus noch einmal die Macht geben können, die der kühne Mönch ihm durch die Glaubensmittel seines Jahrhunderts einst gab. Er würde so den Flecken des Müßigganges tilgen, der die Klöster dem Volke so verhaßt gemacht hat. Er würde damit auch den industriellen Spekulationen entgegengetreten sein, die heutzutage den sowieso schon flüchtigen religiösen Geist noch vollends aufsaugen. Die Gottesmänner hätten, wenn sie die Arbeit des Proletariats teilten, ein Recht, ihm die christliche Lehre zu predigen. Und durch diese einfache Umgestaltung der Klosterregeln, die gar nicht an ihr Dogma rührte, könne der Papst sich und vielleicht die Gesellschaft vor schrecklichen Heimsuchungen retten. Es sei sogar ziemlich wahrscheinlich, daß wir erleben würden, wie Künstler und Gelehrte und überhaupt arbeitende Menschen sich nach einer vereinbarten Regel zusammenschließen und ihre Forschungen und Entdeckungen gemeinsam machen würden.
Auf diese Weise werde auch viel sicherer der Selbstsucht, die die Menschen zu Einzelwesen macht, und ihre Arbeit voneinander absondert, gesteuert, als mit klösterlicher Einschließung. Die Wissenschaft würde schnelle Fortschritte machen, und die Sorge um das materielle Leben weniger Zeit beanspruchen. Es würde weniger Intelligenz im Elend ersticken und Irrtümer und Verblendung würden abnehmen, wenn das Auge aller auf jedem ruhe … Sollte ich eines Tages mit Franz dazu beitragen können, etwas derartiges einzurichten, würde ich glücklich sein.
Den 7.
Wir sind nach Charmettes gegangen. Dort liegt ein kleiner Pfarrgarten, dem die Liebesgeschichten Rousseaus nicht genügend Bedeutung geben. Dort liegt auch ein Buch aus, in dem jeder Dummkopf immer gleich bereitwillig das Zeugnis seiner Torheit niederlegt. Solche Bücher kommen mir wie eine Statistik des geistigen Standes der Massen vor. Gott weiß, welchen Durchschnitt man von einem Extrakt alles dessen, was man an Albernheiten dort aufgeschrieben hat, erhalten würde.
Frangy … Erinnerung an die Jugend! Was ist aus dem Liebesempfinden meiner ersten Jahre geworden? Der Duft des Weißdorns an einem Aprilabend, der ferne Sang eines Hirten, einstmals vernommen, der rosige Schimmer, den das wechselnde Spiel der sinkenden Sonne auf einer vorüberziehenden Wolke malt, hinterlassen in unserem Gedächtnis mehr Spuren als ihr!
Eine Stunde vor unserer Ankunft in Genf hat er gesprochen. Manchmal, wenn er von einem großen Schauspiel der Natur, von einer schönen Harmonie oder vor allem von einem heiligen Worte der Liebe sehr bewegt und erregt ist, erwacht sein »Schöpfergeist«, und das tiefste Geheimnis seines Herzens springt auf wie eine kochende Flut. Ich verglich ihn eines Tages mit der Memnonsäule. Gleich ihr entströmen seiner Seele göttliche Töne, wenn die Strahlen der Begeisterung sie berühren. Aber wie sie auch bleibt er in seiner Stärke undurchdringlich und stumm im Schatten irdischer Dinge. Wenn er also erschüttert ist, scheint er sehr zu leiden. Er redet unter dem Zwange einer unbekannten Macht, die ihm Flammenworte in den Mund legt, an die weder er noch ich uns später erinnern können. Dann verstehe ich, was in alten Zeiten Wahrsagerinnen und Sibyllen bedeuten konnten. Ich fühle mich dann nicht mehr seinesgleichen, denn sein Wissen hat eine Weihe, die der meinen weit überlegen ist. Aber gleichzeitig fühle ich, daß er mich an sich zieht und aufhebt zu sich in die Unermeßlichkeit seiner Liebe.
Den 10.
Ich habe Blandine Die älteste der drei Kinder, die sie mit Liszt hatte. Sie wurde die Frau des französischen Staatsministers Émile Ollivier. Die zweite, Cosima, heiratete in erster Ehe Hans von Bülow, und nach ihrer Scheidung Richard Wagner. Der dritte, Daniel, starb mit 20 Jahren, 1859. in Etrambière gesehen. Ich war entzückt von ihrer Schönheit. Die wunderbare Entwicklung ihrer Stirn, ihr ernster und intelligenter Ausdruck lassen auf ein ungewöhnliches Kind schließen. Sie hat eine Leidenschaft für Blumen, und sie übt bereits Mildtätigkeit aus, indem sie »Sous-Stücke« in den Hut ihres Lieblingsbettlers (Tati) legt. Sie ist jähzornig und feinfühlig zugleich. Während ich dort weilte, hat sie ihre Amme gekniffen, aber im nächsten Augenblick hat sie sie in einer Herzensaufwallung mit rührender Besorgnis umarmt. Was für heilige Freuden keimen doch für uns in diesem kleinen, noch so schwachen und unfertigen Geschöpf!
Wir haben Pictet, G…, A…, Fazy und Ronchaud Französischer Schriftsteller, geboren 1816. wiedergesehen. Ronchaud ist der ergebenste und anhänglichste unserer Freunde. Er ist von Natur zerstreut, träumerisch und unfähig, das Leben kräftig in die Hand zu nehmen. Er ist linkisch und verlegen, daher für Geschäfte gänzlich untauglich. Er könnte höchstens der Romanheld einer jungen Dame werden. Aber er ist erst zwanzig, und so wird er sich schon noch abschleifen.
Den 17.
Wir sind in Raveno angekommen, am Ufer des Lago Maggiore. Reizende kleine Herberge, ganz in Blumen gebettet. Ein Schiff bringt uns nach der Isola Madre, einer der borromäischen Inseln, die einst ein unfruchtbarer Fels war. Heute gedeiht dort der üppigste Pflanzenwuchs. Zitronen- und Orangenbäume überdecken die Mauern mit einem duftenden Blütenteppich. Virginischer Jasmin mit seinen Feuerkelchen und Kapernsträucher mit ihren langen zartlila Staubgefäßen hängen weich darüber. Die Aloe steht mit ihren dicken Blättern so unbeweglich, als sei sie eine Pflanze aus Bronze, die den Fels durchbohrt. Sassafras, Kampferbäume und Magnolien blühen verwundert neben der schottischen Tanne und spiegeln sich in dem blauen Wasser des Sees, den die Rhätischen Alpen begrenzen. Man fühlt sich in die verzauberten Grotten einer Peri versetzt oder in jenen ersten Garten, den die Phantasie biblischer Dichter für die Liebe zweier Wesen ohne Sünde schuf.
Die Isola Bella, auf der das Borromäerschloß erbaut ward, ist eine rechte Geschmacklosigkeit. Immerhin sind die inneren Säle großartig und weitläufig. Eine Bildergalerie, Statuen von Monti machen sie künstlerisch interessant. Ferner hat Napoleon hier am Tage vor der Schlacht von Marengo übernachtet. Man zeigt noch auf dem einen der beiden gigantischen Rosenlorbeerbäume, die ihresgleichen nicht in Europa finden, die Stelle, wo er das Wort »Battaglia« einschnitt. Als ich mit unserer Barke dahin fuhr, ward ich beim Anblick einer großen blühenden Aloe von Bewunderung erfüllt. Sie entfaltete ihre feurigen Staubfäden in der Sonne, und lange betrachtete ich diese Blume der Dichter, das Symbol jener göttlichen Liebe, die auch nur einmal im Leben blüht.
Den 18.
Der Herr Polizeikommissar hält mich zwei Tage wegen einer Paßformalität in Sesto-Calende zurück. Der Zoll zeigt sich beim Anblick eines Fünffrankenstückes sehr entgegenkommend. Die Bettelei und die Zudringlichkeit der Lastträger ist in höchster Blüte: »Geben Sie dem Facchino etwas!« Das wird einem unaufhörlich in die Ohren trompetet. Wir machen abends einen entzückenden Spaziergang am Ufer des Sees entlang unter Weinlauben bis nach Angera. Aber die Herren Österreicher machen im Schatten der Feigen und Olivenbäume entschieden eine traurige Figur.
Den 20.
Varese ist eine hübsche, kleine, sehr belebte Stadt. Selbst die weniger schönen Frauen haben eine Lebhaftigkeit des Blickes und der Bewegung, die ihnen einen besonderen Reiz verleiht. Eine lange, von Platanen, Akazien, Linden und Kastanien gesäumte Allee führt nach Como. Der See ist wunderbar schön. Wir haben zwei Tage lang den Teil zwischen Como und Colici besichtigt. Er ist von Bergen eingerahmt, die bald nahe zusammenkommen, bald auseinanderstreben und so eine Reihe von Seen zu bilden scheinen. Das macht ihn unendlich abwechslungsreich. Eine Menge Villen liegen an ihren Ufern. Die Villa d'Este, die ehemals von der Prinzessin von Wales bewohnt wurde, hat an Sehenswürdigkeiten eigentlich nur einen Theatersaal, der in allen seinen Teilen von erlesenem Geschmack ist. Die Pasta wohnt beinahe gegenüber. In einem der düsteren Golfe des Sees liegt die »Pliniana«, in der die berühmte wandernde Quelle ungestüm nach außen drängt. Plinius hat sie beschrieben. Sie bildet im Inneren des Hauses selbst ganz eigen anmutende Kaskaden. Der Gesamtblick dieser an den Berg gelehnten Villa mit ihren Sälen ohne Decke und ihren Wasserläufen, die sie in jedem Sinne durchströmen, ist einzig in seiner Art. Man könnte mit geringen Kosten eine entzückende Behausung daraus machen. Villa Pliniana, 1570 von dem Grafen Anguissola erbaut, jetzt Eigentum der Marchesa Trotti. Dabei eine Quelle, die täglich ihren Stand verändert und bereits von beiden Plinius erwähnt ist. Villa Melzi besitzt einen schönen Garten im englischen Stil. Valéry Verfasser einer »Reise in Italien.« rühmt zu Unrecht eine Marmorgruppe, in der Dante von Beatrice geführt wird. Besonders der Dante ist von einer Kleinlichkeit und Gewöhnlichkeit der Auffassung, die geradezu jammervoll ist. Ich hatte noch Gelegenheit, in einem Medaillon von Bonaparte, dem ersten Konsul, die frappierende Ähnlichkeit mit Franz festzustellen. »Il fium latte« ist ein Schwindel, wie tausend andere, die man in Reiseführern lesen kann. Unsere Bootsleute hatten uns schon mitgeteilt, daß es nur »una cogl …« sei. Dies Wort braucht man hier viel in der Unterhaltung. Villa Serbelioni, die von der Höhe ihres Vorgebirges zwei Teile des Sees beherrscht, wird wunderbar sein, wenn sie erst fertig ist.
Mailand.
Die Familie Ricordi Großer italienischer Verleger. übt gegen uns echt italienische Gastfreundschaft: Wagen, Loge, Landhaus, alles ist zur Verfügung des »Paganini auf dem Klavier«. Wir gehen in die Skala, wo ich eine Reihe von Enttäuschungen erlebte. Ich erwartete ein Theater von feenhaftem Glanze mit Säulen, Vasen und reicher Ausstattung. Aber ich fand nur ein großes Gebäude, das zwar nach allen Regeln der Akustik errichtet sein soll, das aber düster und eintönig wirkt. Außerdem ist es häßlich dekoriert und miserabel erleuchtet. Und das Schauspiel selber? »Marino« von Donizetti ist eine elende kleine Nachahmung von Rossini. Unmögliche Sänger, lächerliches Ballett (der Tod Virginiens), dessen Pantomime wie eine gymnastische Übung oder wie das automatische Auf und Ab der Zeiger an Telegraphenstangen anmutet. Und all das in dem Vaterland der Künste bei den Nachkommen der Griechen und Römer. Die Musik ist in Italien in vollständigem Verfall. Es wimmelt von »Meistern«! Kein milchbärtiger Notenschreiber, der nicht drei oder vier Opern verfaßt hätte. Es herrscht geradezu ein musikalischer Fanatismus.
Der Dom ist das wunderbarste Zeugnis einer luxuriösen Architektur. Man wirft ihm Mangel an Einfachheit vor. Das ist richtig, gewiß! Ist aber belanglos, da er trotzdem grandios wirkt. Mit mehr Grund wendet sich der Tadel gegen die ungeheuerliche Mischung von griechisch-romanischem und ogivalem Stil am Portikus. Das ist nicht die kriegerische, strenge, sondern die triumphierende, ruhmreiche Kirche. Kein Asyl für Märtyrer, sondern ein Tempel der Glückseligen. Gewinde und Blumen krönen hier die himmlische Heerschar. Mit seinen Spitzen, seinen Glockentürmchen, seinen Heiligenstatuen, welche die Mauern durchbrechen, ist der Mailänder Dom ein lebendiges »Tedeum« aus Marmor.
Eine der interessantesten Kirchen von Mailand ist Sant' Ambrogio. Es ist dieselbe, deren Tore der Heilige nach dem Blutbad von Saloniki vor Theodosius schließen ließ. Den Stil des Portikus haben die ersten christlichen Architekten von den Griechen entliehen. Er bereitet mit seiner schmucklosen und ernsten Wucht gut auf den Eintritt in den Tempel vor. Er ist wie die Einkehr, die der Anbetung und dem Gebet vorausgeht.
Die zahlreichen Kirchen von Mailand, von denen mehrere auf barbarische Art wiederhergestellt sind, gewähren im allgemeinen einen heiteren Anblick. Sie sind mit Marmorsäulen und Mosaiken, mit Vergoldungen und Skulpturen geschmückt. Einige besitzen schöne Fresken von Procaccini. Ich habe in San Fedele Beichtstühle von auserlesener Zeichnung gesehen. Es sind keine abscheulichen Kästen aus wurmstichigem Holz, wie bei uns, sondern freie offene, anmutig und geschmackvoll geschnitzte Betstühle. In San Nazaro befinden sich sieben Grabmäler der Trivulzier, die hoch oben in den Nischen der Mauern angebracht sind. Ich liebe die Grabschrift des Marschalls: Johannes, Jakobus, Trivultius, Antoni filius, qui nunquam quievit, quiescit, tace. »Joh. Jac. Triv. Antonius Sohn, der nie geruht hat, ruht jetzt. Schweige!« Die Karthause bei Pavia liegt in einer fruchtbaren Ebene, die zum größten Teile mit Reis bestellt ist. Geschickte Bewässerung erhält die Erde beständig frisch. Sie bringt zwei bis drei Ernten im Jahr. Diese Karthause hat nicht dieselbe geheimnisvolle Anziehungskraft wie die Karthause von Grenoble. Ihre Architektur ist mehr eigenartig als grandios, aber der Reichtum der Einzelheiten im Innern ist ein wahres Wunder. Das Auge ist geblendet und ermüdet schnell bei der Verschwendung an Fresken, Bildern, Mosaiken, Steinüberzügen aus Lapislazuli, Achaten und anderen seltenen Steinen. Dieser heidnische Luxus steht in seltsamem Gegensatz zu den strengen Gelübden der ehemaligen Besitzer … Man verliert sich in neugieriger Bewunderung der Einzelheiten, aber die Seele wird nicht von einem Gesamteindruck überwältigt, denn der religiöse Charakter, vor allem der christliche, fehlt.
Das Museum der Brera ist arm an guten Bildern. Die »Vermählung der hl. Jungfrau« interessiert, weil es eines der ersten Bilder des kaum zwanzigjährigen Raffael ist. Aber die Komposition ist eintönig, die Malerei trocken und die Gesichter der Männer viel zu weibisch. Franz hat keinen Sinn für die Jungfrauentypen, die bis zum Überdruß von den italienischen Schulen wiederholt werden. Er findet ihre Gesichter gewöhnlich und durchaus ungeistig. Die verschwenderische Pracht der veronesischen Kompositionen und die geschmacklose von S. Rosa sind ihm sympathischer. Eine Jungfrau von Sassoferrato, deren Kind so entzückend eingeschlafen ist, hat allerdings Gnade vor seinen Augen gefunden. Die sechs Engelsköpfe, die das Bild umrahmen, sind reizend. Die »Hagar« von Guercino wird sehr gelobt. Es soll das Lieblingsbild Byrons gewesen sein. Was mir keine allzu große Meinung von seiner Kenntnis der Malerei erweckt.
3. September.
Musikalischer Abend bei Ricordi. Franz spielt mit großem Erfolg das Stück von Pacini und einen Walzer. »Er ist der Paganini des Klavierspieles«, »der große Meister des Cembalo« usw. Aber in Wirklichkeit war der Erfolg nichts weniger als schmeichelhaft. Eigentlich imponiert ihnen nur seine fabelhafte Bewältigung des Technischen. Die seichtesten Melodien Donizettis lassen sie vor Bewunderung ersterben. Jedes dramatische oder poetische Werk würde sie schrecklich langweilen. Ich traf den Konsul Ferdinand Denois. Er war, glaube ich, sehr erstaunt, mich so die Welt durchstreifen zu sehen. Er hatte mich zuletzt als junges Mädchen gekannt. Damals war ich immer von einem kleinen Kreise seufzender Diplomaten umgeben, war die pflichtmäßige Passion aller Attachés und die gesuchte Partie aller Legationssekretäre. Ich habe diese Jugendzeit, der man immer so sehr nachweint, ohne Bedauern vergehen sehen. Schönheit, Vermögen, Unabhängigkeit, alles was man in der Welt zu beneiden pflegt, war mir zuteil geworden, und doch hat eine fast ununterbrochene Langeweile, ein instinktiver Widerwille gegen alles und eine traurige Lähmung meiner Liebesfähigkeit diese Zeit, die für andere eine Zeit der Freude und der lachenden Hoffnungen ist, gekennzeichnet. Schläfrige Langeweile zuerst und dann grausames Erwachen des Schmerzes: das war meine Vergangenheit … Die Gegenwart ist freie Liebe, stolze, vertrauende Liebe. Was soll mir die Zukunft!
Whate'er sky is above me
Here's a heart for every fate.
Wird meine Seele, die satt ist vom Tränenbrot und erfrischt von den heiligen Freuden der Liebe, jemals schwach und nachgiebig sein?
Die Sittenfreiheit scheint hier viel größer als in Frankreich zu sein. Liebesverhältnisse erregen kein Ärgernis. Man spricht das Wort Liebhaber ohne Zögern aus. Die Gräfin S., die doch die erste Persönlichkeit in Mailand ist, geht öffentlich nach Triest, weil ihr Liebhaber Poggi am dortigen Theater engagiert ist. Die Marquise V. und der Marquis de C. leben wie verheiratet zusammen, ohne daß jemand daran Anstoß nimmt. Die Italienerinnen sind den Französinnen unstreitig an Aufrichtigkeit und Nachsicht überlegen. Sie sind es sogar bis in das Alter hinein, wo bei uns die verliebteste Frau sich verpflichtet fühlt, die Sittenstrenge und oft gar die Prüde zu spielen.
Den 6.
Mit Amédée, der mich in Mailand aufsuchte, bin ich zu Schiff von Como nach Bellagio gefahren, wo wir uns niedergelassen haben. Er schien sich über das Wiedersehen zu freuen, aber ich glaube, er findet mich zu spöttisch, zu wenig schwermütig und zu entschlossen. Die Leute, die in der freundlichen Absicht kommen, mich zu bemitleiden, sind eigenartig enttäuscht.
Aufenthalt in Bellagio in vollkommener Einsamkeit. Wir lesen »Sismondi«, den Franz schwerfällig, langweilig und unerträglich findet. Dann eine Abhandlung über Architektur, die unsere ziemlich wirren Begriffe über diese Kunst etwas ordnet.
Der Abend ist gekommen. Die schwarzen Linien der Berge ziehen um uns einen Kreis, als wollten sie unseren Gedanken Halt gebieten. Was sollten wir auch jenseits dieses Gürtels suchen? Was gibt es schöneres auf der Welt, als Arbeit, Sammlung und Liebe? … Der Mond zieht auf der Welle eine leuchtende Bahn. Sie zittert wie der Glaube an göttliche Dinge in unserer zaghaften und furchtsamen Seele. Von allen Dörfern an diesen Gestaden rufen und antworten sich die heiligen Glocken … Und nun rufen sich am Himmel die Sterne … Ein Klirren von Ketten wird hörbar, doch es weckt keine düsteren Bilder. Es mahnt nicht an Gefängnis noch Sklaverei. Es sind ja nur die Ketten der Schiffer, die ihre Barken nach frohem Tagewerk festmachen.
Die Gewinde der Weinreben umschlingen sich heute abend verliebter und lassen ihre purpurnen Trauben mit mehr Weichheit über das Gitter der Brüstung hängen … Oh, wie ist doch das alles zu Herzen gehend schön!
2. Oktober
Gestern sind wir nach Visignola gegangen, wo alle Bauern der Umgegend zum Feste der Madonna versammelt waren. Dieses Fest wird schon am Tage vorher durch das anhaltende Geläute einer kleinen, sehr hellen Glocke angekündigt, die man »la campana di festa« nennt. Ihre eiligen Töne streuen nach einem eigenwilligen Rhythmus und in endlosen Variationen Frohsinn und Heiterkeit in die Lüfte. Wir kennen diese Fröhlichkeit der Glocken in unserm Norden nicht. Sie sind bezeichnend für den Gegensatz der beiden Katholizismen. Der eine ist durchdrungen von den düsteren Sagen Skandinaviens, der andere hat etwas von dem Dufte Griechenlands und eine Erinnerung an das Heidentum zurückbehalten. Ich mußte immer an die alten Opfer der Venus denken, wenn ich die jungen Mädchen ihre blumenverzierten Körbe mit Kuchen, Früchten und sogar Geflügel zum Altar bringen sah, die der Priester segnete, bevor sie zum Besten der Fabrik versteigert wurden. Franz machte es Spaß, große Mengen von Früchten und Kuchen aufzukaufen und unter die Kinder zu werfen, die übereinander herfielen, sich balgten, um kraft ihrer Fäuste ein paar Maccaroni und im Staube zerquetschte Feigen zu ergattern. Aber dieses Vergnügen war wohl etwas zu fürstlich und wäre beinahe übel abgelaufen. Die Erbitterung der Streitenden erhöhte sich mit der Abnahme der Kuchen. Eins der Kinder, das heftig zur Erde geworfen ward, brach in ein lautes Geheule aus, das den Zorn seines Vaters gegen uns erregte.
Es fehlte nicht viel, so hätte die Volksmenge, die bis dahin unserer Freigebigkeit Beifall gespendet hatte, die Partei des aufgebrachten Bauern ergriffen. Zum Glück hatte aber das Kind mehr Angst als Schmerzen gehabt. Sein Geschrei hörte auf, und das Fest nahm ungestört seinen Fortgang. Die Prozession war eine Groteske. Eine lange Reihe von meist häßlichen alten Weibern, den Kopf in schmutzige Tücher gehüllt, sang mit schriller Stimme Litaneien. Es folgten Kerzenträger, die, eingezwängt in ihre engen Röcke, wie Regenschirmfutterale aussahen, deren Stoff einmal rot gewesen, aber mit der Zeit und unter dem Einfluß der Witterung alle Farben des Herbstlaubes angenommen hatte. Dann wurde die Statue einer buntbemalten Madonna in ihrer erstarrten Grimasse unter einem Baldachin vorübergetragen … All das glich mehr einem unwürdigen Mummenschanze als einer Zeremonie zu Ehren des wahren Gottes. Stelle, zum Teil wiedergegeben im fünften Brief eines Musikstudierenden. Siehe Chantavoine, wie oben.
Den 3.
Ich leide seit acht Tagen an Zahnschmerzen. Eine gute Gelegenheit, Untersuchungen über den Ursprung des Leidens anzustellen. Die Lösung … Ich finde sie natürlich nicht. Die der katholischen Lehre ist hier nicht anwendbar, denn wenn man nicht weiter als bis zum Ungehorsam Evas zurückgeht, was übrigens eine ziemlich kindliche Vorstellung wäre, so kommt man niemals auf die Ursache dieses Ungehorsams. Die von den beiden Prinzipien, die sich ewig bekämpfen, befriedigt kaum mehr. Und wenn man sich in die Weite des Pantheismus verliert, muß man folgerichtigerweise das Übel in Gott erkennen, da Gott alles und alles in Gott ist. Klägliche Überlegenheit des Menschen über die Tiere! Klägliche Fähigkeit, »warum?« zu fragen. Da doch keine Stimme auf seine Frage antwortet und Leben und Tod ihm gleichfalls stumm bleiben.
Den 4.
Wir spielen mit Leidenschaft Dame. Eitelkeit, Zorn, Neid, alle unsere schlechten Regungen werden von den zwanzig Steinen erweckt, die auf den schwarzen und weißen Feldern manövrieren. Wir sagen uns mit dem größten Ernste verletzende Dinge. Und obwohl wir nach einer halben Stunde schon darüber lachen, wiederholen sich die gleichen Gemütsbewegungen mit demselben Ernste.
Wir lesen mit Entzücken Molière. Er zeigt uns die Gesellschaft mit allen ihren Verkehrtheiten, das Menschenherz mit allen seinen Schlupfwinkeln und beurteilt sie vor dem Gerichtshof des gesunden Menschenverstandes. Er entschleiert ihre wahrsten, pikantesten und drolligsten Züge vor dem Beschauer. Molière und Lafontaine sind zweifellos die größten Schriftsteller im Zeitalter Ludwig XIV. Sie sind die Selbständigsten, von der Zeit der Unnachahmlichen an gerechnet.
»Cinna« ist nicht eigentlich eine Tragödie. Die Handlung ist gleich Null. Man interessiert sich für niemanden. Was bedeutet die Rache Emiliens und gar der Tod des Augustus, den man erst am Ende des Stückes kennenlernt?
Was bedeutet überhaupt der Ausgang dieser jämmerlichen Liebesgeschichte, die aus Cinna eine so tölpelhafte Gestalt macht? Die wenigsten Personen des Stückes sind aus Fleisch und Blut. Nur die Rolle des Augustus ist von einer erstaunlichen, zwingenden Größe. Die Verzeihungsszene gehört zu den erhabenen Dingen, die das Herz eines jeden höherschlagen lassen. Im übrigen spürt man bei Corneille auf Schritt und Tritt spanischen Einfluß, kastilianischen Geist und die Erklärung jenes Wortes, das allen Stolz dieser ritterlichen Nation ausdrückt: »Jo soy quien soy!« »Ich bin, der ich bin!«
Den 5.
Ich staune manchmal, ihn so gleichmäßig heiter und glücklich zu sehen in unserer vollkommenen Einsamkeit. In einem Alter, in dem alles zur Betätigung nach außen drängt, wo Bewegung und Abwechslung fast Existenzbedingungen sind, sammelt er alle seine Fähigkeiten in den engen Rahmen unserer Zweisamkeit. Er, dessen Geist so mitteilsam ist, dessen Beschäftigungen ihn immer in Berührung mit der Außenwelt gebracht haben, mit einem Wort: er, der Künstler, also ein Mensch, der Sympathien, Gemütsbewegungen und Einbildungen unterworfen ist. Ihm genügen jetzt einige Bücher, ein schlechtes Klavier und die Unterhaltung mit einer ernsten Frau. Er verzichtet auf alle Genüsse der Eigenliebe, auf den Ansporn des Kampfes, auf Zerstreuungen des gesellschaftlichen Lebens, sogar auf das Glück, zu nützen und Gutes zu tun. Er verzichtet darauf und scheint nicht einmal zu ahnen, daß er auf etwas verzichtet.
Gestern ist Franz sechsundzwanzig Jahre alt geworden. Eine strahlende Sonne hat diesen Tag verklärt, diesen Tag, der bei uns immer einer freudigen Gedenkfeier geweiht ist. Um neun Uhr machten wir uns auf den Weg in die Berge. Unser idealer Bootsmann Buscone begleitete uns. Auf einem »Sommarello« (mit diesem Kosenamen bezeichnet man hierzulande den Esel) ritt ich durch die einsame, liebliche Landschaft mit ihren ausgedehnten Oliven- und Kastanienpflanzungen. Ab und zu nur ein vereinzeltes Haus im Schweizer Stil. Unter einem Schuppen hing der Maisvorrat für den Winter. Und davor weideten träge Kühe von ziemlich kleiner Rasse. Dann sahen wir plötzlich an einer Biegung des Weges den Lecco-See. Auf dem Rückweg dann Bellaggio und die umliegenden Dörfer, die sich weiß aus einem Meer von Bäumen abhoben. Und ihr Laub leuchtete in tausend purpurnen, orangefarbenen und violetten Tönen …
Abends Fischzug mit Fackeln. Buscone zündet vorn auf einer Barke ein Harzfeuer an, dann bewaffnet er sich mit einer langen Harpune, gleitet leise über das Wasser und späht nach einem eingeschlafenen oder vom Lichte geblendeten Fisch.
Dieser Tag verlief vollkommen heiter. Franz hat eben seine zwölf »Préludes« beendet. Ein schönes Werk, das die Reihe seiner eigenen Kompositionen würdig beginnt. Er war also entspannt, und mir war es gelungen, meine innere gottlose Stimme, die immer zweifelt und immer verneint, zum Schweigen zu bringen. Er bittet mich, trotz allem zu glauben und in religiösem Vertrauen auf die Lösung der großen Menschheits-Probleme und auf die Tilgung des Bösen in der Welt, auf das Reich Gottes also, zu harren. Er hat ja recht. Wir sind so schwach. So wollen wir wenigstens an unsere Schwäche glauben, glauben, daß uns alles nur infolge unserer Unzulänglichkeit dunkel, widerspruchsvoll und schlecht erscheint; daß eines Tages unsere verschleierte Intelligenz, unser tausendfach verbundenes Auge erleuchtet und befreit wird und daß wir dann verstehen können, daß es uns nur in seltenen Stunden gegeben ist, zu ahnen und anzurufen.
Den 29.
Wie herrlich sind doch die Totenpredigten Bossuets! Sie sind prunkhaft, großartig, üppig, und wie wunderbar ist der Tonfall seines wahrhaft königlichen Stiles! Es ist, als rede er von einer anderen Menschenrasse zu einer andern Menschenrasse.
Montesquieu sagt irgendwo: »Es gibt Dinge, die jedermann sagt, weil sie einmal gesagt worden sind.« Es ist wirklich traurig, wie wenig Menschen selbständig denken und urteilen. Selten ist ihre Meinung eine Frucht ihrer Beobachtungen oder ihrer persönlichen Überlegung. Selten ist ihre Rede frei, unabhängig oder spontan. Tausende von Menschen gehen über die Erde, ohne von ihrem Auge oder Ohr Gebrauch zu machen, und die Gesellschaft gleicht jenen Spiegeln, die das Bild, das sie einmal aufgefangen haben, unendlich oft zurückwerfen. Für eine Wahrheit, die man der Welt von Jahrhundert zu Jahrhundert sagt, werden zahllose ungeheuerliche Irrtümer jeden Tag beglaubigt. Dadurch setzen sich unerhörte Vorurteile fest. Soziale Lügen genießen Vorschriftsrecht und bedecken sich allmählich mit geheiligtem Rost, der sie irgendwie unzerstörbar macht. Es gibt deren unheilvolle, andere wiederum sind ziemlich harmlos und verletzen die gesunde Vernunft und die billige Wertschätzung der Tatsachen kaum. Zu diesen gehört meiner Ansicht nach die sehr moderne Übertreibung, welche ausschließlich dem Christentum die Erneuerung der modernen Kunst zuschreibt. Gewiß ist an dieser Ansicht etwas Wahres. Man kann nachweisen, daß sich die Kunst im 14. und 15. Jahrhundert in den großen Tagen Brunelleschis, Raffaels und Michelangelos fast nur der Verherrlichung des christlichen Symbols widmete. Zahlreiche Tempel erhoben sich zu Ehren des gekreuzigten Gottes. Maler und Bildhauer vervielfältigten überall das Bild der Madonna, die Wunder der Heiligen und die Leiden der Märtyrer. Damit gaben sie allen denen, welche die Kirche im Himmel krönte, die Weihe des Genies und die Unsterblichkeit auf Erden.
Aber der Schluß, den man aus dieser Tatsache zieht, ist viel zu willkürlich. Zwar haben erleuchtete Päpste Künstler zu sich berufen, reiche Kapitel und Klöster haben in ihrer Gier nach dem einzigen ihnen erlaubten Luxus die Kunstwerke freigebig bezahlt, und die evangelische Parabel hat fast allgemein die heidnische Allegorie ersetzt, aber diese Gründe genügen nicht, um zu behaupten, das Christentum habe die Renaissance in der Kunst hervorgerufen. Kann eine Religion, welche die Welt unter dem Namen Satans verflucht, die ihren Anhängern befiehlt, ihren Leib durch Fasten und Enthaltsamkeit zu kasteien, und welche die Liebe als eine beschämende Schwäche ächtet, kann diese Religion gleichzeitig die Ausbreitung einer Kunst begünstigen, welche die Materie vergöttert, die Schönheit erhebt und mit ihrer vollendeten Form das Menschenauge weitet und allen Verführungen, allen Bezauberungen öffnet? Nein, denn es wird den Christen ja eingeschärft, ihre Sinne sorgfältig gegen diese Kunst zu verschließen. Wir haben ja auch gesehen, daß die Christen in den ersten Jahrhunderten nach dem Tode des Heilands viel folgerichtiger die Werke des Altertums eifrig verbrannten, zertrümmerten und vernichteten. Sie und die Barbaren haben die Ära der Renaissance, deren Verdienst man ihr zuschreiben will, hinausgeschoben. Eine sehr ansehnliche Sekte, die beinahe triumphiert hätte, verurteilte durchaus den Bilderkult und berief sich dabei auf das Alte und das Neue Testament. Und seitdem haben fast alle Reformatoren, deren Ziel es war, das Christentum auf seine erste Reinheit zurückzuführen, Gemälde und Bildwerke aus ihren Kirchen verbannt. Also haben die ersten Jahrhunderte des Christentums nichts geschaffen. Die ersten Kirchen waren nur eine grobe Nachahmung der Basiliken. Die sogenannte gotische Architektur, deren wesentliche Merkmale man in der maurischen findet und die wir heute als hauptsächlich christlich betrachten, wurde eben gerade zur Zeit der Renaissance als barbarisch angesehen, als Bramante und Michelangelo die berühmte Peterskirche nach dem Muster des Pantheon (vergessen wir das nicht!) erbauten. Es ist übrigens nur vernunftgemäß, daß die Religionen, die zur Verehrung der Natur aufriefen und Wald, Fluß, Quelle und Grotte mit Gottheiten beleben, der Kunst viel zugänglicher sind. Denn eins ihrer obersten Gesetze ist ja die Nachahmung der Natur. Der christliche Glaube dagegen macht den Blick der Menschen von der Welt abwendig, weil sie dem Bösen und der Vernichtung geweiht sei. Der Polytheismus erhöhte und vergöttlichte die Leidenschaften, das heißt: das Leben. Wurde er dadurch nicht sympathischer als das Christentum, das immer an ein geheimnisvolles, unbekanntes Leben erinnert, in dem alle Form sich auflöst?
Die wahren Vorbilder der Schönheit gehören der griechischen Kunst an. Apollo, Aphrodite, Jupiter und Heracles bleiben immerdar Symbole der Schönheit, der Anmut, der Macht und der Stärke. Das Christentum hat keinen Märtyrer, der schöner wäre als Laokoon, noch Jungfrauen, die poetischer wären als Arethusa oder Daphne. Nicht aus Sack und Asche bekamen die Künstler der Renaissance ihre Eingebungen: der junge Raffael erschaute in den Armen seiner jungen Geliebten, in den Ekstasen der Liebe, die heiligen Jungfrauen, vor denen ganze Völker niederknieten. Und bei den Festen eines üppigen Hofes empfing Lionardo, der Liebling der Fürsten, die Idee zu seinem mystischen »Abendmahl«. Der »göttliche« Michelangelo aber ward verzehrt von Haß, Neid, Zorn und allen jenen Leidenschaften, die seine Rächerhand zu ewigem Feuer verdammte.
Wollen wir den Wert christlicher Ideen richtig berechnen, so müssen wir sagen, daß sie nicht etwa eine Kunst geschaffen, sondern daß sie vielmehr ihre Offenbarung durch die Kunst empfangen haben. Und so ist es mit allen Ideen, die der Reihe nach einen Teil des Globus beherrschten. Die Legende hat der Plastik ebensoviele Vorwürfe geliefert wie die Fabel und die Geschichte. Und wenn man bedenkt, welch langer Zeitraum ihm zum Schaffen beschieden war, so ist der Anteil des Christentums viel geringer, als man gemeinhin annimmt. Es wäre voreilig, zu sagen: die Kunst ist hier, die Kunst ist dort! Die Kunst wartet nicht auf den Ruf eines Perikles oder Augustus, auf die Medici oder auf Ludwig XIV. Die Kunst lebt in der Menschheit wie das Wort. Denn die Kunst ist das Urwort für die Schöpferkraft solcher Menschen, von denen man sagen könnte, daß sie an den Grenzen beider Welten stehen und die Dinge der einen im göttlichen Lichte der andern betrachten.
Como, 5, November.
Er sagte mir gestern, der Abend unseres Lebens würde sein wie der Abend eines Tages. Wir sind noch auf der Mittagshöhe, wo die Natur unter dem allzu blendenden Glänze des Lichtes und unter der allzu drückenden Hitze leidet. Die Blumen schließen mittags ihre Kelche und strömen erst abends ihre betäubenden Düfte aus. Kein Blatt regt sich. Die Vögel flüchten sich in die Tiefen der Wälder. Alle Umrisse verwischen sich, alle Farbtöne verschwinden in einem Ozean von Licht und in dem allgemeinen Glänze. So bricht die Liebe in ihrer ganzen Stärke das Herz eher, als daß sie es mit Leben erfüllt. Die Seele ist wie erschreckt über ihr Glück. Sie zieht sich zurück und sammelt sich zu göttlichster Bewegung. Franz spann seinen Vergleich fort und sagte: die Kunst sei für ihn wie schönes Mondlicht, es lasse alle Dinge in einem poetischen Lichte erscheinen und vergrößere sie unendlich geheimnisvoll. Aber die Kunst selber empfange ihr Licht nur von der göttlichen Sonne der Liebe.
Den 5.
Ich lese Goethes Briefe über Rom. Dieser Mann erscheint mir mit jedem Tage gewaltiger. Er ist so recht:
Quel Signor dell' altissimo Canto,
»Der Hohe Herr der höchsten Sangesweise.« Dante 4, 95.
von dem Dante spricht. Wie hoch erhebt ihn seine Einfachheit doch über Rousseau, Byron, George Sand und Obermann und über andere erhabene Schönredner! Wie hoch steht die Heiterkeit seiner ruhigen »Hinnahme« über dem Fieber ihrer Gotteslästerungen! Von der Höhe seines Genies erscheint ihm die Menschheit wie eine weite Gegend, die man von dem Gipfel eines Berges sieht. Alles ist für ihn maßvoll. Alles in der Welt ist ihm harmonisch und ordnet sich in ein vollkommenes Verhältnis. Unter seinem Blick ebnen sich die Berge. Das Brausen der Katarakte dringt an sein Ohr wie das Rieseln eines Baches. Nichts beleidigt seinen hohen Geist, nichts überrascht ihn in den Mißverhältnissen oder in der Unbeständigkeit der Dinge. Die anderen sind in der Ebene, und da sie nur die eine Seite des menschlichen Geschickes sehen, werden sie böse, fluchen und schelten den Himmel, die Menschen und sich selbst. Bei ihnen ist das Genie eine Krankheit. In Goethe ist es das vollkommene Gleichgewicht ungeheurer Kräfte.
Den 7.
Wenn sich zwei Flüsse zu gemeinsamem Lauf vereinen, türmen sich die Fluten. Sie scheinen erstaunt, weil sie nicht mehr ungestört ihren gewohnten Weg verfolgen. Sie kämpfen und brüllen und führen Kiesel und Schlamm mit sich, die in ihrem Bette ruhten. Aber bald ermüdet sie der unnütze Kampf. Sie fließen zusammen und beenden in Frieden ihren Lauf bis zum Meere. So war es auch, als wir uns und unser Schicksal miteinander verbinden wollten. Unsere Leidenschaften, unsere Fehler, unsere Gewohnheiten und Tugenden prallten aufeinander und waren empört über den Widerstand, der sich ihnen plötzlich entgegenstellte. Unser Hang zum Bösen und unsere schlechten Neigungen wurden offenbar. Unsere Leiden entrissen uns Klagen, und unsere Klagen verbitterten unsere Leiden, bis endlich die tiefe und starke Liebe, die uns wie ein unwiderstehliches Schicksal zueinander hingezogen hatte, unsere Gefühle, Gedanken und unseren Willen so sehr vermischte, daß unser Leben, unauflöslich verbunden, friedlich und ruhig dahinglitt und den Himmel widerspiegelte.
Mailand, vom 29. Januar bis 16. März.
Mein Aufenthalt in Mailand war ziemlich unergiebig. Aber im ganzen doch eher angenehm als langweilig. Es war, als ob ich zum dritten Male in die Welt zurückkehrte, und das hatte meiner Ansicht nach nur das Verdienst, eine Schwierigkeit überwunden zu haben. Ich habe in der Mailänder Gesellschaft dieselbe Leere und dieselbe Dummheit gefunden wie überall. Ich möchte sogar glauben, daß Mailand in dieser Hinsicht andern Städten weit voraus ist. Das erklärt sich aus den Hindernissen, welche die österreichische Regierung der Geistesfreiheit bereitet. Sie zwingt die jungen Leute, die ihren Unterdrückern nicht dienen wollen, zur Untätigkeit. Auch die Theatergewohnheiten, welche die Flauen voneinander trennen, machen das, was man in Frankreich Unterhaltung nennt, unmöglich. Denn die Musik ist ebenso geräuschvoll wie das fortwährende Kommen und Gehen. Der Gedankenaustausch beschränkt sich auf ein »Wie geht es Ihnen?«, und dies in den verschiedensten Abwandlungen. Dennoch hat auch diese Angewohnheit, sich täglich zu sehen, ihr Gutes. Es ist für die Männer bequem, ihren Pflichten gegen die Höflichkeit in diesen zwei Stunden nachzukommen, und der Anblick aller dieser kleinen Salons, in denen man so dicht nebeneinander sitzt, ist recht amüsant. Im übrigen würde man anderswo kaum mehr plaudern, und Dummheiten mit Orchesterbegleitung haben immerhin doch einen gewissen Reiz. Die erste Frau, die ich in Mailand sah, war die Gräfin S…, die infolge ihrer zweifelhaften Abenteuer von ihrem Mann getrennt lebt. Sie gibt nobel und glänzend in Italien ihre dreihunderttausend Franken jährlich aus. Wegen der ununterbrochenen Folge ihrer mittelmäßigen Liebhaber, die fast alle Musiker sind, und der absoluten Offenheit ihrer Liaisons wird sie von den Damen der Aristokratie ziemlich schlecht angesehen. Man möchte etwas mehr Dekorum und eine feinere Auswahl. Da sie aber das einzige offene Haus in Mailand hat, amüsiert man sich bei ihr und räsoniert erst beim Fortgehen. Manche finden, daß sie keinen Charme hat. Für mich ist Ursprünglichkeit und Persönlichkeit die Hauptsache. Ich liebe ihr braunes Gesicht mit der Überfülle schwarzer Locken, die von beiden Seiten auf die Schultern herabfallen. Ich liebe auch ihre großen, schwarzen, blicklosen Augen, die mich am George Sand erinnern. Sie hat etwas zugleich Anziehendes und Abstoßendes, Stolzes und Gewöhnliches. Bald beherrscht sie das Gute, bald das Böse. Die wahrhaft königliche Verschwendung in ihrer Wohnung läßt indessen für ein geübtes Auge künstlerisches Gefühl vermissen. In ihrer Unterhaltung erreicht sie niemals eine gewisse Höhe. Sie besitzt eine feine Nachahmungsfähigkeit, die viele für Geist halten. Sehr gut spielt sie die kleine Königin von Mailand. Volk und Bürgertum beschäftigen sich mit ihr, mit ihren Equipagen, Papageien und Affen. In allen Läden bietet man zuerst die Waren an, welche die S… kauft: die Essenzen, deren sie sich bedient, die Bänder, die sie gewählt hat. Man erzählt sich tausend Züge ihrer wahrhaft königlichen Freigebigkeit und tausend drollige Launen. Sie ist in ihrer Art eine Persönlichkeit, aber für einen Traum hatte sie niemals Zeit in ihrem sehr ausgefüllten Leben.
Madame B… ist eine Bürgersfrau, die nur musikalische Kultur besitzt. Sie hat Geist und Lebensart. Ihr Haus ist elegant … Sie hat mich mit Höflichkeiten überschüttet.
Graf Neipperg, der Stiefsohn der Marie-Louise, ist ein nachdenklicher, verschlossener und abwartender Mensch. Sein Gesicht ist angenehm, und er hat genug Geist für einen, der seiner Karriere schon sicher ist. Er liebt die Musik und übersetzt Byron. Er ist der einzige Mensch in Mailand, den ich mit einigem Vergnügen gesehen habe. Alle waren außerordentlich liebenswürdig gegen Franz und fanden ihn sehr schön und sehr geistreich. Besonders die Frauen waren ganz vernarrt in ihn. Aber sie sind weit davon entfernt, sein Genie verstehen zu können. Und wenn er versucht hätte, ernste Musik zu spielen, so würde er wahrscheinlich nicht gefallen haben. Denn schon seine Phantasien streiften für ihren Geschmack zu sehr die »deutsche Art«. Er hat oft improvisiert, manchmal ausgezeichnet, andere Male sehr mittelmäßig, und immer mit ungeheurem Erfolge.
Rossini hat den Winter in Mailand mit Madame Pelissier verbracht. Er wollte sie der Gesellschaft aufdrängen, indem er Konzerte gab, bei denen sie die Honneurs machte. Aber keine Dame der guten Gesellschaft ist hingegangen. Sogar die S…, auf die er sehr rechnete, hat ihr den Rücken gekehrt, und alles Entgegenkommen hat nur mit einer mehr oder weniger höflichen Ablehnung geendet. Als ich von Como kam, dachte ich, er würde sie mir vorstellen, aber statt dessen haben sie sich ganz ruhig verhalten, und nach einer ersten Visite von zehn Minuten ist Rossini nicht mehr bei mir erschienen. In einer Aussprache mit Liszt nach einem Abend, an dem er mich nicht gegrüßt hatte, sagte er ihm, daß Mademoiselle Pelissier sich beiseite halten müsse, ich hätte eine Gesellschaft gewählt, in der sie nicht verkehre. Mailand sei ein schlechter Boden, sich zu treffen. Im Grunde hatten sie mich, glaube ich, zu ihrer Verbündeten gezählt. Und als sie sahen, daß ich wenig erpicht war, zu Mademoiselle Pelissier zu gehen, und in Häusern verkehrte, wo man sie nicht haben wollte, waren sie etwas pikiert. Denn Rossini, der zuerst Franzens Lob in allen Tonarten gesungen hatte, äußerte nachher, Thalberg habe »drei Viertel Gefühl und ein Viertel Geschicklichkeit, Liszt aber drei Viertel Geschicklichkeit und ein Viertel Gefühl«.
Der dicke Hiller Deutscher Komponist, Pianist und Kritiker. 1811-1885. hat sich in Mailand niedergelassen, um eine Oper zu komponieren. Er hat allgemein mißfallen. Seine Formen sind schlecht, und er ersetzt diesen Mangel nicht durch Herzensgüte. Er hat einen guten Verstand, aber kein Gefühl. Seine Musik wird schwerlich in Italien Anklang finden. Sie hat weder Glanz noch Anmut.
Francilla Pixis hat in der Scala debütiert. Man hat sie wohlwollend aufgenommen. Aber dann hat sie mehr und mehr mißfallen. Ihre Stimme füllte das große Theater nicht, und ihr Spiel ist zu schwerfällig, um den Italienern zu gefallen.
Franz hatte einen starken Eindruck vom »Abendmahl« des Lionardo. Der Ort, wo das schöne, fast ganz verdorbene Wandgemälde zu sehen ist, dient heute als Kaserne. Franz bewunderte weder den Christus noch den heiligen Johannes. Seiner Ansicht nach wäre es glücklicher gewesen, wenn der heilige Johannes sich zu dem Erlöser und nicht zu einem der Apostel hingeneigt hätte. Aber die Komposition als Ganzes liebt er leidenschaftlich. Besonders die Köpfe des heiligen Petrus, des Judas und des heiligen Paulus. Er verglich das Schicksal dieses Bildes mit dem des Sakramentes selber: Eine große Idee, die niemals vollkommen verwirklicht worden ist (Lionardo hat den Kopf des Christus nicht vollendet) und die sich mehr und mehr verwischt. Sie ist nur noch eine Ruine, welche die Philosophen neugierig prüfen. Ebenso besuchen die Künstler das Bild mehr aus Ehrfurcht vor dem, was es gewesen, als aus Bewunderung für das, was es ist.
Wir haben in einem Privathause eine sehr schöne »heilige Familie« von Raffael gesehen. Franz hat keine Sympathie für ihn. Ein schlafender heiliger Johannes von Murillo erschien ihm weit tiefer und wahrer. Der »Bogen des Simplon« Eigentlich »Bogen des Friedens«. 1806 Napoleon zu Ehren begonnen, aber erst 1838 vollendet. Weißer Marmor. hat keinen Sinn mehr, seit man den Kopf Napoleons durch den Franz II. ersetzt hat. Er ist zu gequält. Die allzu genaue Ausführung der Einzelheiten schadet der Wirkung des Ganzen. Die Seitenkonstruktionen sind aus Lago-Maggior-Stein. Sie sind außerordentlich stark und doch angenehm und gefällig anzusehen. Vom Lago Maggiore kommen auch die Steinplatten, welche die Straßen von Mailand säumen und den Fahrdamm bilden. Ein ungeheurer Vorteil für die Fußgänger, weil es weniger laut und weniger schmutzig ist (die Herren können trockenen Fußes in seidenen Strümpfen zu Ball gehen), und die Fahrenden auch. Denn sie merken kein Schütteln. Man glaubt im Schlitten zu fahren.
Die Reise von Mailand nach Venedig hat mich ermüdet. Ich habe es nicht gern, unterwegs so viele verschiedene Dinge zu sehen, die sich in der Erinnerung vermischen und nur einen wirren Eindruck hinterlassen. Der Campo Santo in Brescia ist ein Meisterwerk moderner Baukunst. Franz teilt meine Bewunderung nicht ganz. Er mag die Galerien von Grabmälern nicht. Er zieht einzelne, von Blumen umgebene Gräber vor. Aber er liebt auch den Engel der Auferstehung, der auf dem Altar der mittleren Kuppel steht, und die Frauen, die unten an der Treppe zur Kuppel über Urnen weinen. Die Statue der Siegesgöttin, die für die schönste in antiker Bronze gilt, hat keinen besonderen Eindruck auf mich gemacht. Aber ich verstehe mich nicht genug auf Skulpturen. Ein Christus, den man dem Raffael zuschreibt, erschien ihm zu fett und zu kraftlos. Wir haben einen kleinen, dornengekrönten Kopf von Albrecht Dürer besser gefunden, weil er viel ausdrucksvoller ist.
Der Zirkus von Verona ist kleiner als der von Nimes (er hat nur zwei Arkadenreihen). Man hat in der Arena Kasperle-Theater errichtet. Ein Symbol dafür, was wir neben den Römern gelten! Empfindsame Seelen sehen sich in einem elenden Schuppen eine Art Steintrog an, den man für Julias Grab ausgibt. Der Führer erzählt ihre jammervolle Geschichte … »La figlia è morta, dunque non c'è più matrimonio!« »Die Tochter ist gestorben, folglich gibt es auch keine Heirat mehr.« Eine »Fornarina« von Raffael befindet sich in der Casa Persico in einem häßlichen, schlecht erleuchteten Zimmer. Die Gräber der Scaliger, wunderbare Monumente in gotischem Stile, sind in einer versteckten Ecke aufgestellt. Nichts ist an seinem Platze. Nichts und niemand kommt zur Geltung. »Der W. C.-Reiniger reinigt schlecht!« würde George sagen. Selten entsprechen die Kunstwerke, die man ansieht, der Idee, die man sich von ihnen gemacht hatte. Immer verringert irgendeine Begleiterscheinung die Wirkung. Entweder sind sie schlecht gestellt und schlecht beleuchtet oder man friert oder man ist müde. Immer wünscht man sich eine andere Zeit und einen andern Ort …
In Vicenza eine Anzahl schöner Paläste von Palladio. Aber wie kalt wirkt diese Architektur neben der gotischen.
Padua. Großes Café Das bekannte Café Pedrocchi. Paduas Stolz. ganz aus Marmor. Der Architekt, der aus Platzmangel die Anordnung der Fassade nicht auf der Rückseite hatte wiederholen können, hat statt dessen ein klassizistisches Säulenschiff errichtet, um dadurch den Eindruck eines verschont gebliebenen Denkmals zu erwecken und damit eine Entschuldigung für die Unregelmäßigkeit der Bauart zu haben.
In S. Antonio eine schöne Kapelle von Sansovino, Hochreliefs von Donatello, törichte Mirakel aus Glas von dem maurischen Kinde, das spricht, von dem wiederangesetzten Bein usw.
Venedig, März 1838.
Er hat gestern die »Soirées« von Mercadante Italienischer Komponist 1796-1870. angehört. Allgemeiner Raub an Rossini und anderen. Er findet, daß diese Musik wie Mercadante selber: kurzsichtig ist. Sie ist ausdruckslos. Zwei Partien Dame waren wie in Bellaggio nach dem Essen unsere Unterhaltung.
Ich habe die Bekanntschaft der Gräfin Polcastro gemacht. Sie ist häßlich, scheint aber nicht den Geist zu haben, den Häßlichkeit sonst hat. Abends im Fenke. Schönes Theater. Kleiner und weniger imposant als die Scala, aber unendlich viel hübscher. Die Malereien, die vergoldeten Ornamente und die meergrünen Draperien wirken vortrefflich. Die Logen ziehen sich im Halbkreis bis zur Vorbühne.
Man gab »Parisina« von Donizetti. Eine Musik, die so schlecht ist, daß sie amüsant wirkt. Die Ungher macht mit ihrer unangenehmen Stimme und ihrem gewöhnlichen Gesicht einen großen Eindruck. Sie ist eine wunderbare, überzeugende, pathetische und hochintelligente Sängerin, und ganz Künstlerin. Darum versteht sie es, in der dümmsten Rolle und bei der seichtesten Musik zu erschüttern. Neue Bestätigung meiner Idee: Nichts ist vollkommen in unsern Freuden. Entweder ist die Sängerin bedeutend, aber was sie singen muß, ist unerträglich. Oder der Saal ist entzückend, aber es riecht nach W. C. usw.
Franz meint, daß die Ungher ein Talent hat, das sich dem Nourrits nähert, und meint, in Paris würde man sie übertrieben finden. Einem mittelmäßigen Tenor hat man begeistert Beifall geklatscht, um, wie Pedroni sagte, der S…, die mit Poggi im Theater war, einen Streich zu spielen. Die Brugnoni ist von erstaunlicher Behendigkeit beim Tanzen. Sie besitzt eine wunderbare Fußspitze. Aber sonst ist sie eine »disgraziatissima grazia«, um mit Vasari zu reden.
Sonnabend, 24.
Wir haben Läden besehen. Man findet jedoch nur alte Ladenhüter aus Paris. Ich bat die Gräfin Polcastro um Bücher. Aber sie hat keine. Die Kataloge in den Buchhandlungen sind gerade gut genug für Dienstmädchen. Es gibt weder geistiges noch künstlerisches, noch ein »nicht wünschenswertes« (sic) Leben in Venedig. Und man erlebt wirklich zu wenig, um die Tage auszufüllen. Ich fühle mich seltsamerweise nicht gerade traurig, aber matt und schlaff.
Der Theaterunternehmer bietet Franz ein Konzert an: »E come sarebbe difficile di combinare una academia, si potrebbe dare una farza.« »Und da es schwierig sein würde, ein Konzert zu vereinbaren, könnte man auch eine Posse geben.« Abends wie gelähmt.
Sonntag, 25.
Schönes Wetter. Ich erwache in besserer Verfassung und habe Hunger nach guter Lektüre. Aber es fehlt an Büchern. Die ganzen letzten Tage vorher war ich niedergeschlagen. Mein Lebensquell schien versiegt zu sein. Sogar die Neugier, dieser letzte Antrieb zur Tätigkeit, war wie erloschen … Heute besuchten wir die Pinakothek. Das erste Bild, das wir sahen, war die »Himmelfahrt«. Der Eindruck dieser Komposition ist unerhört. Der Glanz der Farben schlägt alle Bilder in der Nähe, obwohl sie auch Werke großer Koloristen sind. Wir mögen die Gestalt Gottvaters nicht. Er sieht aus wie ein Gondolier. Auch steht er zu nah bei der Jungfrau. Ich finde, die Wirkung würde größer sein, wenn der Zwischenraum größer wäre. Die Gewänder der Maria sind zu dicht und zu schwer für eine Gestalt, die sich aufschwingt. Sie ist ebenso dick gekleidet wie die Apostel. Die beiden Engel, zur Rechten, sind reizend. Die Bewegung in der Apostelgruppe ist erstaunlich.
Der Paolo Veronese, der wunderbar am Ende einer anderen Galerie hängt, fällt durch den Glanz, die Luft und die Perspektive auf. Diese Galerie ist mit viel Verständnis angelegt. Zum erstenmal betrachte ich ohne Ermüdung und Langweile die wundervollen aus Holz geschnitzten Deckengewölbe mit ihren Medaillons. Wir werden bald wieder hingehen.
Im Giardino Baumgruppen in Form einer römischen Fünf. Mittelmäßige Promenade, welche die Venetianer Eugène (Beauharnais) verdanken. Immer dieses abscheuliche Verdienst der bezwungenen Schwierigkeit.
Wir mieten eine Gondel für den Monat. Cornelio ist ein braver Mann, der allerdings nicht Tasso vorzutragen weiß, »perchè non è litterato« »Weil er kein Gelehrter ist.«, dafür aber prachtvolle Ringe aus schwerem Gold mit Kameen an den Fingern trägt und seine Gondel mit vieler Geschicklichkeit lenkt. Die längliche Form dieser Gondel ist wirklich entzückend. Sie berührt das Wasser kaum. Hat man nur einen Gondolier, so hält er sich hinter der Kabine auf. Man sieht ihn also nicht, und man meint wie auf einer Muschel zu schwimmen.
Der Theaterunternehmer ist wieder gekommen. Franz verlangt fünfhundert Franken. Das dünkt ihn ungeheuerlich, zumal Franz schon vorher in einem Konzert spielen muß. »Non sarà piu una novità!« »Es wird nichts neues mehr sein!«
Aber man weiß, daß er sechs oder sieben Male in Mailand gespielt hat, und das beruhigt ihn.
»Die Reise in Italien« von Chateaubriand gelesen. Einige schöne Worte, andere kindlich. Es ist keineswegs ein Buch. Abends liest mir Franz »Maria Tudor« vor. Ich kannte es noch nicht. Man hat genug von seiner Abgeschmacktheit gesprochen. Und doch fühlte ich mich ergriffen. Franz las mit bewegtem Ausdruck. Seine erregte Stimme, sein kraftvoller Tonfall und seine Blässe riefen mir die gewitterschwülen Stunden ins Gedächtnis, in denen unser Schicksal noch unentschieden zwischen uns lag, die Stunden, in denen alle Macht seiner Liebe mir in Tränen offenbar wurde … Es waren Stunden, furchtbar und schön zugleich, die nicht wiederkehren. Ich vermag nicht, ihnen nachzutrauern, aber ihr heiliges Leiden hat meine Seele auf immer unempfindlich gegen den eitlen Widerhall der Welt gemacht. Ach, warum war ich einer solchen Liebe nicht würdiger! Wie arm und unfruchtbar dünkt sich mein Herz, wenn das seine sich dem meinen weit öffnet!
Ich verglich mich soeben mit einem artesischen Brunnen, den man in der Hoffnung gräbt, aufsteigendes Wasser zu finden. Man stößt auch auf reines, schönes Wasser, das aber nicht aufsteigen kann, weil sein Niveau unter der Erde ist.
Montag, 26.
Franzens Schneider war ein Jahr in Rom und fand es gar nicht schön dort. – »In Venedig ist es aber noch schlimmer! Da sind sie halbe Wilde. Und dabei wollen die Leute im Vaterland der Künste sein! So sehen sie gerade aus! Sie sind ja in Rückstand gegen alle Moden! Man sieht doch nie ein Fünffrankenstück in diesem Lande. Höchstens mal einen Zwanziger, oder miserable Sous! Und die Adligen sind ebenso verfallen wie ihre Häuser!«
Angewohnheit der Venetianer, lange aufzubleiben. Die Cafés schließen überhaupt nicht des Nachts. Man pflegt um elf Uhr nach dem Theater zusammenzukommen. Das Spiel war die Leidenschaft des Adels. Eine kleine Gondel für vierundzwanzig Zwanziger gekauft.
Dienstag, 27.
Haus von Dr. Williams. Bemerkenswert durch seine Antiquitäten. Tisch, an dem Heinrich IV. gegessen hat. Flasche Cypernwein aus der Zeit der Catarina Cornaro. Wappen eines Dogen. Galerie Barberigo. Dort lebte und starb Tizian. Er hinterließ der Familie zweiundzwanzig Bilder, die man aber nicht zu restaurieren wagt, aus Furcht, sie zu verderben. Und sie hätten es doch sehr nötig! Franz vergleicht ihn mit Rossini. Auch er ist ein fruchtbarer, großer Kolorist und kümmert sich wenig um das Ideal und die geschichtliche Wahrheit. Heute arbeitet man gewissenhafter, wenn auch schlechter. Delaroche liest die Memoiren der Zeit, sucht nach alten Bildern und richtet seine ganze Aufmerksamkeit bis in die kleinsten Einzelheiten auf Kostüme und Mobiliar.
Spazierfahrt in der Gondel. Franz findet dieses einsame Leben sehr reizvoll. Es ist doch ziemlich ausgefüllt trotz aller Begebnislosigkeit.
Bild des »Trojanischen Pferdes«. Es ist symbolisch, sagt Franz. Ideen finden in die Massen Eingang, wie Soldaten in Troja: mit List. Man zeigt dem Volke das Pferd, und es läßt sich betrügen.
Abends Konzert in der Apollon-Gesellschaft. Man rafft sich auf, Franz dreihundert Franken für die Cavatine von Pacini zu geben. Der Saal ist voll. Die Musik gräßlich wie immer. Die Ungher hat mir hier viel weniger gefallen, als im Theater. Ihre Stimme klingt im Salon unangenehmer als auf der Bühne, wo das ausdrucksvolle ihres Spieles Illusion erweckt. Die Frauen waren hübsch, aber entsetzlich schlecht gekleidet.
Mittwoch, den 29.
Besuch im Dogenpalast. Franz stellt Betrachtungen über den furchtbaren Mißbrauch von Grausamkeiten an, die doch nur eine in Wirklichkeit ziemlich mittelmäßige Macht begründeten. Venedig ist das moderne Carthago. Söldnertruppen, Undankbarkeit gegen die großen Männer, Nation von Betrügern und Krämern.
Langeweile und Müdigkeit bei der Besichtigung der Bildermassen und der Plafonds, die für meine Kurzsichtigkeit nichts weiter als riesige Farbenklexe sind. Antiker Ganymed, erstaunlich in seiner Leichtigkeit und Anmut. Außerordentlicher Ausdruck des Adlers.
Abends Besuch bei der Gräfin Polcastro. Schlechte Laune, weil Franz mich warten läßt. Er: immer geduldig, gleichmäßig, vollkommen. Wann werde ich ihm denn etwas ähnlicher werden?
Franz findet die Unterhaltung in der Gesellschaft unsympathisch. Dies ewige Geschwätz über unwichtige Dinge, dies Ernstnehmen von harmlosen Launen, den Klatsch, der sich an jede Persönlichkeit heftet. Die Affen der S., die Zigarre der George, und andere ähnliche Torheiten sind Gegenstand langer Kommentare. Nach solchen Lappalien beurteilt man die Leute.
Freitag, 31.
Einen Brief von Beethoven an Wegeler (Journal des Débats) gelesen, der mich durch die Ähnlichkeit zwischen ihm und Franz betroffen macht. Gleiche Stärke im Gefühl für das Elend des Lebens, gleicher Widerwille gegen das Briefschreiben. Ich las ihn, während er, dieser andere Beethoven, am Flügel die Melodien Schuberts verbesserte …
Besuch der Zachariaskirche mit einem jungen, sehr intelligenten Maler. Franz bewundert ein Bild von J. Bellini sehr (eine Madonna mit St. Paulus, Hl. Hieronymus, zwei Heilige usw.).
Freitag.
Sehr angeregte Abendgesellschaft bei der Baronin W., Polcastro, S., usw. Man ist hier sehr an Unterhaltung und Geselligkeit gewöhnt. Franz spielt seine Etüde, seinen Galopp und die Fantasie aus den »Puritanern«.
Freitag, den 20.
Ich kann mich nicht an das Wasser von Venedig gewöhnen. Ich magere ab und fühle mich nicht wohl. Aber der Sinn für Poesie wird hier dauernd von der Kunst und der Natur wachgehalten, und so halte ich mich aufrecht.
Dienstag.
Konzert im Palazzo Mari mit Kerzenbeleuchtung. Elegante Gesellschaft. Er spielt die »Puritaner« und die »Stürme«. Religiöse Andacht. Staunen. Seine Persönlichkeit gefällt ebenso sehr wie sein Talent. Während er »Stürme« spielt, sitzt ein junges Mädchen von siebzehn Jahren, Fräulein Pallavicini, neben dem Flügel. Sie betrachtet zuerst die Finger, dann das Gesicht des Künstlers. Sie hört überrascht zu und scheint ihn zu fragen. Ich machte mir einen ganzen Dialog zurecht zwischen diesem rosenwangigen jungen Mädchen, das das Leben noch nicht kennt und in neugieriger Verwirrtheit zum erstenmal die Sprache der Leidenschaft hört und diesem Mann, der noch jung, aber schon bleich und müde vom Kampfe ist. Das war wirklich poetisch. Mein Bukett, in dem sich eine Gardenia befand, bereitete der Marquise S. Übelkeit … Ihr Liebhaber, Herr P. spricht mir von Mickiewicz. In der Nacht macht mich ein Blumenstrauß, der auf einem Tische vergessen lag, krank. Ich fürchte manchmal, verrückt zu werden. Mein Hirn ist matt. Ich habe zuviel geweint …
Mein Herz und mein Gedächtnis sind ausgetrocknet. Das ist ein Leiden, das ich mit auf die Welt bekam. Die Leidenschaft hat mich einen Augenblick erhoben, aber ich habe keinen Willen zum Leben in mir …
Ich fühle mich als Hindernis in seinem Leben, bin nicht gut für ihn und werfe Traurigkeit und Mutlosigkeit über seine Tage.
Wir unterbrechen hier das Tagebuch, um ihm ein Bruchstück der »Denkwürdigkeiten« folgen zu lassen, das einer Episode während des Aufenthalts in Venedig gewidmet ist.
Dieses Fragment ist sehr kurz und ist in Wirklichkeit nur eine Sammlung von Aufzeichnungen. Es gibt eine interessante Synthese der Gründe, die eine Vereinigung gefährdeten, auf der bereits das Verhängnis des Bruches lastete.
Eines Tages trat Franz gegen seine Gewohnheit stürmisch in mein Zimmer. Er hielt eine deutsche Zeitung in der Hand, in der er von einer entsetzlichen Überschwemmung der Donau gelesen hatte. Das Elend sei grenzenlos. Die öffentliche Wohltätigkeit machte unerhörte Anstrengungen. »Es ist furchtbar«, sagte er, »ich möchte alles hinschicken, was ich besitze.« Dann mit einem bitteren Lächeln: »Aber ich besitze ja weiter nichts, als meine zehn Finger und meinen Namen … Was würden Sie sagen, wenn ich unerwartet auf Wien herabfiele? Die Wirkung wäre wunderbar. Die ganze Stadt würde das kleine Wunder hören wollen, das man als Kind gesehen hat. Die Wiener sind Enthusiasten und Verschwender. Ich könnte eine Riesensumme verdienen … Wenn man nicht große Taten zu tun vermag, sollte man wenigstens versuchen, gute zu tun, und wenn man kein Genie hat, sollte man wenigstens barmherzig sein. Gott ist damit zufrieden … Die Reise würde acht Tage beanspruchen, mehr nicht … Was denken Sie darüber?« – »Das ist ein guter Gedanke!« antwortete ich. Aber bei mir dachte ich: »Andere als er könnten diesen Armen helfen. Wenn ich allein bin und krank werde, wer kommt dann mir zu Hilfe?!«
Er reiste am nächsten Tage ab und empfahl mich dem einzigen Menschen, mit dem wir in Venedig verkehrten, dem jungen Grafen Theodoro. Ich hatte ihn kaum ein- oder zweimal gesehen. Ich wies meine traurigen Gedanken in mein Innerstes zurück und sagte ihm trockenen Auges Lebewohl! Am selben Tage besuchte ich mit Graf Theodoro die Paläste, die nicht für das Publikum geöffnet waren. Seine Verbindungen verschafften mir Eintritt. So vergingen mehrere Tage. Franz kam nicht. Aber er schickte Zeitungen, die in überschwenglichen Worten über den Empfang berichteten, den man ihm bereitet hatte. Er habe alles übertroffen, was man je in dieser musikliebenden Stadt gehört. Er sei Mozart und Beethoven gleich. Man wolle ihn am Hofe im Kreise der Familie hören. Ein Regen von Gold und Blumen sei zu seinen Füßen gefallen. Beim Verlassen seines ersten Konzertes hatte man ihn auf den Schultern getragen. Die vornehmsten Herren bemühten sich um ihn. Großartige Geschenke häuften sich auf seinem Zimmer. Man machte ihm die glänzendsten Angebote, wenn er eine Oper schreiben, Konzerte leiten wolle.
Er selber sprach in seinen sehr kurzen Briefen von dem allen ganz schlicht und ohne Staunen. Er bedauerte nur, abgereist zu sein und sich wieder in die Welt gestürzt zu haben. Trotzdem kamen mir seine Briefe kalt vor … Die Welt, von der er plötzlich als von einer Notwendigkeit sprach, die aristokratischen Namen, Fürsten, Kaiser … Das alles klang wie falsche Töne in einer ganz anderen Harmonie. Wir waren in die Einsamkeit gegangen, und er zog als Triumphator in die Welt ein, die er so sehr verachtet und verschmäht hatte und die er mit mir hatte fliehen wollen.
Ich setzte meine Wanderungen mit Graf Theodoro fort. Er fand täglich mehr Geschmack daran. Wir sprachen nur von Franz. Theodoro bewunderte und liebte ihn. Nur über eins wunderte er sich: daß Franz so lange von mir fortbleiben konnte. Er sprach von unserer Liebe wie von etwas Unerhörtem, noch nie Dagewesenen, wie von einem paradiesischen Traum. Wir zählten gemeinsam die Tage seiner Abwesenheit. Franz hatte von zehn Tagen gesprochen, und es waren schon vierzehn verstrichen. Er schrieb nichts mehr von seiner Rückkehr. Seine Briefe wurden seltener. Einige Frauennamen flossen mit ein. Eines Tages erhielt ich einen Brief, der mit einem Doppelwappen versiegelt war. Der Bogen trug ebenfalls ein weibliches Wappen … Der Gedanke, der Brief müsse bei einer Frau geschrieben worden sein, kam mir – ich zerriß den Brief …
Abends bei meiner Rückkehr vom Lido, wo wir fast den ganzen Tag zugebracht hatten, fühlte ich Gliederschmerzen. Ich legte mich zu Bett. Ich hatte Fieber. Theodoro ließ sehr besorgt seinen Hausarzt holen. Der Fall schien bedenklich, denn alsbald schrieb Theodoro, ohne es mir zu sagen, nach Wien. Da er glaubte, daß ich hauptsächlich aus Sehnsucht erkrankt sei, schrieb er Franz, seine Rückkehr würde mich gesund machen. Er wollte mir den Brief verheimlichen, aber als er mich am anderen Tage kränker fand, glaubte er mir, diese Hoffnung geben zu müssen. Wir berechneten nun zusammen den Tag, wann der Brief ankommen könne. Daß Franz sofort abreisen würde, daran zweifelten wir beide nicht. Also konnten wir den Tag seiner Ankunft in Venedig ungefähr bestimmen. Ich erholte mich etwas. Die Heftigkeit des Fiebers ließ nach. Die Antwort auf Theodoros Brief traf ein. Sie war sehr freundschaftlich für ihn. Franz dankte ihm herzlich für alle Pflege, die er mir zuteil werden lasse, entschuldigte sich, daß er in Wien noch festgehalten sei und bat ihn, mich dahin zu geleiten. Als Theodoro mir den Brief brachte, war sein Gesicht kreideweiß. Ich hatte einen Augenblick das Bett verlassen und war ohnmächtig geworden, als ich nur nach dem Sessel gehen wollte. Meine Kammerfrau hatte Mühe, mich ins Leben zurückzurufen. Ich sah aus wie eine Tote. Theodoro trat ein, wie ich gerade eben die Augen öffnete. Er stürzte mir erschrocken zu Füßen. »Oh, Marie« (es war das erstemal, daß er mich so nannte). »Arme Frau!« rief er aus, »wenn mein Leben, mein Herz Ihnen etwas bedeuten könnte, würde ich alles verlassen und mit Füßen treten; Eltern, Freunde, Beruf und Vermögen … Oh, wie glücklich würde ich sein, wenn ich Ihre Tränen trocknen könnte.« Ich sah ihn wie betäubt an. »Wo ist Franz?« fragte ich. – »Er kann noch nicht kommen, aber er möchte, daß ich Sie nach Wien geleite.« Seine Lippen kräuselten sich verächtlich und ironisch. Ich blickte ihn starr an, denn ich glaubte, den Verstand zu verlieren. Man brachte mich zu Bett. Theodoro holte den Arzt. Acht Tage schwebte ich zwischen Tod und Leben, fast ohne Bewußtsein. Ich rief Franz in meinen Fieberphantasien. Es kamen weitere Briefe. Ich öffnete sie nicht mehr. Endlich ließ das Fieber nach. Ich kam wieder zu mir und schrieb an Franz: »Sie verlangen, daß ich nach Wien komme. Von hier nach Wien sind zweihundert Meilen. Ich kann mich kaum von meinem Bette zu meinem Sessel schleppen. Sie können nicht kommen. Sie überlassen einem anderen die Pflege meines armen Lebens. Wenn ich gestorben wäre, hätten Sie wohl oder übel kommen müssen. Oder hätten Sie auch einem anderen die Mühe überlassen, mir die Augen zuzudrücken? … und einen Stein auf mein Grab zu setzen? Franz, Franz, bist du es wirklich, der mich so verläßt?«
Auf diesen Brief antwortete er mir, daß er abreise. Acht Tage vergingen noch. Ich fühlte mich besser, die Maisonne gab mir etwas Kraft. Theodoros rührende Pflege, seine beständige Sorgfalt, seine Sanftmut, die Gewißheit, geliebt zu sein, verursachten mir eine bittere Freude.
Franz verließ mich um einer so geringen Sache willen. Es geschah weder für ein großes Werk noch für ein Opfer, noch aus Vaterlandsliebe; es geschah nur um billige Salonerfolge, für Zeitungsruhm und für Einladungen von Fürstinnen. Selbst seine Sprache war plötzlich verändert.
Ich bin auf dem Markusplatz. Man teilt mir mit, daß er da sei (Hotel de Marseille). Ich hatte mich eben noch mühsam dahingeschleppt. Nun laufe, fliege ich, werfe mich in seine Arme: »Bitten Sie Gott, daß ich Sie noch liebe, wie ich Sie geliebt habe!«
Zwei Tage zu dritt in vollkommener Offenheit in der heikelsten Lage. Er will sich zurückziehen, warten, fühlt sich meiner nicht würdig … Ich klammere mich wie eine Verzweifelte an ihn.
Ich falle aus allen Wolken über die Art, wie er mir von seinem Aufenthalt in Wien spricht. Man hat ein Wappen für ihn gefunden (für ihn, den Republikaner, der mit einer Dame der großen Welt zusammenlebt). Er hätte mich heroisch gewünscht. Die Frauen hätten sich ihm an den Hals geworfen. Er war aber nicht etwa beschämt über seine Treulosigkeit. Er besprach sie als Philosoph. Er redete von Notwendigkeiten – setzte mich in allem ins Unrecht. Seine Kleidung war elegant. Er sprach nur von Fürstlichkeiten, hatte ein heimliches Wohlgefallen an seinem Leben als Don Juan. Eines Tages sagte ich ihm ein sehr verletzendes Wort (»Don Juan parvenu!«). Ich nahm meinen ganzen Stolz als Dame zusammen, um ihn von oben herab zu behandeln.
Er hatte mit Leichtigkeit Gold zusammengerafft. Er hatte es für die Überschwemmten hingegeben. Denn nun wisse er, daß er innerhalb von zwei Jahren ein Vermögen verdienen könne. Er brauche es nicht für sich, aber für Blandine, das wunderschöne Kind. Übrigens müsse auch ich wieder eine Stellung in der Welt einnehmen; ich litte zu sehr unter diesem Leben; ich müsse meine Tochter wiedersehen, meine Familie und meine persönliche Umgebung; ich sei auch zu unselbständig, zu abhängig von ihm, ich hätte doch Talent, ja Geist; das müsse ich zeigen, meine Feinde vernichten, offenbaren wer ich sei. Die Welt, die ich verlassen, war nun sein Ziel geworden.
»Ihr Herz ist zerrissen, es hat sich nicht geöffnet. Machen Sie sich nicht über mich lustig, denn es könnte Sie teuer zu stehen kommen.«
Er nahm mich jetzt bei der Vernunft. Das Programm war auch vernünftig unter der Voraussetzung allerdings, daß ich sehr stark wäre und daß ich, nachdem ich ganz in ihm aufgegangen war, »allein« in mir die Kraft finden würde, mir eine Welt neu zu schaffen.
Diese Macht hatte ich, aber er wußte es nicht, ich auch nicht. Er wollte, daß ich alles was ich von mir gestoßen und unheilbar verwundet hatte, wieder aufsuchen solle und daß ich, die ich nur hatte lieben wollen, wieder Tochter, Schwester, Mutter und Freundin würde. Mein musikalisches Talent solle fortan dazu dienen, mich zu erhalten. Er überließ mich dem Zufall und einer unmöglichen Unternehmung. Ich fand ihn hart, trocken und ironisch.
Er riet mir, Theodoro zu lieben. Ich antwortete: »Versuchen wir es noch einmal!« Ich hatte Seeluft nötig. Er reist voraus nach Genua, mietet eine großartige Villa. Als ich ankomme, finde ich Wagen und Pferde. Die Welt hatte ihn wieder eingefangen und er sagte mir: »Ich habe Sie lange genug zu Armut und Vereinsamung verurteilt.« Eines Tages bittet er mich, die Post zu öffnen. Ich erfahre also, daß er eine Verpflichtung für ganz Deutschland eingegangen ist. Er gibt zu, daß das sein Plan ist. »Sie können mir nicht in dieses untergeordnete Leben folgen. Auch Sie müssen Ihren eigenen Ausdruck finden. Sie sind meinetwegen verstoßen worden. Auf! Gehen Sie zu Ihrer Tochter, Ihrer Familie, zu Ihren Freunden zurück …«
Ich unterbrach ihn: »Habe ich denn noch eine Familie? Wird meine Tochter mich wiedererkennen? Mein Talent war meine Liebe, der Wunsch, Ihnen zu gefallen.« Er vergoß eine Träne.
Er wirft mir vor, ungenau zu sein. Er will nicht verstehen, was mir Leid verursacht, will auch nicht sehen, worüber wir anderer Meinung sind. Er hat viel vergessen und hat es in den letzten sechs Monaten weit gebracht …
Ich habe immer nur eines gewünscht, gewollt, verlangt! Nur unter dem einen gelitten, nur über eines geklagt … Ich war nur über eines glücklich – und er will mich nicht verstehen!
Er verstand einst besser …
Als er mir seine erste Untreue gestanden hatte, sagte er: »Ich kann wieder untreu werden, wie ich mir den Kopf an einer Mauer zerschellen kann. In dem einen wie in dem anderen Falle würden Sie mich nicht wiedersehen.« Und dann nochmals: »Ich werde fortan auf meiner Hut sein, ich war wie ein Mann, der nicht weiß, daß Wein trunken macht und der dennoch trinkt. Jetzt werde ich nicht mehr trinken.«
Geschrieben von Liszts Hand:
Meiner Worte haben Sie sich erinnert, aber vielleicht haben Sie die Worte, die Sie mir bei verschiedenen Gelegenheiten gesagt haben, vergessen. Ich habe sie keineswegs vergessen, so große Mühe ich mir auch gab. Wenn Sie sich ihrer auch entsinnen könnten, würden sie Ihnen sehr viele Dinge erklären, die Ihnen unerklärlich erscheinen. Ich weiß nicht, was für ein unerklärliches Mißverständnis sich zwischen uns bis zum heutigen Tage fortgesponnen hat.
20. Juni.
Verdiene ich denn wirklich seinen Zorn, heute, wo ich unter der Leichtfertigkeit seines Verhaltens und seiner Reden leide? Fortwährend trifft er meinen Stolz und meine Eigenliebe. »Leiden der Eitelkeit« wird er sagen. Nun gut, wenn ich auf die Beweise seiner Liebe eitel war, wenn ich mir, wie er eines Tages sagte, daraus eine Krone machen wollte, auf die sogar die Frauen, die mir ihre Teilnahme schenken, neidisch geworden wären –, wie darf gerade er mir das vorwerfen? Wenn ich gewünscht habe, daß er jene Zurückhaltung, die er selbst für schicklich im Umgang mit Menschen hält, im selben Maße auch mit den Frauen geübt hätte, war diese Erwartung denn ein so großer Irrtum und eine zu große Anmaßung meines Herzens? Wenn mein Geist krank, zu Tode krank ist, wäre es da nicht großmütig und edel, schonend mit der Krankheit umzugehen, die man verschuldet hat? Und er sollte doch nicht noch eine Art von Stolz darein setzen, den unzerstörbaren Trieb einer leidenschaftlichen Frau zu verletzen.
Ich fühle, daß ich nicht glücklich leben, und ihn auch nicht glücklich machen kann, solange ich noch etwas zu fürchten habe. Erst, wenn ich ihn entschlossen sehe, über sein Herz zu wachen, und in seinem Gebaren die Zurückhaltung zu üben, die meiner Auffassung und meinem Frauenstolz genügen, erst dann könnte sich die immerwährende Unruhe meines allzu häufig gekränkten Herzens verlieren.
Wir nehmen das Tagebuch der Gräfin d'Agoult zu der Zeit wieder auf, als Liszt nach Venedig zurückkommt. Von Venedig fahren die beiden nach Genua, halten sich in Lugano auf und besichtigen verschiedene Städte Italiens: Piacenza, Mailand, Bologna, Florenz usw. Sie sind bis Sommer 1839 in Rom. Den Blättern des Tagebuches, die sich auf diese Periode beziehen, sind einige Albumblätter beigefügt, die Liszt selber geschrieben hat.