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Tagebuch

 

Juni.

In Genua angekommen. Hotel »Nuova Italia«. Schreckliches Gewitter. Ist das etwa eine Vorbedeutung? Die Lage ist wunderbar. Aber die Stadt gefällt uns nicht. Die Paläste sind schön. Aber es mangelt ihnen an Weite. Die Gärten sind dürftig und geschmacklos. Keine anderen Wege als die steinige Landstraße, die auf baumlose Höhen klettert. Keine Pferde, keine Bücher. Bettler und Mönche. Häßliche Frauen mit langen, weißen Musselinschleiern auf den Köpfen. Vorabend von Sankt Johannes. Schöner Abend am Meere. Die Stadt ist illuminiert, Freudenfeuer, Raketen.

Im Theater »Lucia von Lammermoor«. Franz begeistert sich für die Stimme und Art Salvis, für seine schöne römische Gestalt. Begegnung mit dem Ehepaar d'Aragon. Sie vornehm, er ein guter Junge.

Freitag, Tag des Hl. Petrus. Spaziergang auf den Wällen. Schöne Gegensätze. Das Meer und die Stadt auf der einen Seite, auf der anderen ländliche Einsamkeit, kahle Berge. Freudenfeuer, verschiedene malerische Gruppen. Zu Füßen eines Holzkreuzes sitzt ein Mann, ein anderer, jüngerer, steht aufrecht, drei Frauen aus dem Volke mit Fächern. Weiter hin offene Fensterläden. Ein Greis liest, ein junges Mädchen sitzt in seiner Nähe unter einer Weinlaube.

siehe Bildunterschrift

Cosima 1863

Brief von Pictet. Er atmet in Magnany den süßen Weihrauch des Lobes für ein phantastisches Märchen: »Philosophie, fühlst denn auch du dich vom Lobe gekitzelt, von dem eitlen Worte, das man ›Erfolg‹ nennt? Schreibst du nur gegen den Ruhm, um den Ruhm zu erringen, gut geschrieben zu haben, wie Pascal sagt?«

Sonnabendabend auf den Mauern des Hafens. Notwendigkeit, dem Volke pro forma, nicht de facto Zugeständnisse zu machen. Die großen Männer haben ihre Absichten niemals ganz verraten. Man muß sich verständlich machen, aber sich nie ganz zu erkennen geben. Es dauert lange, bis die Logik der Gedanken zur Logik der Taten übergeht.

»Ich habe mehr Selbsterkenntnis jetzt«, sagt Franz. »Ich weiß nun, daß ich in keinem Milieu leben soll, weil ich dem Milieu, in dem ich leben kann, überlegen bin. Ich bin ein Mittelwesen. Es drängt mich, mit dem Klavierspielen aufzuhören, um etwas Schönes zu komponieren, das niemand spielen kann, auch ich nicht. Dann wird jemand kommen, der für mich sein soll, was ich für Weber gewesen bin, der mich ins richtige Licht setzt. Man müßte mehr auf dem Klavier singen können. Das ist der Vorteil selbst der mittelmäßigsten Stimme. Wenn wir eines Abends auf einsamem Strande den Gesang eines Nocturne von Chopin singen hörten, wie würde uns das ergreifen! Aber man würde auch sagen: »Das ist kein Gesang …!«

Aufenthalt in Lugano

 

August.

Vollkommene Einsamkeit. Der See ist traurig. Die Stadt ein schmutziges Loch.

Wir lesen abwechselnd Goethe, Shakespeare und Dante. – Dante: Allgemeine Konzeption der Dichtung eng, eintönig in den Einzelheiten. Es fehlt an Interesse für die Hauptperson. Sein Abstieg zur Hölle ist nicht genügend begründet. Die Abstufung der Strafen absurd. Brutus ist im Grunde des letzten Kreises. Materialismus der Strafen. Lächerliche Mischung von Heidentum und Christentum. Dante hat immer Furcht, der Leser nie. Wundervolle Gedrängtheit. Sprödigkeit einer großen Anzahl von Versen.

»Tasso!« Meisterhafte Entwicklung tief-wahrhaftiger Charaktere. Großartige Hymne auf die Liebe Tassos. Die Poesie fließt über. Erhabener Monolog. Das Mißverständnis zwischen der krankhaften Natur des Dichters und der vernünftigen Natur des praktischen Menschen ist nirgends so überzeugend begründet und so richtig vor Augen geführt worden. Niemand hat Schuld. Jeder hat die besten Absichten. Niemand kann sich wirklich beklagen. Und doch würde man sich nie verstehen und zusammenleben können.

»Graf Egmont«: Sehr schöner und sehr natürlicher Verlauf der drei ersten Akte. Dann läßt das Interesse nach. Das Volk verschwindet zu sehr von der Bühne. Egmont ist nicht mehr echt im Gefängnis. Er sehnt sich nach dem Leben zurück, spricht nicht als Soldat, sondern als Dichter. Er ist lange nicht zornig genug, hat gar keinen Seherblick in die Zukunft seines Vaterlandes. Der Selbstmord Klärchens ist unnatürlich … man möchte sagen, daß Goethe sich ihrer entledigen wollte, weil er nichts mehr mit ihr anzufangen wußte. Albas Sohn ist auch eine verfehlte Persönlichkeit, die wunderbar hätte werden können. Zuerst ist er seinem Vater ergeben und gehorsam. Dann, als er das Todesurteil Egmonts vernimmt, flammt er vor Entrüstung und tritt der festen Politik des Greises plötzlich mit dem heiligen Zorn einer loyalen und sympathischen Jugend entgegen.

 

Montag, 13. August.

Warum beklage ich mich? Warum weine und seufze ich? Oh, Leid, du bist heilig und mein guter Freund. Meine Seele würde vielleicht matt werden und ihre alte Kraft verlieren. Aber da kommst du mit deinem glühendsten Stachel und weckst sie. Du beschämst sie und verleihst ihr neue Kraft. Oh, Leid, du bist für mich wie der Engel Jakobs. Ich widerstehe dir, ich bekämpfe dich, und doch fühle ich, daß du ein Bote Gottes bist und daß Gott selber dich zu mir sendet Mein Geist hatte sich selber sein Grab gegraben. Er hatte sich niedergelegt und gesagt: »Ich will nicht mehr hoffen, ich will nicht mehr glauben, ich will Gott nicht mehr suchen, will nicht mehr zu Ihm hinstreben. Ich will mich vernichten, will aufhören zu sein.« Diese Gotteslästerungen, oh, mein Gott, mußtest du strafen. Und wie milde war deine Strafe. Du lässest mich fühlen, daß mein Schmerz nur unerschöpflich ist, weil meine Liebe unsterblich ist und offenbarest mir bis in die Tiefe meines Elends das Gefühl der Unendlichkeit, von der meine Seele eines Tages Besitz nehmen soll.

Geheimnisvolles Wesen, Engel des Zornes und des Segens, der du mich anziehest und zurückstößest, der du mich in Klarheit badest und über meinem Haupte Gewitter sammelst, Versprechen und Drohung, Liebe und Haß, Freude und Schmerz. Ich will gehen, wo du hingehst, die Luft atmen, die du atmest, deine Worte reden, dein Leben leben, deinen Tod sterben! Zu dir! Zu dir! Zu dir!

Ich war vier Tage in Mailand. Das kleine Heiligtum von Poesie, das Franz in seinem Herzen der E. gemacht hatte, ist zusammengestürzt. Eine große, offenkundige Plattheit hat es niedergeworfen. Abends hat er für mich seine »Fleurs mélodiques des Alpes« und andere Stücke des »Album d'un voyageur« gespielt. Nie war soviel Energie, Macht, Schlichtheit und Anmut in gleich hohem Maße in einem Künstler vereinigt.

Ich habe den Cav. Spontini gesehen. Ein großer Geist, in enger Mittelmäßigkeit vermauert. Die Musik ist, seiner Ansicht nach, in vollkommenem Verfall. Deutschland, das heißt Berlin, sei der einzige Wall, der stehengeblieben ist, gegen die Entartung und die Geschmacklosigkeit.

 

Piacenza, Sonntag, abend, 30. September.

Von Mailand bis hierher immer dieselbe Landschaft: Prärien, Reis- und Maisfelder, die von Kanälen durchzogen und von Weiden und Erlen eingefaßt sind. Das ist eintönig, aber doch nicht traurig. Ich empfinde mehr als je die unendliche Schönheit, die tausendfache Anmut der Einzelheiten in der äußeren Natur. Je mehr ich mich von der menschlichen Gesellschaft löse, um so sanfter und zärtlicher reden die Stimmen der Schöpfung zu mir. Oft denke ich, daß sie mich rufen. Ich kann niemals den friedlichen Lauf eines Baches betrachten ohne den lebhaften Wunsch zu haben, eins mit ihm zu sein. Manchmal möchte ich eine schöne Pflanze sein, die seine Hand begießt und pflegt …

Es scheint mir zuweilen, als ob ich nicht mehr leben könnte … Wahrhaftig, zehn Jahre der Leiden, der Leidenschaften und Welterfahrung haben doch zu etwas dienen müssen. Aber sieh, ich entdecke auf meiner Stirn die erste Falte und an meinen Schläfen das erste graue Haar …

Gut, ich muß mich jetzt ans Sterben gewöhnen. Ich muß mich daran gewöhnen, dem Tod ins Auge zu schauen. Und es fiel mir schon so schwer, dem Leben ins Antlitz zu sehen. Wozu all diese Lehrzeit, all die traurige und unfruchtbare Arbeit!? Fragt die Würmer des Grabes oder besser noch die Verfasser von Grabinschriften.

Es gibt einen Gedanken, gegen den sich alle Kräfte meiner Seele brechen. Eine unlösbare Frage, die alle meine Fähigkeiten aufsaugt und verzehrt …

Dieser Gedanke wacht mit mir und schläft nicht immer mit mir ein, denn meine Träume wiederholen ihn mir. Oh, mein Gott, mach, daß er nicht auch durch meinen Grabstein dringt!

 

Montag.

Schöner Tag. In Bologna angekommen. Erster Eindruck: Enttäuschung. Schlecht gebaute und schlecht gepflasterte Stadt. Häßliche Arkaden. Sehr erlesene Galerie. »Heilige Cäcilia« weniger bewundernswert als ich dachte. Ich fange an, zu glauben, daß der Ruhm Raffaels übertrieben wird. Es gibt manches Bild von Tizian, von Correggio, von Veronese und von Lionardo, das mir besser gefällt. Maler wie Caraccio sind nicht nach meinem Geschmack. Ein entzückender Perugino. Der Dom taugt nicht viel. Der Neptun ist keine gute, aber eine berühmte Plastik von Johannes von Bologna. St. Petronius, eine große, bedeutende Kirche. Hübsche gotische Vorhalle. Kapelle der Elise. Kapelle Baciocchi mit dem Grabmal der 1820 verstorbenen Fürstin Elisa Baciocchi und ihres Gatten Felix. Glasfenster von Lor. Costa 1492. Schöne Fenster. Ziemlich mittelmäßige Orchestermusik, wurde aber schön gespielt. Gemütsbewegung! Oh, wie schön würde es sein, zu beten, anzubeten … Die Musik müßte vor allen anderen die göttliche Kunst sein. Sie erhebt unsere Seelen und trägt sie zu Gott empor …! Oh, was würden für mich die Freuden dieser Erde sein, wenn ich eine Glaubenshandlung am Fuße der Altäre in Gemeinschaft mit frommen Seelen erleben könnte … Oh, mein Gott, mein Gott, warum hast du uns verlassen?

Ein Brief von ihm aus Padua. Seine Schrift verursacht mir immer eine unbegreifliche Bewegung. Seine Liebesschwüre eine Überraschung und ein immer neues Entzücken.

Fahrt über den Appenin. Ankunft in Florenz im »Europa«. Suche nach einem Appartement in Hinblick auf eine dauernde Niederlassung. Erster Eindruck zufriedenstellend.

 

22. Oktober.

Franz ist zu unserer Nachbarin Hortense Allart Französische Schriftstellerin 1801-1879. gegangen. Sie fragt ihn nach tausend Dingen über mich.

 

23.

Mittags bei Hortense Allart. Ich glaubte, eine hübsche ziemlich kokette und elegante Frau zu sehen. Aber ich finde sie verblüht, ungewandt, ohne Anmut und ziemlich pedantisch. Ich glaube, daß sie eine ausgezeichnete Frau ist, aber sie ist lange nicht so anziehend und faszinierend wie George.

Ich sah Madame Allart mehrmals. Sie ist ein Mensch ohne jeden weiblichen Reiz. Und doch mißfällt sie mir keineswegs. Ich glaube, sie ist sehr aufrichtig. Auch achte ich dieses arme und beschäftigte Leben. Sie hat Überzeugungen, obwohl sie in deren Kundgebung zuweilen fast lächerlich ist. Ihre Bücher langweilen mich.

 

Florenz, 1. Januar 1839.

Sonniger Mittag. Er ist angekommen. Es war mir, als könne ich mein Herz nicht weit genug für alle Freude öffnen, die von allen Seiten hineinströmte. Über Erfolge in Bologna gesprochen. Rossini krank vor Entsetzen bei dem Gedanken an den Tod. Sein Geiz. Mademoiselle Pelissier muß den Salat putzen. Eine schöne Frau versucht Franz beizubringen, daß er alles der Form opfere und daß er nicht den Eingebungen seines Herzens folge. Geschenk Paganinis an Berlioz. Franz entrüstet sich über die Art und Weise. Ihn empört es, eine wohltätige Handlung bekanntzumachen und überall hinauszuposaunen, der und der sei einem verpflichtet. Vorstellung eines englischen Pianisten. Voller Anmaßung und bar jeglichen Talents.

 

Den 2.

Göttlich schöner Tag. Wunsch, in Italien zu leben. Wohltuendes Klima. Sitzung bei Bartolini. Berühmter italienischer Bildhauer 1777-1850. Franz sehr zufrieden mit meiner Büste. Bartolini hat uns beide liebgewonnen. Er hat mich stärker aufgefaßt, weil er mir voraussagt, daß ich in Neapel zunehmen würde. B's … Porträt von Ingres gesehen. Hartes Bild, falsche Farben. Franz meint: »Das ruhige, ziemlich regelmäßige Leben in Italien sagt mir sehr zu. Der Genuß einer Wagenfahrt, das Interesse an einem Kunstgegenstand, den man sich ansieht, genügen meinem Tage. Es bleibt mir mehr Muße, mich zu sammeln und das Geschaute innerlich wiederzuerleben, gleich Marie. Wie sie muß ich lange Zeit in mich hineinhorchen, auf das Echo meiner Liebe.

Blandine wird morgen in Mailand sein. Tiefe Rührung. Erinnerung an Louise. Ich fühle, daß ich dieses Kind ungeheuer liebhaben werde, daß mein Leben sich ändert und bessert. Ich weiß nicht, ob das Gefühl von Dauer sein wird, aber ich verspüre bei dem Gedanken an sie einen großen inneren Frieden. Ich will ihn mir nicht mehr stören lassen. Abends erzählt mir Hortense Allart von Didiers Verheiratung. Lebhaftes Gespräch über die italienische Nation. Hortense findet sie brav. Die Frauen seien die besten von der Welt, zärtliche Familienmütter, leidenschaftlich und stark … Ich bin unglücklicherweise genau der gegenteiligen Meinung.

 

Den 4.

Den heutigen Tag mit Atembeschwerden im Bett verbracht.

 

Den 5.

Ich habe mein Versprechen schon gebrochen und ihm Pein verursacht. Ich habe ihn gekränkt. Seine Reiseabsichten, der Plan, ich solle mich in Florenz niederlassen, haben mich sehr betrübt. Ich war leidend. Ich habe ihm die Trockenheit vorgeworfen, mit der er von unserer Trennung sprach.

 

Den 11.

Brief aus Wien. Man bittet ihn, zu kommen. Der Augenblick sei günstig, um den Titel »Kammervirtuos« zu erhalten. Franz ist wütend. Er wird ihn refüsieren. »In meinem Alter giert man nicht nach Ehrentiteln. Man soll mir eine Möglichkeit geben, mich zu betätigen …!« Plan Franzens, vier Monate des Jahres der Arbeit zu widmen und die übrige Zeit allein mit mir zu verbringen.

 

Den 15.

Brief, der die Ankunft Blandinens für morgen anzeigt. Bartolini will eine Statue von ihr anfertigen. Das freut mich sehr. Hiller schreibt mir einen sehr einfachen und schicklichen Brief, in dem er mir sagt, daß die Mailänder seine Oper nicht einmal hätten anhören wollen. Er ist bei der zweiten Vorstellung durchgefallen. Wahrlich ein unwürdiger Patriotismus, der sich in solcher Weise offenbart.

Franz wirft Fra Angelico einen zu hübschen und zu koketten Ausdruck vor. Die Magdalene küßt die Füße des toten Heilands ebenso, wie sie die Füße des Christkindes küssen würde.

 

Rom.

Niemals habe ich ihn so angeregt, so liebenswürdig und so geistvoll in der ganzen Weite des Wortes gesehen. Er spricht lange von Sainte-Beuve, für den er immer viel Neigung und Sympathie hatte.

»Ich hatte mich«, sagte er, »unter dem Einfluß von Georges und Didiers Geschnurre und Ihrer Abkehr von ihm soweit hinreißen lassen, ihm ganz unvermittelt zu sagen, er habe eine wenig verbindliche Art, seine Freunde zu loben. Er hatte mich darauf zart fühlen lassen, daß ich unrecht hätte, und wir waren immer im guten auseinandergegangen. Nur hielten wir uns etwas zurück und beobachteten uns. Ich glaube auch, daß er annahm, wir würden uns bald trennen. Darum wollte er sich nicht überstürzen, mich zu verteidigen.«

Wenn ich Herr von Rom wäre, würde ich das ganze moderne Rom niederreißen lassen und verbieten, es jemals wieder aufzubauen. Ich würde für die Römer eine Stadt in Ostia oder anderswo erbauen und in Rom nur eine lange Straße für Hotels lassen. Rings um die Ruinen würde ich weite Gärten anlegen.

Franz sagte mir: »Sainte-Beuve hatte nie, was mir beschieden war. Die drei Jahre, die ich mit Ihnen verbracht habe, haben aus mir einen Mann gemacht. Ich betrachte das Leben jetzt vom antiken Standpunkt. Ich habe nicht das Recht, anderes zu verlangen. Ich möchte nur etwas mehr Vermögen haben, nicht soviel wie M. X … oder M. Y …, sondern nur soviel, um nicht bemitleidet zu werden. Dies Gefühl bedrückt mich.« Eine neue Ära scheint mir für ihn zu beginnen. Er hat das Bewußtsein seiner selbst und seiner Zukunft. Er kennt die Menschen und die Welt. Er weiß, wie man sie nehmen muß, welche Zugeständnisse notwendig sind, wie weit man herrschen kann und auf welchen Wegen man zu Erfolg kommt. Er ist ruhig geworden, er ist Herr seines Lebens. Er ist stärker als die Stärke selber.

Im Kloster des hl. Franz von Assisi. Seit David ist die Tanzkunst in Verruf gekommen. Ich habe den Tanz immer als eine sehr ernste und sogar religiöse Kunst betrachtet. Die Bewegung ist ein wichtiges Moment für den Ausdruck in der Malerei und in der Bildhauerei. Aber da die Menschen ungeschliffen sind, haben sie darin nur einen Anreiz für ihre rohen Gelüste gesehen oder suchen ihn wenigstens heute darin. Wann wird man endlich dahin gelangen, jeden Genuß dadurch zu veredeln und zu heiligen, daß man die Seele zu jener unbekannten Kraft hin erhebt, die ihn uns schenkt: zu ihrem Ursprung, zu Gott! Man wird soweit kommen, aber es wird Jahrhunderte dauern, denn man muß mehr tun, als das Christentum getan hat, und das ist viel. Franz sagte mir, daß sein Schönheitsgefühl sich entwickelt habe. Er könne das Schöne zwar noch nicht genießen, aber doch schätzen. Er liebt die Freskomalerei, die er gar nicht mochte, als er nach Italien kam. Das Gefühl, das die alten Meister in ihren religiösen Bildern zum Ausdruck bringen, ist ihm sympathischer. Das ist edel und kindlich zugleich.

Er sagte: »Mein Platz mag zwischen Weber und Beethoven sein oder auch zwischen Hummel und Onslow. Ich bin vielleicht ein verunglücktes Genie. Das wird die Zeit lehren. Ich fühle mich gewiß nicht als mittelmäßiger Mensch. Meine Sendung mag sein, als erster die Poesie mit einigem Glanze in die Klaviermusik gebracht zu haben. Den größten Wert lege ich auf meine Harmonien. In diese Arbeit setze ich meinen ganzen Ernst. Der Wirkung will ich nichts opfern. Wenn ich meinen Weg als Pianist beendet habe, will ich nur noch für mein eigenes Publikum spielen. Ich will es erziehen und bilden. Dann will ich in fünf oder sechs Jahren vielleicht eine Oper schreiben. Das ist schon viel für mich, der ich keinen andern Anspruch habe, als in der Meinung aller wenigstens »der Zweite oder eine Hälfte vom Ersten« zu sein. Denn den ersten Preis teile ich mit Thalberg. Berühmter Pianist 1812-1871. Meine ersten Harmonien sind nicht gelungen, aber man spürt darin doch einen Gedanken, eine ungewöhnliche Poesie. Ich möchte nichts davon weglassen, als höchstens das Gefühl tiefen Überdrusses, den ich in fünfzehn Jahren hineinlegen würde.

»Wohin zielt Ihr Buch? Auf Scheidung. Ah, das liegt ja auf der Hand. Das würde sogar Anklang finden heutzutage, obwohl es schließlich nur ein Gemeinplatz ist, denn der Protestantismus hat schon seit langem in drei Vierteln von Europa die Scheidung verbreitet …«

Ich will auch die Frau zeigen, die das Heim mit Poesie erfüllt, die den Mann unaufhörlich zum Idealen aufruft und in ihm das Prinzip der Liebe entwickelt, das in der unvermeidlichen Berührung mit der Welt und den Geschäften so leicht verfälscht wird.

Die Bewegung unterscheidet die Musik hauptsächlich von den anderen Künsten. Sollte das nicht eine der Ursachen sein, warum die Musik auf unsere Seele einen unbestimmbaren Eindruck hervorruft, und ist er nicht ganz ähnlich dem, welchen der Anblick der Natur erzeugt? Es gibt keine Landschaft ohne Bewegung. Andere Analogie: die physische Wirkung der Luft und die physische Wirkung der Musik auf die Nerven.

 

Florenz.

Acht Tage in Florenz. Sitzungen bei Bartolini. Franz bestimmt ihn, nach Paris zu kommen, dann mit ihm nach London. Ich finde meine Büste zu lieblich, zu hübsch, zu wenig streng aufgefaßt. Die von Franz ist nicht fein genug, der Unterteil des Gesichtes zu stark. Kompliment von B… zu Bartolini: »Sie sind der erste Bildhauer der Welt. Es ist nie ein Fehler an Ihren Statuen, noch an Ihren Büsten. Die römischen Bildhauer sind Ignoranten, ihre Werke sind voller Fehler.« Madame B… wünscht, Franz zu hören. Er spielt bei Mathroni. Sie spricht mir die ganze Zeit von ihrem Enthusiasmus und hört nicht einen Ton.

 

Donnerstag.

Ankunft in der Villa Massimiliana. Terrassen, Arkaden. Niederlassung in freier Luft. Vollkommene Erschlaffung. Ich fühle, daß meine Gehirnfähigkeiten erschöpft sind. Ich leide schrecklich. Mir ist, als könne ich nicht so leben, als müsse ich notwendigerweise bald sterben oder auch völlig verblöden. Und das wäre doch ganz entsetzlich für ihn. Sein Leben wäre zerbrochen, seine künstlerische Zukunft zerstört, sein Genie ausgelöscht … Wie tief beklage ich in solchen Augenblicken (und das ist fast immer) die blinde und eigennützige Begeisterung, die mich an ihn gefesselt hat …

Abends einen Teil der Partitur von Benvenuto Cellini gelesen. Franz sagte mir: »Ich liebe sie nicht besonders. Sie ist gewiß ganz außerordentlich bemerkenswert, und es gibt da viel zu lernen, aber ich sehe auch, wie man es nicht machen soll. Es ist bei dieser Oper dasselbe wie bei den Werken Victor Hugos. Sie sind mit dem Kopf gemacht. Mißbrauch von gesuchten Modulationen. Ermüdender Stil. Berlioz sollte nicht scherzen. Er kann nicht lustig sein. Er wird immer gleich heldisch. Das ist nicht echt, nicht einfach!«

Franz rät mir mehr denn je, ein Buch zu schreiben. Schönes Gespräch über den Katholizismus. M. de Lamennais ist von den Gesandten Österreichs und Frankreichs verurteilt.

Abends auf der Terrasse allein mit Lehmann Maler, in Kiel geboren, hat 1851 die französische Staatsangehörigkeit angenommen, hat die Porträts von Liszt und der Gräfin d'Agoult gemalt. und mir. Franz ist traurig: »Ich sehe mit Betrübnis«, sagte er, »daß eine Epoche meines Lebens endet. Ich habe nichts mehr zu lernen, noch zu wollen. Feste Pläne treten an Stelle des freien, natürlichen Lebens. Ich spüre mit Bitterkeit, daß aus mir nicht das geworden ist, was ich erstrebte. Wenn man alles um sich her abgebrochen hat, ist man auch in sich gebrochen.«

Es scheint ihn zu schmerzen, daß er mir so wenig Freude gibt. Er bemerkt nicht, was ich so sehr empfinde: das Schwinden meiner Gedanken, mein frühes Altern und die Verneinung alles Willens.

 

Den 23.

Lehmann hat mit unsern Bildern angefangen. Plan, ein Haus in Italien zu kaufen. Lehmann spricht mir von seiner Wohltätigkeitstheorie und von seinem Vorhaben, sie zu verwirklichen. Er will ausschließlich für die andern leben, buchstäblich die Vorschrift des Evangeliums befolgen, sobald sein Talent und sein Ruf ihm seine und der Seinen Existenz gesichert haben.

 

August, Mittwoch.

Leroux will philosophische Kurse bei mir einrichten. Unterhaltung mit Franz über meinen Winter in Paris. Ich soll mich dort niederlassen, ein Haus machen, mir eine Umgebung von bedeutenden Menschen schaffen. Dafür keine Ausgabe, Diners, Geschenke scheuen. Überall hingehen, wo man sein muß: Nirgends anders als in Konferenzen, Predigten, zu Empfängen in der Académie.

 

September, San Rossore.

Wohnung in einem Holzhaus. Meerbäder, Diners unter Pinien. Lehmann nach Rom gereist, nachdem er unser beider Bilder gemalt hat. Er ist ein wirklich guter Mensch und vom liebenswürdigsten Geiste. Pläne, seine Schwester kommen zu lassen, um die »Mouches« Blandine und Cosima, die zwei Töchter Liszts und der Gräfin d'Agoult. zu erziehen. Wir sehen die Opposition der Tanten voraus. Beginnende Auseinandersetzung mit Piffoël. George Sand. Wir können den Grund dazu nicht finden.

Brief von Sainte-Beuve:

Geist vom Hotel Rambouillet. Anmut und zarte Schmeicheleien mit einem Schuß von Schöngeist. Drama von George Sand: »Haß der Liebe.« Ich sage, daß ich den Titel nicht liebe.

Franz: »Dieser Titel rührt viele Dinge auf. Er hat eine ziemlich tiefe philosophische Tragweite. Nachdem man die Religionen und Erziehungsanstalten zerstört hat, ist es nur logisch, auch noch die Gefühle zu zerstören. Was an den Religionen und Erziehungsanstalten verkehrt war, ist nicht ohne Einfluß auf die Gefühle geblieben. Die Konvention hat die Gefühle bezwungen.

siehe Bildunterschrift

Minister Emile Ollivier, Gatte der Blandine Liszt


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